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Vorwort

Alle Ereignisse und Orte sind fiktiv.

Falls Verbindungen zu realen Personen bestehen sollten, so sind diese nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Teil 1:

Neumond“

 

Das Licht verdeckt, eröffnet doch,

den hellen Geist des Schattenlochs.

Die Wanderung in Angriff nehmend,

nimmt zu und ab und sich nicht schämend.

Beginnt und endet, schließt den Kreis,

bis jedes End´ den Anfang weiß.

 

„Nacht“

Selena ging weiter. Immer weiter.

Dagegen anlaufen, auch wenn es nicht hilft. Das ungute Gefühl will einfach nicht weggehen, obwohl der Mond heute kaum noch am Himmel zu sehen war. In diesem öden Ort war es leer wie eh und je, erst recht um diese Zeit.

Es war vielleicht zwei oder drei Uhr morgens, doch sie musste einfach diese Gedanken weglaufen, sonst konnte sie nicht schlafen. Gedanken an Laute - an das Wimmern und Schluchzen ihrer Mutter. Ein Unfall sei es gewesen. Sie ist dabei gestorben. Über ein Jahr war das nun her und noch immer hörte sie ihr Wimmern, sah genau ihr schmerzverzerrtes Gesicht vor sich, jede Nacht. Nie wieder hatte sie so gut geschlafen wie früher.

„Wie ein Stein, man kann rütteln und nichts regt sich“, hatte ihr Vater einst über ihren Schlaf gesagt.

Wenn sie jetzt schlief, waren da nur Albträume, aus denen sie schweißgebadet aufwachte und sie hatte festgestellt, je mehr vom Mond am Himmel zu sehen war, desto schlimmer war es. Leider war der Himmel hier nachts meist klar. Sie hasste diesen Ort, diese Leute hier, einfach alles. Wie sie sie immer ansahen, so verurteilend.

Auch wenn der Mond beinahe gar nicht mehr zu sehen war, trieb nun IRGENDETWAS sie nach draußen. ETWAS, das ihr sagte, heute wäre es besser nicht zu schlafen.

Sie ging ein paar leere Straßen entlang, Richtung Wildnis, wie sie es nannte. Richtung Felder, Richtung Wald.

Ihre Lederjacke hatte sie sich noch schnell übergeworfen, darunter nur ihr schwarzes Negligé. Leider war es kalt in dieser Nacht.

Kein Auto zu sehen, erst recht kein Mensch. Sie ging quer über die Felder, dann einen Feldweg entlang, der Wald näherte sich, doch sie ging nicht hinein. ETWAS hielt sie davon ab. Dort in einem der Felder sah sie einen Umriss. Der Mond schien wie zum Spott das Ding besonders hell zu erleuchten.

Sie wollte umkehren, doch ihre Beine gehorchten nicht, gingen darauf zu.

Es war ein Mädchen, erkannte sie sofort. Ihre leeren, toten Augen blickten sie bittend an. Wer sie war, erkannte sie hingegen nicht. Was hatte sie hier draußen mitten auf dem Feld zu suchen? Und was war nur mit ihr geschehen?

Da war Blut.

So viel Blut.

Überall.

Panik erfasste Selena.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte und lief auf und ab. Hin und her.

Mit zitternden Händen fummelte sie ihr Handy aus der Jackentasche.

„Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?“, ertönte blechern eine Frauenstimme.

„Ha ... Hallo. Hier liegt eine Tote im Feld ...“, stammelte Selena nur und legt wieder auf.

Dann rannte sie nach Hause.

Keine Sirenen. Noch nicht. Sie wollte sie erst gar nicht hören. Sie würden schon wissen, woher der Anruf kam, konnten das heutzutage doch orten. Selbst dieses Kaff hier würden sie finden. Sie versuchte alle Gedanken abzuschütteln, legte sich in ihr Bett und schlief letztendlich ein, trotz allem.

 

Der Mond lachte, bevor er verschwand.

Ich komme wieder, neu und stärker“, flüsterte er.

Überall Lichter auf das Feld gerichtet. Sie stand dort nackt. Schamerfüllt verdeckte sie ihre Brüste mit ihren Armen. Doch sie starrten nicht sie an. Mehr die Gestalt dort im Feld. Auch ihr Blick wanderte nun dorthin.

Ein Wimmern ertönte. Ein zu bekanntes Wimmern.

Mutter?“

Das ist deine Schuld!“, schrie irgendwer.

Nein … nein ...“, schluchzte sie

Die Lichter erloschen schlagartig. Nacht. Dunkel. Finsternis. Kein Mond mehr.

Sie fiel über irgendetwas.

Schrie.

Sirenen ertönten.

Erneut Lichter.

Doch es war nicht Mutter, die da weggebracht wurde, es war ein Mädchen, das so aussah wie sie selbst.

 

„Wach auf! Du träumst“, flüsterte er sanft. So weckte er sie so häufig, seit jener Nacht. Vater. Der, der scheinbar noch auf ihrer Seite ist und ihr immer versucht hatte zu glauben. Nicht dem Geschwätz der Leute, die die wahnwitzigsten Vermutungen aufgestellt hatten, Mutters Tod betreffend. Viele gaben ihr die Schuld, nur weil Sedie damals gesagt hatte, sie hätte sie in jener Nacht gesehen, was natürlich völliger Unsinn war. Doch Gerüchte verbreiten sich hier schnell und setzen sich fest. Blöde Sedie! Anfangs hatte sie sich noch versucht zu verteidigen, sie wollte sich erinnern, konnte einfach nicht. Sie würde ihr nie etwas tun, hatte sie immer wieder gesagt. Sie wäre ganz normal in ihrem Bett gelegen. Sie glaubten ihr nicht, sie glaubten eher dieser Sedie. Einer der Alten hatte sie gar als Hexe bezeichnet, nur weil sie immer schwarz trug; oder vielleicht auch wegen ihrer roten Strähnen in ihren schwarzen, langen Haaren. Viele hetzten auch gegen ihren Vater. Der schaffte es aber meist mit seiner ruhigen Art oder vielleicht auch wegen seiner großen Trauer, die Mäuler zum Schweigen zu bringen.

Vater stand jetzt über sie gebeugt und lächelte. Strich ihr über die Wange, auch wenn er wusste, dass sie das hasste. Sie war schließlich kein kleines Kind mehr. Noch immer zitternd wandte sie sich ab. Er sollte sie nicht so sehen, niemand sollte das.

Ein paar Mal atmete sie tief durch. Gähnte, weil sie müde war oder auch um sich zu entspannen.

„Da waren Sirenen... überall.“, flüsterte sie schließlich.

Vaters beruhigtes Lächeln verschwand.

„Mh. Das hast du nicht geträumt. Draußen auf einem der Felder vom Jenkins ist was passiert.“

„Was?“

„Das musst du nicht wissen.“
Typisch, seit Mutter gestorben war, meinte er wieder sie sei ein zartes Pflänzchen, das man um jeden Preis schützen und pflegen musste, sonst könnte es ja welken und vollends vertrocknen, so viele Tränen, wie es einst vergossen hatte.

„Sie haben ein totes Mädchen gefunden, oder?“, sagte sie, starrte ihm in die Augen. Ohne Angst. Hatte sich längst wieder gefasst, ihre emotionslose Maske aufgesetzt, die sie tragen möchte, immerzu. Der effektivste Weg die Blicke der anderen abzuwehren. Blicke voller Vorwurf oder auch die vereinzelten Blicke des Mitleids.

„Woher weißt du das?“, fragte er scheinbar erschüttert.

„Ganz einfach. Ich habe sie gefunden“, murmelte sie und zog sich die Decke über den Kopf. Ihre eigene, kleine Nacht, um all die anderen Nächte auszusperren.

„Tag“

Es wurde Tag und auch die Tage waren zur Zeit nicht sehr angenehm. Oh, wie sehr sie den Sommerferien entgegenfieberte! Dann würde das letzte Highschool Jahr kommen und danach würde sie endlich weg gehen von hier. Weit, weit weg.

Sie ahnte bereits, als sie am Frühstückstisch saß, stumm den Fragen ihres Vaters auswich, dass es besser wäre, sie hätte sich den heutigen Tag krank gestellt. Hätte behauptet, sie stände noch zu sehr unter Schock oder so ... Ihr wäre da schon was eingefallen. Doch jetzt machte sie sich schon auf den Weg.

In der Ortsmitte trafen sich - wie jeden Morgen - alle Schüler, die mit dem Bus zur Schule in der nächsten Stadt fahren mussten. Auf ihre Schule gingen zwei davon. Sedie und Robin. Bald würden sie das hoffentlich nicht mehr müssen. Robin machte bereits seinen Führerschein und Selena hoffte, ihn auch bald machen zu können.

„Sieh an, wer sich da her traut. Der Emo oder eher die Hexe. Na, hast du dir gestern Nacht dein erstes Opfer geholt?“, begrüßte sie Sedie kichernd, hüpfte hin und her und um Selena herum. Sie beschloss Sedie zu ignorieren. Sie war zwar nervtötend, aber dank ihrer zierlichen Figur kein bisschen einschüchternd.

Woher sie wohl weiß, dass ich sie gefunden hab?, dachte Selena. Aber wenn sie es weiß, weiß es sowieso schon der ganze Ort. Bestimmt geistert schon das abergläubische Geschwätz von Sedies Familie – Familie Hall – durch die Gegend.

Die Blicke stachen noch mehr als sonst, das spürte sie. Dennoch drehte sie sich nicht um.

„Scher dich weg, du Plagegeist!“, zischte Robin Sedie zu, die nun auch noch albernde Kinderreime umdichtete. Er stellte sich neben Selena.

„Ich komm schon klar, Robin“, meinte sie weiter starr nach dem Bus Ausschau haltend.

„Das sagt die äußere Selena, aber die innere sagt sicher etwas anderes, oder? Das muss doch schrecklich gewesen sein, dieses Mädchen zu finden.“

Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht. Das war so typisch Robin. Meinte immer jeden verstehen und helfen zu können, doch er würde sie nie verstehen. Bestimmt nicht. Wie die meisten anderen auch.

Naja, er war auch erst vor kurzem in den Ort gezogen und so noch unvorbelastet. Vielleicht gab er sich ja deshalb mit ihr ab.

„Woher wissen eigentlich alle schon davon?“, fragte sie schließlich.

„Ich bitte dich! Die Sirenen, der Schreihals Jenkins, der alles und jeden verflucht hat, weil sein Feld ruiniert ist ... Wer da noch schlafen konnte ...“

„Ich. Ich habe geschlafen, nur nicht besonders gut.“

„Was? Hast du dich in den Schlaf gezaubert? Zuerst tötest du ein Mädchen, um dann einfach seelenruhig zu schlafen, während draußen die Hölle losbricht. Du bist so ein Teufelsweib!“, mischte sich Sedie schließlich ein, die anscheinend gelauscht hatte.

So typisch. Seelenruhig drehte Selena sich um, sah auf sie hinab, genau in ihre leuchtenden, gierigen Augen, holte einmal tief Luft, nur um mit aller ihr möglichen Ruhe zu sagen:

„Pass auf: Wenn ich wirklich hexen könnte oder gar psychopathisch genug wäre, um jemanden eiskalt zu töten, dann würde ich jetzt nicht gerne in deiner Haut stecken!“

Robin griff nach ihrer Hand, als müsse er sie davon abhalten auf Sedie loszugehen. Und genau das hätte sie vielleicht auch getan, weil Sedie zischte:

„Früher hat man jemanden wie dich verbrannt.“

Spinnerin! Wie die ganze Hall-Familie, streng gläubig, vor allem abergläubisch. Die lebten wirklich noch im Mittelalter.

Im Bus dann saß sie allein, Robin saß irgendwo hinten bei einem seiner Kumpel. Er hatte viele, wollte sich immer mit allen und jedem gut stellen.

Ja, manchmal störte es sie allein zu sein, aber es hatte auch etwas Gutes. Stille. Stille, die in der Nacht meist fehlte. Allen Lärm um sie herum blendete sie aus. Zur Not griff sie nach ihrem Kopfhörern und hörte sich über ihr Smartphone irgendeine Musik an. Hauptsache ruhig – Balladen etwa - dennoch laut genug gestellt, um alle anderen nicht zu hören.

Sie ließ sich Zeit, wie jeden Tag, um die Schule zu betreten. Lief noch ein bisschen auf dem Schulgelände herum, bis kurz vor dem Klingeln, um dann ihren üblichen Platz in der letzten Reihe einzunehmen.

Ihren Block holte sie nur raus, um zu zeichnen.

Was die Lehrer vorne redeten interessierte sie nicht. Irgendwie packte sie die Schule schon. In der Pause dann das Übliche: Sedie tratschte mit der Ober-Zicke Amber, ein blondes Biest, das sich für etwas Besseres hielt. Wiedereinmal war sie, Selena, das Gesprächsthema, dank Sedie. Amber würde sich sonst bestimmt einen feuchten Dreck um sie scheren, wie der andere, jämmerliche Rest der Schüler hier. Aber so kam sie nun auf sie zu.

Selena kannte den Ablauf.

„Freak!“, zischte Amber ihr zu. Lachte. Ging dann weiter. Einfach an ihr vorbei mit erhobenen Kopf herumstolzierend auf ihren teuren Marken-High-Heels.

„Hexe!“, kam es von Sedie, die wie ein Hündchen hinter Amber her dackelte.

Dann trafen sie unter Gelächter sich mit den anderen beiden. Chris, Ambers Freund, dieses muskelbepackte Hohlbrot und Gwen, die Schlägerin in Ambers Truppe. Von der hielt man sich wirklich besser fern.

Sie suchte nach Robin, fand ihn aber nicht. Hatte wahrscheinlich wieder etwas Besseres zu tun.

Kurz vor der Mittagspause wurde sie dann aus dem Unterricht geholt. Das bedeutete nie etwas Gutes. Blicke folgten ihr. Mehr als sonst. Im Dorf kannte sie das ja, aber in der Schule beachteten sie die meisten nicht, mal abgesehen von Amber und ihre Anhängsel.

Selena meinte Sedie schadenfroh kichern zu hören.

„War da etwa eine böse?“, kam es von Amber.

„Wohl jemanden verflucht?“, sprang Sedie darauf auf.

Gelächter ertönte nun überall. Sie grinste nur, zeigte den Stinkefinger während sie den Raum verließ. Du darfst dich schwach fühlen, auch verletzt und traurig. Aber zeigen darfst du es nicht.

Sie kam erst gar nicht bis zum Zimmer des Rektors. Eine grimmig schauende Frau und ein Mann mit großen Augenringen kamen ihr entgegen und hielten sie auf.

„Sind sie Miss Lee?“, fragte die Frau.

„Selena, bitte. Kein Sie und vor allem kein ‚Miss Lee’. Die gibt es nicht mehr“, sagte sie, schaute kurz zu Boden. Tief durchatmen. Dann blickte sie wieder auf.

„Tut mir wirklich Leid. Ich bin Detektiv Smalls“, sagte der Mann

„Miller“, brummte die Frau, präsentierte ihre Polizei-Marke, als wäre sie eine Trophäe. Rein optisch stellte sich Selena vor, könnte sie auch einmal so aussehen wie diese Polizistin, aber nur wenn sie denn mal wieder anständigen Schlaf finden würde.

Während Smalls die Tür eines leeren Unterrichtsraums öffnete, schoss die Frau auch schon los.

„Sie haben gestern den Notruf gerufen, oder?“

Selena nickte wieder nur. Woher wussten das alle? Sie hatte am Telefon doch nie einen Namen gesagt.

Detective Smalls blickte seine forsche Kollegin vorwurfsvoll an. Offenbar gefiel ihm gar nicht, dass sie das Ganze übernehmen wollte.

„Setzt dich doch erst Mal, Selena. Und dann erzähl uns, wenn du kannst, in Ruhe, was du gestern gesehen hast“, versuchte er es.

Sie setzte sich unter kritischen Blicken dieser Miller, die auch sofort einen Stuhl schnappte und sich gegenüber von ihr setzte. Na toll, dachte Selena. Was soll das werden? Ein kleiner Rollentausch, sie der böse Bulle und er der gute? Außerdem: Warum hatte das Ganze nicht bis nach der Schule warten können?

„Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich habe im Grunde nichts gesehen. Ich hab sie einfach nur gefunden und sie war schon tot. Ich war geschockt, hab nur irgendwie den Notruf gewählt und bin weggerannt, Ok? Ich kann ihnen da nicht weiterhelfen, glauben sie mir“, sagte sie in der Hoffnung, sie würde dann schnell wieder gehen können. Ein Verhör, wie eine Verbrecherin – das war das letzte was sie jetzt gebrauchen konnte.

„Was hast du da draußen überhaupt gemacht um diese Zeit?“

Sie hatte es geahnt. Diese Miller würde sich nicht einfach so zufrieden geben, der Mann wäre bestimmt schon gegangen. War schon aufgestanden, als sie gesagt hatte, sie hätte nichts gesehen.

„Konnte nicht schlafen. Wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich eben spazieren.“

„Aha. Spazieren. Mitten in der Nacht. Verstehe. Und ganz zufällig bist du dann auf sie gestoßen, oder wie?“
„Sie können mir glauben oder nicht. Ich bin über das Feld, den Feldweg entlang Richtung Wald gegangen und habe dann da etwas liegen sehen. Ich hab nachgesehen und ... naja habe Panik bekommen. Ich meine: Haben Sie sie gesehen? Wer tut so was?“

„Das frage ich dich.“

„Woher soll ich das denn wissen?“

Der Polizist, dieser Smalls schüttelte den Kopf und deutete auf die Tür, als würde er sich für das Verhalten seiner Kollegin schämen.

„Du wirkst jedenfalls nicht besonders erschüttert“, brummte die Polizistin.

Unverschämt! Als wüsste die was in mir vorgeht, dachte Selena.

Schon platzte auch dem Polizisten schließlich der Kragen. Im Gegensatz zu seiner Kollegin wirkte er ja nicht bedrohlich, aber das machte er mit seiner Stimme weg:

„Genug jetzt Miller! Wenn Sie darauf bestehen, können Sie sie noch einmal befragen, wenn ihr Vater dabei ist, aber das geht jetzt zu weit.“

Widerwillig stand die Polizistin auf.

„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Wir sehen uns wieder“, meinte sie, starrte ihr in die Augen. Selena bemühte sich redlich nicht eine Miene zu verziehen. Schlimm genug, dass diese Spinner vom Dorf, diese Familie Hall, sie für eine Mörderin hielt. Die Polizistin traute ihr offenbar auch so etwas zu. Nicht zu fassen!

Endlich gingen die beiden und sie war wieder allein. Die Klingel ertönte zur Mittagspause, doch sie blieb noch eine Weile so sitzen, in diesem leeren Unterrichtsraum.

Dann beeilte sie sich in die Kantine zu kommen.

Getuschel überall.

Sie steuerte auf einen freien Tisch zu, spürte die Blicke, die sie sonst nur von den Dorfbewohnern kannte. Jemand setzte sich neben sie. Sie wollte schon wieder aufstehen, blieb aber sitzen, als sie erkannte, dass es nur Robin war.

„Was hat der Rektor gewollt?“

„Nicht so laut. Es waren zwei Polizisten. Die haben Fragen gestellt wegen gestern. Keine Ahnung, warum das nicht hat warten können, bis ich daheim bin.“

„Mh. Wie waren die so?“

„Einer, so ein trotteliger Mann, war ganz in Ordnung. Aber stell dir vor: Seine Partnerin, hat mich behandelt, als hätte ich dieses Mädchen getötet.“

Er nickte nur.

Irgendwann endet auch dieser Tag. Ein Tag noch schwerer als die vielen, letzten Tage seit Mutter nicht mehr da ist.

Und wenn der Tag kommt, kommt die Nacht.

Doch heute war Neumond.

Vielleicht finde ich ja heute endlich mal wieder erholsamen Schlaf, dachte sie.

„Neumond“

Obwohl der Mond nicht mehr am Himmel zu sehen war - es war Neumond - , konnte sie erneut nicht schlafen. Zu viele Bilder zogen vor ihrem geistigen Auge hinweg. Bilder des Mädchens, das sie gefunden hatte. Sedie hatte behauptet, es sei eine von ihrer Schule gewesen. Amanda sowieso. Eine Klasse unter ihr. Doch niemand hatte das bisher bestätigt. Zum Glück.

Sie musste heute Nacht erneut nach draußen, um diese Bilder irgendwie wegzulaufen. Dieses Mal, beschloss sie, würde sie in die entgegengesetzte Richtung gehen, an der großen Weide vorbei. Auch diese gehörte dem Jenkins.

Wo normalerweise Schafe und Kühe ihr Unwesen trieben, war es jetzt still, sehr still. Ihre starke Taschenlampe beleuchtete die leere Wiese.

Wahrscheinlich befanden sich die Tiere in der Scheune, dachte sie, ging einfach weiter.

Es funktionierte. Das tote Mädchen verschwand aus ihrem Kopf.

Ihre Gedanken drehten sich stattdessen um Robin, diesen langen, dürren Jungen mit den so strahlend, blauen Augen. Wie aus dem Nichts hatte er ihr doch tatsächlich angeboten, mit ihm in den Urlaub zu fahren, falls sie noch nichts vor hatte! Sie hatte es erst nicht glauben wollen und ja, sie hatte zugesagt.

Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht. Vielleicht war das dann endlich der Punkt der Besserung, nach dem sie sich so sehr sehnte.

Auf dem Rückweg dann meinte sie, einen Schatten in der Ferne zu sehen. Zunächst dachte sie nicht groß darüber nach, doch je näher sie ihm kam, war sie sich sicher, da war jemand. Auf der Weide vom Jenkins. Mitten in der Nacht. Sie wagte sich nicht ihre Taschenlampe auf ihn zu richten. Beschleunigte ihre Schritte.

Einfach weitergehen. Nein, dieses Mal siehst du nicht nach, sagte sie sich.

Da war es wieder. Dieses Unbehagen. Obwohl der Mond nicht schien. Prompt fiel ihr auch etwas ein. Morgen war dieses doofe Jubiläum. Das Kaff, in dem sie wohnte, wurde 500 Jahre alt. Es würde eine Parade geben, bei der sie bestimmt auf sämtliche Dorfbewohner treffen würde.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3122-6

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