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Vorwort

Die Schilderungen und Meinungen, die in diesem Buch dargestellt werden, sind in keinster Weise rassistisch - oder in sonstiger ausgrenzender Form - zu verstehen. Falls Verbindungen zu realen Personen bestehen sollten, so sind diese nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Auch alle Ereignisse und Orte sind fiktiv.

Prolog

 Fehler 1: „Fehlerfrei“

 

Wenn das Herz ein Teil verliert,

sich jedoch nicht generiert,

wenn der Geist am Fleck verweilt

und sich nicht mehr selber heilt,

treten wir den Fehlern bei,

doch Menschen sind nicht fehlerfrei.

 

Adam Grants war schon immer fasziniert von ihnen, von all den Fehlern. Jene, die auch er hin und wieder machte. Das liegt eben in der Natur des Menschen. Auf Grund eines Fehlers, des Fehlers eines Arztes um genau zu sein, hatte er sein Vermögen noch um einiges vervielfacht. Gut, der Fehler – ein vergessenes OP-Tuch in seinem Bauch – hätte ihn fast das Leben gekostet, aber hey: Noch war er hier. Sein Anwalt hat diesen Arzt völlig fertig gemacht, ausgenommen.

Er selbst war dem Arzt sogar ein bisschen dankbar, denn er hatte ihn auf eine Idee gebracht.

Er wollte das Zeichen Gottes nutzen, der ihn scheinbar nicht sterben lassen wollte: stattdessen weiter die Fehler anderer zeigte. Er verstand ihn nicht diesen Gott. All die Fehler, all die Schicksalsschläge. Nein, der Mensch ist keine perfekte Rasse. Wenn es diese höhere Macht gab, diesen Gott, so war er jedenfalls auch nicht fehlerfrei, sonst hätte er nicht den Menschen in dieser Art geschaffen.

Aber dass die Menschen nicht perfekt sind, macht sie so spannend. Und es keimte jene Idee in ihm. Ideen waren immer schon seine Stärke.

Er brauchte hierfür nur ein paar Freiwillige.

Warum nicht dafür all das nutzen, was er sich über die Jahre aufgebaut hatte? Sein Kapital, seine Baufirma.

 

Schon seit Monaten hatte er nun alles genau geplant und aufgebaut.

Die ersten Gebäude eines eigenen geschlossenen Häuserkomplexes, einer Gated Community, standen schon. Auch Strom und Wasser floss schon, natürlich bezogen von seinen eigenen Werken. Er würde dennoch nicht weiterbauen, trotz des riesigen Grundstücks. Es diente alles nur zum Schein. Nur Teil des großen Ganzen. Die bisherigen Gebäude würden reichen. Für sein Spiel. Sein Experiment. Er liebte das Spielen, denn er hatte immer Glück dabei. Egal ob im Lotto, an der Börse oder wenn es darum ging, Aufträge für seine Firma an Land zu ziehen. Aber das hier würde so viel mehr sein, als nur ein Spiel, es würde ihn einiges kosten, sicher, aber wenn alles nach Plan verlief, war es das wert. Sie werden schon alle sehen, was gesehen werden muss.

Er brauchte jetzt nur noch Bewohner oder eher Mitspieler. Menschen, die er studieren konnte. Es mussten welche sein, die gezeichnet waren, gezeichnet von Fehlern, die denken, sie würden keine weiteren machen.

Wie er sie bekommen würde? Klar, mit Geld. So wie er schon immer alles bekommen hatte, was er wollte, außer seiner Gesundheit eben und seines Glückes. Geld kann nämlich auch einsam machen.

Er würde ihnen einfach sagen, es sei eine offizielle Studie. „Das Schicksal und wie es sich auf unsere Gesellschaft auswirkt“, soll der Titel sein.

Sicher würden sie bald schon merken, dass etwas faul ist. Aber egal. Dann wäre es zu spät. Das Geld wird sie in seine Falle locken.

Auch eine große Crew hatte er um sich versammelt. Angestellte, teils eingeweiht, größtenteils nicht. Den meisten reichte zum Glück ein großer Batzen Geld, damit sie keine Fragen stellten und einfach taten, was er ihnen sagte.

Eine davon war Jessica Ridleas, ein noch junges, aber schon gerissenes und hinterhältiges Biest, dem er nicht so ganz traute, die aber perfekt dafür war, den Maulwurf zu spielen. Den Spitzel. Sich unter die Teilnehmer zu mischen. Sie wird ihm berichten. Und Protokoll führen. Über die Fehler, die er beobachten will.

Soeben las er ihren ersten Aufschrieb:

Einer unser Fehler ist, dass wir nach Perfektion streben. Versuchen fehlerfrei zu sein. Doch wir müssen Fehler machen. Das macht uns menschlich, das macht uns interessant.

Und genau deshalb, wird es so interessant sein, diese vom Schicksal gezeichneten oder von der Gesellschaft ausgegrenzten Menschen, auf diese Weise zu beobachten. Ihr Zusammenspiel. Ihre Fehler.

„Entspricht das ihren Vorstellungen, Mister Grants?“

Er klopfte ihr lobend auf die Schulter.

„Ja. Genau so.“

Sie grinste.

Er lächelte. Lasset die Spiele beginnen, dachte er.

 

Dann war es endlich so weit, als die Sonne sich schon neigte. Sie sahen sie kommen. Die Teilnehmer. Über die vielen Bildschirme, über die sein IT- Speziallist, Christopher Eld, sie während der Studie ständig überwachen würde, hatten sie die Teilnehmer genau im Blick. Adam kratzte sich an seinem Drei-Tage-Bart. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit bei diesem Anblick, da waren schon ein paar zwielichtige Gestalten dabei. Nicht, dass das Ganze noch zu schnell geht. Ja, sie mussten so sein: zwielichtig, merkwürdig, spannend eben. Normal war langweilig und konnte er nicht gebrauchen. Er hatte diese Menschen ja nicht ohne Grund ausgewählt.

Jessica hatte sich inzwischen unter sie gemischt, setzte wieder ihr gemeines Grinsen auf. Blickte genau in die Kamera.

Fehlt nur noch, dass sie winkt, dachte Adam verärgert.

Wenigstens schienen noch alle brav mitzuspielen und das Kontrollgebäude am Tor zu betreten, in dem sich der Konferenzraum befindet, zu dem sie als aller erstes gehen sollten, um weitere Anweisungen zu empfangen, wie er ihnen postalisch mitgeteilt hatte.

 

Eliza konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Warum nur hatte Vater sich auf das hier eingelassen? Auf solch eine dubiose Studie. Schon als sie die Anzeige dafür gesehen hatte, hatte sie ihn angefleht sich nicht dafür zu bewerben, zumal sie ja auch mitmachen sollte. Sie war doch kein Versuchskaninchen, keine Laborratte, mit der man sonst was anstellte.

 

„Du siehst es einfach nicht, Eliza, oder? Weißt du, was das für eine Chance ist? Wir brauchen das Geld. Dringend. Sehr dringend“, hatte er gesagt.

„Du spinnst doch! Kommt dir denn gar nichts komisch daran vor? In eine dieser privilegierten Wohnkomplexe ziehen und noch eine Stange Geld dafür bekommen? Was soll das denn bitte für eine Studie sein?“

„Das hat schon seine Richtigkeit. Es geht um Gesellschaft und so weiter. Wird schon nicht so schlimm werden.“

Sie lachte nur. Naiv war er, so naiv. Blind vor Schulden und Trauer.

„Tu es für deine Mutter. Bitte.“

Genau das hatte sie erwartet.

„Mutter ist tot. Tot. Tot. Und du bist schuld. Schuld an allem. Dein Geld verzockt, dein Job verloren. Mensch reiß dich doch endlich mal zusammen und bekomm' dein verfluchtes Leben in den Griff! Nein, du willst ja wieder den scheinbar einfachen Weg, die Flucht in diese dubiose Studie. “

Schnell wischte sie die aufkommende Träne weg, wand sich von ihm ab und stapfte in ihr Zimmer. Ja, er war schuld. Mutter war sehr krank gewesen, vielleicht hätte sie ja doch überlebt, aber nein, er musste ja seinen Job verlieren, sein Geld, seine Versicherungen. Alles eben. Konnte ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Und statt nach vorne zu blicken, sich einen neuen Job zu suchen, ertrank er in seiner Trauer, hortete einen Haufen Schulden und meinte nun diese so dubiose Studie wäre der Ausweg aus allem.

 

Jetzt stand sie also hier. Passierte mit mehr als Unbehagen das große, sehr stabil aussehende Tor, dessen Öffnung ein stämmiger Wachmann veranlasste, in dem er irgendeinen Code eingab. Im matten Licht der schwachen Neonbeleuchtung des Tores wanderten ihre Blicke nun kurz über die anderen. Ein wahres Kuriositätenkabinett: Eine Frau bewegte sich sehr unsicher und schnalzte ständig mit ihrer Zunge, ein dicker Mann sah aus wie ein Obdachloser mit seinem langen zotteligen Bart und seinen verfilzten Haaren, wer weiß, vielleicht war er auch einer. Einer war dick und riesig, eine andere klein und schmächtig. Jede Altersklasse schien vertreten, auch ein Rentner war unter den Teilnehmern. Und doch schienen viele der Anwesenden noch jung, vermutlich selbst Studenten oder Minijobber, die nebenher schnell Geld verdienen wollten oder eher mussten.

Lediglich 5 der 15 Anwesenden, so schätzte Eliza, waren über 30. Alle samt schienen sie etwas verwirrt von dieser Zusammenstellung zu sein.

„Was für ein erbärmlicher Haufen!“, stieß eine Frau mit deutlich eingefallenen Gesicht aus und erntete sofort finstere Blicke.

Eine weitere Frau, die bestimmt nicht viel älter als Eliza war, kicherte.

Kurzum: Es war einfach nur eine dumme Idee gewesen hier mitzumachen.

„Jetzt stell dich nicht so an!“, zischte ihr Vater ihr zu, der offenbar ihre nach wie vor bestehenden Bedenken bemerkt hatte.

„Das sagt der Richtige!“

Auch die schier endlos hohe Mauer, die das Grundstück zu umgeben schien, bereitete ihr Sorgen. Das Tor schloss sich hinter ihnen. Wie ein Gefängnis. Eine uneinnehmbare Festung, die Sicherheit vermitteln sollte, ihr aber nur Angst und Unbehagen bereitete.

Kurz hinter dem Tor war auf der linken Seite ein unscheinbares, kastenförmiges Gebäude, auf das sie nun zugingen. Das musste das Kontrollgebäude sein.

Als sie es betraten, wie es in dem Brief verlangt worden war, riss sie die Augen weit auf. Es war gigantisch! Viel größer als von außen ersichtlich. Ein Schild mit einem großen Pfeil führte sie eine Treppe nach oben in den ersten Stock. Ihr Gepäck deponierten sie vorerst in einem scheinbar leeren, extra dafür gedachten Raum im Erdgeschoss.

Im ersten Stock angekommen, wuchs ihr Erstaunen mehr und mehr. Auf einer Art Galerie waren ringsherum große Glasfenster, die einen Blick auf die übrigen, ebenso großen Häuser offenbarten. Auch wenn es inzwischen dunkel geworden war, erkannte sie im schwachen Licht einiger Straßenlaternen, dass dies nahezu Villen sein mussten.

Auch die anderen, sehr bizarren Gestalten, mit denen Eliza nun zu dieser Studienteilnahme verdonnert war, gafften aus den Fenstern.

„Schön nicht? Sie werden nachher noch genug Zeit haben, das Gelände zu besichtigen. Am besten Morgen früh, bei Tageslicht. Würden Sie mir jetzt bitte in den Konferenzraum folgen?“, ertönte eine helle, leise Stimme. Alle drehten sich augenblicklich um. Die Stimme kam von einem jungen Mann mit verwuscheltem, schwarzem Haar. Wahrscheinlich ein Student. Der Leiter der Studie war dieser doch eher unsicher wirkende Typ bestimmt nicht, dachte Eliza.

Dann betraten sie schließlich einen großen hellen Raum.

Wie auf dem Weg zum Schlachter, dachte Eliza, packte, was sie sonst normal nie tat, die Hand ihres Vaters. Ja, sie hatte Angst. Einfach kein gutes Gefühl. Es musste einfach irgendeinen Haken geben und wahrscheinlich bestand dieser aus eben dem, was sie für diese Studie tun sollten und vor allem mit wem.

 

 

 

 

 

 

Phase 1

- kontrolliert -

Tag 1

 Fehler 2: „Lügen“

 

Die Wahrheit ist ein kleiner Samen in einer Erde voller Lügen. Ist er erst einmal entdeckt, beginnt er zu gedeihen und verdrängt alles auf seinem Weg ans Licht.

 

Der Konferenzraum war riesig. In der Mitte stand ein großer Tisch mit bestimmt 20 Stühlen rundherum.

„Mein Name ist David Lamp und ich heiße sie heute herzlich willkommen zu unserer Studie zum Thema ‚Schicksal und Gesellschaft‘. Nehmen Sie doch Platz. “

Lautes Gemurmel ertönte nun. Blicke wanderten.

Eliza betrachtete sie nun alle ganz genau: Zwei der Anwesenden vermieden jeden Augenkontakt: die Frau, die so unsicher ging und immer zu mit ihrer Zunge schnalzte, sowie ein kleines Mädchen, etwa so alt wie sie selbst.

Aus der Reihe fiel auch vor allem der Rentner, der die ganze Zeit angestrengt auf diesen David starrte, förmlich an seinen Lippen hing.

„Es wird folgendermaßen laufen: Jeden Tag werden sie ein oder zwei Aufgaben von uns erhalten, die sie im Laufe des Tages durchführen sollten. Es wird für Sie vielleicht anfangs etwas seltsam sein, aber das gesamte Gelände ist kameraüberwacht, sodass wir sie jederzeit im Blick haben. “

Er ließ bewusst eine Pause. Schon bebte das Gemurmel aufs Neue auf:

„Soll das etwa gut sein?“

„Wie zu Kriegszeiten“, schimpfte der Rentner

„Das ist eine Studie, was haben Sie denn gedacht?“

„War doch klar, dass das 'ne abgefackte Scheiße ist. Und? Den Batzen Geld ist es doch wert“, sagte die Frau mit dem eingefallenen Gesicht

„Chillt doch Leute!“, summte ein Typ in Jogginghosen und Sweater.

„Bitte WAS?“, fragte der Rentner mit seiner sehr lauten, krächzenden Stimme.

Schon allein die Gesprächsfetzen, die Eliza da aufschnappte, waren zum Davonlaufen. Das konnte was werden!

David unterbrach das Gezeter kurzerhand mit lautem Händeklatschen.

„Ruhe bitte!“

Augenblicklich war es still und er fuhr fort.

„Bevor ihnen gleich ihre Häuser zugewiesen werden, würde ich Ihnen gerne schon einmal ihre erste Aufgabe übermitteln: Stellen sie sich vor. Erzählen Sie von sich. Jeder der Reihe nach. Ich will, dass Sie sich kennen lernen.“

Der wohl dickste und sicher auch größte der Anwesenden stieß ein lautes, hässliches Grunzen aus.

„Ich heiße Jimmy Gwin, aber alle nennen mich Fat Jimmy. Ich bin 27. Mehr gibt’s nicht zu sagen. Und kann ich jetzt endlich mein Quartier beziehen, Mister?“, fragte er. Stand schon auf, präsentierte somit seinen ganzen gewaltigen Körper und blickte nun genau auf David hinab. Der lächelte nur verlegen. Vorsichtig nach oben Richtung Jimmys Gesicht schauend. Sichtlich um Fassung bemüht, meinte David:

„Offenbar haben Sie die Aufgabe nicht ganz verstanden oder ich war nicht deutlich genug: Sie sollen sich nicht nur vorstellen, sondern den anderen auch zuhören. Sie könnten auch Fragen stellen. Etwa: Was machen sie von Beruf? Wie Sie sich vorstellen, überlasse ich Ihnen, aber es wäre schön, wenn sie das Ganze hier nicht nur als Austausch von Personalien sehen würden, sondern sich unterhalten, sich die Zeit nehmen, um sich gegenseitig etwas besser kennenzulernen.“

Eliza atmete tief ein und aus.

„Und Fat Jimmy; Was machst du von Beruf?“

Eine junge Frau, die aussah wie ein Punk – gepierct, gefärbte Stachelhaare und so weiter – und die immerzu mit einem frechen Grinsen im Gesicht herumlief, lachte laut auf. Sie blickte in die Runde. Auch die anderen schienen erheitert oder gar erstaunt, da sie, sicher einer der jüngsten in der Runde, als erste auf diese ach so tolle Ansage reagiert hatte. Ihr Vater schien nicht ganz so begeistert.

Fat Jimmy grinste nur:

„Wie heißt du Kleine?“, fragte er stattdessen.

„Eliza. Und ich habe dich etwas gefragt.“

„Eliza, mh? Hübscher Name. Traust dich ja ganz schön was.“

„Ich sehe, das wird schon. Genau das habe ich vorhin gemeint. Ich werde mich dann mal verabschieden“, unterbrach David sie plötzlich, stand auf und wand sich zum Gehen.

„Hey! Was ist mit der Häuserverteilung und dieser Vorstellung? Sie können doch nicht einfach gehen“, meinte die Frau, die mit der Zunge schnalzte, die Eliza auf Mitte 40 schätzte. Sie wirkte die ganze Zeit schon so hippelig, wippte ständig mit ihren Beinen und ging offensichtlich nicht nur Eliza damit auf den Geist.

Aber sie hatte Recht. Warum wollte er jetzt auf einmal gehen? Was sollte das alles? Was war das für eine merkwürdige Studie? Sie beschloss daher, sich für das restliche Gespräch etwas zurückzuhalten. Schon, wenn sie die Teilnehmer betrachtete, bekam sie ein mehr als ungutes Gefühl, ja fast schon Angst, musste sie zugeben. Besonders ein Junge mit einer großen Narbe im Gesicht wirkte nicht gerade sehr vertrauensvoll.
„Ich sollte mich da so wenig wie möglich einmischen. Ich bin nur für das Überbringen der Aufgaben hier, mehr nicht, alles andere würde die Studie gefährden. Und die erste Aufgabe ist nunmal, dass sie sich vorstellen und ins Gespräch kommen sollen. Wenn sie ihre Aufgabe erledigt haben, werde ich wieder kommen und ihnen ihre Unterkünfte zeigen“, sagte David.

Dann ging er auch schon.

 

Erwarte nicht, dass dir die Wahrheit erzählt wird, denn die gibt es nicht. Das liegt ganz einfach daran, dass wir so sind wie wir sind. Lügner, elende Lügner.

Wir sind alle voller Fehler. Unser Leben ist aus Lügen gewoben, unsre Kraft eingebildet, unser Überleben am seidenen Faden. Danke Menschen für die Unterstützung, dass dieser Planet irgendeinmal zu Grunde geht. Aber alles hat ja bekanntlich ein Ende.

Adam schmunzelte, als er diesen Protokolleintrag las.

„Etwas stark eigen-interpretatorisch, aber in Ordnung. Was ist mit dem Gesprächsprotokoll?“, fragte er sie.

Diese Vorstellungsrunde war natürlich eine einzige Lügenrunde gewesen. Genau das war schließlich beabsichtigt. Wenn Fragen nach dem Beruf gestellt wurden, wichen einige aus. Andere waren ehrlich. Ein paar eben aber nicht.

Doch als Jessica Ridleas, die sich unter die Teilnehmer gemischt hatte, dann während dieser Vorstellungsrunde immer mal wieder mehr als unangenehmene und unangemessene Fragen stellte, war offensichtlich, dass gelogen wurde. Oder geschwiegen. Genau, wie er es sich gedacht hatte.

Oft ist es ein Fehler zu lügen, das werden die Teilnehmer schon noch merken.

Das Protokoll, das Jessica ihm schließlich mit einem spöttischen „Hier bitte schön, Maestro!“ auf seinen Schreibtisch knallte, sprach für sich:

 

Gesprächs-Protokoll zu Tag 1; Fehler: Lügen

Jimmy Gwin: Ich heiße Jimmy Gwin, aber alle nennen mich Fat Jimmy. Ich bin 27. Mehr gibt’s nicht zu sagen.

Hinweis von David, dass die Aufgabe aus mehr besteht.

Eliza Carry: „Und Fat Jimmy. Was machst du von Beruf?“

Jimmy Gwin: „Wie heißt du Kleine?“

Eliza Carry: „Eliza Carry. Und ich habe dich etwas gefragt.“

Jimmy Gwin: „Eliza, mh? Hübscher Name. Traust dich ja ganz schön was.“

David weist die Probanden darauf hin, das er nun geht und nach Erfüllung der Aufgabe wiederkommt. Protest ertönt, wird ignoriert. Lange Pause und ratlose Beratung, was zu tun sei. Ich ergreife das Wort und schlage vor, dass wir doch einfach die Aufgabe erfüllen sollten, denn ich bräuchte ja das Geld so dringend.

Joseph. R. Green: „Na schön, dann stellen Sie sich doch mal vor.“
Ich: „Ich bin Jessica Ridleas, 22 und studiere Sozialwissenschaften. Daher ist diese Studie von besonderem Interesse für mich, wie Sie sich vorstellen können, mal abgesehen, dass ich als Studentin nebenher immer gut Geld gebrauchen kann. Wer weiß, vielleicht werde ich in Kürze auch mal solch eine Studie durchführen. Meine Teilnahmeberechtigung besteht daher, dass ich meine Eltern verloren habe. Und jetzt zu Ihnen.“ (Wende mich an Joseph. R. Green.)

Joseph. R. Green: „Na schön. Mein Name ist Joseph Green. Ich bin 47.“

Ich: „Und warum nehmen sie an dieser Studie teil?“

Joseph. R. Green: „Ich nehme an, aus dem Grund, warum es die meisten hier tun. Des Geldes wegen.“

Ich: „Ich meine es geht hier ja auch um Schicksalsschläge. Was war ihr Schicksalsschlag?“

Joseph. R. Green: „Das weiß Gott allein. Ich möchte das nicht konkretisieren.“

Joanne Green: „Ich wüsste auch nicht, was Sie das angeht.“

Al Thurstan: „Hey, hey! Chillt doch! Sie hat doch nur was gefragt!“

Nic Key: „Hast wohl etwas geraucht, oder? Wie heißt du?“

Al Thurstan: „Al. Oder Big Al. Wie auch immer.“

Ich: „Und du Narbengesicht? Wie heißt du?“

Nic Key: „Nic. Und wenn du mich noch einmal so nennst...“

Ich: „Wieso? Woher hast du denn die Narbe?“

Nic wird von Paul Carry und Joseph. R Green davon abgehalten auf mich loszugehen.

Ich beschließe mich etwas zurückzuhalten und siehe da: Auch andere können interessante Fragen stellen.

Paul Carry: „Ich bin Paul Carry, 38 und wirklich nur des Geldes wegen hier. Dafür musste ich mir von meiner Tochter schon einiges anhören, glauben Sie mir.“

Eliza Carry:„Paps! Also wirklich, muss das sein.“

Frank Epperson(Geht dazwischen, hört Eliza ja nicht): „Kann ich mir vorstellen. Die Jugend heutzutage... Übrigens Epperson, mein Name, Frank Epperson“

Lucy Hayden: „Typisch verbitterter Alter. Schert die Jugend über einen Kamm“

Frank Epperson(an Paul Carry gewandt): „Was hat die junge Dame gesagt? Ich bin taub wissen sie, so schnell kann ich auch nicht mehr Lippen lesen.“

Überraschte Blicke. Schweigen.

Tonya Treviss: „Ich bin Tonya Treviss. Und falls sie sich schon gewundert haben: Ich bin blind.“

Kimbra Perish:„Sonst noch jemand behindert?“

Frank Epperson: „Unverschämte Göre! “

Allison Rouper schreibt auf einen Zettel, wie sie heißt, dass sie 18 Jahre alt ist und nicht sprechen kann. Nic Key boxt ihr darauf hin auf den Arm. Allison stößt ein undefinierbares Geräusch aus.

Joseph R. Green schreitet ein: „Was ist eigentlich bei dir falsch gelaufen, Junge?“

Nic Key (grinsend): „Als ich zur Welt kam, hatte Gott wohl einen schlechten Tag.“

Gelächter (Ich, Lucy Hayden, Fat Jimmy, Logan Green)

Joanne Green, die sichtlich nervös scheint, unterbricht das Ganze und meldet sich schließlich zu Wort: „Wer von ihnen ist gläubig?“

Paul Carry: „Ich war es einst. Wieso sind sie es?“

Joanne Green: „Ja, ich glaube Gott hat uns hier alle aus einem bestimmten Grund zusammen geführt. Ich bin übrigens Joanne Green.“

Kimbra Perish lacht laut auf.

Kimbra Perish:„Gott hat uns also hier zusammen geführt? Was für ein Schwachsinn!“

Joseph. R. Green (Kimbra ignorierend, an Paul Carry gewandt): „Warum sind sie nicht mehr gläubig?“

Paul Carry: „Das Leben. Wissen sie?“

Joseph R. Green: „Verstehe. Das ist übrigens unser Sohn Logan. Auch er wollte nicht unbedingt bei der Studie dabei sein und hat gesagt, er würde bei dieser Aufgabe kein Wort sagen.“

Ich: „Allison kann dir ja zeigen, wie du trotzdem kommunizieren könntest.“

Große Empörung bei Frank Epperson, Logans Eltern und Paul Carry. Allison schaut nur traurig zu Boden. Kimbra Perish lacht laut.

Joseph. R. Green: „Sie finden das auch noch lustig? Wie heißen sie und warum sind sie denn hier? Lassen Sie mich raten: So wie Sie aussehen haben Sie bestimmt Drogenprobleme?“
Kimbra Perish: „Ich heiße Kimbra. Und ja, ich find' das lustig. Und ich brauch das Geld eben um ein bisschen Spaß zu haben. Nicht jeder ist so ein Spießer. Deswegen bin ich noch lange kein so abgefuckter Junkie wie Al!“

Al Thurstan: „Hey! Entspannt euch doch mal! Ist meine Angelegenheit. Ich lass euch doch auch in Ruhe damit.“

Lucy Hayden: „Ich bin übrigens Lucy Hayden, 19. Und das ist?“

Bernard Newman: „Ich bin Bernard Newman und ja, ich bin obdachlos. Umso mehr würde ich mich freuen, wenn wir das Ganze jetzt beenden können und endlich etwas essen und in unsere Häuser gehen dürften.“

David hat das mitangehört und sich auf den Weg gemacht. Während des Wartens auf David herrschte zum größten Teil betretenes Schweigen.

Ich: „Lass uns doch noch einmal alle Namen kurz wiederholen. Ich komme gerne direkt zur Sache.“

Nic Key: „Kann ich mir vorstellen.“

Fat Jimmy und Logan Green lachen. Dann kommt David.

 

Nachtrag:

Viele schienen ehrlich zu sein, aber die ein oder andere Lüge fand sich. Vor allem belogen sie sich alle selbst. Ich war sicher eine der wenigen, die ihren Schicksalsschlag erklärt hatte und ehrlich direkt war. Am häufigsten sind aber die Lügen, die man nicht hört, vielleicht durch sehen feststellen könnte. Durch die Blicke, die ausgetauscht werden. Die unausgesprochenen Gedanken. Leider kann man die nicht so einfach lesen. Die Gedanken sind eben frei. Und sie sind unsere größten Lügen. Das ist erst der Anfang, Tag 1. Und sie werden immer mehr lügen, das ist eben Teil unserer Natur. Ein einziger Schutzmechanismus.

 

Adam Grants legte nachdenklich das Blatt weg.

„Miss Ridleas, meinen sie nicht, dass sie sich während des Gespräches etwas sehr in den Vordergrund gedrängt haben? Nachher fliegt ihre Tarnung noch auf“, wand er sich schließlich besorgt an Jessica.

„Wieso? Ich hab mich doch schon sehr zurückgehalten. Mann musste die einfach ein bisschen anstacheln.“

„Na schön. Aber passen sie auf. Ich brauch sie da draußen, wie sie wissen.“

„In Ordnung, Mister Grants.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fehler 3: „Gruppenbildung (Voreingenommenheit)“

 

Einer und einer, bald viele,

einer unter vielen, bald zu viele,

einer unter einzelnen, bald alleine.

 

Nach der Vorstellungsrunde wurde Eliza erst richtig bewusst, dass sie hier offensichtlich doch fehl am Platz war, was aber für alle irgendwie zu gelten schien. Vielleicht war ja auch genau das beabsichtigt.

Inzwischen waren sie in eine der gigantischen Villen gezogen. David hatte sie angewiesen möglichst direkt zum Haus zu gehen und gemeint, sie würden sich morgen diesen Ort gemeinsam ansehen, wobei es sowieso noch nicht so viel zu sehen gäbe. Außerdem hat er alle Handys einkassiert, sie sogar durchsucht! Das hatte wieder für große Proteste gesorgt und ihr sowieso schon schlechtes Gefühl, was diese Studie anbelangte, noch verstärkt.

Neben den sehr überraschenden Dingen, die während der Vorstellungsrunde zu Tage gekommen waren, wie etwa, dass die mit der Zunge schnalzende Frau blind war und der Rentner taub, sorgte auch die Häuseraufteilung zumindest teilweise für massive Verwirrung und Beschwerden. Die blinde, nervöse Frau, Tonya hieß sie, teilte sich mit Frank Epperson, dem Rentner und Allison, einem sehr verschüchterten stummen Mädchen eine Villa. Fat Jimmy musste mit Kimbra - die Frau mit dem eingefallen Gesicht, die eine doch sehr unangemessene Ausdrucksweise an den Tag gelegt hatte - und Al, der einen sehr... vernebelten Eindruck gemacht hatte, eine Villa teilen.

Sie und ihr Vater hatten da schon mehr Glück und bekamen keinen weiteren Mitbewohner. Ebenso erging es der anderen Familie, die aus der sehr gläubigen Frau, einem sehr streng wirkenden Mann und dem einzig halbwegs annehmbaren Teilnehmer bestand: Logan Green, einem Jungen, der so alt war wie sie und nicht mal so schlecht aussah!

Am besten jedoch hatte es der obdachlose Mann mit dem Zottelbart getroffen, der tatsächlich eine ganze Villa für sich hatte. Diesen Bernard oder so ähnlich.

Aber das alles sollte wohl genauso sein: provozierend und ungerecht.

„Teil der Studie“, hatte David gesagt und hatte sich dafür einiges anhören müssen. Erst Recht als er dann sagte: „Noch können sie gerne wieder nach Hause fahren, ab morgen sind sie verpflichtet, die Studie durchzuziehen. Ein Abbruch ist dann vertraglich nicht mehr vorgesehen.“

Als dann schon einige aufgestanden waren und auch Elizas Vater Bedenken geäußert hatte, hatte David auf einmal ein Bündel Geldscheine aus der Hosentasche gezogen: „Für sie springt auch einiges dabei raus, vergessen Sie das nicht.“

 

Jessica schrieb unterdessen:

Sie werden sehen, dass diese Verteilung kein Zufall ist. Müssen es doch irgendwann erkennen. Erkennen, dass die zusammen sind, die zusammen passen.

Gesellschaftlich gesehen zumindest. Genau das ist es doch, was wir Menschen tun.

Wir ordnen uns. Zu Gruppen. Häufig ist das ein Fehler. Ein weiterer Fehler eben. Denn das führt dazu, dass wir voreingenommen sind, dass wir Vorurteile bilden und haben.

Ganz erbärmlich ist es, wenn wir jemanden als verrückt einstufen. Was ist denn schon verrückt? Eine andere Art zu denken? Nicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 12.10.2015
ISBN: 978-3-7396-1774-9

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