Cover

Prolog

Ich bin hinter dir.

Du meinst, du könntest mich sehen?

Lächerlich. Dann ist es längst zu spät, denn ich bin schneller als du.

Hast du Angst?

Fühlst du, wie ich auf der Lauer liege, bereit dich zu fassen und nicht mehr loszulassen? Glaub mir, ich kriege dich.

Ich falle nicht auf, bin der Schatten, der dir folgt. Ja, ich bin der unheimliche Umriss nachts in dem Gebüsch vor deinem Fenster, oder derjenige, der hinter der Straßenecke auf dich lauert. Aber zunächst beobachte ich dich nur. Ja, ich bin hinter dir. Folge dir auf Schritt und Tritt. Weiß mehr, als alle anderen. Wenn du nicht daheim bist, installiere ich mein hochmodernes Spionageequipment. Wanze. Kamera. So klein und so funkstark; ich bekomme alles mit!

Ich habe immer Glück und ich bringe dir das Pech!

In meinem Job etwa mache ich es auch nicht viel anders, werde dafür sogar gut bezahlt. Niemand kann mir das Wasser reichen, denn ich bin bereit, die gesetzlichen Grenzen zu überschreiten. Privatsphäre kenne ich nicht. Hin und wieder hat das schon Ärger gegeben, aber auch einige neue, reiche, zwielichtige Kunden angezogen. Letztendlich kommen sie aber alle immer wieder angekrochen, weil die tolle Polizei an ihrem Begehren kein Interesse hat oder weil der tolle Partner sie betrügt. So fließt die Kohle nach wie vor. Betrüger gibt es nämlich viele, viel zu viele. Es ist doch immer wieder dasselbe.

 

Im Moment nehme ich keine neuen Aufträge an, habe ich eines Tages meine Sekretärin gebeten zu verbreiten.

„Es ist was Persönliches“, sagte ich.

Und wie persönlich es war. Ich muss mich seither voll auf sie konzentrieren, auf meine ach so tolle Ex-Frau, die mich einfach so fallen gelassen hatte wie einen Sack. Dieses Miststück. Eine weitere Betrügerin. Dabei war zu diesem Zeitpunkt alles so gut gelaufen. Das Geschäft lief, ich war kurz davor Vater zu werden und es hat mir immer so ein gutes Gefühl gegeben, die zufriedenen oder eher dankbaren Gesichter der Kunden zu sehen. Familien, denen ich geholfen habe. Ja, dankbar waren sie immer. Aber auch wütend, denn ich deckte auf, was sie sich immer schon gedacht hatten. Das erfreute mich aber noch viel mehr: Diese Wut zu sehen. Ich grinste jedes Mal innerlich bei der Vorstellung, sie könnten jetzt auf ihre zukünftigen Ex-Partner losgehen.

Doch schließlich war ich mein eigener Kunde geworden und das gefiel mir ganz und gar nicht.

Tagelang habe ich sie beobachtet. Beobachten konnte ich schon immer gut. Nicht auffallen. So, als wäre ich nie dagewesen. Mal folgte ich ihr mit meinem unauffälligen Auto, mal mit meinem Motorrad, aber meist ging ich zu Fuß.

Mein ganzes Equipment würde ich brauchen, dessen war ich mir schnell sicher gewesen. Ich sorgte also schließlich dafür, dass es an die richtigen Plätze gelangte.

Und was ich in den nächsten Tagen sah, entfachte etwas in mir, das spürte ich genau. Etwas, das in jedem von uns schlummert. Dieser Funken. Wut. Böses. Wie auch immer man es bezeichnen möchte. Nachdem fast ein Jahr ein, zwei andere Männer in MEINEM Haus herumgegeistert hatten, kam ER. Dieser Mann. Der blieb. Trotz der vielen Streitereien, die sie in den darauffolgenden Tagen mit ihm hatte. Nach ein paar Monaten sah ich schließlich warum sie zusammen geblieben waren. Sie hatte ein Kind von ihm bekommen! Von ihm hatte sie eins bekommen, von mir nicht!

Es bebte förmlich in mir, ich blieb weiter an ihr dran, sah wie sie aufwuchs, sie sich entwickelte, sie vergnügt in MEINEM Garten spielte. Dieses... Mädchen. Ihre Tochter, die meine hätte sein sollen.

Lange würde ich meine Wut nicht mehr unter Kontrolle halten können, das wusste ich genau.

Sie muss einfach raus.

 

Teil 1: „Rückzug“

 

Den Blitz im Auge,

die Faust erhoben,

sie ganz klein,

er dort oben,

über der Haube

des grün-braunen Waldes,

macht sie ein Zug zurück

und hofft auf ihr Glück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Der Wald“

 

Finster und kalt,

warm und hell,

was ist der Wald?

 

Unheimlich, unberechenbar,

beschützt und ruhend,

warm und kalt,

ja, was ist der Wald?

 

 

 

Liz hört sie kommen. Sie kommen immer lautstark. Pünktlich zum Abendessen. Einer der wenigen Momente des Tages, wo sie mal beide zusammen sind. Gemeinsam dort sitzen. Was auch immer war. Liz stört ihre Abwesenheit tagsüber nicht, im Gegenteil, sie genießt jede dieser stillen, freien Minuten.

Es beginnt. Mit einem typischen Abendessen. Der Anfang vom Ende. Wie immer.

 

Liz isst schnell. Beeilt sich in ihr Zimmer zu kommen. Der einzig sichere Ort im Haus.

Sie lässt die Tür offen. Nah genug liegt ihr Zimmer am Wohnzimmer, um alles zu hören. Sie lauscht, in der Hoffnung dieses Mal wäre es anders, aber genau wissend, was jetzt kommen wird.

Die laute, erboste Stimme ihres Vaters und die beschwichtigende, dennoch provozierende Stimme ihrer Mutter. Glockenhell meist leise, aber von ihrem Zimmer durchaus noch vernehmbar, das bringt der gute Schall im Haus, die dünnen Wände und die loftartige Struktur. Eigentlich ist es neutral betrachtet ein schönes Haus: Hochmodern, riesig und dennoch nicht allzu viele Zimmer. Sie findet das ganze jedoch etwas zu künstlich.

 

„Warum steht sie schon wieder einfach so auf? Das habe ich sie nicht gelehrt.“

Harmlos fängt es an. Wie immer. Es geht um sie, Liz, damit fängt er meist an. Am besten ist es ihn zu ignorieren. Verdrängen ist immer noch die Strategie ihrer Wahl, sonst wäre sie bei all dem was in den letzten Jahren in diesem Haus geschehen war, längst zugrunde gegangen.

Ihr Vater ist da anders. Er schreit stets seinen Frust heraus. Meist beginnt er dabei zu trinken. So auch heute. Immer wieder greift er zum Glas.

„Mh... Vielleicht machst du ihr Angst?“, murmelt ihre Mutter.

Still lacht Liz in sich hinein. Inzwischen kann sie darüber lachen. Ja, so ist sie, ihre Mutter. Sie selbst hat doch auch Angst, trotzdem provoziert sie ihn immer wieder. Genau wissend, zu was er im Stande ist, dieser tätowierte Muskelprotz, der sich Vater schimpft.

„Angst? Ich hatte ja schon immer gesagt, sie ist zu verweichlicht. Du lässt ihr ja immer alles durchgehen“

Der hat gut reden. Auch wenn sie nicht oft für mich da ist, ist sie genauso um Strenge bemüht, immerhin schreit, säuft und schlägt sie nicht, denkt Liz.

„Reg dich ab! Weißt du, es ist auch wichtig, dass sie soziale Kontakte aufbaut. Durch dein ständiges Verbieten und Herumgeschreie brauchst du dich nicht wundern, wenn sie Angst hat, sich zurückzieht.“

Da macht Mutter wieder einen auf analytisch, neutral. Das versucht sie immer. Doch ihre Stimme klingt dazu unpassend. Verängstigt. Wütend.

„Kontakte? Wie etwa dieses alberne Mädchen oder dieser Taugenichts, dieser Versager, mit dem sie ab und zu ja förmlich rumhängt? Die bringen sie doch nicht weiter. Außerdem: Hilfe brauchen ist schwach. Ich habe auch alles allein zu Stande gebracht.“

„Wohin das geführt hat, sieht man ja.“

Er wird immer lauter, sie immer leiser. Es ist der Moment für eine Pause, eine dieser bedrohlichen Pausen, in denen Liz jedes Mal Angst hat, dass die Fäuste fliegen würden. Ein paar Mal schon war es bereits dazu gekommen, dann war wieder ein Moment zu gehen. Zu Jessi, ihrer Freundin, um sich durch Gerede anderer Art abzulenken. Oder noch besser, sie traf sich mit Noah, wenn er gerade mal wieder in der Gegend war. Im Sommer aber, gibt es einen noch schöneren Ort. Den Wald. Es war noch hell genug dafür.

Aber heute muss sie nicht abhauen. Keine Fäuste fliegen. Die Pause verstreicht, er scheint sich seltsamerweise zu beruhigen, trinkt noch ein paar Schlücke und es geht weiter.

„Wenn dich stört, was ich tue, warum bist du dann immer noch bei mir? Warum gehst du nicht?“

Jetzt wird es interessant, denkt Liz.

„Das weißt du genau. Ich bin nur wegen Liz noch hier. Ich möchte mehr Zeit mit ihr verbringen. Für mich ist die Beziehung zu ihr wichtig, weißt du? Aber nein, dich interessiert ja nur ihre Karriere. Leistung. Leistung. Leistung. Das ist doch immer alles, was für dich zählt.“

Er schweigt eine kurze Zeit. Die nächste Pause. Sie öffnet ihre Zimmertüre noch ein bisschen mehr, lehnt sich an sie, bis sie schließlich ganz auf geht, lauscht weiter.

„Ach! Du willst mehr Zeit mit ihr verbringen? Das ich nicht lache! Wer ist denn ständig auf Arbeit, auf Betiriebsausflug? Wenn ich nicht schaue, dass es unsere Tochter zu etwas bringt, wer dann?“

„Ich arbeite wenigstens anständig. Was man bei dir und deinen ‚Geschäftsreisen‘ wohl kaum sagen kann. Mein Geld ist wenigstens nicht schmutzig! Du bist zudem ganz sicher nicht ein gutes Vorbild für Liz.“

Liz hört schon das erste Anzeichen, wie sie es nennt. Ein erstes, beleidigtes Erhöhen, der schwachen, dünnen Stimme ihrer Mutter.

Ja, seine Geschäftsreisen, das ist auch so eine Sache. Liz will erst gar nicht wissen, was ihr Vater da tut. Womit er sich sein Geld verdient. Am Rande der Legalität bewegt er sich auf jeden Fall, bei all den komischen Gestalten mit denen er zu tun hat. Ein weiterer Grund, warum Angst zu ihrem ständigen Begleiter geworden ist, auch wenn sie versucht, es nicht zu zeigen. Ganz sicher eifert sie ihm nicht nach, im Gegenteil.

„Schon mal überlegt, was du ohne dieses schmutzige Geld tun würdest? “

„Und hast du schon mal überlegt, was du ohne mich tun würdest, ohne unsere Tochter? Was wärst du, wenn wir dich einfach verlassen würden? Wenn ich den Bullen einfach alles erzähle, was du so treibst? Bist doch nur ein Gangster, ein Versager. So schnell könntest du gar nicht schauen, wie du im Knast landen würdest.“

Worte in den leeren Raum. Die nächste Pause. Die entscheidende. Jetzt ist es soweit, das spürt Liz genau. Ihre Mutter ist mal wieder zu weit gegangen. Also geht sie. Zum Glück ist es noch hell. Sommer. Als sie sich aus dem Haus schleicht, hört sie noch, wie ihre Mutter zu schluchzen beginnt.

Sie beeilt sich. Bevor es dunkel werden würde. Denn dann wäre der Wald zu unheimlich, zu unberechenbar... Jessi will sie um diese Uhrzeit nicht mehr belästigen und Noah treibt sich wer weiß wo herum, wahrscheinlich bei sich zu Hause in diesem kleinen Dorf in der Nähe ihrer Stadt.

Der Wald ist sowieso das beste. Durchschreitet den großen Garten, das Gartentor, die abgelegene Straße, mit den vielen Gebüschen und Bäumen.

Endlich erreicht sie ihn. Verlässt die Stadt, ihre Stadt, sonst so groß und undurchsichtig. Voller kleiner, schmutziger Gassen, Müll, Dreck. Ein Abbild ihres Vaters, nicht zu ihr passend.

Weg.

Weg mit diesen Gedanken.

Der Wald wartet.

 

Ich warte noch.

Habe ihren Streit mit angehört. Eine weitere dieser Streitereien. Meine Wanzen funktionieren ausgezeichnet. Was ich in den Jahren, nachdem mich diese... Frau verlassen hatte, in diesem Haus gesehen habe, war schlimm, sicherlich. Abscheulich. Sie hat sich doch tatsächlich nach einem neuen Freund umgesehen. Ich habe diese Mistkerle genau beäugt. Aber noch abscheulicher war, das einer dieser Männer dablieb. Für ihn hat sie sich also entschieden. Nicht für mich! Ich bin für sie genau so Abfall, wie unsere ungeborene Tochter. Jetzt hat sie sich eingelassen mit diesem Mafioso, diesem Mistkerl, diesem Gangster. Er ist der wahre Verbrecher hier. Wenigstens schlägt er sie. Da sieht sie, was sie davon hat. Verdient hat sie es. Die Tochter unternimmt ebenfalls nichts. Sie lässt es einfach zu. Lebt, als wäre nichts. Läuft einfach davon. Zieht sich zurück. Nach außen hin zeichnen sie alle immer das Bild einer perfekten Familie. Auch wenn über diesen Typen schon hier und da gemunkelt wurde. Sie erkennen es nicht.

Sehen nicht, was sie da wertvolles haben könnten. Mit mir an seiner Stelle. Stattdessen zerstören sie alles. In MEINEM Haus. MEIN Grund und Boden verschmutzen sie. Zeit zu zeigen, was es wert ist, überhaupt eine Familie zu sein. Zeit diese Wut abzulassen. Zeit sie aus der Reserve zu locken. Sie alle. Meine Ex, diesen Typen und vor allem dieses Mädchen.

 

Der Wald ist riesig, so dass sie nichts und niemanden sieht. Genau danach sehnt sie sich oft. Die Natur ist netter zu ihr als die Menschen. Hat sie noch nie verletzt. Schreit sie nie an, wenn sie gerade „im Weg“ ist und hat Zeit für sie. Immer, wenn sie es braucht. Das können auch Jessi oder Noah nie leisten.

Sie geht ihren Weg, den sie immer gehen will. Kraft tanken. Um das alles durchzustehen, den ganzen Scheiß nicht an sie ran zu lassen. Abschalten. Eine der wenigen Möglichkeiten zur Zeit, um zu erkennen, dass das Leben auch Schönes aufzuwarten hat.

Zweige biegen sich im Wind. Unter jedem ihrer Schritte knackt es. Dreckig ist es. Immer.

Wind fegt durch die Blätter und hier und da zwitschert ein Vogel. So still und doch wieder nicht.

Immer wieder zeigt sich hier und da eine Lichtung, zwischen dem dichtbewachsenen Grün aus Laub und Büschen, dem braunen Geäst und Bäumen. Unterwandert von Getier, Pilzen und Wurzeln.

Ein braun-grünes Paradies der Ruhe. So würde sie den Wald zumindest beschreiben.

Auch wenn er sehr unheimliche Seiten verbirgt. Sie kennt ihn. Wenn es hell ist, sieht sie ihn auch. Dieses Stück unberührte Natur. Keine Maschinen, keine Menschen, kein Streit. Nur sie. Unterwegs ist keiner mehr.

Herrlich.

Doch irgendwann wird es dunkel. Dann kommen mehr Tiere. Es würde zu unheimlich werden. Sie sieht die Dinge gern kommen, die es gilt zu sehen. Zu groß ist inzwischen ihre Angst geworden, vor Unbekanntem, vor der Dunkelheit. Ja, es ist ihr peinlich, sie ist schließlich 17, sie müsste stärker sein, das weiß sie. Nicht so ängstlich. Der Wald zeigt, dass es funktionieren konnte. Trotzt den Angriffen des Menschen. Angriffen der Industrie. Den Angriffen von Ungeziefer. Er hält stand. Noch. So lange er stand halten kann, will sie das auch.

Schweren Herzens geht sie wieder.

Zu Hause das übliche Bild nach dem Sturm. Verwüstung. Mutter schluchzt, hockt auf dem Boden. Ihre Augen verheult, eines leicht bläulich. Ihr Vater hängt auf dem Sofa und starrt die Wand an.

„Liz, warst du draußen?“, fragt ihre Mutter. Sie scheint sich wieder beruhigt zu haben.

„Wo denn sonst?“

Was für eine Frage!

Mutter nickt nur. Steht auf. Setzt sich neben Liz Vater auf das große Ledersofa und legt den Arm um ihn, als wäre nichts gewesen. Morgen würde sie sagen, sie sei irgendwo dagegen gelaufen, sei eben ungeschickt.

„Wie war die Schule, Liz?“, fragt ihr Vater, nun scheinbar erheitert und etwas lallend.

Liz schüttelt nur den Kopf. Sie würde die beiden nie verstehen. Der Wald ist da verständlicher.

„Nichts Besonderes heute“, murmelt sie nur, setzt sich ebenfalls auf das Sofa, schnappt sich die Fernbedienung und schaltet den riesigen Flachbildfernseher an.

Das half immer. Ihren Eltern zumindest. Dann sind sie nämlich still, kommentieren nur das, was da läuft. Es scheint wieder ein gewöhnlicher Fernsehabend zu werden.

Liz stört dieses Trugbild schon nach kurzer Zeit. Also geht sie wieder in ihr Zimmer. Auch sie hat einen Fernseher, einen viel kleineren allerdings. Sie schaut lieber alleine.

Eine Naturdoku. Hofft Wald zu sehen, meistens sieht sie ihn auch.

So schafft sie es immer auch einzuschlafen. Meist sogar mit einem Lächeln.

 

Ich sehe sie in ihrem Zimmer. Lächelnd. Der Fernseher läuft. Auf ihrem Schreibtisch liegen Schulbücher, Hausaufgaben, aber auch etwas, das wie ein Tagebuch aussieht, was mich sofort auf eine Idee bringt. Dennoch.

Dieses Bild stört mich gewaltig. Ebenso die Arm in Arm liegenden Eltern im Wohnzimmer. Ja, alle habe ich sie im Blick. Immer.

Ich nehme einen Stift zur Hand.

Morgen schon würden sie Post bekommen. Adressiert an dieses Mädchen, diese...Liz. Zeit zu spielen, Liz. Zeit zu spielen, mein Mädchen.

 

 

„Brief"

 

Worte auf leerem Blatt,

schwarz auf weiß,

dunkel auf matt,

heiß und Eis.

 

Brennen und Schmerzen,

mehr als Taten,

ein einfacher Brief,

öffnet den Graben,

der nach dir rief,

als der Mut dich verließ.

 

 

 

 

Es beginnt. Minimale Veränderungen, die sich im Hause spürbar machen. Etwa liegen CDs in einer anderen Reihenfolge und die Bücher in ihrem Regal stehen nicht mehr so wie zuvor.

Einbildung, denkt Liz. Du machst dir da was vor. Lass dich nicht verrückt machen.

Doch in Wirklichkeit hat sie Angst. Schreckliche Angst, so wie ihr vieles inzwischen Angst macht. Schon immer hat sie dieses Haus bedrohlich gefunden mit seinem großen Garten, dem mächtigen Eisentor, den uralten Bäumen, die dort stehen, sowie den altbackenen Außenfassaden. Die abgelegene Straße, etwas weiter entfernt vom Zentrum, ist genauso unheimlich. Ihr Haus fast das einzige dort. Nur ein, zwei weitere.

Ganz genau erinnert sie sich, dass sie einst unbeschwert ohne Angst dort im Garten gespielt hatte.

Die Zeiten sind längst vorbei. Ihr Vater hat dafür gesorgt, wurde immer... böser. Diese Angst, dieses Unbehagen hat irgendwann eingesetzt, wurde seither immer schlimmer.

Jetzt dehnt sich dieses Gefühl aus. Ihr ist, als wäre irgendetwas anders, als würde sie irgendwer beobachten, nein, normalerweise tat das ihr Vater, der immer mit seinen wachsamen Augen wie ein Geier danach giert einen Fehler ihrerseits zu entdecken, sobald er heimkommt. Ein Fehler, wo andere nichts sehen, eine kleine Unhöflichkeit, eine Bagatelle, etwas schlechte Laune oder dergleichen.

Es ist anders heute. Als würde jemand anderes sie sehen, so fühlt es sich an. Schon wieder steht ein Buch nicht da, wo es stehen soll, darauf könnte sie schwören. Ihr Vater ist dafür verantwortlich, ist sie sich sicher, will ihr noch mehr Angst machen. Ihm gefällt das doch bestimmt, dem, der sich Vater schimpft. Für so etwas findet er immer Zeit, wo er doch angeblich so „beschäftigt“ ist.

Sie würde es auch weiterhin nicht zulassen, dass er sie noch mehr zerstörte. Ignorieren. Einfach weiterhin ignorieren. Ebenso sein „Lizbeth, du kommst noch zu spät zur Schule! Beeil dich gefälligst!“, das in diesem Moment von unten kommt. Sie hasst es, wenn man sie so nennt. Lizbeth. Ihr Name ist Liz - nicht mehr. Kein Elisabeth, Lizzy und schon gar nicht Lizbeth.

Hastig packt sie ihre Sachen, schreitet am Wohnzimmer vorbei, nur um wieder einmal einen stechenden Blick ihres Vaters zu ernten, rennt förmlich durch den Garten, um das Eisentor mit lautem Quietschen aufzustoßen.

 

Vor dem Eingang der Schule wartet Jessi schon. Reißt Liz aus allen Gedanken raus, die sie immer noch umtrieben, auch wenn sie versucht hatte, sie zu ignorieren. Jessi wirkt da immer Wunder. Das reinste Energiebündel, das schon mal mehr durch die Gegend hüpft als zu laufen, sodass ihre zotteligen, blonden Haare mitwippen.

„Hast du schon gehört...?“

„Nein“

Jessi lacht nur und fährt unbekümmert fort.

„...dass Frau Hessinger wieder dabei erwischt wurde, wie sie sich einen genehmigt hatte.“

„Wundert dich das? Dick, rote Nase, aufbrausend. Erkennt man doch.“

Vater ist da sicher die einzige Ausnahme, was das Erscheinungsbild anbelangte, denkt Liz.

„So? Meine Mutter ist auch dick, immer verschnupft und aufbrausend. Mir ist nicht bekannt, dass sie trinkt.“

„Wenn du meinst.“

Jessi blickt sie kurz entgeistert an. Pause. Schüttelt kurz den Kopf, als wolle sie sagen, nein, sie trinkt nicht. Naives Ding. Vater redet sich das auch immer ein, denkt Liz, sagt dann, er trinkt doch nur ein, zwei Gläser, das mache ihn nicht zum Alkoholiker.

„Jedenfalls hat Tyler neulich, als er etwas aus ihrem Auto für den Unterricht holen sollte, entdeckt, dass sie in ihrer Karre lauter leere Schnapsflaschen lagert.“

Liz verdreht die Augen. Tyler. Jessis Schwarm des Monats. Ihr momentanes Dauerthema. Ein Grund mehr, warum sie Jessi in letzter Zeit eher mied. Zumal der Wald im Sommer sowieso die beste Gesellschaft ist.

„Was denn? Dir würde es auch mal gut tun Ausschau zu halten, glaub mir. Auf deinen Noah ist ja nicht Verlass.“

Die Glocke erlöst sie. Im Unterricht hielt sich Jessi meist zurück, wohl wissend wie wichtig Liz der Unterricht war.

Nur aus einem Grund strengt sie sich so an. Sie weiß genau, wenn sie eine gute Leistung abrief, würde ihr Vater nicht ganz so schlecht drauf sein und das ist empfehlenswert.

Naja, außerdem ist es ihrer Zukunft ganz dienlich und wenigstens ist der Unterrichtsstoff etwas, das ihr lag. Er interessiert sie meist zwar nicht, aber sie kann ihn in den entscheidenden Momenten abrufen, das ist einer der Vorteile an ihrem wirklich sehr guten Gedächtnis. So bereitet auch dieses lausige Schulsystem, dieses G8, das einige überfordert, ihr keine Probleme. Auch etwa ihrem Kumpel Noah macht das System sehr zu schaffen, der leider auf eine andere Schule geht, die laut seiner Aussage noch härter als ihre ist. Gut, er ist aber auch schon eine Stufe über ihr, kurz vor dem Abi ist es ja immer hart. Sie kommt jedenfalls bestens zu Recht, so scheint es nach außen, aber all das schürt natürlich auch die Neider. Sie sah die Blicke immer genau, wenn sie in ihren teuren Klamotten kam, ohne Hornbrille, nicht versnobt auch nicht dick oder so, wie es manche erwarten, wenn sie von einem „Streber“ sprechen. Bilder sind eben oft Trugschlüsse. Vorgefertigte Bilder, Bilder von Klischees. Sie sehen doch immer, was sie sehen wollen und wenn nicht, geht ihnen das gegen den Strich.

Ihr egal.

Sollen sie doch gaffen.

Ihr ist Kleidung eigentlich nicht so wichtig, aber Jessi ermuntert sie eben gerne das ein oder andre auszugeben.

Diese Blicke voller Neid stechen längst nicht so wie die ihres Vaters.

 

Meine Blicke stechen. Hoffe ich doch. Es werden ein paar Worte folgen. Zeit dich auf deine Ignoranz aufmerksam zu machen. Aus den Augen aus dem Sinn: Das ist Schwachsinn, MEIN Mädchen, totaler Schwachsinn!

 

Als sie nach Hause kommt, ist das Bild ein übliches: Still, leer, verlassen.

Es ist Mittag, zum Glück hat sie heute früh aus, so weiß sie genau, ihr bleibt Zeit. Zeit ohne Angst, ohne Streit, ohne den Versuch eine harmonische Einheit zu bilden. Das sagt ihre Mutter stets: „Wir müssen eine harmonische Einheit bilden, nach außen und auch nach innen. Das schulden wir Lizzy.“

Auch das hasst sie. Wenn sie sie Lizzy nennt. Das klingt niedlich, niedlich sein kann sie sich nicht erlauben, denn das würde nur anfälliger machen. Außerdem reizt ihren Vater das Wort „Einheit“. Ihre Mutter weiß es doch eigentlich besser, warum provoziert sie ihn dann nur immer zu?

 

Wieder ist da dieser Geruch, dieser Duft der Anwesenheit eines Anderen. Dann sieht sie zum ersten Mal auch ein klares Zeichen.

Ein Brief. Auf dem Umschlag ihr Name. Post hatte noch keiner geholt. Wie ist er hier her gekommen? Von wem ist er? Ist das wieder nur auf den Mist ihres Vaters gewachsen? Würde zu ihm passen, er liebt ihre Angst, lebt von ihr, auch wenn er es nie zugeben würde. Seine „Kunden“, von denen Liz hin und wieder zufällig etwas mitbekommen hat, allesamt zwielichtig, würden das sicherlich bestätigen.

Sie öffnet ihn.

Bereut es sogleich. Warum hatte sie sich dazu nur breitschlagen lassen und ihn nicht einfach gleich weggeschmissen?

Ganz einfach, vielleicht ist der Brief von niemanden mit bösen Absichten. Vielleicht war er regulär in der Post und wurde noch von Vater oder Mutter aus dem Briefkasten geholt und dort platziert und du machst dich umsonst verrückt.“

Die Stimme der Ignoranz spricht in ihr wieder. Zu schön. Doch sie hatte ja auf sie hören wollen.

Ich sehe dich, du siehst mich nicht.

Sehe deine Angst hinter deiner Schicht aus Make-Up.

Du bist eine Störung in meinem Blickfeld.

 

Es muss eigentlich von ihm stammen. Doch warum ist dann da dieser Duft des Fremden? Sie will nicht länger darüber nachdenken. Nur ein Brief. Nur ein verdammter Brief. Ein simpler Streich ihres Vaters. Wäre typisch für ihn. Wahrscheinlich im Suff geschrieben.

Sie geht in ihr Zimmer, legt den Brief vorerst in ihr Tagebuch. Sie will etwas dazu schreiben.

 

Ihr Vater hat es geschafft. Sie schläft schlecht. Denkt über die beängstigenden Worte nach. Ignorieren ist wieder gescheitert.

Wie zur Bestätigung verlaufen die nächsten Tage ruhig, sehr ruhig und ihr Vater hat immer ein Lächeln im Gesicht. Kein Streit. Vorerst. Ihre Mutter freut sich diebisch, fragt ausnahmsweise nicht nach und denkt wahrscheinlich auch noch, er würde einen weiteren Versuch starten, sich zu bessern. Für Liz, für sie, seine ja ach so geliebte Tochter. So oft hat er es ihr schon versprochen. Leere Versprechen.

„Dein Vater ist eben krank, Liz. Man muss ihn doch wenigstens helfen und beistehen. Das habe ich ihm versprochen“, sagt sie dann immer.

Sie wird Mutter nie verstehen. Vater auch nicht.

 

Die nächsten Tage beobachtete ich sie noch interessierter. Der Typ war nicht ganz so asozial wie sonst, wahrscheinlich liefen die Geschäfte; und Sabine, dieses Miststück, dieses naive Weibsbild, dachte ernsthaft er würde sich bessern. Ich muss grinsen bei dem Gedanken.

Dann konzentrierte ich mich wieder auf dich, MEIN Mädchen, ja denn du müsstest eigentlich meins sein.

Du kamst mal wieder zu spät in die Schule. Hoffentlich hast du etwas Angst bekommen. Hat dir mein Brief gefallen?

Hoffentlich nimmst du ihn ernst. Vielleicht bestünde dann ja eine Chance für dich.

Du denkst, du wärst stark, du denkst, du wärst toll und nichts könnte offenbaren, was wirklich in dir vorgeht? Falsch gedacht! Jeder zeigt irgendwann seine Ängste, auch wenn man sie noch so versucht hinter einer dicken Schicht Make-Up zu verbergen.

Das bisschen Wind, der die Zweige hinter dir bewegt... Komisch nur, dass es seit Tagen nicht einmal eine spürbare Brise gegeben hat.

Aber nein, es stellt dir doch niemand nach, dir doch nicht! Du bist ja Miss Perfekt, die kleine Prinzessin in ihrem Schloss! Du machst ja keine Fehler, weil dein toller Herr Vater sie sonst bestraft, was? Aber du wirst schon noch scheitern...

 

In den ruhigeren Tagen dieser Woche hatte Liz schon beinahe den Brief wieder vergessen. Diese sonst nie dagewesene Ruhe macht ihr etwas Angst.

Es ist Freitag. Sie hat länger Schule und geht erst am späten Nachmittag nach Hause. Ohne Jessi, mit der sie – ja man könnte auch sagen zum Glück - nicht jeden Kurs gemeinsam hatte und die dadurch, dass sie so wenig Kurse belegte wie möglich, eben am Freitag früher aus hatte.

So kommt sie wieder, eine Spur, ein Hauch von Angst. Sie spürt wieder dieses leichte Unbehagen, als wäre jemand hinter ihr. Sieht wie sich ein paar Zweige in einem Busch am Wegesrand leicht bewegen, doch spürt keinen Wind. „Dennoch Einbildung. Deine teure Jacke hält den Wind eben ab.“ Die Stimme der Ignoranz, des Rückzugs. Der Flucht in Ausflüchte, ins Verborgene.

Es ist doch sonnig. Ist doch warm. Deine Jacke ein Jäckchen. Es ist doch Sommer.“

Die leise Stimme der Warnung der Angst.

Sie schüttelt den Kopf. Die Stimme des Rückzugs gefällt ihr besser. So legt sie, zu Hause angekommen, ihre Schulsachen ab, schreibt endlich die Ereignisse der Woche in ihr Tagebuch, insbesondere den Brief, der noch immer dort liegt. Doch auch hier will sie auf die Stimme des Rückzugs hören. Den Brief ignorieren und sich an die bessere Laune-Welle dieser Woche orientieren.

Sie führt sie zu Noah. Liz würde heute bei ihm Essen. Sie hatte gestern die gute Laune ihres Vaters ausgenutzt und hatte danach gefragt. Brummig, hatte er ihr tatsächlich die Erlaubnis erteilt und ihre Mutter hatte noch mehr gestrahlt.

Eine gute Woche ist es.

Denkt sie.

Noah holt sie ab, denn das Dorf liegt ein Stück auswärts, vier oder fünf Kilometer entfernt. Inzwischen hat er auch schon den Führerschein und kann sie fahren. Er hört ihr zu, als sie ihm nach dem Abendessen von allem erzählt.

Ja, ihm konnte sie noch alles erzählen, auch Familie Mohr, Noahs Familie, ist etwas eigen. Wenigstens scheinen sie gastfreundlich zu sein, Noah hatte jedoch auch hin und wieder schon über sie geschimpft.

Beim Essen lobten sie Liz ständig über den Klee. „Nimm dir doch an ihr ein Beispiel, Noah“, hat Frau Mohr beim Essen gesagt, was Liz erröten lies. Lob war sie nicht gewohnt. Höchstens noch von ihrer Mutter. Aber auch die geht sparsam damit um. Denn auch das würde wieder ihren Vater provozieren. Zu viel provozierte ihn einfach.

Wie sehr wünscht sie sich, sie könnte sich öfter mit ihm treffen, wie sehr wünscht sie sich, er wäre mehr als nur ein Kumpel, aber sie konnte nicht und er auch nicht. Es funkt einfach nicht. Stets kamen nur freundschaftliche Gefühle zustande. Nur Kumpel eben. Und Liz fragt sich in diesem Moment nicht zum ersten Mal, ob sie überhaupt zu anderen Gefühlen, zur Liebe, fähig wäre. Es ist spät, als sie mit diesem traurigen Gedanken diese sonst so schöne Woche halb beendet, sich von Noah verabschiedet, mit der nun wiederkehrenden Angst im Nacken.

 

Ich sehe wieder auf die Kamera in deinem Zimmer. Spät bist du heimgekommen, warst bei diesem Jungen, diesem Noah oder so ähnlich. Ich sehe dich in deinem Zimmer hockend, sehe, wie du schon wieder etwas in dein Tagebuch schreibst. Jetzt weiß ich genau, was zu tun ist. Mich juckt es in den Fingern einzugreifen.

 

 

 

 

„Geheimnisse“

 

Verborgen hinter der Mauer

des Schweigens.

Im Dunkeln auf der Schattenseite

des Lichts.

Ich sag's dir nicht, ich sag dir nichts.

Gar nichts.

 

Scham und Schmerz

aus ganzem Herz,

ein halbes ohne,

diese Krone

des Geheimnisses.

Gar nichts.

 

 

 

30.6.2015

Diese Woche war schöner. Vater war nicht so grob, hat nicht so viel getrunken. Mutter hat versucht Harmonie zu sähen und es ist ihr gelungen. Gestern durfte ich endlich mal wieder zu Noah.

Einen Moment ohne Angst, den ich festhalten will, denn diese Momente gibt es selten.

Nur der Anfang der Woche missfiel mir.

Dieser Brief.

Merkwürdige, bedrohliche Worte.

Ob er von ihm kam? Keine Ahnung. Es war am Montag gewesen. Getrunken hatte er an diesem Tage genug. Also hätte ich es ihm durchaus zugetraut. Wer auch sonst? Die Tür war nicht aufgebrochen. Post hatte auch niemand geholt. Der Brief lag

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.06.2015
ISBN: 978-3-7368-9976-6

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