Die Ereignisse, Orte und Personen sind rein fiktiv.
Die Farbe „schwarz“ oder das Adjektiv „dunkel“ hat nichts mit einer Hautfarbe zu tun. Alle Beschreibungen, Schilderungen oder Ähnliches sollen daher bitte in keinerlei rassistischen Zusammenhang gesetzt werden.
Der Autor
Seichter Wind strich über meine Wange. Lies mich frösteln.
Das Herbstlaub fiel. Es war spät geworden.
Man weiß nie was einen erwartet. Deswegen sollte man sich überraschen lassen.
An das denken, was passieren könnte, macht alles nur noch schlimmer.
Allein.
An diesem Ort.
Diese schlecht belichtete Straßen entlanglaufend.
Das Dunkle weckt in uns allen ein Gefühl des Unbehagens.
Aber hier passierte eigentlich nie etwas.
Bis ich IHN sah.
ER hatte eine Sturmhaube auf. Ein Messer in der Hand.
Kühler Stahl legte sich an meine Kehle.
Ich sagte nichts.
Flehte nicht um mein Leben.
Ich ahnte was kommen konnte, aber Angst machte mir das nicht. Meine Gefühle frieren gerne ein. Die Welt ist eben nun einmal auch eiskalt. Durchdrehen und Panik schieben, das wäre nur das, was er erwartet. Den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Manchmal muss man eben einfach alles ausblenden, um am Leben zu bleiben.
„Führe mich zu deiner Behausung! Na los, bewegt dich!“
Er war nicht von hier. Diesen Akzent konnte ich nicht zuordnen. Woher aber beherrschte er so gut unsere Sprache?
Der Wind blies jetzt relativ frisch. Ich spürte nichts.
Sein schwerer Körper drückte von hinten gegen mich, zwang mich weiter zu gehen.
Ich hätte sowieso nicht viel Gegenwehr leisten können, mit meiner kleinen, eher zierlichen Statur. Ich ließ es einfach geschehen und hoffte das es bald vorbei war.
Er wagte es nicht mir in die Augen zu sehen, aber ich wollte das genauso wenig.
Er klingelte an unserer Haustür.
Was soll das werden? Was will der von mir, was will der von uns?
Ich werde nie den Ton der Klingel vergessen, der die Stille der Nacht zerschnitt.
Öffne nicht, flehte ich innerlich, doch die massive Holztür schwang schon auf. Die Angeln quietschten.
Ich sah alles wie in Zeitlupe.
Mein Vater. Das Messer. Rot.
In der Luft stand nur noch eine Frage: Warum?
Der Rest stand still. Die Stille der Toten.
„Du hast so schönes, schwarzes Haar“, säuselte er mir ins Ohr. Drehte sich zu mir. Jetzt sah ich IHN doch. Zumindest seine Augen, die durch die Sturmhaube blitzten. Gierig, mit Anzeichen für ein vergnügtes Lächeln.
Tränen brachte ich nicht hervor. Er schien dies zu bedauern.
Ich konnte und wollte einfach nicht begreifen, was soeben passiert war. Ich wünschte das alles wäre nur ein böser Traum, aus dem ich irgendwann erwachen würde. Doch das Leben kann schlimmer sein, als dein schlimmster Albtraum.
Ich spürte, wie der blutige Stahl sich erneut von meinem Hals löste und zu meiner Wange wanderte.
Etwas scharfes stieß in mein kaltes Fleisch.
Ein scharfer Schmerz zog mein Gesicht entlang. Nun hatte er mir doch einen Schrei entrungen. Scheinbar zufrieden wand er sich von meinen, wie er meinte „entzückenden Gesicht“, ab.
„Verzieh mir, aber ich brauche Vorsprung.“
Bedauern schwang in seiner Stimme, als ich sah, wie er das Messer in seine Jackentasche steckte. Was hatte er vor? Er ließ mir keine Zeit darüber nachzudenken. Dafür musste ich ihm eigentlich sogar dankbar sein.
Er schlug zu.
Zuerst sah ich das rote Blut.
Dann den schwarzen Tod.
Kälte durchflutete mich wie ein böser Strom.
Dann blieb da nur noch die Finsternis, die auch mich nun umgab und verschlang.
Ich öffnete die Augen. Im ersten Moment wusste ich nicht wo ich war oder was genau passiert war.
Langsam dämmerte es mir. Es war alles so schnell gegangen.
Wie ein Moment doch ein Leben verändern konnte.
Es sind die kurzen Augenblicke, die alles verändern; es sind einzelne Sekunden, Bruchteile, die alles zerbrechen. So wie ein Messer das aufblitzt, in der Hand des Falschen; dass das Ende ankündigt.
Lange konnte ich nicht bewusstlos gewesen sein, denn noch schien alles unverändert. Beinahe normal. Wäre da nicht dieses Rot, das unseren Flur bedeckte. Es reflektierte sich in den Schlieren vor meinen Augen. Glänzender Schein des Todes. Ich stand langsam auf. Der Raum drehte sich. Alles zu verwirrend, alles unbegreiflich, zu viel um es zu verarbeiten. Für etwas dergleichen ist unser Gehirn einfach nicht konzipiert. Stöhnend fasste ich mich an meinen Kopf und zog meine Hand sofort wieder zurück.
Entsetzt betrachtete ich das klebrige Rot, das sowohl meine Hand, als auch den Flur tapezierte. So viel Blut. Da drüben lag er. Einfach so. Rührte sich nicht mehr. Warum sah ich ihn erst jetzt?
Vorsichtig machte ich einen Schritt nach vorne. Auf ihn zu.
Ich blieb kurz stehen, um den Schwindel auszugleichen.
Ich stand einfach da und lauschte den Laut des Todes: der unbarmherzigen Stille
Ein Moment, dann...
...unterbrach ein letztes Mal der schrille Ton unserer Klingel die Stille. Die Tür war verschlossen.
Den Moment konnte mir keiner nehmen. Ich ging die letzten Schritte.
Ich war nun bei ihm.
Fassungslos beugte ich mich zu ihm hinab.
Sehe ihn dir noch ein letztes Mal an. Du wirst ihn nie wieder sehen. Letztendlich bleiben da nur Erinnerungen, schwache Gefühle an „bessere Zeiten“, die nur noch mehr Schmerzen brachten.
Jetzt rollte mir doch eine kleine Träne die Wange hinab.
Ein letztes Mal strich ich über sein Allerweltsgesicht. Über seine fast schon grauen Haare.
Ich wand mich ab. Langsam.
Dann öffnete ich vorsichtig die Tür.
Sirenen blinkten in der Dunkelheit. Ein Lichtgewitter ließ unser Haus erschüttern. Sehe es dir noch ein letztes Mal an. Du wirst es nie wieder sehen. So hell. Ein Meer aus Lichtern, das mich versuchte aus der Dunkelheit zu holen.
Irgendein Nachbar hatte scheinbar die Polizei verständigt, völlig panisch, er habe Schreie gehört und ein Messer aufblitzen sehen.
„Sind sie sicher das sie nicht mitkommen wollen?“, fragte der Sanitäter noch einmal. Er hatte meine Wunde so gut es ging versorgt. Notdürftig zusammengeflickt. Es war kalt draußen. Eiskalt. Der Wollteppich, den man um mich gelegt hatte, half da nur wenig.
Den Wind spürte ich nun wieder deutlich. Meine langen Haare wogen sich sanft darin. Beinahe unschuldig.
„Nein, nein... es geht schon.“, murmelte ich abwesend.
„Na schön.“. Besonders begeistert klang er nicht.
Mir ging es selbstverständlich nicht so gut. Doch ich wollte nicht an einen Ort, an dem ich noch mehr Leid sehen musste. Das hatte ich auch dem Sanitäter gesagt. Er hatte nur ein bedauerndes Gesicht gezogen.
Wie konnte ich nur so gutgläubig sein. Sicher dem Krankenhaus würde ich entkommen, aber nun würde es in die Stadt gehen. Wer sagte mir, das es dort besser war, bei meiner Mutter. Außerdem würde der Schmutz dieser Erinnerungen vermutlich für immer an mir kleben.
Wollte ich sie überhaupt sehen, wo sie uns doch im Stich gelassen hatte?
Ich musste einfach. Wer blieb mir den sonst noch?
Ihr Auto hielt wenige Minuten später mit quietschenden Reifen.
Sie schien wenig gerührt. Auch wenn sie sich innerlich bestimmt zusammenreißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen. So stark konnte ihr Hass auf ihn gar nicht sein, dass sie sich wünschte, ihn so zu sehen. Während sie das Haus betrat, wandte sich ein Polizist an mich. Konnten sie mich nicht einfach alle in Ruhe lassen, so wie sonst auch?
„Tut mir Leid was Ihnen geschehen ist. Fühlen sie sich dennoch in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?“
Seine freundliche Stimme passte kein bisschen zu seiner turbulenten Statur und seinem Geiergesicht. Seine Freundlichkeit war sicherlich gespielt. Alles aufgesetzt. Ich war doch nur ein weiterer seiner Fälle. Alles Routine. Dieser Polizist erinnerte mich an IHN. An diesen Verbrecher.
Schließlich schilderte ich monoton die Geschehnisse. Kurz, gelangweilt, als wäre es nichts Besonderes. Als wäre es zu erwarten gewesen. Doch dieser eine Moment, als das Messer aufblitzte, hatte mir alles geraubt, jeglichen Schrecken, jegliche Gefühle.
Zufrieden schien der Polizist mit meiner Aussage nicht zu sein.
„Danke Miss Hamming. Kommen sie wenn es Ihnen besser geht noch mal vorbei, damit wir ihre Aussage zu Protokoll bringen können.“
Seine Formalität hielt ich für unangebracht. Aber was soll er schon sagen? Man kann nichts sagen. Es gibt nichts zu sagen. Die Bilder sprechen für sich. Das Rot des Hausflures, das Schwarz des Leichensacks, in dem mein Vater abtransportiert wurde und die Kälte, die über all dem schwebt und mir alles stahl, was man stehlen konnte. Zurück blieb nur die traurige Hülle eines Mädchens das vor dem Haus kauerte und sich wünschte weit, weit fort zu sein.
Doch ich wusste, ich würde diese Ereignisse noch ein paar Mal erzählen müssen. Es würde niemals vorbei sein. Ich war hier an diesem Ort gefangen, da konnte ich noch so weit fortfahren, ein Teil würde immer hier bleiben. Ein Teil würde mich immer verfolgen. Ich war Zeuge und ER hatte mich gemocht. Wahrscheinlich lebte ich nur deswegen noch.
Ich wollte es einfach nur vergessen. Dies würde mir nicht gelingen. Dies gelang keinem.
Das Leben geht weiter, sicherlich, doch wie lange?
Irgendwann würde es vorbei sein und ich hatte das dumme Gefühl, dies würde nicht mehr lange dauern. ER will mich und wird mich finden, dessen war ich mir sicher.
Warum passierte immer mir so was?
Alles verschwor sich immer gegen mich. Was hatte ich der Welt nur getan?
Der Wind hatte sich zu einem regelrechten Sturm gemausert.
Er heulte.
Die Blätter fielen.
Er schien mich auszulachen.
Stumm saß ich neben ihr. In ihrem Auto. Auf dem Weg zu ihrer Stadt. Ich blickte aus dem Fenster.
Alte Häuser zogen an mir vorbei. Alte Erinnerungen.
Wir sprachen kein Wort. Die Stille erinnerte mich an das was hinter uns lag. Dort war es auch immer so ruhig gewesen. Mich von meinen „Freunden“ zu verabschieden, war nicht sonderlich schwer gewesen. Sie werden mich nicht wirklich vermissen. Ein Außenstehender würde sich wundern. Eigentlich war ich relativ hübsch, zumindest den Blicken mancher Jungen zu beurteilen, die ich nicht kenne. Es sind nicht immer die besonders Merkwürdigen oder anders Aussehende die von der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden. Ich redete nicht viel. Man wurde nicht schlau aus mir. So schlecht fand ich das gar nicht. Anfangs zumindest.
Nur man vereinsamt eben schnell.
Ich warf einen letzten Blick auf unseren Ort. Man hat alles notwendige auch dort bekommen. So klein er auch war, fehlte es an nichts er verfügte sogar über ein Gymnasium.
Ihn hinter mir zu lassen fühlte sich komisch an.
Draußen war es trüb.
Wie in mir.
Es lag nicht nur daran, was geschehen war.
Irgendwie schmerzte es auch etwas, diesen Ort zu verlassen. Schließlich lebte ich seit meiner Geburt, seit 17 Jahren hier. Ich kannte nicht so viel anderes. Sicherlich war ich auch ab und an mal in einer Stadt gewesen. Ich komm ja nicht von hinterm Wald.
Natürlich war es besser, von hier wegzugehen.
Doch ich hatte Angst vor dem Neuen.
Wie immer.
Kein Gesicht, das mir nun bekannt vorkommen würde.
Keine so gute Vorstellung.
Keine Straßen, in denen ich mich nicht verlaufen konnte, bei meinem ach so tollen Orientierungssinn.
Aber alles war letztendlich besser als hier zu bleiben.
Zu viel Schlechtes hing nun hier. Hatte sich festgesetzt. Wie das Pech an mir, wie die Kälte, wie alles finstere und leere, das nun mein stets begleitender Schleier der Trauer war.
Ich würde die Luft vermissen.
Auf den Smog und den Qualm von Industrie und Zigaretten konnte ich gut verzichten.
Es war Zeit Abschied zu nehmen. Das Helle des Tages in der Ferne, verdeckt von dunstiger Luft. Das Trübe des Tages hinter mir, verdeckt von alten Erinnerungen.
Abschied von meinem alten Leben. Neues würde warten. Das wäre sowieso irgendwann nötig gewesen.
Doch vergessen konnte ich nicht. Nie würde ich den gestrigen Tag vergessen. Nie würde ich die Leute vergessen, die ich mit meiner alten Heimat verband. Nie würde ich meinen Vater vergessen. Wie sich seine Augen weiteten, als ihm das Messer in die Brust gerammt wurde. Wie er still neben mir lag. Auf dem kalten Flur. In seinem eigenem blutigen Rot.
Meine Mutter starrte abwesend auf die Straße. Wie ein Roboter fuhr sie den Wagen. Alles automatisch. Gedanklich woanders. Bei meinem Vater. Ihren kurzen blonden Haaren gelang es nicht, den abwesenden Blick, ihrer trüben, fast grauen Augen, zu verdecken.
Die notdürftige Naht an meiner Wange juckte. Die Wunde an meinem Kopf pochte. Ich ignorierte es. Eine Narbe würde in jedem Fall bleiben, hatte der Sanitäter mir gesagt. Eigentlich müsste das besser behandelt werden. Auch um eine Gehirnerschütterung auszuschließen. Doch ich wollte nicht.
Ich wollte einfach nur meine Ruhe, allein sein, nur der Schleier und ich. Die beiden Abgründe.
Nur leider findet man gerade dann keine Ruhe, wenn man sie am ehesten brauchte.
ER hat mich gekennzeichnet. ER wird mich finden.
ER sollte sich auch verabschieden.
ER soll aus meinen Leben verschwinden, wie alle anderen.
Wann nahm ER Abschied? Wahrscheinlich hatte er das längst. Wahrscheinlich saß er längst in einem Flieger nach Australien oder lag am Strand einer tropischen Insel und sonnte sich. Nahm eine genüssliche Auszeit. Um dann irgendwann zurückzukehren. Oder er ließ mich einfach in Frieden und genoss ein neues Leben, wie auch ich es genießen wollte. Träum' weiter! Er war noch hier, das wusste ich. Er wollte mich und würde mich kriegen. Es war nur eine Frage der Zeit. Der ging nicht einfach so weg. Nicht nachdem er mich gesehen hatte. Sein Blick hatte das mir verraten. Die Augen sagen alles.
Was dachte eigentlich so ein Mensch? Was fühlte so ein Mensch?
Wahrscheinlich das gleiche, wie ich es tat. Hass. Auf die Welt. Die bisher nichts Gutes für mich hatte. Ich legte wenig Hoffnung in die neue Umgebung.
Schon jetzt vermisste ich das alte Holzhaus, das nun einem langweiligen Hochhaus wich. Im typischen Stadtstil. Voller Graffiti. Ein Ort, der nun nicht besser war, als jetzt mein altes Haus. Er roch nach Verbrechen.
Ich wünschte, er wäre jetzt hier. Mein Vater. Er hätte mir Mut zugesprochen, so wie er es immer getan hatte. So nervig er auch sonst war, so wenig Zeit er auch hatte, für mich nahm er sie sich immer.
Meine Mutter konnte das nicht. Sie war viel zu beschäftigt, wie sie sagte. Sie arbeitete in einer Firma, die irgendetwas mit Werbung oder so macht. Als Grafik-Designerin.
Mein Vater war Ingenieur gewesen. Doch im Gegensatz zu anderen hatte er längst nicht so viel verdient damit.
Adieu Vater. Adieu altes Leben.
Alles nimmt einmal Abschied, doch der Schmerz bleibt.
Ich hatte mich nicht umsonst für ihn entschieden. Damals, als sich meine Mutter von ihm trennte. Mich hatte das nicht sonderlich geschmerzt. Ich konnte sowieso beide nicht besonders leiden. Nur dann zu entscheiden, bei wem ich bleiben sollte, war mir schwer gefallen. Aber dadurch das meine Mutter beschlossen hatte in die Stadt zu ziehen und ich so hätte umziehen müssen, ist meine Entscheidung doch recht eindeutig gewesen.
Und nun war ich doch noch bei ihr gelandet.
Eine Ironie des Schicksals, eine Vorbestimmung. Nein. So etwas ist reine Illusion. Das Leben ist nicht fair und genau das wollte es nun eben zeigen. Wie viele gewinnen unverdient? Wie viele leiden ohne Grund?
Ich betrat das Haus. Sie ging wortlos voran.
Der äußere Schein stimmt mit dem Inneren überein.
Überall weiße oder graue Wände.
Düster. Passt doch irgendwie zu mir. Vielleicht würde es mir sogar gefallen. Naja, wohl eher nicht.
Ein riesiges Treppenhaus.
Ein alter Fahrstuhl, der mich freundlich mit einem „außer Betrieb“ Schild empfing.
Also hieß es laufen. Na toll. Acht Stockwerke. Wenn das jeden Tag so gehen würde...
Unsere Wohnung war recht geräumig, für das was hier zu erwarten gewesen wäre. Bestimmt die größte in dieser Bruchbude. Immerhin hatte sie ein Schlafzimmer und ein Gästezimmer, das nun zu meinem Zimmer werden würde. Außerdem verfügte es über ein recht großes Badezimmer. Das Wohnzimmer und die Küche fiel dafür deutlich kleiner aus, als in meiner alten Wohnung.
Ich würde sowieso die meiste Zeit in meinem Zimmer verbringen. Ächzend stellte ich meinen schweren Koffer ab, den ich die ganzen acht Stockwerke hoch schleppen musste.
Und darin war längst nicht alles. Meine Mutter hatte mir auch ein paar Sachen abgenommen. Wortlos. Wie immer. Kommunikation war nicht die Stärke dieser Familie. Schweigen war besser als streiten.
Sie war wie ich völlig fertig. Ich beschloss das Bett zu testen, denn die Müdigkeit machte sich doch langsam bemerkbar. Schließlich war ich letzte Nacht die ganze Zeit wach gewesen. Packen. Ich habe lange warten müssen, bis die Polizei endlich verschwunden war und es mir erlaubt wurde.
Mein Schlaf war unruhig. Sicherlich wegen der Ereignisse, aber auch weil ich tagsüber schlecht schlief und als ich dann aufstand, fühlte ich mich noch erschöpfter als davor.
Meine Mutter machte mir freundlicherweise einen Kaffee. Oho, sie tat mal was für mich!
Sie hatte für ein paar Tage frei bekommen. Noch oft genug würden wir nun hören müssen „unser herzliches Beileid“.
Ph. Lächerlich. Ihr Beileid mindert unser Leid auch nicht.
Es ändert auch nichts. Es erinnert nur, an das, was ich lieber einfach verdrängen würde. Würde man den Schmerz nur einfach so abschütteln können. Nun, man darf eben auch nicht vergessen, das auch der Schmerz und das Leid seinen Sinn hatte. Schutzmechanismus des schwachen Wesens.
Die Beerdigung würde auf Grund der Ermittlungen noch einige Zeit warten müssen.
Im Moment würde sie das eh nicht fertigbekommen.
Ich würde jetzt gleich auch noch zur Polizei müssen. Der Tag war versaut. So wie die Luft hier, die durch das geöffnete Fenster zog. Ich schloss es.
Adieu gute Luft.
Und seit gestern war auch mein Leben vollends versaut.
Zum neuen Halbjahr würde ich dann auf eine neue Schule müssen. Dieses hatte heute begonnen, das hieß spätestens nächste Woche würde die Schule auf mich warten.
Welch Freude! Der Gedanke daran machte alles nur noch schlimmer. Eine neue Klasse, die mir Mitleid zuwarf, das ich nicht wollte. Ich war markiert. Für immer. Das kleine, arme Mädchen, dessen Vater ermordet wurde.
Seufzend raffte ich mich auf. Die Polizei wartete. Noch mehr Fragen, die ich nicht hören wollte.
Der Gedanke verbreitete die Freude in mir weiter.
Nun hieß es erst einmal acht Stockwerke abwärts.
Als ich das Haus verließ, drehte ich mich noch einmal um.
Adieu altes Leben. Dieses Haus passte zu meiner Stimmung. Dieses Leben passte zu meiner Stimmung.
Adieu Freude.
Adieu Heimat.
Adieu Vater.
Für immer.
Derselbe Polizist erwartete mich. Er stellte dieselben Fragen in demselben formalen, gleichgültigen Ton.
Die Polizei hat eigentlich eine Hilfefunktion. Sie soll dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden und nicht jeder das tun darf, was er will. Sie sind vielleicht eine Hilfe für die Regierung. Mir können sie nicht helfen. Nein, so gut sind die nicht. Denen geht es nicht darum, dass sie mir helfen, denen geht es darum, dass sie ihren Job erledigten, sprich IHN, dieses Monstrum, zu fassen bekamen. Das würde lange dauern. Falls es überhaupt geschah. Und selbst dann, musste ER erst noch verurteilt werden. In dieser langen Zeit hat er mich längst gefunden.
Ich antwortete genauso wie gestern. Dieselben Antworten. Derselbe gelangweilte, emotionslose Ton, den ich mir vom Polizisten abkuckte. Gedanklich ganz woanders.
Heute saß noch ein anderer Polizist in der Nähe, der alles mitschrieb. Das Gebäude, dieser Polizeistation, sah keinen Deut besser aus, als unser Stadthaus. Hier war alles so versifft. Ein Ort der von der Karte gestrichen gehörte. Hässlich und grau. Verdreckt und nirgends ein bisschen Grün in Sicht
„Wie standen sie eigentlich zu ihrem Vater?“
Oho. Mal eine neue Frage, aber keine bessere.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ganz normal. Manchmal nervte er. Meistens war er aber sowieso nicht da, aber wenn ich Probleme oder so hatte, konnte ich mich an ihn wenden. Meine Mutter ist da schon anders.“, rutschte es mir raus. Ein Fehler. Ein schrecklicher Fehler, denn ich wusste, jetzt würden noch unangenehmere Fragen folgen. Als wäre das alles nicht schon schwer genug.
Er beäugte meinen abwesenden Blick. Meine dunklen Augen, die an die ebenso düstere Wand glitt. Ich will mir gar nicht vorstellen, wer hier alles gesessen hatte. Wer weiß, vielleicht war ER ja auch schon hier. Ich schüttelte den Kopf.
„Sie verstehen sich wohl nicht so gut mit ihrer Mutter. Ihre Trennung muss sicherlich schwer für sie gewesen sein.“
„Es ist nicht wegen der Trennung. Sie war sowieso nie für mich da. Nun muss sie ja.“
Er versuchte so etwas wie Verständnis in seinen starren Blick zu legen, doch sein Versuch wirkte verkrampft und lächerlich.
„Wie stand ihre Mutter eigentlich zu ihrem Vater?“, wechselte er schnell das Thema. Er erntete sich dafür einen entsetzten Blick. Was ging ihn das an? Ich beschloss nichts zu sagen. Er wartete. Dann begriff er.
„Na schön. Offenbar nicht so gut. Ihre Mutter möchte ich auch noch befragen.“
Der Gedanke gefiel mir gar nicht.
„War's das jetzt?“
„Mich würde nur noch eins interessieren: hatte ihr Vater Feinde? Würden sie irgendjemanden die Tat zutrauen?“
„Nein.“
„Das dachte ich mir schon.“
Der Polizist wirkte noch unzufriedener als das letzte Mal.
„Kann ich jetzt endlich gehen.“
„Na schön.“
Irgendetwas muss mich verraten haben. Oder er verstand seinen Job doch besser, als es schien. Denn er sagte genau das, was ich nicht hören wollte.
„Wenn sie Hilfe brauchen, mit dieser Situation umzugehen: Sie können sich jederzeit an mich wenden. Ich kenne da einige gute Leute.“
Ich pfiff auf sein gespieltes Mitgefühl. Keiner konnte fühlen, was ich fühlte, außer es war ihm selber passiert und das glaubte ich nicht. Nicht diesem falschen Geiergesicht.
Die Augen sind der Spiegel unserer Seele heißt es ja immer. Doofe Augen. Meine Abwesenheit, meine Trauer, meine Leere, all das konnte ich nicht so gut verbergen, wie ich es gern getan hätte. Dennoch sagte ich ihm, dass ich schon klar kommen würde. Es hörte sich so lächerlich an, dass mir sogar ein Lächeln über die Lippen schlich. Nicht einmal ich selbst würde mir das abnehmen.
Es regnete in Strömen, als ich dieses Gebäude verließ, das ich nie wieder betreten wollte, aber ich wusste, dass es noch lange nicht vorbei war. Es hatte gerade erst angefangen.
Dicke Tropfen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2014
ISBN: 978-3-7309-9372-9
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