Celia Martin
Herz
unter
Eis
Lesbischer Liebesroman
Sämtliche Personen und Geschehnisse sind erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder verstorben, wären rein zufällig.
Diese Geschichte spielt im Schwarzwald.
Die Gemeinde Blauberg und der Blauberger See sind jedoch fiktiv.
Copyright
Text: © 2020 Celia Martin
Bildrechte:
Cover unter Verwendung eines Motivs von
Istockphoto
Weihnachtsornamente, Herz und Smiley: Pixabay
Korrektorat: sks-heinen.de
Das Werk unterliegt dem Urheberrecht.
Es darf, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der
Autorin wiedergegeben werden.
»Hast du nicht gesehen, dass sie einen Ring trägt?«
Weihnachtsmuffel Ruby hat ihr Studium geschmissen und greift lieber ihrer Großmutter in deren kleiner Pension unter die Arme. Als die melancholische Margeaux dort ein Zimmer mietet, zieht sie sofort Rubys Aufmerksamkeit auf sich. Warum will eine verheiratete Frau die Feiertage ganz alleine in einem abgeschiedenen Ort verbringen? Und was macht sie so traurig? Gegen den Widerstand ihrer besten Freundin Katia und ohne sich von Oma Rosas Warnungen beeinflussen zu lassen, tut Ruby alles, um der Fremden näherzukommen. Bis sich in einer dramatischen Winternacht das Rätsel zu lösen scheint. Doch als ein Unbekannter am Ort auftaucht, muss Ruby feststellen, dass Margeaux mehr verbirgt, als sie offenbart.
Zwei Frauen. Die eine sucht noch nach ihrem Platz im Leben. Die andere scheint bereits damit abgeschlossen zu haben. Werden ihre aufkeimenden Gefühle füreinander Bestand haben?
Ein gefühlvoller lesbischer Weihnachtsroman.
21. Dezember
Last Christmas dudelte es an diesem Morgen bereits zum gefühlt einhundertsten Mal aus dem Radio und ich ertappte mich dabei, leise mitzusummen. Weihnachtslieder waren nicht mein Ding, so, wie Weihnachten überhaupt nicht mein Ding war. Aber diesen Song mochte ich schon immer. Im Hintergrund klapperte meine Großmutter mit dem Besteck. Sie mochte es nicht, wenn ich sie so nannte, und bestand auf ihren Vornamen.
»Rosa, lass nur, ich mach das schon.« Ich warf den feuchten Lappen ins Waschbecken hinter dem Büfett, wischte mir die Hände an einem um die Hüfte gebundenen Küchentuch ab und ging in die Gaststube der kleinen Pension hinein.
»Wie viele Gäste erwartest du denn?«, fragte ich angesichts des voll beladenen Tabletts mit Tassen und Untertassen. Kuchenteller und -gabeln standen und lagen schon auf den Tischen. Aus der Küche zog der Duft nach frisch gebackenem Kuchen.
»Der Landfrauenverein kommt doch nachher. Zwei Dutzend Frauen. Wie immer am dritten Montag des Monats.« Schwer atmend ließ Rosa sich auf einen mit geblümten Polstern bezogenen Stuhl fallen. Sie hob eine Hand an die Brust und sah sich stirnrunzelnd um. Ich ahnte zu wissen, was sie dachte.
Wie lange kann ich das noch machen?
Rosa war siebzig, aber das sah man ihr nicht an. Sie trug das nur sehr spärlich mit Weiß durchzogene Haar meist zu einem lässigen dunkelgrauen Dutt gebunden und besaß eine Vorliebe für wild gemusterte Hosen und dicke, handgestrickte Pullis, die einer Sonia Rykiel alle Ehre gemacht hätten. Sie rauchte nicht, trank mäßig und war in Haus und Garten ständig in Bewegung. Aber die vielen Jahre in der Gastronomie forderten eben ihren Tribut. Die kleine Pension mit Kaffeeausschank, selbst gebackenem Kuchen, gemütlichen Fremdenzimmern, oberhalb des Sees idyllisch, aber etwas abseits in der kleinen Schwarzwaldgemeinde Blauberg gelegen, war ihr Lebensinhalt. Seit Großvaters Tod vor ein paar Jahren führte sie den Betrieb alleine.
»Es ist nicht mehr viel«, hatte sie erst neulich verlautbaren lassen.
Ja, so war es. Die Gäste quartierten sich inzwischen lieber im rundum modernisierten Kurhotel direkt am Wasser des Blauberger Sees ein. Und auch wenn die Fremdenzimmer nicht mehr durchgängig belegt waren, das Café und die Weinstube der Pension Rosa florierten noch und verschafften seiner Besitzerin ein Auskommen.
Ich schnappte mir Geschirr und Besteck und deckte die Tische. »Noch ein paar Kerzen und ein bisschen Tannengrün, dann sieht es richtig schön aus.«
»Ach, Ruby«, Rosa berührte mich am Arm. »Was täte ich nur ohne dich? Jetzt, wo Pilar und ihr Sohn nicht da sind.« Pilar war die gute Seele der Pension, auch ihr Sohn half immer mal wieder aus. Während ihres Urlaubs war ich eingesprungen. Ich murmelte etwas über Semesterferien und dass ich gerne half. Tatsächlich war die Anfrage meiner Großmutter gerade rechtzeitig gekommen. Ich hatte nämlich kürzlich beschlossen, mein Studium auf Lehramt an den Nagel zu hängen. Zu spät gemerkt, dass es nicht das Richtige für mich war. So wie Soziologie bereits zuvor. Meine Mutter hatte genervt die Augen gerollt, mein Vater die Zahlungen für die Studentenbude in einer Freiburger WG eingestellt. Ein bisschen Geld zu verdienen und dabei dem ganzen Weihnachtstrubel aus dem Weg zu gehen, hörte sich in dieser Situation daher ganz gut an.
»Ich bleibe, solange du mich brauchst«, verkündete ich daher und drückte meiner Großmutter einen Kuss auf die Wange. Die erhob sich mit leichtem Ächzen, um in die Küche zu gehen. Von dort duftete es bereits verführerisch nach Mandel, Vanille und Lebkuchen, sodass mir in Vorfreude auf das, was sie dort zauberte, schon jetzt das Wasser im Mund zusammenlief.
Die Tür zur Gaststube flog auf und mit dem eisigen Wind, der dazu noch ein paar Schneeflocken mit sich zog, wirbelte Katia herein.
»Hi!«, rief sie, warf mit einem Tritt schwungvoll die Tür zu und küsste mich gleich darauf auf beide Wangen, während sie sich den gestrickten Schal vom Hals zerrte. »Na, noch nicht in Weihnachtslaune?« Ihre Kopfbewegung deutete ich richtig: Meiner Ex war aufgefallen, dass die Fassade der Pension dieses Jahr so gut wie keinen Weihnachtsschmuck trug.
»Nö.« Ich starrte angestrengt auf die zwei knallroten Christbaumkugeln in meinen Händen, bevor ich sie kurzerhand auf dem längsten der inzwischen gedeckten Tische legte. »Rosa kann nicht mehr so und ich …« Der Satz blieb in der Luft hängen.
»Du bist immer noch der Weihnachtsmuffel, den ich kenne. Ja, ja.«
Katia hatte sich inzwischen aus ihrem dicken Mantel geschält. Wie üblich standen ihre goldblonden Locken wie wild vom Kopf ab. Selbst wenn sie sie, wie jetzt, am Hinterkopf mit einer Spange zusammengefasst hatte, kringelten sich vorwitzige Strähnen um das runde Gesicht mit den stets etwas leicht geröteten Wangen. Katia sah immer aus, als sei sie gerade leicht aus der Puste geraten. Wir waren einige Jahre lang ein hübsches Paar gewesen. Ich, etwas größer als sie, schlank, mit katzengrünen Augen, das dunkelrote Haar kurz geschnitten und gerne in engen Jeans und Parka oder Lederjacke. Und die weibliche, stets fröhliche Katia in weich schwingenden Kleidern oder langen, bunten Röcken. Das war nun seit über einem Jahr vorbei. Katia würde im kommenden Sommer heiraten und, so hatte sie es bei der Verlobung verkündet, ein halbes Dutzend Kinder bekommen.
Unsere Freundschaft hatte die Trennung zu meiner eigenen Verwunderung überstanden. Nach einigen emotionalen Auseinandersetzungen, einem halbherzigen Versuch, Katia zurückzugewinnen, und einer längeren Phase des Schweigens waren wir zu Freundinnen geworden. Wieder. So, wie wir es lange Jahre vor unserer Beziehung schon gewesen waren. Dass Katia hier nach wie vor ein und aus ging, hing aber sicher auch damit zusammen, dass es in meinem Leben seither keine feste Partnerin mehr gegeben hatte.
»Was macht das Studium?« Katia schlängelte sich auf die Bank hinter einem der kleineren Tische und pustete sich wärmend in die bloßen Hände.
Während ich ihr einen Kaffee zubereitete, wie sie ihn liebte, sehr heiß, sehr hell, sehr süß, brachte ich Katia auf den aktuellen Stand der Dinge.
»Echt? Deine Eltern wollen dich nicht weiter unterstützen? Krass.«
Katia griff nach der Tasse, die ich vor sie hingestellt hatte, und hob schnüffelnd die Nase in Richtung Küchentür. »Weihnachtskuchen?«
»Ich schau gleich mal, ob er schon fertig ist, du Naschkatze.«
Katia lachte gutmütig auf, bevor sie wieder ernst wurde. »Was machst du denn jetzt? Kein Studium, kein Geld, hört sich nicht gut an.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Echt, ich glaube, so ein Studium ist überhaupt nichts für mich. Ich fühle mich viel wohler, wenn ich hier herumwuseln kann. Ein kleines Café oder eine Tagesbar mit Kuchen und Snacks, das würde mir gefallen.«
»Hm.« Katia blies über den Kaffee und nippte. »Sehr gut«, lobte sie.
»Eben. Kaffee kann ich, Backen kann ich fast schon so gut wie Oma. Von Wein verstehe ich was und was ich noch nicht kann, kann ich lernen.«
Wir schwiegen beide eine Weile, dann drehte ich mich um, um in die Küche zu gehen. Noch bevor ich das Büfett erreicht hatte, schwang die Tür erneut auf. Wir wandten beide die Köpfe. Katia nickte der Frau, die hereinkam, freundlich zu und widmete sich ihrem Handy. Ich indessen fühlte mich wie festgefroren beim Anblick der Fremden, die da hereinspazierte.
»Guten Tag.« Die Stimme war leise, aber weich und geschmeidig wie Honig. Und Honig war alles, woran ich denken konnte. Sanft geschwungenes Haar in ebendieser Farbe fiel über die schmalen Schultern, die Augen waren dunkler mit einem Schuss Kastanie. Der mit Lammfell gefütterte Mantel saß so, dass man die schlanke Figur darunter erahnen konnte. »Ist die Pension geöffnet?«
»Ja.« Meine Stimme schien über ein Reibeisen geglitten zu sein und ich räusperte mich, bevor ich weitersprach. »Wir haben geöffnet.«
»Ich meine, auch über Weihnachten?«
»Ja. Ja natürlich«, hörte ich mich sagen. Wobei das überhaupt nicht natürlich war. Denn wir hatten bislang keinerlei Reservierungsanfragen über die Feiertage erhalten und stillschweigend beschlossen, zu schließen.
»Gut, dann …« Die Fremde blieb stehen, auf einen Schlag wirkte sie ratlos. So, als habe sie nicht weitergedacht als bis zu diesem Moment.
»Ich kann Ihnen ein Zimmer zeigen.« Ich hatte mich wieder in Bewegung gesetzt, war bereits in das kleine Kabuff gegangen, das neben dem Durchgang in den Gästetrakt lag. Ich hob die Klappe, trat zum Schlüsselbrett und griff nach kurzem Zögern zu einem der Schlüssel, der an einem altmodischen, dicken Ring hing.
Schweigend folgte mir die Fremde in den ersten Stock hinauf. Falls sie angesichts der leicht durchgetretenen Treppe Zweifel befielen, ließ sie sich nichts anmerken.
»Zimmer 5«, erklärte ich. »Von hier haben Sie einen schönen Blick auf den See einerseits«, ich zeigte mit der Hand nach vorne. »Und außerdem zum Berg.« Ich war zum seitlichen Fenster getreten und wies in Richtung Hang. »Das Badezimmer ist sehr groß und mit Tageslicht.« Die Fremde nickte freundlich, als ich die Tür öffnete, sie hindurchgehen ließ. Sie inspizierte den schwarz-weiß gekachelten Boden, die altmodische Wanne, die nachträglich eingebaute Dusche und das große weiße Porzellanwaschbecken. Alles war blitzsauber, Pilar sei Dank.
Der Fremden schien zu gefallen, was sie sah.
»Sehr hübsch«, bemerkte sie leise.
»Allerdings haben wir im Haus nur ein sehr wackliges und langsames WLAN-Netz, aber weiter unten im Ort …«, wies ich sie auf einen für viele Reisende heutzutage wichtigen Umstand hin.
Die Honigfrau winkte leicht ungeduldig ab. »Darauf lege ich keinen großen Wert. Ich brauche Ruhe.« Sie war ins Zimmer zurückgekehrt, stand dort in der Mitte und knetete ihre Finger. Ich betrachtete sie und fühlte mich, als sei ich fünfzehn. Unsicher, durcheinander. Voller Furcht, die andere könne sich umdrehen und mit einem »Ist hier nichts für mich« wieder gehen. Es kam anders.
»Das Zimmer ist perfekt für mich. Es gibt doch Frühstück im Haus?«
Ich beeilte mich, zu nicken. »Unser Frühstück ist sehr beliebt. Außerdem gibt es täglich frisch gebackenen Kuchen.« Die Fremde lächelte schwach. »Wunderbar, dann nehme ich das Zimmer.«
Margeaux Olivier, meine Augen folgten der schwungvollen Bewegung, mit der sich die Fremde wenig später auf der Gästekarte eintrug.
»Wie spricht man das aus?«, fragte ich, als sie den Block zu sich gezogen hatte.
»Olivier? Wie man es schreibt.« Das Erstaunen hob ihre Stimme leicht an.
»Ich meinte Ihren Vornamen.«
»Ach so. Wie Margot ohne t.« Wieder dieses zarte Lächeln, das viel zu schnell verlosch.
»Dann hole ich mal mein Gepäck aus dem Wagen.«
»Ich helfe Ihnen«, bot ich an. Doch Margeaux winkte ab. »Ich habe nicht viel dabei.« Sie ging zur Tür hinaus und ich sah ihr nach. Trotz des leichten Schneetreibens, das mit kurzen Unterbrechungen seit dem Morgen herrschte, trug die Frau keine Kopfbedeckung.
»Merkwürdige Person.« Katia hatte ihren Kaffee ausgetrunken und stellte die Tasse ab.
»Wieso merkwürdig?« Noch immer ganz gefangen von dem Eindruck, den die Frau bei mir hinterlassen hatte, drehte ich mich zu meiner Ex um.
»Wer mietet sich denn ganz allein ein Zimmer über Weihnachten?«
»Vielleicht ist sie alleinstehend.«
»Sie trägt einen Ring. Hast du den nicht gesehen?«
Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.
Absichtlich übersehen.
»Na ja. Ich gehe mal wieder.«
Ich wandte mich meiner Freundin zu. »Was wolltest du denn?« Auf einen Kaffee war Katia sicherlich nicht aus gewesen.
Die wirkte nun etwas verlegen. »Eigentlich dachte ich daran, dich am zweiten Weihnachtsfeiertag zum Gänseessen einzuladen.«
Nach einer schmerzhaften Schrecksekunde schluckte ich heftig. Das Essen war immer ein fester Bestandteil von Katias Weihnachtsroutine gewesen. Freunde und Bekannte kamen zusammen, um sich vom Familienstress der beiden Vortage zu erholen. Meist wurde gut gegessen, viel getrunken und noch mehr herumgealbert. Im letzten Jahr war das Essen ausgefallen, weil wir beide uns kurz zuvor getrennt hatten. Aber nun hatte sie wohl Lust bekommen, diese alte Tradition wieder aufleben zu lassen.
Die Außentür öffnete sich erneut. Margeaux betrat, einen Rollkoffer in der Linken, die Handtasche über die rechte Schulter gehängt, den Raum. Sie nickte uns beiden kurz zu und verschwand in Richtung Treppe. Erst, als sie außer Sicht- und Hörweite war, antwortete ich auf Katias Frage.
»Ich weiß es noch nicht. Kommt drauf an, ob meine Großmutter mich hier an dem Tag braucht.«
»Wegen eines Gastes?« Katias Augenbrauen schnellten nach oben.
»Man weiß nie«, entgegnete ich, bevor ich mich umdrehte und zur Tür sah, die hinter dem Büfett in die Küche führte. »Ich glaube, ich schaue mal nach Rosa. Ich höre gar nichts mehr.«
Katia winkte mir zum Abschied zu und stiefelte davon.
Meine Großmutter saß in der Küche auf einem der alten Holzstühle an der Wand. Sie atmete schwer. Die Kuchen waren aus dem Backofen genommen. Sie sahen so appetitlich aus wie immer und verbreiteten einen typischen Weihnachtsduft nach Mandeln, Zimt und Vanille.
»Rosa, alles klar?«
Großmutter winkte ab. »Mach dir keine Gedanken. Heute fällt mir einfach vieles schwer. Das ist eben die Last der Jahre.«
Noch bevor ich antworten konnte, rief jemand von der Gaststube aus nach uns.
»Herrjeh, wie die Zeit vergeht, jetzt sind die Landfrauen schon da«, murmelte Rosa.
Wie gut, dass die Tische bereits vorbereitet waren. Innerhalb der nächsten zwanzig Minuten betraten ununterbrochen weitere Frauen das Café. Bald schon schwirrten Gesprächsfetzen, das Klirren von Porzellan und Gelächter durch die Luft. Während Rosa Kaffee und Tee kochte, brachte ich alles an die Tische, schnitt Kuchen auf und stellte den Frauen, als es an der Zeit war, eine Flasche Eierlikör hin, die so schnell getrunken war, dass gleich die zweite aufgemacht wurde. Erst am frühen Abend, als alle gegangen, die Tische abgedeckt und der Boden der Gaststube gesäubert war, dachte ich wieder an Margeaux. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seitdem sie nach oben gegangen war. Ob sie in ihrem Zimmer saß? Oder schon schlief? Der Anmeldekarte und dem Personalausweis hatte ich entnommen, dass sie aus Straßburg kam. Allerdings hörte man keinen französischen Dialekt.
Das Zimmer ist perfekt für mich, erklang ihre weiche, ein wenig tiefe Stimme in meiner Erinnerung. Perfekt für ein Weihnachtsfest alleine. Was sie dazu bewogen hatte? Neugier und Fantasie mischten sich mit einem leicht kribbeligen Gefühl, das ich am besten gleich wieder los wurde. Katia hatte nämlich recht. Margeaux trug einen Ring. So elektrisiert mich auch bei ihrem Anblick gewesen war, so klar war mir gleichzeitig auch, dass es bei einer Schwärmerei bleiben würde. Denn auf Herzenstrouble hatte ich definitiv null Bock!
22. Dezember
»Sind die von Ihnen?«
Margeaux betrachtete die gerahmten Fotos an der Wand. Ich trat neben sie, ein Tablett mit Kaffee, Brötchen, Käse und Honig in Händen.
»Ja. Ich fotografiere sehr gerne und es gibt hier reichlich Gelegenheit dazu.« Die Fotos waren im Sommer entstanden. Der See schimmerte in tiefdunklem Blau und machte seinem Namen alle Ehre. Er sah, das dachte ich mir immer, irgendwie mystisch aus.
»Sie haben ein gutes Auge für Motive.« Margeaux deutete auf zwei Bilder, die im Wald entstanden waren. Moosbedeckte Baumstämme, eine Ansammlung von buttergelben Pilzen.
»Danke. Sie wissen ja, was man sich über den Schwarzwald erzählt?«
Margeaux schüttelte ein wenig zögerlich den Kopf. So, als müsse sie überlegen. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich bin zum ersten Mal hier in der Gegend.« Danach setzte sie sich. Ihre Augen huschten über das Tischtuch, als suche sie etwas. Ich stellte das Tablett ab und nahm die Sachen herunter. »Kaffee schenke ich Ihnen nach, so viel Sie wollen.« Und weil Margeaux nichts mehr sagte und ich das Gespräch nicht abbrechen lassen wollte, fuhr ich fort. »Der Blauberger See birgt ein Geheimnis.« Margeaux hob den Kopf. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. Unwillkürlich blickte ich auf ihren Ring.
Was macht sie hier, so ganz alleine, über Weihnachten?
Das Zimmer war bereits für eine Woche im Voraus bezahlt. »Danach sehen wir weiter«, hatte sie gesagt.
Danach, das hieße dann, dass sie womöglich darüber nachdachte, auch über den Jahreswechsel hinaus zu bleiben.
»Ein Geheimnis?« Margeaux’ Stimme durchbrach meine Gedanken.
»Wollen Sie es hören?«
»Ist es … schlimm?«
Ich musste lächeln. Die Frau war Anfang vierzig und jetzt blickten ihre Augen fast schon ängstlich. Als seien Fabeln und Legenden etwas, das in ihr dieselbe Furcht auslöste wie in Kindern.
»Nein. Eigentlich sind fast alle Geschichten aus dem Schwarzwald eher ein bisschen gruselig. Kennen Sie das kalte Herz?«
»Ein Märchen dieses Namens kenne ich.« Margeaux goss Kaffee in ihre Tasse und füllte sie danach mit heißer Milch auf.
»Genau das meine ich. Gruselig, oder?« Ich redete einfach weiter. Es befand sich niemand sonst in der Gaststube, ich hatte Zeit und große Lust, mich mit Margeaux zu unterhalten. Die hielt nun ein Brötchen in Händen und schnitt es auf. Schlanke Finger, die aussahen, als könnten sie auch richtig zupacken.
Was hat sie noch mal als Beruf angegeben?
Nichts, fiel mir ein. Das Feld war frei geblieben. Es war auch nicht verbindlich.
»Die Geschichte des Sees, die würde ich Ihnen gerne dort unten erzählen. Falls Sie möchten, zeige ich Ihnen die entsprechende Stelle. Vielleicht heute Nachmittag?«
Margeaux ließ die beiden Brötchenhälften auf den Teller sinken. »Vielleicht«, antwortete sie schleppend.
»Sie möchten doch sicher ein bisschen mehr von der Gegend sehen? Spazierwege erkunden? Es gibt ein paar sehr schöne Pfade ein bisschen abseits.«
Jetzt hob Margeaux interessiert den Kopf. »Ja«, sagte sie dann. »Ja, das wäre schön, ich mag lange Spaziergänge.«
»Abgemacht.«
Die Tür zur Gaststube öffnete sich und Hexe kam hereingestürmt. Die dunkelbraune Hündin, ein echter Deutscher Kurzhaar, wedelte ungestüm mit dem Schwanz und gab erfreute Laute von sich, als sie mich sah. Ihr folgte Rosa, die einen Korb voller Obst und Gemüse am Arm trug.
»Ach Rosa, das hätte ich doch machen können.« Ich trat auf meine Großmutter zu, um ihr die Einkäufe abzunehmen.
»Lass mal«, wiegelte die ab und grüßte gleichzeitig mit einem Kopfnicken ihren einsamen Gast. »Du weißt doch, dass ich gerne auf den Markt gehe. Das lasse ich mir nicht nehmen.«
Hexe lief derweil aufgeregt zwischen uns hin und her. Sie schnüffelte an meinen Beinen, kläffte einmal kurz und folgte sofort dem nur durch eine Geste ausgedrückten Befehl, sich in die privaten Räume zurückzuziehen. Während Rosa dem Hund dorthin folgte, trug ich den Korb in die Küche.
Aus dem Radio erklang einer der seichten Schlager, die Rosa so sehr liebte. Heute ertappte ich mich dabei, wie ich leise mitsang. Ich freute mich auf den Nachmittag.
»Dieser Weg führt um den ganzen Blauberger See herum.«
Margeaux hatte ihre Strickmütze bis auf die Brauen gezogen und die Hände tief in den Taschen ihrer Lammfelljacke vergraben. Ich musterte sie verstohlen von der Seite. Ihr Profil wurde von einer starken Nase und hohen Wangenknochen beherrscht. Die blasse, feine Gesichtshaut war durch die Kälte leicht gerötet. Sie hielt den Kopf abgewandt, betrachtete stumm den See. Schon in den Sommermonaten schimmert er in einem faszinierenden Dunkelblau. Jetzt wirkte er durch die Eisschicht, die ihn überzog, fast schwarz.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Stelle, von der ich heute früh gesprochen habe«, sagte ich.
Margeaux wandte mir das Gesicht zu. In den schmalen kastanienbraunen Augen lag ein melancholischer Ausdruck.
»Okay«, sagte sie langsam. Wir setzten uns in Bewegung. Während Margeaux überwiegend stumm blieb, redete dafür ich fast pausenlos. Ich konnte es mir selbst nicht erklären. Diese Aufgekratztheit, dieser Wunsch, die Verbindung nicht abbrechen zu lassen. Und sei es nur durch ein Gespräch.
An diesem Tag lag in der Luft die klare, trockene Winterkälte, die ich so sehr mochte. Unter unseren Füßen knackte die gefrorene Erde, auf den Bäumen bildete der Schnee eine dicke weiße Schicht. Der Weg am Wasser entlang war breit genug, um bequem nebeneinander her zu gehen. Es begegnete uns kaum jemand, was allerdings erstaunlich war. Denn normalerweise spazierten sowohl Einheimische als auch Touristen gerne am See entlang.
»Hier ist es.« Wir waren ungefähr zehn Minuten gelaufen. Zu unserer Rechten öffnete sich der Weg auf eine kleine Lichtung. Dort hatte man zu früheren Zeiten eine achteckige, zu drei Seiten offene Schutzhütte gebaut. Ich hingegen zeigte nun auf das Eis zur Linken.
»Der Legende nach hat sich hier in einer Vollmondnacht im Winter ein junges Mädchen aus der Gegend auf den zugefrorenen See begeben, um Schlittschuh zu laufen. Sie war alleine und tieftraurig, weil ihr Liebster sie verlassen hatte. Angeblich weinte sie bei einer Pirouette so heiße Tränen, dass das Eis unter ihren Füßen schmolz. Am nächsten Tag entdeckte man nur noch ihre Mütze auf dem Eis, das an der Stelle sichtbar dünner wieder zugefroren war.« Ich hielt kurz inne, um zu sehen, wie meine Worte auf Margeaux wirkten. Die sah mich unverwandt an. Ein Kribbeln lief über meinen Rücken. Das sich noch verstärkte, als sie mir ein Lächeln schenkte.
»Das ist weniger eine gruselige als eine tragische Geschichte«, meinte sie.
»Warten Sie es ab. Es geht noch weiter.« Ich grinste sie an und sie sah weg, wieder auf den See hinaus.
»Eines Abends ging hier ein Liebespaar spazieren. Es war Sommer. Niemand dachte mehr an die Geschichte, die sich Monate zuvor im Eis abgespielt hatte. Die beiden Verliebten küssten sich an genau dieser Stelle. Da teilte sich das Wasser und zwei bleiche Arme griffen nach dem jungen Mann. Seine Freundin schrie erschrocken um Hilfe, aber es befand sich niemand in der Nähe. Die junge Frau schwor hinterher Stein und Bein, dass es die verschwundene Eisprinzessin gewesen sei, die ihren Freund unter Wasser gezogen hatte. Da sie mutig war, sprang sie hinterher. Es war, wie sie es hinterher schilderte, ein harter Kampf. Auf der einen Seite zog das Wasserwesen an dem Unglücklichen. Auf der anderen Seite seine Freundin. Die gewann schließlich die Oberhand und schleppte den Halbtoten an Land, wo er Gott sei Dank bald wieder zu sich kam. Er war es, der diese Schutzhütte erbauen ließ.« Ich wandte mich um und zeigte auf die Hütte. »Zum Dank für seine Rettung und als Mahnung an alle Liebenden, keinesfalls an dieser Stelle stehen zu bleiben.«
Jetzt sah sie doch ein bisschen erschütterter aus. »Warum hat die Frau aus dem Wasser nach dem Mann gegriffen?«
Ich machte ein wichtiges Gesicht. »Ihren Liebsten hatte sie bereits vorher verloren. Sie wollte wohl nicht mehr alleine sein dort unten.«
Margeaux blickte wieder auf den See. Ein schmaler Ast ragte aus dem Eis. Ein paar Blätter lagen darauf, halb eingefroren. Ein kleines Tier hatte Spuren auf dem wie darüber gehauchten Schnee hinterlassen.
»Als ob das so einfach wäre.« Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum trug. Ich hatte die Worte trotzdem verstanden. Aber danach sagte sie nichts mehr und wir setzten nach einer Weile unseren Spaziergang um den See fort.
»Ich habe euch gesehen!« Katias Stimme drang aus dem Mobiltelefon an mein Ohr.
»Wen gesehen?« Gedanklich war ich mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt, als meine Ex anrief.
»Dich und diese Frau. Euren Gast. Heute Nachmittag. Am See.«
»Ach ja«, sagte ich und bemerkte, dass mir der beiläufige Ton nicht ganz so gut gelang, wie ich es mir gewünscht hätte.
»Spielst du jetzt Reiseführerin?«
»Habe ihr nur ein wenig die Gegend gezeigt. Sie ist zum ersten Mal hier.«
Wir waren noch ein Stück am See entlang gelaufen und waren einem Weg gefolgt, der in einem weiten Bogen zu einer Stelle hoch über dem Wasser führte. Eine Bank lud in der warmen Jahreszeit zum Verweilen ein. Sie war an diesem Tag jedoch unter einer dicken Schneeschicht verborgen gewesen. Trotzdem war es eine schöne Stelle, man überblickte den gesamten See. Margeaux stand wieder eine ganze Weile gedankenverloren dort. Dann hob sie den Arm und zeigte hinunter. »Dort liegt eine Strickmütze auf dem Eis.«
»Wo denn?« Erstaunt beugte ich mich etwas nach vorne. Ich konnte nichts erkennen. In diesem Moment lachte meine Begleiterin einmal hell auf. »Kleiner Scherz«, meinte sie. Ich beobachtete fasziniert, wie ein paar Funken in ihren Augen aufzufliegen schienen und sich ihre Nase beim Lachen ganz leicht kraus zog. Dann war der Moment vorbei. Sie wandte mir erneut ihr Profil zu. »Die Vorstellung, dass tatsächlich jemand dort unter dem Eis liegt, mit gebrochenem Herzen, das nicht heilen will, ist schon sehr traurig.«
Auf dem gesamten Rückweg redeten wir kaum noch. Ich, weil ich das Gefühl hatte, mit jedem Wort einen Wall überwinden zu müssen. Sie, weil sie vermutlich wieder in ihre Gedankenwelt zurückgekehrt war. Ich sah auf die Uhr. Noch Zeit genug, bis das Abendgeschäft in der Pension losging.
»Haben Sie unseren Weihnachtsmarkt schon besucht?«, fragte ich sie, als die ersten Häuser des Ortes in Sichtweite waren. »Die Buden öffnen gerade. Wir könnten noch ein paar heiße Maronen essen und einen Punsch trinken.« Sie zögerte kurz, bevor sie einwilligte. Die Buden zogen sich rund um den Marktplatz, schon von Weitem drang der Duft nach Glühwein und gerösteten Mandeln in meine Nase. Wir drehten eine Runde, wobei Margeaux bei einem Stand mit schönen Glaskugeln stehen blieb. Versonnen berührte sie die eine oder andere, fuhr mit den Fingern darüber, schüttelte aber verneinend den Kopf, als der Verkäufer sie nach ihren Wünschen fragte. Am Maronenstand holte ich uns eine Portion und hielt sie ihr hin. Sie aß mit großem Appetit und einmal griffen wir gleichzeitig in die Tüte und unsere Finger berührten sich. Ein Moment, den ich elektrisierend fand. Ob es ihr genauso ging, konnte ich nicht sagen, denn sie drehte sich um, deutete auf einen Stand, an dem Glühwein und Punsch ausgeschenkt wurden, und sagte, sie brauche jetzt unbedingt etwas Heißes. Dann standen wir an einem der Stehtische, nippten an dem dampfenden Gebräu und ich fragte sie, ob sie diese Zeit des Jahres mochte oder eher ein Weihnachtsmuffel war. Ihr Kopf ruckte nach dieser Frage so heftig nach oben, dass ich erschrak. Sie wirkte, als müsse sie nach Atem ringen.
»Nein«, erwiderte sie schließlich. »Ich bin keine besonders große Freundin des ganzen Trubels.«
Später fragte sie mich nach einem Buchladen. Ich brachte sie hin und beim Stöbern in den Neuerscheinungen flammte unser Gespräch wieder auf. Dieses Mal drehte sich alles um unsere bevorzugten Lesegewohnheiten. Am Ende hatte sie einen Familienroman ausgesucht und ich mir einen Krimi geschnappt. Denn was das Genre betraf, lagen unsere Vorlieben sehr weit auseinander.
»Hm«, machte Katia am anderen Ende. »Schon merkwürdig. Eine verheiratete Frau, die Weihnachten nicht zu Hause bei ihrer Familie feiern möchte. Was machst du überhaupt mit ihr an Heiligabend? Oder erwartet ihr noch weitere Gäste?«
Ich wusste, worauf Katia anspielte. In den vergangenen drei, vier Jahren waren immer weniger Gäste um diese Zeit gekommen. Daher hatte meine Großmutter entschieden, kein Weihnachtsessen mehr anzubieten. Da im Dorf auch keine weitere Gaststätte geöffnet hatte, die meisten Wintergäste speisten in den Hotels, in denen sie abgestiegen waren, würde es Margeaux ausgerechnet an diesem Tag schwerfallen, irgendwo essen zu gehen.
»Es sind ja noch zwei Tage«, meinte ich leichthin.
Doch wie das Leben so spielte, schneiten uns schon am selben Nachmittag weitere Gäste ins Haus. Ein Paar, vermutlich beide Anfang zwanzig und schwer verliebt. Sie hatten sich spontan entschieden und ein begrenztes Budget. Da war die Pension Rosa genau das Richtige.
Seit der Rückkehr von unserem Spaziergang hatte ich Margeaux nicht mehr gesehen. Sie war mit dem Buch in ihrem Zimmer verschwunden. Ich meinerseits musste sicherstellen, alles für das geplante Abendessen im Haus zu haben. Die Speisekarte der Weinstube war klein und enthielt beliebte Klassiker wie Käsespätzle, Gemüseeintopf und Frikadellen mit Kartoffelsalat. Einmal in der Woche gab es hausgemachte Maultaschen, die meiner Meinung nach sowieso nirgendwo besser schmeckten.
Kurz vor sieben Uhr abends kam Detlef Mayer. Der Witwer kam jeden Abend. Meiner Meinung nach ging es ihm weniger ums Essen als um Großmutter. Die tat so, als bemerkte sie es gar nicht, wie der ältere Herr um sie herumschwarwenzelte. Dabei setzte sie sich stets, wenn alles getan war, auf ein Glas Trollinger zu ihm an den Tisch. Manchmal redeten sie, viel über alte Zeiten und die Frage, wie man als nicht mehr ganz junger Mensch mit den Herausforderungen der Zukunft zurechtkommen sollte. Manchmal spielten sie Domino. Und manchmal schwiegen sie einfach miteinander. Gut miteinander schweigen zu können, zeigte laut meiner Großmutter, mit wem man sich wirklich verstand.
Detlef setzte sich an seinen Lieblingsplatz, wie immer so, dass er die Getränketheke im Blick hatte. »Das heutige Tagesgericht ist Gemüseauflauf«, informierte ihn meine Großmutter. Er bestellte eine Portion, dazu das übliche Viertel Roten und ich polierte mit einem Grinsen im Gesicht die Gläser.
Das junge Paar tauchte ebenfalls auf. Sie rückten an ihrem Tisch eng zusammen, hielten ununterbrochen Körperkontakt und sahen sich tief in die Augen.
Nachdem sich die Gaststube mit weiteren Gästen gefüllt hatte, zeigte meine Großmutter mit dem Kinn auf den letzten noch freien Tisch. »Glaubst du, die Französin kommt noch zum Essen? Nicht, dass wir jemanden wegschicken und der Tisch unbesetzt bleibt.«
»Sie ist keine Französin«, antwortete ich. »Sie hat nur die letzten Jahre im Elsass gelebt. Ursprünglich stammt sie aus der Gegend um Regensburg.« So hatte sie es mir bei unserem Spaziergang erzählt. Warum sie nach Straßburg gezogen war, wusste ich nicht. Ich glaubte es aber zu wissen, weil ihr Familienname französisch war.
Was das Abendessen betraf, war ich der Meinung, noch ein bisschen zu warten. Zum Glück tauchte Margeaux tatsächlich auf, bevor weitere Gäste kamen. Sie blickte sich unsicher um und ich führte sie zu ihrem Platz.
»Habe ich den für mich?« Es war ein Vierertisch, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, noch jemanden zu ihr zu setzen. »Natürlich«, antwortete ich daher und nahm die Bestellung auf.
Später am Abend, unsere Gaststube hatte sich bereits wieder fast geleert, Großmutter saß bei Detlef am Tisch und ich hatte genug zu tun, abzuräumen und alles wieder herzurichten, fiel mir der Blick auf, mit dem Margeaux das junge Paar betrachtete. Er war so tieftraurig, dass auch ich unwillkürlich eine Schwere in der Herzgegend verspürte. Etwas, das mich den restlichen Abend über nicht mehr losließ.
23. Dezember
Ein Zimmermädchen erfährt eine ganze Menge über Gäste. Normalerweise war Pilar für diese Arbeit verantwortlich. Jetzt hatte ich das übernommen. Kein großer Akt, es waren an diesem Tag ja nur zwei Räume belegt. Während das Zimmer des jungen Paares alle Anzeichen heftiger Verliebtheit aufwies, inklusive total zerwühlter Betten, einer halb geleerten Flasche Wein auf dem Nachttisch und einiger Chipskrümel im Bett, sah es bei Margeaux ganz anders aus. Sie hatte den kleinen Rollkoffer ausgeräumt und die wenigen Kleidungsstücke akkurat in den Schrank gehängt. Auf dem Nachttisch herrschte Ordnung, lediglich das am Vortag gekaufte Buch lag dort. Dem Lesezeichen nach zu schließen, hatte sie es bereits fast bis zur Mitte gelesen. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster befand sich nichts von ihr, im Badezimmer hatte sie alles in einem edel aussehenden Kulturbeutel verstaut. Becken und die Dusche waren abgewischt, eine Seltenheit, dass Gäste so etwas machten, das Handtuch lag auf den Boden. Ein Zeichen, dass es ausgetauscht werden sollte.
Im Badezimmer streifte mich der leichte Duft eines aromatischen Duschgels. Kräuterig, holzig, etwas zu herb für jemanden mit solchem Haar und solchen Augen. Mit dem Zimmer selbst hatte ich nicht viel Arbeit, das Bett war schnell gemacht. Danach stand ich einen Moment mitten im Raum und versuchte, mir ein Bild über die Bewohnerin zu machen. Obwohl wir am Vortag über eine Stunde gemeinsam unterwegs gewesen waren, hatte sie so gut wie nichts über sich persönlich erzählt. Jedes Mal, wenn ich auf den Grund ihres Hierseins zu sprechen gekommen war, war sie ausgewichen. Es wäre unhöflich gewesen, noch intensiver in sie zu dringen, daher hatte ich es irgendwann gelassen. Obwohl wir
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6053-5
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