Celia Martin
Lesbisch. Single. New in Town.
Lesbische Romantic Comedy
Sämtliche Personen und Geschehnisse sind erfunden.
Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Die Autorin hat sich darüber hinaus die künstlerische Freiheit genommen, gelegentlich fiktive Örtlichkeiten in die reale Kulisse der Stadt Frankfurt am Main einzufügen.
Copyright
Dieses Werk unterliegt dem Urheberrecht.
Text und Cover sind urheberrechtlich geschützt.
Text: © 2018 Celia Martin
Alle Rechte vorbehalten.
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Covermotiv: Shutterstock (ID 397310314)
Was tun, wenn die große Liebe scheitert?
Als Dorle aus heiterem Himmel mit ihr Schluss macht, will die geschockte Amelie nur noch weg aus dem Dorf, in dem sie und ihre Ex sich immer wieder begegnen würden.
Um ihren Liebeskummer zu bekämpfen, zieht sie Hals über Kopf nach Frankfurt. Doch aller Neuanfang ist schwer, entpuppt sich doch die Wohnung als finsteres Loch, der neue Job als Sklavenarbeit und an das Großstadtleben muss sie sich auch erst noch gewöhnen.
Zurückgehen kommt für Amelie nicht infrage. Zumal sie mit jedem Hindernis, das sie aus dem Weg räumt, an Selbstvertrauen gewinnt. Schritt für Schritt erobert sie sich ihr neues Leben. Bis ihre Gefühle für eine schöne Fremde sie aus dem Takt bringen; dabei wollte sie sich doch nie wieder verlieben! Nun erfährt sie mit Karacho, dass das Herz sich nichts befehlen lässt, sondern seine eigenen Wege geht. Selbst wenn der Kopf zur Vorsicht mahnt, weil die Angebetete ein dunkles Geheimnis zu hüten scheint.
Als Dorle dann plötzlich wieder vor ihr steht, geht die Achterbahn der Gefühle erst richtig los …
Der ganze Ort lag uns zu Füßen.
Wie bunte Kugeln schwebten die vielfarbigen Lichter aus dem Tal zu uns herauf. Hinter der geschwungenen Bucht mit ihren vielen Kafeinions, Bars und Restaurants glitzerte die Ägäis und badete den heute fast rosafarbenen Mond und die Vielzahl von Sternen, die vom dunklen Firmament blinkten, in ihren sanften Wellen. Der Duft von Salzwasser mischte sich mit dem von Kräutern und harzigem Holz.
»Wie schade, dass wir morgen schon wieder nach Hause fliegen müssen«, seufzte Dorle und schmiegte sich eng an mich. Ihr Kopf lag auf meiner Schulter, ihre Arme umfassten meine Taille. »So schön ist es hier, dass ich am liebsten noch bleiben würde.«
Ich nickte, noch immer gefangen vom Anblick der kleinen Hafenstadt. Zwei Wochen lang hatten wir uns Kreta angesehen. Dabei kleine, wenig bevölkerte Buchten entdeckt. Typisch griechisch gegessen. Erfrischendes Frappé getrunken. Waren dabei immer wieder auf unaufgeregt freundliche Menschen getroffen, die uns frisches Gemüse mit dickem, duftenden Olivenöl und dazu herrlich süffigen Wein kredenzt hatten. Vor allen Dingen aber hatten wir uns gehabt. Konnten Hand in Hand durch die gewundenen Straßen spazieren. Auf den Badematten eng zusammen liegen und die Sonne genießen. Herumalbern. Die Nächte miteinander verbringen.
Die Nächte ...
Dorle war leidenschaftlich gewesen in diesem Urlaub. Leidenschaftlicher als sonst. Ihre Sinnlichkeit, die mich bereits am Anfang unserer Beziehung in ihren Bann gezogen hatte, schien unter der frühlingshaften Sonne Kretas förmlich zu explodieren.
Waren unsere Tage voller Leichtigkeit, hatten die Nächte ihre eigene Stimmung. Voller Lust und Erotik. Wenn wir, von der Sonne und der Nähe unserer Körper erhitzt in unser Hotelzimmer zurückkehrten, war es meist meine Geliebte, die es kaum erwarten konnte, die spärliche Kleidung loszuwerden. Ihre Küsse waren fordernder als sonst, ihre Hände zielstrebiger. Sobald die Tür hinter uns zugefallen war, liebten wir uns das erste Mal. Wenn wir dann, mit feuchter Haut und atemlos nebeneinanderlagen und uns ewige Liebe schworen, schien die Zeit für uns stillzustehen. Wann immer ich später an diese Tage dachte, war alles verbunden mit Momenten unbeschwerten Glücks und heftiger Leidenschaft. Als wir uns nun am vorletzten Tag unserer Reise von unserem Aussichtspunkt erhoben, um in den Ort hinunterzugehen, hielt ich Dorle kurz fest.
»Heute war der schönste Tag meines Lebens«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
»Dabei ist er noch nicht vorbei«, gab sie kichernd zurück.
Hand in Hand suchten wir im Schein einer Taschenlampe unseren Weg.
Ich hätte nie gedacht, dass die Dinge sich danach so rasant schnell ändern würden.
Der ganze Ort lag uns zu Füßen.
Wie bunte Kugeln schwebten die Lichter zu uns herauf. Gelb, rot, durch etliche Fenster auch bläulich-grau, wenn dort unten bereits ein Fernsehgerät eingeschaltet war.
Ich zog meine Jacke enger um mich. Nicht nur, weil dieser Abend im Mai noch recht kühl war. Auch, weil mir im Herzen so kühl geworden war, seit Dorle gesagt hatte, was sie, wie sie sagte, sagen musste. Deswegen wir hier hochgekommen waren auf den einzigen Hügel über unserem Dorf weit und breit. Die Holzbank unter meinem Hintern schien seither zu schwanken, oder war es das Universum?
»Wie meinst du das?« Das konnte nicht ihr Ernst sein.
»So, wie ich es sage. Meine Gefühle haben sich verändert.«
Verändert. Das war gut. Sie waren gestorben, das wollte sie mir wohl sagen.
»... schließlich will ich mal Kinder haben ...«
Aha, daher wehte der Wind. Dorles Schwester hatte sich kürzlich vermehrt und meine Freundin, ach was, die Frau meines Lebens, geriet seither stets ins Schwärmen über dieses vertrielte, pupsende, sabberne Etwas, das sich Baby nannte.
»... und mich nicht immer verstecken müssen ...«
Das war der Gipfel! Den Schein wahren wollte eigentlich nur sie, dabei hatte das bisher nicht gut geklappt. So ziemlich jeder in diesem Dorf redete inzwischen hinter vorgehaltener Hand über uns. Beste Freundinnen. Seit Jahren. Und kein Mann an ihrer Seite. Das machte uns verdächtig, hatten wir doch beide bisher keine feste Beziehung vorzuweisen gehabt. Bis wir uns fanden und verstanden, warum das alles so hatte kommen müssen.
»... außerdem auch viel besser für dich.«
Ach so, ja? Wie meinte sie das denn jetzt?
Ihre runden, schokobraunen Augen lagen auf mir. »Weil du seit Monaten davon redest, weggehen zu wollen.«
Schob sie mir jetzt ihren Trennungswunsch in die Schuhe? Ja, ich hatte gelegentlich laut darüber nachgedacht, das Dorf zu verlassen, eine Gedankenspielerei, mehr nicht. Ich holte tief Luft.
»Dorle. Ich arbeite in einer Branche, die mich nicht wirklich interessiert. Als Fremdkörper, weil ich zwar eine kaufmännische Ausbildung habe, wohlgemerkt absolviert in einer Werbeagentur, aber Baustoffe nicht meine Welt sind, es aber die einzige Stelle war, die ich im Umkreis von fünfzig Kilometern bekommen konnte. Ich wohne noch im Haus meiner Eltern, was nicht gerade meine Selbstständigkeit im Leben unterstreicht. Trotzdem bin ich noch hier, weil ich immer einen Grund dazu hatte. Den wichtigsten. Den gewichtigsten. Den schönsten. Den liebenswertesten.« Mir ging der Atem aus. Ich sah sie an und hoffte, sie verstand. Meine Bemühungen waren umsonst. Ihr Blick verschloss sich, ihr Rücken wurde gerade. Wie immer, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatte.
»Amelie. Das ist alles schön und gut. Aber ich habe viel nachgedacht und meine Entscheidung getroffen. Es tut mir leid. Es ist unumstößlich. Es ist vorbei.« Sie erhob sich, strich den Rock ihres blauen Kleides glatt und bedeutete mir, dass sie jetzt gehen werde.
»Kommst du mit runter?«
Ich schüttelte den Kopf. Mir war, als sei ich festgefroren. Nicht einen Fuß würde ich vor den anderen setzen können. Nicht jetzt. Nicht mir ihr den schmalen Weg nach unten gehen, auf dem sich unweigerlich immer wieder unsere Schultern oder Hüften berühren würden.
»Adieu.« Sie ging. Ging tatsächlich weg von mir.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis auch ich mich auf den Weg machte. Völlig durchgefroren lief ich zurück in den Ort, in dem ich geboren und aufgewachsen war. Dabei kreiste ein einziger Gedanke in meinem Kopf: Ein Leben ohne Dorle, das war für mich überhaupt nicht vorstellbar.
Möglichst leise schlich ich mich im Haus meiner Eltern in die kleine Zwei-Zimmer-Einliegerwohnung, die dort mein Reich darstellte. Auf dem Wohnzimmertisch lag noch die DVD, die Dorle und ich uns am Vorabend angesehen hatten. Nebeneinander auf der Couch sitzend. Die Beine hochgelegt auf den Lederpouf, sodass sich gelegentlich unsere Zehen berührten. Die Finger ineinander verschlungen. Was hatten wir gelacht. Ich war ahnungslos gewesen. Selbst, als Dole beim Abschied so merkwürdig gezögert hatte. Sie wusste es da schon. Dass das unser letzter gemeinsamer Abend gewesen war, unser letzter Abend als Paar. Ich ahnte nichts, vermutete romantische Gründe, dachte noch, es fiele ihr einfach nur schwer, zu gehen. Ich Idiotin.
Der Gedanke daran schien mein Herz zu zerknüllen. Jetzt brachen alle Dämme, ich warf mich mit tränenüberströmtem Gesicht auf dem Bett, atmete Dorles Geruch ein, der dort noch ganz leicht hing. Wann hatte sie das letzte Mal bei mir übernachtet? Es war schon ein paar Tage her. Und jetzt ... Immer und immer wieder fragte ich mich, warum das alles. Fand keine Antwort.
Nachdem die erste Welle der Verzweiflung abgeebbt war, schlurfte ich ins Bad. Blickte in ein zutiefst trauriges Gesicht. Meine dunkelblauen Augen starrten rotgerändert und verquollen auf ein blasses Antlitz und das normalerweise honigfarbene, gewellte Haar schien mit einem Schlag erschlafft und hing traurig auf meine Schultern herab. Ich beugte den Kopf übers Waschbecken und schaufelte mir kaltes Wasser ins Gesicht, bis ich einigermaßen herzeigbar aussah. Es war ja schon dunkel, gottseidank.
In meinem Kopf drehte sich alles. Was tun? Das Ende meiner großen Liebe einfach hinnehmen? Schon allein der Gedanke schmetterte mich nieder. Ich musste einfach noch einmal mit Dorle sprechen. Sie hatte sicherlich ebenfalls bereits eingesehen, dass die Trennung indiskutabel war. Dass ein Bruch zwischen uns sie ebenso mitnehmen würde wie mich. Dass wir beide nicht ohne einander konnten. Ungesehen ging ich aus dem Haus, Fragen meiner Eltern hätte ich jetzt nicht beantworten wollen. In Dorles Elternhaus am anderen Ende des Ortes brannte Licht in Wohnzimmer und Küche. Und in Dorles Zimmer. Alles wirkte ganz ruhig, nur der Hofhund bellte einmal kurz, bevor er wieder in seine Hütte schlich. Wie konnte hier alles so wirken, als sei nichts geschehen? Wo ich völlig von der Rolle war? Plötzlich verunsichert blieb ich im weitläufigen Hof neben dem Unterstand für den Traktor stehen. Noch hatte ich mir die Worte, mit denen ich meine Liebste zurückgewinnen wollte, nicht zurechtgelegt. Im Flur des einstöckigen Bauernhauses sprang das Licht an, hinter der geriffelten Scheibe bewegten sich zwei Schatten. Die Tür wurde geöffnet. Ich trat hinter den Traktor, um nicht gesehen zu werden. Ein Mann kam aus dem Haus. Ich erkannte ihn, es war Benjamin. Ein Freund von Dorles älterem Bruder, die beiden waren zusammen bei der Freiwilligen Feuerwehr und vermutlich noch ein paar anderen Vereinen. Dorle blieb an der Schwelle stehen. Sie trug jetzt eine Strickjacke über ihrem Kleid, die sie eng um sich zog. Sie lächelte.
»Bis dann«, sagte dieser Benjamin zu meiner Dorle.
»Tschüss«, antwortete sie ihm. Das ›Ü‹ hüpfte ein bisschen nach oben. Mir wurde ganz kalt. Dieses Tschüss mit dem nach oben hüpfenden ›Ü‹ kannte ich. Aus unseren Anfängen. In Dorles Sprache bedeutete es ›Ich freue mich auf unser Wiedersehen. Nur wir zwei.‹ Bisher hatte es ausschließlich mir gegolten.
Starr verfolgte ich mit meinen Blicken den Kerl, der nun in die andere Richtung über den Hof ging, sich noch einmal umdrehte und lächelnd die Hand hob. Bevor ich mich der Frau zuwandte, die ich so wahnsinnig liebte, dass mir mein Herz alleine schon bei ihrem Anblick schrecklich wehtat. Sie nickte ihm lächelnd zu, drehte sich um, verschwand im Haus und schloss die Tür auf ihre sanfte und leise Art.
Es war genau dieser Moment, in dem ich endgültig begriff, dass es vorbei war.
Die Nacht nach der Trennung war schrecklich. Während ich mich sinnlos betrank, zog mein ganzes Leben an mir vorbei. Ein Leben, das immer mit Dorle verbunden gewesen war.
Dorle und ich. Wir kannten uns von Kindesbeinen an. Schon in der Grundschule heckten wir gemeinsam Streiche aus, später schwärmten wir beide für unsere Sportlehrerin. Teilten alles. Schminke, Taschengeld, Geheimnisse. Selbst als sich unsere Wege trennten, weil ich aufs Gymnasium wechselte, blieben wir in Verbindung. Konnten wir uns nicht sehen, schickten wir uns kleine Nachrichten. Mir war schneller klar als ihr, dass sich die freundschaftlichen Gefühle irgendwann veränderten. Denn egal, wen ich kennenlernte, kaum dass eine Beziehung enger wurde, schob sich Dorles Bild vor mein geistiges Auge. Ja, ich war verliebt. In meine damals noch beste Freundin. Lange zögerte ich, mich ihr zu offenbaren. Erst, als ich diesen gewissen Schimmer in ihren Augen entdeckte, erst, als sich unsere Finger immer öfter scheinbar zufällig trafen, erst, als wir immer öfter so ganz besonders nah beieinandersaßen, begriff ich, dass es Dorle genauso ging wie mir.
Nie werde ich unseren ersten Kuss vergessen, bei einem Spaziergang durch ein blühendes Rapsfeld. Dorles Lippen waren weicher, wärmer und süßer als alles andere, was ich in meinem Leben geschmeckt hatte. Mir hüpfte beinahe das Herz aus der Brust, als ich meine Arme um sie legen durfte. Ich erinnerte mich an den Glanz in ihren Schokoaugen nach unserer ersten gemeinsamen Nacht. Dachte sehnsüchtig an ihre sanften Hände, ihre zarte Haut, ihre Liebesseufzer, die ganzen Geheimnisse unserer Körper, die wir miteinander geteilt hatten. All die Rückblicke machten mich ganz schwach. Alles was ich war und was mich lebendig sein ließ, war mit Dorle verbunden.
Mir war es daher auch egal, dass wir unsere Liebe im Dorf nicht offen zeigen konnten. Wenn Dorle gewollt hätte, wäre ich mit ihr weggezogen. Nach Berlin beispielsweise. Dort hatten wir gelegentlich ein Wochenende verbracht. Doch sie wollte nicht weg vom Land. Jedes Mal, wenn wir die Stadt durchstreift hatten, in Clubs und Cafés, gegangen waren, war nur ich es, die all das aufregend fand. Sie fand es interessant, mehr nicht. Es waren schöne Tage, aber für Dorle war alles viel zu groß, zu unübersichtlich, sie fühlte sich mit mir wohl, alles um uns herum war ihr egal. So blieben wir in unserem Heimatdorf. Hielten unsere Liebe geheim. Anfangs war es wie ein Abenteuer. Unsere verstohlenen Blicke, die heimlichen Berührungen. Irgendwann begriff ich, begriffen wir, dass es ewig so weitergehen würde. Doch so ein Ende war nicht die Lösung, die mir dafür eingefallen wäre.
Dass ich den Ort, in dem ich geboren und aufgewachsen war nun so schnell wie möglich verlassen würde, stand irgendwann im Laufe dieser verdammten, tränennassen, entsetzlich dunklen Nacht außer Frage. Es war einfach unmöglich, Dorle auf diesem engen Fleck aus dem Weg zu gehen. Oder den neugierigen oder gar hämischen Blicken, die den Bruch unserer Freundschaft begleiten würden. Wenn ich nur an all die Dorffeste dachte, an die einzige Kneipe weit und breit. An diese Enge.
Am nächsten Tag meldete ich mich mit krächzender Stimme im Büro krank. Meine Kollegin wünschte mir von Herzen gute Besserung, was mir einen Stich versetzte. So unterfordert ich mich bei meiner Arbeit auch fühlte, das Betriebsklima war tipptopp.
Nach einer langen Dusche, einer nicht ganz so langen Diskussion mit meiner Mutter, die besorgt nachfragte was los sei, weil sie natürlich mitbekommen hatte, dass ich nicht zur Arbeit gegangen war, nach einer Kanne Kaffee, einer Flasche Wasser und zwei Aspirin fühlte ich mich soweit hergestellt, im Internet nach meiner Zukunft zu suchen. Weit weg wollte ich. Daher kamen Berlin und Hamburg nicht infrage. Es mussten viel mehr Kilometer zwischen mir und meinem bisherigen Leben in Brandenburg liegen. Lange favorisierte ich München, doch die Mieten dort gaben mir alleine beim Hinschauen den Rest. Frankfurt am Main schließlich schien zu bieten, was ich suchte: ein Job in einem kleinen Verlag, ein bezahlbares Appartement. Eifrig suchte ich weiter und stieß auf eine rege queere Community.
»Gebongt«, dachte ich am Abend. Ich hatte meine Bewerbung abgeschickt, mit dem Vermieter telefoniert und den aktuellen Stand meines Sparbuchs geprüft. Abschließend checkte ich die Zugverbindungen. Traurig wegen Dorle, sie hatte den ganzen Tag alle meine Anrufe weggedrückt, ging ich schlafen.
»Das war’s mit der Liebe. Nie wieder werde ich mein Herz an jemanden hängen«, schwor ich in mein tränennasses Kissen. Überhaupt keine Beziehung wollte ich, nicht einmal mehr Sex. »Nicht, solange ich diese Trennung nicht überwunden habe.« Und weil man gemeinhin von einem Trauerjahr spricht, schwor ich das noch gleich dazu. »Kein Sex vor Ablauf von zwölf Monaten!« Als hätte ich daran überhaupt auch nur denken können!
Frankfurt roch anders als meine Heimat und auch anders als Berlin. Als ich am Hauptbahnhof ausstieg, setzte eine Nervosität ein, wie ich sie die letzten zwei Wochen über nicht verspürt hatte. Würde ich das überhaupt packen, alleine in einer fremden Großstadt? Mir war schon auf der langen Zugfahrt immer wieder ein Gedanke durch den Kopf geschossen: Bisher hatte ich es ziemlich einfach gehabt im Leben. Immer ein Nest, in das ich zurückkommen konnte. Eltern, die, auch wenn sie mich nicht in allen Punkten meines Lebens verstanden, doch immer zu mir hielten. Jetzt war ich auf mich gestellt. Nicht, dass ich es mir nicht zutraute, immerhin war ich mit Mitte Zwanzig alt genug für ein eigenes Leben. Trotzdem tanzten meine Magennerven nervös, seit ich aus dem Zug ausgestiegen war.
War wirklich alles so schnell gegangen? Die Antwort eines potentiellen Arbeitgebers hatte bereits am nächsten Tag in meinem elektronischen Postfach gelegen. Ich solle doch bitte einen angehängten Personalfragebogen ausfüllen und zurückschicken. Danach würde man sich mit mir in Verbindung setzen. Gesagt getan. Der Bogen enthielt zwar einige Fragen, die mir merkwürdig vorkamen (Haben Sie vor, in nächster Zeit zu heiraten? Planen Sie, ein Kind zu bekommen? Waren Sie innerhalb der letzten 12 Monate häufiger krank?), aber da ich diese und ähnliche Fragen alle guten Gewissens mit Nein beantworten konnte, ging alles recht flott. Zwei Tage später telefonierte ich mit dem Juniorchef der Firma. Er sei, so sagte er mir, sehr beeindruckt von meinem Werdegang, - der im Wesentlichen aus Abi, Ausbildung und einer eher als Hilfstätigkeit anzusehenden Arbeit im Büro eines Baustoffgroßhandels bestand –, könne sich vorstellen, mit mir gut zusammenzuarbeiten und würde mir, mein Einverständnis vorausgesetzt, umgehend den Vertrag zukommen lassen. »Sechs Monate Probezeit, damit beide Seiten sich prüfen können.« Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Arbeitsverträgen, ich hatte nämlich nicht einmal einen, denn mein jetziger Arbeitgeber hatte mich mit einem Handschlag eingestellt. Man kannte sich auf dem Land eben.
Ich sagte ja zu dem Angebot der Frankfurter, ich wollte alles so schnell wie möglich über die Bühne bringen. Die Antwort der Vermieter, die ich angeschrieben hatte, fiel leider nicht so positiv aus. Sämtliche Objekte, für die ich mich interessiert hatte, waren bereits vergeben. Einer schrieb dann noch, dass Anfang des darauffolgenden Monats ein anderes Appartement frei würde. »Es handelt sich um ein möbliertes Zimmer mit Kochnische und Bad. Falls das für Sie infrage kommt, melden Sie sich bitte schnell.« Ja, als Übergang würde das gehen.
Zwei Gespräche später, mein derzeitiger Arbeitgeber ließ mich genauso ungern ziehen wie meine Eltern, was meiner geschundenen Seele guttat, war der erste Schritt in mein neues Leben getan gewesen.
Hier, am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main begann jetzt dieser Lebensabschnitt. Die Fahrt mit der Straßenbahn vermittelte mir ein erstes Bild der Stadt, in der ich ab jetzt zu Hause war. Aus dem Bahnhofsviertel, das mich an einige Ecken Berlins erinnerte, ging es über den Main. Hinter der Brücke lag Sachsenhausen, wir zuckelten an schönen Altbauten und hippen Cafés vorüber, danach entlang einer eher nüchternen Straße bis wir in das ländlich wirkende Oberrad kamen. Zunächst freute ich mich, doch das möblierte Appartement, das ich gemietet hatte, lag nicht etwa im Kern des gutbürgerlichen Stadtteils, sondern am Rand in einem mehrstöckigen Wohnsilo.
Der Hausmeister des Blocks, ein weißhaariger, vierschrötiger Mann nahe dem Rentenalter, ließ mich ins Haus. Wie vereinbart, hatte ich ihm sofort nach meiner Ankunft am Hauptbahnhof eine SMS geschickt.
»Souterrain«, bedeutete er mir. Einen Moment zögerte ich, bis mir wieder einfiel, dass wir nicht zu dem Appartement unterwegs waren, das ich ursprünglich hatte mieten wollen. Ich folgte ihm, wild entschlossen, mir meine gute Laune nicht verderben zu lassen.
»Wo kommen Sie denn her?«, wollte er wissen, während er die Schlüssel aus seinem grauen Kittel fischte.
»Berlin«, antwortete ich, weil mein Heimatdorf sowieso niemand kannte.
»Ah, die Hauptstadt«, entgegnete er. »Hoffentlich ist Ihnen unser schönes Frankfurt da nicht zu klein.« Er lächelte freundlich. Ich lächelte ebenso freundlich zurück. Bis zu dem Moment, in dem er die Tür aufschloss zu dem, was er launig »Ihr neues Reich« nannte. Zunächst einmal sah ich ins Halbdunkel. Was daher rührte, dass ein schmales Oberlicht im Wohnzimmer die einzige natürliche Lichtquelle des Appartements bildete. Das Badezimmer lag zur Rechten, ein winziger Raum, in dem ich vermutlich bei offener Tür duschen musste, um keine Platzangst zu bekommen. Die Kochnische erwies sich als Zwei-Platten-Herd auf einem gräulichen Kühlschrank, der grässlich röchelte. Der Rest der Einrichtung bestand aus einem Bett, einem abgeschlagenen Tisch, einem wackligen Stuhl und einem windschiefen Schrank. Es fiel mir schwer, in diesem Moment nicht auf dem Absatz kehrtzumachen, so sehnsuchtsvoll wie ich an das schöne Zuhause dachte, das ich verlassen hatte.
»Tja, also. Wenn Sie was brauchen, meine Nummer haben Sie ja.« Der Hausmeister war schneller verschwunden, als ich meinen Koffer in eine Ecke bugsiert hatte. Die Tür fiel zu. Ich stand im Dunkeln und unterdrückte einen Fluchtreflex. Es war ja nur für den Übergang. Bis ich etwas anderes gefunden hatte. So tröstete ich mich, bevor ich mich auf das Bett sinken ließ. Es gab mit einem Quietschen nach. Ich legte den Kopf in die Hände und versuchte, das Positive in der Situation zu sehen. Noch fand ich es nicht. Eine halbe Stunde später warf ich in einem Drogeriemarkt allerlei Putzutensilien in einen Warenkorb. Den Job würde ich erst am nächsten Tag antreten, also war Zeit genug, in meinem neuen Domizil einen Großputz zu veranstalten. Eigentlich hatte ich mir die Stadt ansehen wollen. Doch das hier ging vor. Drei Stunden später roch es im Appartement nach Zitrone und einem Sandelholz-Duftstäbchen. Da sich die Deckenleuchte als Funzel erwiesen hatte, stand jetzt zur Unterstützung eine Lampe, die ich in einem kleinen Elektrogeschäft mitgenommen hatte, auf dem Tisch. Der Zwei-Platten-Herd war gottlob in Ordnung und sauber, was man vom Kühlschank nicht behaupten konnte. Auch nach meiner Putzaktion machte er keinen guten Eindruck. Insgeheim beschloss ich, dort nur verpackte Waren zu lagern.
Später ging ich eine Runde durch meinen neuen Kiez, kaufte in einem Supermarkt etwas Brot, Käse, Mineralwasser, Kaffee und eine Flasche Milch. Ein karges Abendessen, aber mehr kriegte ich aufgrund meiner Nervosität nicht runter. Ständig versuchte ich, mir vorzustellen, was mich am nächsten Tag erwartete. Meine Zuversicht war groß.
Am Abend war ich nach diesem ereignisreichen Tag so schlagkaputt, dass ich nach einer warmen Dusche ins Bett fiel und sofort einschlief. Wilde Träume jagten mich durch ein fremdes Land, in dem die Menschen eine Sprache sprachen, die ich nicht verstand. Der Wecker klingelte viel zu früh und ich machte mich auf, meinen neuen Arbeitgeber kennenzulernen.
»Guten Morgen, ich bin die Neue«, stellte ich mich launiger vor, als ich mich fühlte. Meinen ersten Arbeitstag begann ich nämlich müde und zerschlagen. Immer wieder war ich aus dem Schlaf gerissen worden. Im gesamten Wohnblock schien in dieser Nacht eine regelrechte Völkerwanderung stattzufinden. Ständig knallte die Eingangstür. Da ich quasi ein paar Schritte darunter lag, schreckte ich jedes Mal mit heftig schlagendem Herzen hoch. Zwischendrin stritt sich ein Paar lautstark. Jemand rollte unter lautem Schimpfen die Mülltonnen wieder an ihren alten Platz. Ich hatte sie am Nachmittag direkt vor meinem Fenster entdeckt und ein Stück verschoben, um mehr Licht zu haben. Am Ende beschallte jemand mit seiner Musik die halbe Straße, woraufhin die Polizei erschien und der Ruhestörung lautstark Einhalt gebot. Ich kam mir vor wie in einem Alptraum und wünschte mich mehrfach in meinen Heimatort zurück, denn dort herrschte nachts vor allen Dingen eines: Ruhe! Mein Wecker zeigte fast halb fünf, als endlich so etwas wie Stille einkehrte. Entsprechend gerädert erhob ich mich um sieben. Bereits zum zweiten Mal seit meinem Umzug überlegte ich ernsthaft, Frankfurt gleich wieder den Rücken zu kehren. Es gab definitiv noch nichts, was mir den Aufenthalt in dieser Stadt auch nur ansatzweise schmackhaft gemacht hatte. Schlaftrunken stolperte ich eine gute halbe Stunde später aus dem Haus. Meinen Berechnungen nach würde ich alles in allem eine Dreiviertelstunde ins Büro benötigen. Ich war die Strecke nach meiner Putzaktion am Nachmittag des Vortags mit den öffentlichen Verkehrsmitteln abgefahren. Leider dauerte an diesem Morgen alles deutlich länger. Wie gut, dass ich einen Zeitpuffer eingebaut hatte. Dennoch erreichte ich die Stätte meines zukünftigen beruflichen Wirkens erst fünf Minuten vor halb neun, fünf Minuten vor Dienstbeginn.
Meine neue Arbeitsstelle befand sich in einem dreistöckigen Altbau aus der Gründerzeit. Die sandfarbene Fassade, der umlaufende Garten mit reichlich Grün und die Tatsache, dass das Grundstück an einer verkehrsberuhigten Seitenstraße lag, hoben meine Laune im Nu. In so einer Umgebung zu arbeiten, das war doch gleich viel schöner, als jeden Tag in der Innenstadt in einem dieser verglasten und verspiegelten Bürotürme zu sitzen.
Im Erdgeschoss folgte ich dem Schild mit der Aufschrift Pauli – Werbung und Verlag und stieß die hohe Tür aus dunklem Holz auf, die in die Firmenräume führte. Hinter einem Empfangstresen hob sich ein schmales Gesicht. Unter einem tiefen, lackschwarzen Pony hervor blickten mir zwei dunkle Augen freundlich entgegen. Die Frau dort telefonierte, sie gab mir mit einer Geste zu verstehen, ich solle mich noch einen Moment gedulden. Während sie ihr Gespräch weiterführte, sah ich mich um. Auf der rechten Seite des Raumes befand sich eine kleine Besucherecke mit zwei Sesseln und einem niedrigen Tisch, auf der linken Seite waren Verlagserzeugnisse in Glasvitrinen ausgestellt. Ich wusste schon, dass der Verlag keine normalen Bücher herausgab, sondern sogenannte personalisierte Werbegeschenke. Mir fielen unter anderem das »Große Buch der Bürowitze« und ein Abreißkalender, der »365 Nudelrezepte« verhieß, auf. Links hinter dem Empfang führte eine Tür ins »Chefbüro«, wie einer dort angebrachten Messingplatte zu entnehmen war. Rechts vom Empfangstresen befand sich eine weitere Tür ohne Aufschrift.
»Ach, das Fräulein Amelie.« Meine zukünftige Kollegin hatte ihr Telefonat beendet. Sie erhob sich von ihrem Platz und musterte mich neugierig von oben bis unten.
»Ich bin Ellen Hausmann«, stellte sie sich vor und streckte mir ihre Hand entgegen. »Und das mit dem Fräulein ist nicht ernst gemeint.« Sie zwinkerte mir zu. »Der Seniorchef ist allerdings ein bisschen old school«, fügte sie halblaut hinzu. »Am besten, ich bringe Sie gleich mal rein. Oder wollen wir du sagen? Wir sind ja ungefähr im selben Alter.« Ich nickte auf die Frage und zu dem Redeschwall, viel dazu sagen konnte ich eh nicht.
»Herr Pauling, Amelie Gerster ist jetzt da.« Sie öffnete die Tür so weit, dass ich an ihr vorbei das Büro des Seniorchefs betreten konnte. Ein Raum, der trotz der hohen Decke nichts Helles hatte. Dunkle Holzregale voller Akten beherrschten die Wände, ein Gummibaum stand traurig in einer düsteren Ecke. Alles hier wirkte vergilbt, verstaubt, lieblos.
Berthold Pauling, der Herr über diese Trostlosigkeit, blickte mir von seinem Platz hinter einem schweren, von Papieren übersäten Schreibtisch her ohne ein Lächeln entgegen. »Ah«, sagte er nur und wies mit einer Hand auf den Stuhl ihm gegenüber, ohne sich zu erheben.
Ich musterte den Mann kurz. Nicht allzu groß, normale Statur mit einem kleinen Wohlstandsbauch, bereits leicht gelichtetes Haar. Ein Anzug in einer nicht klar zu definierenden Farbe zwischen Schlamm und Granit, eine altmodische Krawatte.
»Ellen, bring doch gleich den Arbeitsvertrag von Frau Gerster und mir noch einen Kaffee«, bat er die junge Frau. Mir hätte auch einer gutgetan, aber ich wurde nicht gefragt. Mein zukünftiger Chef musterte mich von oben bis unten, räusperte sich und legte dann die Fingerspitzen aneinander, sodass beide Hände ein Dach bildeten.
»Mein Sohn hat sich um die Stellenausschreibung und alles, was damit zusammenhängt gekümmert«, begann er das Gespräch. »Sie wissen ja, wir sind ein kleiner Verlag, da muss man überall mit anpacken.« Sein Blick ruhte fragend auf mir. Da ich nicht wusste, was von mir verlangt wurde, nickte ich einfach, faltete die Hände im Schoß und bemühte mich, einen aufnahmefähigen Eindruck zu machen. Ich war so müde, dass ich hätte einschlafen können. Dazu kam die trotz der frühen Stunde bereits ziemlich warme und abgestandene Luft im Raum.
Die Tür hinter mir öffnete sich, Ellen kam herein. Sie legte Herrn Pauling eine Unterschriftsmappe vor, daneben stellte sie einen Tasse Kaffee. Im Hinausgehen lächelte sie mir ermunternd zu.
»So, da ist der Vertrag. Bitte unterschreiben Sie hier.« Pauling hatte die Unterschriftsmappe aufgeschlagen, umgedreht und mir über seinen Schreibtisch hinweg zugeschoben.
»Aber ich habe ihn ja noch gar nicht durchgelesen«, wagte ich einzuwenden.
Er sah mich mit leichter Empörung im Blick an. »Das können Sie später noch machen. Hier«, der Stift schwebte über dem Papier, er tupfte einen Punkt an die Stelle, an die ich meine Unterschrift setzen sollte.
Ich zog das Papier zu mir heran und blätterte nach vorn im Bemühen, das Dokument wenigstens zu überfliegen. Dabei fiel mir sofort ein Passus auf.
»Hier steht Sekretärin«, murmelte ich. »Beworben habe ich mich aber als Werbeassistentin und Texterin.« Immerhin hatte ich eine entsprechende Ausbildung in einer Werbeagentur absolviert. Zwar klein, aber durchaus oho. Nur leider ohne die Möglichkeit, im Anschluss übernommen zu werden.
»Ja, Fräulein, was denken Sie denn, was eine Sekretärin macht? Texte schreiben.« Seine Empörung wuchs. Leicht schlürfend trank er von seinem Kaffee, währenddessen er mich mit zusammengekniffenen Augen musterte. »Aber wenn Sie nicht wollen ...« Er zog den Vertrag zu sich heran.
Mir wurde augenblicklich kühl. Wenn ich den Job nicht bekam, war ich aufgeschmissen. Nicht nur, weil der Saldo auf mein Konto bedenklich nahe an der Null-Cent-Grenze schwebte, seit ich die Courtage, die Kaution und die erste Monatsmiete für mein Appartement hatte abdrücken müssen. Sondern, weil ich ohne einen Job aus diesem Mauseloch nicht rauskommen würde. Mir wurde schlecht bei dieser Aussicht.
»Nein, nein«, beeilte ich mich, zu sagen. »Ist schon in Ordnung.«
Pauling sah jetzt aus, als wolle er das Dokument nicht wieder rausrücken. Dann reichte er es mir doch noch brummend über den Schreibtisch. Ohne ein weiteres Wort und ohne auch nur eine Zeile zu lesen, unterschrieb ich. Was blieb mir auch anderes übrig?
»Ach ja, eines noch.« Wieder sah er mich so merkwürdig an. »Wir haben durchaus Kundenverkehr im Haus und legen Wert auf ein gepflegtes Äußeres.«
Erstaunt hob ich den Kopf. Mein Outfit bestand aus einem dunklen Hosenanzug aus Leinen, einer ärmellosen Baumwollbluse in sanftem Pink und bequemen, aber durchaus modischen Sandalen.
Seine nächsten Worte machten mir klar, was ihm daran nicht gefiel.
»Dazu gehörten Röcke oder Kleider. Hosen sehen wir an unseren Damen nicht gern.«
Aha. Damit fällt die Hälfte der derzeit in der Regierung sitzenden Frauen für eine Tätigkeit in diesem Hause aus.
»Verstehe«, stotterte ich, statt auf den Tisch zu hauen.
»Frau Hausmann zeigt Ihnen jetzt Ihren Arbeitsplatz.« Mit diesen Worten war ich entlassen.
Ellen kam wie auf ein unsichtbares Zeichen hin. Ihre Kleidung war hip, entsprach aber den Gepflogenheiten des Hauses. Sie trug ein weißes Shirt zu einen dunkelblauen, weit ausgestellten kniekurzen Rock mit einem breiten Gürtel, dazu Sandalen mit Keilabsatz. Kleidung in dieser Art besaß ich überhaupt nicht. Zwar tauschte ich während der Arbeitszeit meine üblichen Jeans und T-Shirts gegen Stoffhosen und Blusen, aber Röcke oder Kleider – da musste ich passen. Dorle hingegen, die trug sehr gerne Kleider und tauchte unpassenderweise genau jetzt in meiner Erinnerung auf.
Ich will jetzt nicht an sie denken. Ich muss mich konzentrieren!
Ellen ging vor mir her und führte mich aus dem Seniorchef-Büro hinaus, durch den Vorraum, in ein zweites Büro hinein. Ich musste blinzeln, als ich eintrat. Ein großes Eckzimmer, zwei mehrflügelige Fenster gingen auf einen Innenhof hinaus, der von einer hohen Kastanie beschattet und von dichten Sträuchern begrünt wurde. Wände und die hohe Stuckdecke schienen frisch gestrichen und verputzt, alles strahlte Helligkeit und Luftigkeit aus.
Der Schreibtisch mit Blick zur Tür stand über Eck, sodass von zwei Seiten Licht darauf fiel. Ein ultramoderner Computer befand sich darauf, daneben ein dünner Stapel Akten. Es sah so aus, als könne ich mich mit der nötigen Ruhe einarbeiten.
»Das ist ja toll!«, hauchte ich und näherte mich freudestrahlend meinem Arbeitsplatz. Ellen räusperte sich dezent. »Äh, ne«, meinte sie dann. Als ich mich zu ihr umdrehte, erblickte ich noch einen weiteren Arbeitstisch. Er stand in der düsteren Ecke hinter der Tür und wirkte wie vom Sperrmüll, so verschrammt sah er aus. Den größten Teil der winzigen Arbeitsfläche nahm ein alter Röhrenbildschirm ein, der, der riesigen Arbeitsstation nach, zu einem noch viel älteren Computer zu gehören schien. Daneben lagen drei hohe Stapel Akten. Fassungslos starrte ich dieses höchst unattraktive Bild an. Ellen griff sanft nach meinem Ellbogen.
»Der große Schreibtisch gehört dem Chef. Also dem Juniorchef. Deinem Chef. Du sitzt hier.« Sie besah den Arbeitsplatz, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Mit dem gebührenden Mitgefühl danach auch mich.
»Was ist das daneben?«
Das Holzding sah aus wie ein zusammengefalteter Paravent.
»Ein Paravent«, druckste Ellen. In ihrem Gesicht waren jetzt verschiedene Formen des Fremdschams zu besichtigen. »Den ... also, den zieht der Chef, der Juniorchef, also dein Chef, zu. Wenn er ungestört arbeiten will. Oder Besuch bekommt.«
Mir fiel eine halbe Ewigkeit nichts ein, was ich dazu sagen konnte. Zumal mir die Kinnlade runtergeklappt war.
»Ich sitze dann dahinter, im Dunkeln?«, brachte ich meine Befürchtungen auf den Punkt.
Ellen nagte an ihrer Unterlippe. »Du hast eine Lampe.« Ihre Hand zeigte matt auf die Schreibtischleuchte. »Außerdem ist der Junior selten im Büro, er ist meistens unterwegs.«
Mir wurde schwindelig. Das konnte doch alles nicht wahr sein! »Warum geben sie mir nicht einfach ein eigenes Büro? Muss ja nicht groß sein«, stammelte ich noch.
Ellen zuckte die Schultern. »Ist keines mehr da. Wir haben nur der Empfangsraum, der gleichzeitig das Büro der Chefsekretärin ist, die kleine Küche, die Waschräume und die beiden Chefbüros.«
Im Hintergrund hörte ich Herrn Pauling senior ungeduldig nach Ellen rufen.
»Mach es dir einfach mal gemütlich und les dich in die Unterlagen auf deinem Schreibtisch ein. Es ist leider viel liegengeblieben. Die Stelle war lange vakant«, warf sie mir noch hastig zu, bevor sie zur Tür eilte. Dort hielt sie kurz inne. »Wird schon. Es gibt ja meistens für alles eine Lösung.«
Wenigstens hatte ich eine nette Kollegin. Sagte ich ihr. Sie blinzelte. Das Mitgefühl in ihren Augen verstärkte sich. »Ich bin nur als studentische Aushilfe hier. Vertrete die Sekretärin vom alten Pauling. Bänderriss. In drei Wochen kommt sie wieder.« Sie ging, bevor ich anfangen konnte zu heulen.
Meine Eltern belog ich tapfer. Hätte ich ihnen erzählt, wie es mir wirklich erging, mein Vater wäre innerhalb von Stunden da gewesen, um mich einzupacken und nach Hause mitzunehmen, nötigenfalls gefesselt und geknebelt. Da ich das keinesfalls wollte, schönte ich meine Situation hemmungslos. Kein Wort von der überteuerten Bruchbude, in der ich hauste. Kein Wort von meinem Job, der mich bereits nach drei Tagen an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht hatte. Der alte Pauling war ein notorischer Nörgler und Korinthenkacker, der mich ständig mit irgendwelchem Pipikram durch die Gegend hetzte anstatt mir die Dinge zu erklären. Ging was schief, musste ich mir stundenlange Ermahnungen anhören, die mir nicht nur Nerven, sondern auch Arbeitszeit raubten. Bereits nach wenigen Tagen sammelten sich Überstunden an, weil ich sonst überhaupt nicht zu Potte gekommen wäre. Dass sie mir nicht bezahlt werden würden, war mir klar. Mir war’s egal. In mein dunkles Loch von Wohnung zog es mich nicht, lieber wollte ich ein bisschen Zeit in die Einarbeitung investieren, um möglichst schnell selbstständig arbeiten zu können. Meinen eigentlichen Chef, Paulings Sohn, kannte ich noch nicht, er war zurzeit auf Geschäftsreise, Kunden besuchen. Seine Arbeitssystematik musste ich mir daher erst einmal zusammenrätseln. Die Akten auf meinem Schreibtisch erwiesen sich als weitgehend ungeordnet, darauf klebten Post-Its mit kryptischen Zeichen, sodass ich raten musste, ob es sich um Angebote, Auftragsbestätigungen, Rechnungen oder Mahnungen handelte. Keine Rede war mehr von der Texterin und Werbeassistentin, die ursprünglich gesucht wurde. Was man von mir erwartete, war reine Schreibarbeit. Doch ich biss die Zähne zusammen. Ellen war der einzige Lichtblick. Aus Gründen, die mir schleierhaft blieben, perlte alles, was der alte Pauling vor sich hin brummte, nörgelte oder gar schrie an ihr ab. Nie verlor sie auch nur für einen Moment ihre gute Laune.
»Ich weiß ja, dass ich hier nicht bleiben muss«, vertraute sie mir an, als wir einmal gemeinsam das Büro verließen. »Bisher haben alle, die sich für deine Stelle vorgestellt haben, gleich wieder die Flucht ergriffen«, setzte sie hinzu. Ich erklärte ihr, warum ausgerechnet ich bleiben musste.
»Oh je. Eine bezahlbare Wohnung zu finden ist hier ziemlich schwer.« Ellen wohnte mit ihrem Freund zusammen, sie hatten die Suche hinter sich, schon allein bei der Erinnerung daran verdrehte sie genervt die Augen. »Ich kenne ein paar Leute, die in WGs wohnen. Soll ich mich mal umhören?« Ich nickte, weil ich nicht unhöflich sein wollte, war gleichzeitig fest entschlossen, nicht mit anderen Leuten zusammenzuziehen. Schon allein die Vorstellung machte mich kirre. Ich brauche einfach mein eigenes Domizil.
Doch noch wusste ich nicht, wie lange ich es in diesem düsteren und lauten Kellerloch noch aushalten konnte. Inzwischen wusste ich, dass der Radau in dem Haus offensichtlich dazu gehörte. Ständig stritt oder brüllte jemand, ständig lief irgendwo ein Fernseher viel zu laut, hämmerte irgendwo eine Musikanlage. Ununterbrochen liefen Leute rein und raus und ließen die Tür zuknallen. Auch nachts rummste es ständig. Der Hausmeister, den ich mit SMS bombardierte, zuckte bei jedem Zusammentreffen hilflos die Schultern und empfahl mir Ohropax, was aber kaum half, sodass ich chronisch übermüdet war.
Einmal, es war wieder kaum zum Aushalten, ging ich nach oben, um nachzusehen, woher der Lärm kam. Ausnahmsweise mal kein Hard Rock, sondern Klassik flutete durch die Flure, ausgehend von einer Wohnung im zweiten Stock. Es war nicht schwierig, herauszufinden, woher der Lärm kam. Schwieriger war es jedoch, mit Klopfen und Klingeln Gehör zu finden. Nach mehrmaligen Versuchen öffnete mir ein verschlafen wirkender älterer Herr.
»Wie bitte?«, brüllte er mich an, als ich mein Anliegen vortrug. Um dann, nach meinem zweiten erfolglosen Versuch, mich verständlich zu machen, in einer Geste an den Kopf zu tippen, die bedeutete, nun sei der Groschen gefallen.
»Tut mir leid, junge Frau. Hatte mein Hörgerät nicht drin.« Die Tür fiel zu, die Musik wurde leiser gedreht, ich atmete für den Moment auf. Leider war es nicht immer so einfach. Einmal drohte mir jemand Schläge an, es war halb zwei Uhr nachts und der Typ feierte mit ein paar Kumpels und noch mehr Kisten Bier johlend den Sieg seines Fußballvereins. Ein anderes Mal geriet ich in den lautstarken Streit eines Paares, das sich in einer zu dem Zeitpunkt bereits weitgehend in Zerstörung befindlichen Wohnung alles an den Kopf warf, was noch heil war.
Von da an zog ich mir die Decke über den Kopf und biss die Zähne aufeinander. Sobald mein Einkommen als regelmäßig zu bezeichnen war, würde ich mir eine andere Bleibe suchen. Je eher, desto besser.
Um mein schmales Budget nicht weiter zu strapazierten, schnallte ich daher den Gürtel so eng, wie es eben ging. Mein erstes Gehalt würde ich erst am Ende des Monats erhalten und sämtliche Kohle, die ich bei meiner Ankunft noch gehabt hatte, war für das RMV-Ticket, die Putzutensilien und ein paar Lebensmittel draufgegangen. Der nicht geplante Einkauf von zwei Röcken, einem Kleid und den entsprechenden Accessoires hatte danach die rote Linie meines Dispos aufleuchten lassen. In meinem Portemonnaie befanden sich noch genau zwei Zwanzigeuro-Scheine, mein Notgroschen, den ich eisern verteidigte. Irgendwie, so dachte ich, würde ich es schon schaffen. Manchmal, wenn ich mal wieder nur Käsebrot oder Nudeln mit Tomatensoße aß, dachte ich an all die leckeren Sachen, die meine Mutter zu Hause immer für mich gekocht hatte. Es fiel mir nicht leicht, dann die Tränen zu unterdrücken.
»Sei stark, du schaffst es«, motivierte ich mich in diesen Momenten im Geiste selbst. Wenn auch mit manchmal durchaus brüchiger Stimme.
Leider hatte ich auch im Büro keine Zeit zum Jubeln. Zwar genoss ich es, das helle Büro für mich alleine zu haben. Meine wenigen Highlights des Tages, wenn ich eine der schlampig geführten Akten geordnet und aktualisiert hatte, oder wenn ich eine Mappe voll mit unterschriftsreifen Schriftsachen auf den Schreibtisch meines unbekannten Chefs gelegt hatte, wurden mir jedoch leider regelmäßig vermiest. Entweder Pauling senior rüffelte mich wegen irgendwelcher Kleinigkeiten an. Dass ich seine Kaffeetasse nicht gespült oder den Teppich nicht gesaugt hatte, weil ich nämlich keine Ahnung gehabt hatte, dass ich in diesem Büro nicht nur Schreib- sondern auch Putzkraft zu sein schien. Gerne hielt er mich zudem immer genau in dem Moment auf, wenn ich das Büro verlassen wollte. »Schon Feierabend?«, fragte er dann in einem Ton, als würde ich regelmäßig meinen Arbeitsplatz zu früh verlassen. In Wahrheit schob ich ja bereits nach drei Tagen Überstunden. Ein Umstand, der ihn nicht besonders zu interessieren schien. Vermutlich hielt er es für selbstverständlich. Besonders beliebt war bei ihm auch die immer wiederkehrende Frage, warum ich denn kein Steno könne.
»Weil kein Mensch das mehr braucht«, hatte ich beim ersten Mal nichtsahnend von mir gegeben. Da war aber was los! Ich musste mir eine halbe Stunde lang eine Standpauke anhören, die sich gewaschen hatte, wobei sich alles darum drehte, dass die Jugend von heute einfach kein Benehmen mehr habe, Sekretärinnen zu ihren Chefs aufschauen sollten und jeder, der in der heutigen Zeit einen Job hatte, froh und dankbar sein musste.
Erschöpft verließ ich nach dieser Tirade sein Büro. An der Tür drehte ich mich noch einmal um und drohte damit, ihm den ganzen Käse vor die Füße zu schmeißen, sofort nach Hause zu gehen, um meine Überstunden abzufeiern und darüber hinaus nie mehr wiederzukommen. Nur in Gedanken, natürlich. In Wirklichkeit biss ich mir auf die Lippen und sagte kein Wort.
Dann waren irgendwann die ersten Wochen rum, viel zu schnell war Ellens letzter Arbeitstag bei Pauli gekommen. Ich konnte kaum die Tränen zurückhalten, als sie mich zum Abschied in den Arm nahm. »Ruf mich an, wenn was ist«, murmelte sie, während wir schnell noch Handynummern tauschten. Der alte Pauling schien das Ende ihrer Aushilfszeit ebenfalls zu bedauern und drückte ihr eine Packung Pralinen in die Hand. Winkend stob sie davon, während ich traurig zurückblieb. Vielleicht, so hoffte ich, war ja die festangestellte Sekretärin auch ganz nett. Mit diesem Gedanken und in der Hoffnung, endlich mal ausschlafen zu können, verabschiedete ich mich ins Wochenende.
Museumsufer, erneuerte Altstadt, Bauernmarkt am Südbahnhof. Das waren meine Pläne, als ich ins Wochenende startete. Ich wollte die Stadt erkunden und fotografieren. Aus all dem wurde nichts. Das Wetter war schlecht, das ganze Wochenende hindurch goss es wie aus Kübeln, sodass ich in meinem Kellerappartement ausharren musste. Dem tat diese Witterung spürbar auch nicht gut, die Feuchtigkeit schien durch alle Ritzen und Mauern zu dringen. Mir war kühl und mein Inventar fühlte sich klamm an. Als ich aus lauter Verzweiflung die Heizung aufdrehte, gluckste die nicht einmal und blieb kalt. Zu Hause hätte ich in dieser Situation jemanden gefragt, der sich damit auskennt und Nachbarschaftshilfe geleistet hätte. Hier war nicht daran zu denken, sogar der Hausmeister war unerreichbar. Zwei Packungen Kerzen und ein Sandelholzräucherstäbchen später roch es etwas angenehmer, aber eine Wohlfühloase wurde aus diesem Loch im Leben nicht mehr!
Leider erfüllte sich auch meine Hoffnung, ein bisschen zur Ruhe zu kommen, nicht. Am Samstag schienen gleich mehrere Mitbewohner die halbe Nacht hindurch zu feiern und am Montag gegen vier Uhr wurde ich durch einen Polizeieinsatz geweckt. Schwere Stiefel donnerten durch die Hausflure, Walkie-Talkies bellten, im Hof zuckte Blaulicht. Anscheinend wurden sämtliche Bewohner aus ihren Betten geholt und über irgendetwas, das trotz des Lärms im für mich im Dunkeln blieb, befragt. Alle, bis auf mich. Ich wurde in meinem Kellerloch vermutlich einfach übersehen.
Am Montagmorgen schleppte ich mich entsprechend todmüde zur Straßenbahn, die an diesem Morgen auch noch mit Verspätung kam. Wenigstens ergatterte ich einen Sitzplatz. Während wir durch die Straßen zuckelten, sank mein Kopf ans Fenster. Ich schloss die Augen. Nur einen Moment ...
Als ich sie wieder aufschlug, stand der Trambahnfahrer vor mir. »Junge Frau, hier ist Endstation«, verkündete er. Erschrocken fuhr ich auf. Endstation? Wo war ich? Hektisch blickte ich um mich. Diese Gegend kannte ich nicht. »Verdammt, ich muss eingeschlafen sein«, murmelte ich und sammelte mein Zeug zusammen.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7640-8
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