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Kapitel 1

Sie saß an dem großen Tisch in der Bibliothek. Ihr Glückstisch, so nannte sie ihn. Auf ihm stapelten sich Bücher und Magazine. Eine Flasche Wasser und Snacks, die sie hineingeschmuggelt hatte, ergänzten das Bild des Fleißes. An der Wand schlug die Uhr acht.

Sie begann zu schreiben und zu lesen. Nur noch wenige Monate und sie würde den Inhalt der Bücher in der schriftlichen Prüfung passend zu den Fragen aufschreiben müssen.

Ihre Augen brannten. Die letzte Pause hatte sie unfreiwillig auf zwei Stunden ausgedehnt. Im Café unter der Bibliothek hatte sie Leidensgenossen getroffen.

„Komm doch mit zu mir“, hatte ihr eine vorgeschlagen.

„Komm mit“, hatte eine andere gebettelt. Melissa aber blieb hart und jetzt, da die Uhr 20.10 Uhr zeigte, bereute sie ihre Entscheidung. Sie musste noch so viel lernen, exzerpieren und ausarbeiten, dass sie eigentlich keine Zeit hatte, mit den anderen vorzuglühen. Sie wollte unbedingt eine gute Note.

„Nur noch diesen einen Artikel und dann schreibe ich ihnen, ob ich nachkommen kann.“, motivierte sie sich selbst.

Um sie herum hatte sich die Bibliothek geleert. Die Studentin nahm einen weiteren Schluck aus der Wasserflasche, strecke den Rücken durch und die Arme von sich. Kleine Perlen rannen ihren Hals herunter.

Die junge Frau las den ersten Absatz, notierte sich die wichtigsten Punkte auf einem Block Papier, der wie die Bücher um sie herum von Fleiß kündete.

 

Als sie wieder auf die Uhr schaute, stand der große Zeiger auf der zehn. Eine weitere Stunde und die Bibliothek würde geschlossen werden. Aus dem rechten Augenwinkel sah sie, wie der Sicherheitsmann seine Runde drehte. Ihr Blick trag seinen und beide nickten sich zu.

Melissa versuchte vergeblich, die Bonbonpapiere und die Folien der Schokoladenriegel zu verbergen. Der Sicherheitsmann kam zu ihrem Tisch. Die Knöpfe seiner Uniform spannten über seinem Bauch.

„Die sind hier aber nicht erlaubt“, sagte er streng und sein Blick unterstreiche die Bedeutung der gesprochenen Worte.

„Möchten Sie eins?“, fragte Melissa keck und trug ihr schönstes Lächeln auf den Lippen. Er blickte sich um, als hätte er Angst, ertappt zu werden. Schließlich nickte er und Melissa gab ihm einen Schokoladenriegel mit Erdnüssen.

Genüsslich machte er sich darüber her.

 

Auf einer Liste strich sie Autor und Titel des Artikels durch. Ein Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit stieg in ihr auf. Nur wenige Titel fehlten – eine Arbeit, die bis morgen warten konnte. Sie ging die große Treppe herunter und ihre vivosmart informierte sie, dass der Inaktivitätsmodus nun beendet war. Sie trank den letzten Schluck aus ihrer Wasserflasche bevor sie ihre Jacke und ihren grünen Lieblingsschal anzog. In der Tasche kramte die Stolze nach ihrem Schlüssel. Ihre Finger schlossen sich um den kleinen Eiffelturm – ein Mitbringsel ihrer Freundin vom letzten Wochenendtrip. Sie ertastete außerdem ihr Handy, welchen so dünn war, dass sie oft Angst hatte, es könne zerbrechen. Sie wählte die Nummer ihrer liebsten Leidensgenossin.

„Hey, Nachteule“, tönte diese fröhlich nach nur einem Klingeln.

„Wo seid ihr gerade?“

Am anderen Ende war ein langer Seufzer zu hören. „Noch bei mir. Andrea wollte sich noch unbedingt schminken.“ Melissa sah vor ihrem inneren Auge, wie Linda ihre verdrehte.

„Ah, sie benutzt dein Make-up?“ In die Antwort mischte sich ein weiterer Seufzer, tiefer als der vorherige.

„kommst du noch vorbei?“ Melissa hörte das Flehen, das ihrer eigenen Sehnsucht Ausdruck verlieh.

„Klar!“ Lina kreischte – so laut, dass Melissa instinktiv den Hörer weiter vom Ohr weghielt. Sie grinste. „Bin in fünf Minuten da.“

Sie radelte los. Der Dynamo summte die Melodie der Kraft, mit sie in die Pedalen trat.

 

Die Nacht hatte mithilfe der Kälte ein zartes Rot auf Melissas Wangen gezeichnet.

„Also Schminke brauchst du nicht mehr“, flötete Linda. Sie schwenkte ein Glas mit hellbrauner Flüssigkeit und Eiswürfeln vor Melissas Nase.

„Mein Lieblingsgetränk – wie aufmerksam“

Linda verbeugte sich. „Wer hart arbeitet, muss auch hart trinken.“ Melissa griff nach dem Glas und befreite ihren Hals vom dicken Winterschal. Auf dem Boden weiter hinten in der Wohnung saßen andere Freunde, ein paar darüber auf dem Sofa. Als Melissa sich ihnen näherte, prosteten sie ihr zu.

„Du hast es ja doch noch geschafft, dann können wir jetzt los“, sagte eine der Personen auf dem Sofa. Linda legte von hinten einen Arm um Melissa.

„Wer kann mir denn widerstehen?“ Die Runde prostete den Freundinnen zu.

„Lasst uns los“, schlug eine schlanke Braunhaarige vor. „Im Grendel haben Ladies bis 23.00 Uhr freien Eintritt.“ Die Meute grölte.

Der Nebel umhüllte die Körper der Freunde und das Neonlicht flackerte über ihnen. Der DJ legte ein anderes Lied auf. Linda sprang auf. „Das ist mein Lieblingssong!“, schrie sie. Die junge Frau kreiste mit den Hüften. Dabei hätte sie Elvis Konkurrenz machen können. Sie zog Melissa mit sich auf die Tanzfläche. Mit einem Zug leerte diese ihr Glas.

„Der perfekte Abschluss für einen langen Tag in der Bib.“, kreischte sie. Der Alkohol hatte seine Wirkung nicht verfehlt und sie lockergemacht. Glückseligkeit durchströmte sie und jeglicher Lernstress fiel von ihr ab.

Auf der Tanzfläche bewegten sich Körper m Takt zu Pitbull. Melissa zog das Zopfgummi aus ihren Haaren und in voluminösen Locken quollen sie auf ihre Schultern. Immer, wenn sie den Kopf erst in die eine und dann in die andere Richtung drehte, schwangen sie mit. Melissa roch ihr Parfum, welches sie nach ihrem morgendlichen Workout aufgetragen hatte.

So tanzte sie mehrere Lieder durch bis sie auf der Tanzfläche mit einem Fremden zusammenstieß. Der Alkohol ließ sie zu Boden gehen. Der Fremde reichte ihr die Hand.

„Alles klar?“, fragte er sie durch die Klänge der Musik hindurch. Melissa nickte. Innerlich drehte sich alles. Er zog sie auf die Füße und sie atmete seinen Duft ein. Eine Mischung aus Davidoff und Axe-Deodorant. Melissa lächelte ihn schüchtern an.

„Du bist sicher durstig. Setzen wir uns an die Bar“, schlug er vor. Linda blickte ihre Freundin mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge an.

„Alles gut“, formten Melissas Lippen in ihre Richtung. Linda nickte kurz und lächelte.

Melissa nahm auf einem Barhocker Platz und der gutriechende Fremde neben ihr.

„Zwei Whiskeys on the rocks“, rief er dem Barkeeper zu. Dieser goss zwei ein.

„Danke“, sagte Melissa.

„Mit Whiskey überlebt man jeden Sturz“, tönte seine tiefe Stimme. Sie jagte Melissa einen wohligen Schauer über den Rücken.

„Ja, oder mit ihm stürzt es sich leichter“, scherzte sie. Sein Lächeln entblößte weiße Zähne.

„Was machst du beruflich?“ Die Studentin trank einen Schluck aus ihrem Glas. Das grell-bunte Neonlicht brach sich darin.

„Ich studiere Englisch und Geschichte“, gab sie zur Antwort. Im Kopf kreisten Literaturtheorien und die Fischer-Kontroverse. Seitenweise blätterte sie in Aufsätzen, sah ihre Notizen und freute sich, dass der anstrengende Tag in der Bibliothek seine Früchte zeigte.

„Auf Lehramt?“, fragte er. Melissa nickte. „Ich auch, aber Chemie und Bio.“

Melissa hob die Augenbrauen. „Fächer, in denen ich nie gut war, aber damit bekommst du eher einen Job.“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Mag sein – ich möchte einfach nur unterrichten – wo und wen ist mir ziemlich egal.“ Melissa musterte ihn.

Sie nahm einen weiteren Schluck. „Idealistische Ziele“ Die Musik schluckte die geflüsterten Worte.

„Rauchst du eigentlich?“ Melissa überhörte die Frage.

„Magst du tanzen?“, schrie sie ihrem Gesprächspartner entgegen. Er nickte freudig, griff ihre Hand und zog sie hinter sich zur Tanzfläche. Linda hatte ebenfalls eine Eroberung gemacht. Eng umschlungen schlängelte sie sich um den jungen Herren, der nervös seine Brille zurück auf die Nase schob.

„Wie heißt du eigentlich? Seine Lippen berührten sanft ihr linkes Ohr. Seine Worte bewirkten, dass sich ihre Härchen aufstellten.

„Melissa“, stellte sie sich vor. „und du?“

„Declan“

Melissa verzog das Gesicht. „Amerikanische Eltern?“ Sie legte die Stirn in Falten.

Declan nickte. „... und doppelte Staatsbürgerschaft. Meine Eltern kommen aus Texas. Mein Bruder lebt mit seiner Frau un den beiden Kindern noch immer da.“ Declan gab dem Barkeeper ein Zeichen. Er nahm die Whiskeyflasche vom Regal.

Als sie zurück zur Bar gingen, leiß das Neonlicht sie grün und rot aufblitzen.

Mit einem Augenzwinkern stellte er zwei volle Gläser vor die Gesprächspartner.

Declan beantwortete weitere Fragen, die Melissa nicht gestellt hatte. So erfuhr sie von den MAgeschmerzen, die Delcans Bruder lange Zeit ans Bett gefesselt hatten, die Namen seiner Kinder und weitere pikante Details aus dem Familienleben der Duvants.

Melissa leerte ihr Glas in einem Zug. „Schöne Themen fürs erste Kennenlernen“, bemerkte sie sarkastisch.

„Oh, tut mir leid, ich wollte nicht ...“

Melissa stand auf und kramte in ihrer Manteltasche. „Liegt nicht an dir. Ich bin nur total müde und muss ins Bett.“ Zur Bestätigung gähnte sie herzhaft.

„Kann ich dich irgendwie erreichen?“ Sie legte einen 10- Euro-Schein auf den Tresen. „Stimmt so“, sagte sie zum Barkeeper, dessen Gesicht sich erhellte. Declan drückte den Rücken durch „... und wenn das Schicksal möchte, dass wir uns wiedersehen, dann passiert es auch.“ Nach diesen Worten wandte sie sich zum Gehen. Declan schaute den Barkeeper verwirrt an, doch dieser zuckte mit den Schultern und polierte Gläser.

 

Melissa zog den Vorhang zurück und kalte Luft strömte ihr ins Gesicht. Auf der gotischen Kirchturmuhr zeigte der große Zeiger auf die zwei. „Verdammt!“, fluchte sie leise. In einer Gruppe aus jungen Männern erspähte sie Linda.

„Ahhh, Süße“, lallte sie, „will du etwa schon gehen?“ Wie eine tote Puppe streckte sie Melissa die langen schlanken Arme entgegen. Ihr Bauchnabelpiercing blitzte auf. Linda wankte auf ihre Freundin zu.

„Du kannst jetzt noch nicht gehen.“ Sie schmiegte sich an Melissa, welchen den Hals in die andere Richtung streckte. Linda zog an ihrer Zigarette, die vom Lippenstift ganz rot war.

„Ich muss morgen wirklich wieder lernen, Liebes.“ Wir haben bald Prüfungen.“ Einer der jungen Männer buhte sie aus. „Du kannst doch morgen wieder lernen“, grölte er ihr entgegen. Für Melissa klang seine Stimme wie das Piepsen eines Vogels.

„Ja, Süße, du kannst auch morgen weiter lernen“

„Genau das ist mein Plan.“, widersprach Melissa, „und dafür muss ich fit genug sein.“ Sie befreite sich aus Lindas Klammergriff, welcher sich nasskalt anfühlte. Linda stolperte. Einer der jungen Männer sprang herbei und legte seine Solarium gebräunten Arme um ihre Hüften.

„Wir sehen uns morgen“ Melissa hob die Rechte zu einem Abschiedsgruß und ging nach Hause.

 

Sie erwachte mit Kopfschmerzen. Stechend bohrte sich dieser tief ins Innere ihres Hirns. Es klopfte an der Tür.

„Melly, bist du schon wach?“, hörte sie eine fröhliche Stimme sagen. Viel zu fröhlich für diese Art Kopfschmerzen. Das Hämmern wurde stärker. Sie brummte eine Antwort und zog sich ein Kissen über den Kopf.

Sara Hupe Hauptstraße 1 37308 Großtöpfer

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Tag der Veröffentlichung: 09.03.2018

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