Die Nacht senkte ihre dunklen Schatten über das Unheil des Krieges. Hier und da wurde sie durch die noch brennenden Feuer erhellt, welche in die Stille hinein knackten und brannten. Alles lag in Trümmern und meinen Augen bot sich ein Anblick der Verwüstung und der Zerstörung.
Mein Mundschutz bewahrte mich vor den giftigen Dämpfen, welche gierig nach mir zu greifen schienen, und ich hatte Mühe zu atmen. Als einsamer Wanderer der Nacht sandte man mich aus, nach weiteren Überlebenden zu suchen und nach dem Kind. Das Kind. Du musst es retten. Es ist die letzte Hoffnung, die jetzt noch bleibt, hauchte mir meine innere Stimme ins Gedächtnis und ihr Klang kam mir seltsam vor, gleich einem Freund, den ich lange vermisst und herbeigesehnt hatte.
Meine Kameraden waren in Sicherheit, soweit man das in diesen Zeiten sagen konnte. Wir hatten einen Ort gefunden, von welchem wir glaubten, er würde unserer Gemeinschaft Sicherheit und Schutz -zumindest für diese eine Nacht - bieten können.
Mein Weg führte mich vorbei an Gebäuden, welche ich früher gerne besucht hatte. Vor meinem geistigen Auge erschienen die Gestalten und die Gesichter der Menschen, welche mich in der Zeit begleitet hatten und mit einem schmerzhaften Stich dachte ich an sie. Ihre Stimmen und ihre Augen dienten mir als Gespenster, die mich allnächtlich heimsuchten und von mir die heilbringende Wende des Geschehens forderten.
Ich stieg über Trümmer und Haufen aus Beton. Von den meisten konnte ich jäh ausmachen, was sie einst waren. Nackt lag alles da und die Gebäude, welche den Bomben getrotzt hatten, wirkten angsteinflößend und bedrohlich anstatt die erhoffte Ruhe auszustrahlen, nach welcher wir uns alle sehnten. Im Inneren wusste ich, dass es noch lange nicht vorbei war und meine einzige Chance war diese Nacht. Ich musste das Kind finden, jeden der Trümmer umdrehen und suchen bis meine Suche den ersehnten Erfolg hat.
Ich strich mir eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Meine Hände leuchteten rot vor Striemen und Blut, das in kleinen Rinnsalen von meinen Händen floss. In anderen Zeiten hätte ich zu Jod gegriffen, meine Wunden gesäubert und sie mit Pflastern und den üblichen anderen Utensilien versorgt. Diese Zeiten mahnten mich zur Eile.
Ich drehte Stein um Stein um und schaute unter allen nach, ob ich noch Überlebende finden konnte, sofern es meine physische Kraft zuließ. Der Anblick, der sich mir bot, war ein anderer.
Einmal, getrieben von der Hoffnung, sie könnte noch Leben in sich tragen, erblickte ich unter Betonplatten eine Hand. Mit Mühe schaffte ich es, sie aufzuheben und zu sehen, was sich darunter verbarg. An der Hand klebten Staub und Blut, welche sich zu schmutzigen Tropfen vereinigt hatten und getrocknet waren. Das heißt nichts, sprach meine innere Stimme und gleichsam schien sie mich anzuspornen, weiter zu suchen.
Ich wurde von der Hoffnung getrieben, Überlebende zu finden.
Nachdem ich alle Steinblöcke mühsam entfernt hatte, gewahrte ich einen Körper, welcher (so) von den Lasten, die auf ihn eingestürzt waren, zerquetscht war, dass ich kein Geschlecht mehr ausmachen konnte. Ich konnte erkennen, ausgehend von der Größe der Handfläche, dass es sich um einen Erwachsenen handeln musste. Die Fingernägel waren so voller Schmutz, dass nicht einmal sie einen Rückschluss auf ein Geschlecht preisgaben.
Die gegnerischen Truppen hatten auf alles geschossen, was sich bewegte und es nicht schnell genug in die Bunker schaffte. Geblieben waren die Gebäude, welche zerstört wie tote Puppen dalagen und stumm ihre Version der Ereignisse der letzten Nacht erzählten. Die Anzeichen für eine solche Zerstörung gab es schon lange und niemand konnte jetzt noch behaupten, wir hätten nicht um die Kraft ihrer Zerstörung gewusst. Die Wissenschaften waren darauf ausgerichtet, Instrumente des Tötens zu erschaffen.
Ich hatte alle verloren: Freunde, Bekannte, Verwandte. In einem Anfall von Verzweiflung schloss ich mich den Untergrundkämpfern an, weil sie mir die Sicherheit boten, welche mich vor den Bomben gerettet hatte und um mein Tribut an sie zahlen zu können, war ich verpflichtet, ihre Befehle auszuführen.
Leise bewegte ich mich von der Leiche weg, weiter zu den anderen Haufen, aus den Materialien, welche einst die Erde geboren und den Menschen zur Verfügung gestellt hatte. Im Schein eines der brennenden Feuer gewahrte ich zwei Gestalten. Von weitem sahen sie nicht aus, als seien sie mir wohlgesonnen und so setzte ich meine Schritte vorsichtig fort.
Wir Untergrundkämpfer besaßen eine eigene Art Uniform. Dazu gehört der Mundschutz ebenso wie der Schutz des Kopfes, welcher aus einem Helm und Tüchern darunter bestand. Keine Farbe ließ sich auf dieser Art Uniform erkennen. Ich sah schwarz wie die Nacht aus, sodass ich mit ihr aufs leichteste verschwimmen konnte und meinen Schutz in ihr fand.
Sie wühlten im Feuer und ich glaubte, sie etwas verbrennen zu sehen. Ich versuchte näher an sie heran zu treten, um einen genaueren Blick auf ihr Tun werfen zu können. Dabei umklammerte ich mit zittrigen Fingern meine Waffe, welche ich mir lose um den Brustkorb gebunden hatte. Erschießt du einen, wird der andere Verstärkung holen, raunte mir meine innere Stimme zu. Im Mondlicht blitzte silbern das Emblem auf, das die beiden Gestalten als Mitglieder der gegnerischen Armee kennzeichnete. Rasch blickte ich mich um. Noch mehr von ihren Soldaten mussten hier anwesend sein. Am äußersten Rand glitt ich leise vorbei an weiteren Trümmern und weiteren Händen, welche unter ihnen hervorragten. Die veränderte Perspektive gestattete mir ebenfalls eine neue Sichtweise auf die Verhältnisse vor mir. Ich sah einen anderen ohne jegliches Emblem und in einer schwarzen Uniform, ebenso wie meine. Das Gesicht erkannte ich als das eines Kameraden. Was zum Teufel nochmal macht er dort mit einen von denen? Mein Herz hämmerte gegen mein Fleisch, als wollte es mein Kommen ankündigen. Ich fühlte meinen Puls am Hals pochen. Fester umgriff ich meine Waffe, zog den Abzug durch und war bereit zu schießen. Einen Schritt. Einen weiteren.
Ein verräterisches Knacken und ich hatte die volle Aufmerksamkeit der beiden Männer. Voller Entsetzen und im Bewusstsein erkannt worden zu sein, riss ich die Augen auf. Zu spät. Ein Schlag auf meinen Hinterkopf ließ alles im wabernden Nebel versinken und ich ertrank in einer Wolke aus Schmerz und Nebel.
* * *
„Wo bleibt sie nur? Sie ist schon viel zu lange da draußen. Ich hätte mit ihr gehen sollen.“
Eine Welle von Schuld überschwemmte ihn und drohte ihn mit sich fortzureißen. Nervös ging er auf und ab.
„Verdammt nochmal. Ich hätte ihr folgen müssen, sie begleiten“, rief er laut und in seine Stimme mischten sich Wut und Verzweiflung.
„Ach, sie ist ein großes Mädchen. Es wird ihr gut gehen, glaub mir“, versuchte ein Kamerad den Kommandanten zu beruhigen.
In ihm wurde aus einem Gefühl die Gewissheit geboren, dass es nicht so war. Sein Blick verhärtete sich und seine linke Hand ballte sich im ledernen Handschuh zur Faust.
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Tag der Veröffentlichung: 22.03.2016
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