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Prolog

„Verschont keinen von ihnen!“ rief einer der Männer, und stürmte mit dem brennenden Kreuz voran durch das Klostertor. „Und vergesst nicht, jedes Gebäude in Brand zu stecken. Jedes! Habt ihr verstanden?“ Blutrot stand die Sonne am Horizont und tauchte die Abtei im Eichwald in ein feuriges Licht. Die Mönche, die gerade in den Gärten der weitläufigen Anlage arbeiteten, hingen unbekümmert ihren Gedanken nach. Wie hätten sie auch ahnen können, dass sie bald in die Finsternis fallen würden, dass die hasserfüllte Meute, die jetzt mit Äxten bewaffnet in den Klosterhof drängte, ihnen den Tod bringen würde? „Vater Girolamo“, rief der Novize Malachias, während er aufgeregt in die Klosterkirche lief. „Vater Girolamo!“ Mit finsterer Miene kam der Prior aus dem Chorraum. „Was ist so tragisch, dass du darüber deinen Anstand vergisst?“ erkundigte er sich barsch, da der Junge vergessen hatte ihm die nötige Ehre zu erweisen. „Der Teufel ist in die Dorfbewohner gefahren. Sie sind mit Fackeln und Beilen bewaffnet, um uns zu töten.“ – „Ist das wieder eine von deinen Lügengeschichten?“ fuhr der Alte ihn barsch an. „Nein, sie wollen uns alle zur Hölle schicken, haben sie gesagt.“ – „Und warum weiß ich nichts davon?“ fragte der Prior halbernst. „Jeder Besucher muss sich bei mir anmelden, wenn er in die Abtei will, ansonsten bleiben die Pforten verschlossen.“ – „Sie sind ins Kloster eingebrochen und sie haben das Höllenfeuer mitgebracht.“ Der Alte blickte ihn scharf und bedrohlich an: „Pass bloß auf, dass ich dich nicht ins Höllenfeuer schicke, wenn du mich weiter zum Narren hältst.“ Mit diesen Worten ging er zurück in die Sakristei, um in Ruhe die liturgischen Geräte für den kommenden Gottesdienst zu reinigen. Der Junge wagte nicht ihm zu folgen... Zur selben Zeit richteten die Angreifer auf der Anlage ein Massaker an und tränkten den geweihten Boden mit dem Blut der Ordensbrüder. Ihr blinder Hass gegen sie war wie ein bodenloser Abgrund, in dem sich alle Menschlichkeit verlor. Einer ihrer Jungen war kurz zuvor auf der Klosteranlage ums Leben gekommen, und nun machte man die Mönche für dieses Unglück verantwortlich. „Keiner darf entkommen!“ befahl der Schmied, der Onkel des Verunglückten, während sie die letzten Klosterbrüder verfolgten, die hilflos in die Gebäude flüchteten. „Ihr Blut für das eines unschuldigen Kindes!“ Als der Prior einige Zeit später aus der Kirche trat, stand das Hauptgebäude des Klosters bereits in Flammen. Der Himmel über der brennenden Abtei war blutrot und glühte wie das Schlachtfeld höherer Mächte. „Gütiger Gott!“ rief der Alte erschüttert. Einige der Männer, die auf den Prior aufmerksam geworden waren, näherten sich ihm lächelnd, so als wäre er die Trophäe ihres Anschlags. Hastig riss sich Girolamo sein Kruzifix vom Hals und hielt es ihnen drohend entgegen: „Ihr Bastarde! Ihr werdet alle in der Hölle brennen!“ Daraufhin lief er zurück in das Gotteshaus, um seine Waffe zu holen, die er unter dem Altar verborgen hielt. Doch als er das Gebäude wieder verlassen wollte, stellte er fest, dass alle Eingänge der Kirche fest verschlossen waren. „Habt ihr die Pforten verriegelt?“ fuhr er Malachias und den anderen Novizen an, die zitternd in einer Ecke auf dem Steinfußboden kauerten. „Geht hinaus und rächt eure Brüder!“ Doch die beiden Jungen waren wie gelähmt vor Angst und Entsetzen. Erst als Girolamo mit dem Schwert in den Händen auf sie zukam, fuhren sie erschrocken hoch. Zielstrebig lief er zu einer der Türen des Seitenschiffs und hieb wie ein Wahnsinniger auf sie ein, doch das eherne Schloss öffnete sich nicht. Am Ende ging er verzweifelt zu den beiden Jungen zurück und ließ sich erschöpft auf den Boden sinken. Draußen hörte man noch immer vereinzelte Schreie, aber langsam wurde es ruhiger. „Sie ziehen ab“, flüsterte Malachias zuversichtlich. „Sie werden uns verschonen.“ Der Prior starrte den Jungen mit weit aufgerissenen Augen an, dann nahm er ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig. „Das ist der Fluch der Bücher. Ihre Worte haben eure Herzen vergiftet, sie haben die Hölle heraufbeschworen.“ Er wurde ohnmächtig. Langsam breiteten sich die ersten unheilvollen Schatten der Nacht über die Abtei und bedeckten ihre verlassenen Mauern wie ein Grabtuch. „Was ist das für ein Flackern?“ fragte der andere Novize plötzlich erschrocken. In der Dunkelheit des Kirchenschiffs, das sich wie ein umgekehrtes Kreuz vor ihnen ausbreitete, sahen sie einen hell-lodernden Lichtschein, der gespenstisch durch die hohen Fenster fiel. „Es ist sicher nur Wetterleuchten“, versuchte Malachias ihn zu beruhigen. Doch im nächsten Moment zerbarsten die Fenster und brennende Fackeln stürzten wie Feuerhagel ins Innere des Gotteshauses. Rasendschnell fraßen sich die Flammen durch das Hauptschiff der Kirche und erreichten langsam auch die Kapellen im Chorumgang, wo der Prior und die beiden Jungen Schutz gesucht hatten. Die Hitze brannte auf ihrer Haut und in ihren Lungen wie glühendes Eisen. Das einzige was ihnen noch blieb, war das Gebet und die Hoffnung, dass Gott sie aus der Flammenhölle retten würde. Keine halbe Stunde später brach das gewaltige Kirchengebäude unter markerschütterndem Donnern zusammen und begrub das Klostergut unter seinen Trümmern. Erst in diesem Moment fuhren die beiden Brüder Baptist und Gabriel wie aus einem Traum hoch. Die ganze Zeit hatten sie in der verbotenen Bibliothek in den Katakomben des Klosters gearbeitet, und ahnten nicht, dass ihre Brüder nur noch Staub unter den Trümmern der alten Abtei waren...

Vladimir

Vladimir war von großer, kräftiger Statur. Seine Liebe zur Nacht und zu seinen zahllosen Büchern hatte ihn im Laufe der Zeit zu einem menschenscheuen Einsiedler gemacht, der zurückgezogen auf seinem verwilderten Anwesen hauste. Die alten Folianten waren dabei wie seine Kinder, mit denen er sprach, lachte und sie manchmal tadelte, wenn eines von ihnen aus der Reihe tanzte. Dennoch verehrte er sie wie einen Heiligen Gral, da sie ihm jedes Mal frisches Leben einflößten, wenn er sie aus dem Regal nahm. Die unsterblichen Worte, unzähligen lebendigen Geschichten, unvergleichlichen Weisheiten und phantastischen Welten, die Vladimirs Bibliothek beherbergten, waren sein persönlicher Kosmos. Alle Erkenntnisse über die Welt und ihre Bewohner, all die Sprachen, die die Menschen erfunden hatten, all die Götter, an die sie glaubten, all die fröhlichen und traurigen Geschichten sterblicher und unsterblicher Geschöpfe, die sie sich ausgedacht hatten, hatten ihren Platz in diesem unendlichen Kosmos, der ständig neue Universen gebar. Doch obwohl Vladimir der Herr und Hüter dieser unsterblichen Welten war, war er nicht glücklich. Er war kein Menschenfeind, aber die Menschen aus dem Dorf am Fuß des Berges, auf dem sich das verwahrloste Anwesen erhob, traten ihm misstrauisch und mit eisiger Abscheu entgegen. Vielleicht lag es an seiner eigenwilligen Lebensart, vielleicht an seiner düsteren Gestalt. Auf jeden Fall mied man seine Gesellschaft und sprach hinter vorgehaltener Hand über ihn. ‚Er ist mit dem Teufel im Bunde’, sagten dabei die Einen. ‚Er ist sicher eines dieser blutgierigen Nachtgeschöpfe’, behaupteten die Anderen. ‚So ein Unsinn, ein eingeschnappter Einsiedler ist er, nichts weiter’, erklärten wieder Andere. Durch solche Reden entstanden im Laufe der Zeit die unglaublichsten Geschichten über Vladimir, so dass er dort, wo er auftauchte immer ein unheimliches Aufsehen erregte. Die Kinder aus dem Dorf aber, machten sich nicht viel aus diesem Geschwätz und den Warnungen der Erwachsenen, für sie war das verwitterte Anwesen mit seinem düsteren Bewohner ein Spielplatz ganz besonderer Art. Und so begab es sich eines Tages, dass ein kleines Mädchen namens Annie vor Vladimirs Haustür trat, um aufgrund einer Mutprobe, den eisernen Klopfer der Pforte zu betätigen. „Das Ding ist kaputt!“ rief sie ihren Freunden zu, nachdem sie festgestellt hatte, dass es sich nicht bewegen ließ. Neugierig kamen die Jungen und Mädchen aus den Büschen und Hecken, um auch einen Blick auf das Ding zu werfen. „Ich glaube der Hausdrache ist ausgeflogen“, bemerkte Annie derweil amüsiert. „Er ist sicher im Wald, um sich ein Wildschwein zu reißen.“ Sie stand mit dem Rücken zur Haustüre, als die anderen Kinder plötzlich mit entsetzten Gesichtern davonliefen. Fragend blickte Annie ihnen nach, ohne den gewaltigen Schatten zu bemerken, der sich langsam über sie breitete. „Was hast du hier verloren?“ fragte eine barsche Männerstimme. Annie fuhr erschrocken herum. „Ich...ähm...ich habe mich nur verlaufen…“ Ängstlich wich sie ein paar Schritte zurück. Aus der Entfernung hatte Vlad, wie man den Bewohner des Anwesens im Dorf nannte, immer viel kleiner ausgesehen, dachte sie. Doch jetzt, wo er so direkt vor ihr stand, hatte sie riesengroße Angst. „Verlaufen? So, so. Und du wolltest sicher an meine Tür klopfen, um zu fragen, wo du bist.“ – „So ist es“, erklärte Annie erleichtert. „Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Glaubst du ich habe nicht mitbekommen, dass ihr mein Anwesen in Schutt und Asche legen wollt? Das ist kein Kinderspielplatz...“ – „Aber hier ist doch eh alles kaputt“, bemerkte Annie kleinlaut, indem sie auf die Mauerreste deutete, die überall auf dem verwilderten Grundstück zu sehen waren. „Außerdem scheinst du nicht viel von Gartenarbeit zu halten...“ Vladimir musterte sie mit ernster Miene und Annie befürchtete schon, dass er sie im nächsten Moment verschlingen würde, als er plötzlich ganz ruhig erwiderte: „Du irrst dich, wenn du glaubst die Ruinen seien bloß alte wertlose Steine. Und was das botanische Chaos angeht, so ist alles genauso, wie es die Natur eingerichtet hat.“ Annie schwieg. „Mein Name ist übrigens Vladimir“, bemerkte er dann. „Ein hübscher Name“, log Annie und musste beinahe selbst über ihre blöde Bemerkung lachen. „Ich heiße Annie.“ Vladimir fuhr zusammen und murmelte leise etwas zu sich selbst, dass sie nicht verstehen konnte. „Ein hübscher Name“, gab er dann zurück, wobei er sie so eindringlich musterte, dass es ihr unangenehm war. Annies Blick fiel jetzt auf ein Bauwerk, dessen hoch aufschießende Türmchen und filigranes Strebewerk ihr schon früher aufgefallen war, da sie es vom Fenster ihres Kinderzimmers sehen konnte. Was es wohl einmal gewesen war? „Es war eine alte Klosterkirche“, bemerkte Vladimir überraschend, „aber im Laufe der Zeit ist die Natur in ihr lang entbehrtes Reich zurückgekehrt.“ Annie starrte ihn mit großen Augen an. Hatte er ihre Gedanken gelesen? „Möchtest du noch mehr sehen?“ Sie nickte und folgte ihm vertrauensvoll am Haus vorbei in einen idyllischen Garten, in dem einige verwitterte Marmorfiguren und verfallene Brunnen standen. „Das ist der alte Kreuzgarten der Mönche“, erklärte der Hausherr, während er Annie durch einen breiten Laubengang führte, der schließlich vor einem Wald aus gigantisch emporschießenden Eichen endete. Die Stämme der uralten Bäume wirkten wie die Säulen einer Kathedrale, über die sich ein filigranes Blätterdach wölbte. Annie war auf einmal ganz verzaubert von der wilden Schönheit des Ortes und dem geheimnisvollen Genius, der feierlich durch die Bäume und Sträucher des Wäldchens wehte. „Willst du das Geheimnis von Arden kennen lernen?“ fragte Vladimir nach einer Weile geheimnisvoll. Sie sah ihn fragend an. „Arden ist der Name des Anwesens.“ – „Und was bedeutet er?“ wollte sie wissen. „In den Schriften ist Arden ein uralter Wald, ein Ort der Schatten, an dem unerklärliche Dinge geschehen. Die Ausgestoßenen und die Schwärmer suchen in Arden Zuflucht, und es heißt, dass es die Heimat der Träume ist.“ Vladimir schwieg. Die Kirchturmuhr im Dorf hatte gerade sechs geschlagen und erinnerte Annie wieder daran, dass sie bereits seit einer Stunde zu Hause sein sollte. Doch ehrlich gesagt hatte sie es nicht eilig zu ihren strengen Stiefeltern zu kommen, und ihre Freunde würden am nächsten Tag sicher große Augen machen, wenn sie ihnen von ihrem Erlebnis mit dem finsteren Bewohner des Anwesens erzählen würde – sie ahnte ja nicht, dass sie niemals ins Dorf zurückkehren würde. Langsam breiteten sich die grauen Abendschatten über die verwitterten Mauern von Arden und ließen den ungewöhnlichen Fremden immer heiterer werden, während er Annie immer tiefer in den dunklen Wald führte. „Da ist ja das Kloster“, rief Annie fröhlich, als sie durch die Bäume das verfallene Bauwerk mit den unzähligen Türmchen sah, das sie bisher immer nur aus weiter Ferne betrachtet hatte. „Es ist lediglich der Chorumgang der eingestürzten Klosterkirche.“, belehrte Vladimir sie. „Sie sehen aus wie Blumen aus Stein.“ Er sah sie fragend an. „Na, die Türme des Dings da, um das du so ein Geheimnis machst.“ Vladimir musste unwillkürlich lächeln. „Das ‚Dings da’ war einmal eine großartige Kirche, und nun sei einfach mal einen Moment leise und genieße die wundervolle Stimmung.“ Und als hätte Vladimir es bestellt, ging in diesem Moment der Mond über den Bergen auf und tauchte die verfallenen Ruinen in ein sanftes Licht, während die schlanken, altgotischen Türmchen stolz in den Nachthimmel ragten. „Wann erzählst du mir von dem Geheimnis?“ bohrte Annie ungeduldig. „Sieh dir das Bauwerk einfach nur schweigend an, dann wird es dir von selbst von den ruhmreichen Tagen berichten, in denen es das Herz der Abtei im Eichwald war.“

1. Kapitel: Der Alte vom Berg

„Vor langer Zeit, als der Berg, auf dem sich heute Arden erhebt noch wild und unzugänglich war, lebte dort, in einer Felsenhöhle, ein merkwürdiger Mann, den man nur den Alten vom Berg nannte. Niemand wusste genau, wer er war und woher er kam, und so spann man die merkwürdigsten Geschichten um den Fremden. Einige Jahre später verschwand der Alte auf unerklärliche Weise. Neugierig untersuchte man damals die verlassene Höhle, und stellte fest, dass es dort zahllose Gänge gab, die wie ein Irrgarten durch das Innere des Berges führten. Aber niemand hatte den Mut dieses geheimnisvolle Labyrinth genauer zu erkunden, und so geriet der Schatz, der sich darin befand in Vergessenheit.“ – „Was für ein Schatz?“ unterbrach Annie ihren Begleiter neugierig. „Soweit sind wir noch nicht“, erwiderte Vladimir kurz und fuhr dann fort. „Lange Zeit danach errichtete ein Einsiedler eine kleine Kapelle über der Grotte, und als er nach einem langen Leben starb, gründeten seine Schüler auf dem Berg ein großes Kloster mit einem eindrucksvollen Gotteshaus, das sie ihrem Lehrer zu Ehren: San Benedetto nannten. Außer der Kirche gehörten noch vierzig weitere Gebäude zu der Abtei, wo Benedettos Nachkommen alles was sie benötigten selbst herstellten und ein gesegnetes Leben abseits der großen Welt führten.“ Vladimir schwieg. „Weißt du, wie man mit dem Mondlicht Feuer macht?“ fragte er nach einer Weile unvermittelt. Annie schüttelte irritiert den Kopf. Daraufhin holte Vladimir einen Stein aus seiner Tasche, nahm einen trockenen Ast und legte ihn so auf eine der Mauern, dass ein Strahl des Mondlichts ihn traf. Interessiert betrachtete Annie sein Treiben, bis er den Stein nahm und ihn kräftig an der Spitze des Astes rieb. „Das Mondlicht scheint heute nicht stark genug zu sein“, sagte er, als nach einer Weile noch nichts geschehen war, doch schließlich fing der Ast tatsächlich Feuer. Stolz hielt Vladimir ihn in die Luft. „Das war ein Trick“, bemerkte Annie etwas enttäuscht und nahm ihm die Fackel ab. „Nicht das Mondlicht hat den Ast entzündet sondern die Energie, die durch die Reibung des Steins frei wurde.“ Vladimir sah sie erstaunt an. „Du bist ein kluges Kind“, sagte er dann lächelnd, indem er auf dieselbe Weise eine zweite Fackel entzündete. „Wie geht es denn weiter?“ fragte Annie ungeduldig, während sie die Flamm ihrer Fackel durch die Dunkelheit tanzen ließ. „Mit dem Schatz, meine ich.“ – „Nun, irgendwann fiel den Ordensbrüdern auf, dass sich unter dem Flügelaltar der Kapelle eine schmale, gewundene Holztreppe verbarg, die direkt in die unterirdische Schatzhöhle mit ihren weit verzweigten Gängen führte.“ – „Und was fanden sie dort?“ bohrte Annie. „Sie fanden dort...“ Vladimir hielt inne. „Siehst du das?“ fragte er dann leise und deutete auf eine kleine Lichtung ein paar Meter von ihnen entfernt. „Es ist nur ein langweiliges Reh“, versetzte Annie unbeeindruckt. „Erzähl’ weiter.“ Vladimir schaute sie ernst an. „Du wirst sicher enttäuscht sein, wenn ich dir von dem Schatz erzähle.“ – „Und wenn schon“, versetzte Annie achselzuckend. „Na gut. Der Schatz des Alten war sicher nicht sehr kostbar, zumindest nicht im materiellen Sinne, dennoch war er ein großes Kapital, das jedem, der ihn besaß unschätzbare Zinsen spendete.“ – „Und was war es nun?“ – „Ein Haufen Papier und Pergament.“ – „Papier?“ rief Annie enttäuscht. „So wie du, reagierten damals auch die Mönche, als sie das erste Mal die schaurigen Katakomben betraten und die unzähligen Folianten sahen, die sich in den Nischen und Regalen des verwinkelten Gewölbes und den endlos langen Gängen befanden. Hätten die Klosterbrüder damals gewusst, wie viel Unheil die vergessenen Bücher über das Kloster bringen würden, hätten sie den Eingang zur Schatzhöhle sicher fest verriegelt und wären nie wieder dort hinunter gegangen.“ – „Und was ist passiert?“ – „Erstmal gar nichts, da die Mönche nicht viel mit den ungewöhnlichen Werken anzufangen wussten. Erst viele Jahre später, als die ersten Entdecker der Schatzhöhle bereits bei ihren Vätern ruhten, begann man sich in der Abtei für die verborgenen Höhle und ihre stummen Bewohner zu interessieren. Und so kam es, dass die Mönche nach und nach in die verborgene Bibliothek des Alten vom Berg hinab stiegen, um in den sonderbaren Folianten zu blättern. Doch sie sprachen niemals darüber und bemühten sich immer allein und unbeobachtet in die Grotte zu gehen.“ Vladimir hielt inne. „Warum erzählst du nicht weiter?“ – „Ich wollte nur hören, ob du noch nicht eingeschlafen bist. Könnte ja sein, dass dich die Geschichte langweilt.“ Annie warf ihm einen strafenden Blick zu. „Gut, gut“, sagte Vladimir lachend und fuhr fort. „Es war an einem sonnigen Frühlingstag, als das Schweigen zum ersten Mal gebrochen wurde. Bruder Lukas belauschte nämlich heimlich, wie Bruder Bernhard bei der Arbeit im Kreuzgarten seinen Blumen und Pflanzen ein philosophisches Liedchen sang:

 

‚Non est Deus vel intelligentia exterior circumrotans et circumducens - Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen, Natur ins ich, sich in Natur zu hegen, So dass, was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst.’

 

Lukas wunderte sich sehr über diese blasphemischen Zeilen und wollte natürlich wissen, wo er die sonderbaren Verse her hatte. ‚Ich fand sie in einem der Folianten’, erklärte Bernhard frei heraus. Daraufhin musste auch Bruder Lukas zugeben, sich schon das eine oder andere Mal in einem der Bücher der verborgenen Bibliothek verloren zu haben. Aber auch die anderen Brüder konnten sich dem Zauber der Bücher nicht entziehen und waren bald den spannenden Geschichten, unbekannten Lehren und geheimen Weisheiten der alten Folianten ganz verfallen.“ – „Gab es dort auch Abenteuerbücher?“ wollte Annie wissen. „Es gab Abenteuerbücher, poetische Bücher, Bücher über die Natur und über die Kunst, philosophische Bücher, Bücher über Mathematik und jede Menge Romane in allen erdenklichen Sprachen“, erklärte Vladimir. Das war eigentlich ein bisschen mehr Information, als Annie sich gewünscht hätte, dennoch verkniff sie sich eine blöde Bemerkung. „Die Schriften, die der Alte vom Berg in seiner Höhle gesammelt hatte, waren so außergewöhnlich, dass sie den Alltag der Klosterbrüder komplett veränderten. Die Überfülle neuer Erkenntnisse regte sie schließlich dazu an, ihre eigenen Gedanken zu Papier zu bringen. Und anstatt immer nur einsam das Vater Unser und das Ave Maria herunterzubeten, tauschten sie sich am Ende auch über philosophische und naturwissenschaftliche Themen aus.“ – „Und was waren das für großartige Erkenntnisse?“ – „Wäre das so einfach zu erklären, bräuchte man wohl kaum eine halbe Million Folianten, um sie zu bewahren“, versetzte Vladimir lächelnd. „Aber wie sich bald herausstellte, hatte das Bücherstudium auch seine Schattenseiten, so meinte einmal einer der Brüder, nachdem er einen Schauerroman gelesen hatte, eben jenes von Menschenhand geschaffene Monster seiner Lektüre in einer mondhellen Nacht im Kreuzgarten beobachtet zu haben. ‚Viktor Frankenstein’, soll ihn das acht Fuß hohe Ungeheuer gerufen haben. ‚Ich bin deine Kreatur und ich will dir, Herr und Gebieter, dankbar und ergeben sein. Bedenke doch, dass ich das Werk deiner Hände bin! Eigentlich sollte ich der Adam sein, aber ich bin der gefallene Engel, den du aus dem Paradies vertrieben und elend gemacht hast.’ – ‚Mach dich davon!’ rief der Bruder zornig. ‚Verdammt sei der Tag, elender Teufel, da du zuerst das Licht der Welt erblicktest.’ Er glaubte nämlich, dass ihn der Satan verführen wolle, und so lief er am Ende wutentbrannt in den Klostergarten und verprügelte den vermeintlichen Teufel.“ – „Einfach so?“ – „Nun, ein dummer Zufall wollte es, dass in diesem Moment einer der anderen Mönche durch den Klostergarten schlafwandelte, und da dieser einige hässliche Narben im Gesicht hatte und überhaupt wie zusammengeflickt aussah, bekam er die Prügel, die eigentlich für das teuflische Monster bestimmt war.“ Annie bekam einen Lachanfall. „Dann gab es das Monster gar nicht?“ – „Das habe ich nicht gesagt“, entgegnete Vladimir mit geheimnisvoller Miene. „Auf jeden Fall entdeckte der sittenstrenge Prior des Klosters irgendwann das Doppelleben seiner Schäfchen und verbot ihnen fortan sich an der weltlichen Literatur zu erfreuen.“ – „Aber warum?“ – „Weil er befürchtete, dass die Brüder die Bücher künftig nur noch zum Denken und nicht zum Beten aufschlagen würden. Aus diesem Grund ließ er die Bibliothek des Alten vom Berg kurzerhand schließen.“

2. Kapitel: Verbotene Bücher

Die Nacht hatte sich wie Rabenschwingen über die verfallenen Klostermauern gebreitet, als Vladimir den Vorschlag machte ins Haus zu gehen. Annie zögerte eine Weile, schließlich kannte sie ihren geheimnisvollen Gastgeber kaum. Am Ende aber siegte ihre Neugier, und so folgte sie Vladimir vertrauensselig in das alte Gemäuer, in dem sich das Herz von Arden befand. „Wow“, staunte Annie, als er sie durch ein finsteres Gewölbe in den großen Saal des Hauses führte, in dem unzählige Fackeln und Kerzen brannten. „Per aspera ad astra“, bemerkte der Hausherr. „Sieht so aus, als hätten sie dich bereits erwartet.“ Annie, die nicht wusste, was seine Worte zu bedeuten hatten, lächelte unsicher. „Sind das alles deine Bücher?“ fragte sie dann, als sie die abertausend Wälzer in den Regalen stehen sah. Vladimir nickte. „Das ist meine ganze Familie.“ „Und du hast sie alle gelesen?“ Annie blickte ihn ungläubig an. „Nur so bleiben sie lebendig.“ – „Aber es sind nicht die Bücher, von denen du eben erzählt hast, oder?“ – „Lass dich überraschen“, versetzte Vladimir mit einem rätselhaften Lächeln. Schweigend setzten sie sich vor den großen Kamin, von wo Annie die zahllosen Bücherreihen gut überblicken konnte. Und nachdem Vladimir eine große Tasse Schokolade für Annie, und für sich einen Becher Wein geholt hatte, fuhr er mit seiner Geschichte fort: „Obwohl Prior Girolamo es den Brüdern bei Strafe untersagt hatte die Katakomben unter der Kapelle noch einmal zu betreten, widersetzten sich ein paar von ihnen diesem Verbot. Einer davon war Bruder Baptist. Zufällig war er in den Irrgängen auf eine kleine Schreibstube gestoßen, in der der Alte vom Berg allem Anschein nach seiner Tätigkeit nachgegangen war...“ – „Was war das für eine Tätigkeit?“ fiel Annie ihm ins Wort. Vladimir warf ihr einen tadelndn Blick zu, bevor er fort fuhr: „Kurze Zeit später fand Bruder Baptist einen vergilbten Zettel unter all den Arbeitspapieren, der auf den ersten Blick wie die herausgerissene Seite aus einem Tagebuch wirkte. Eilig steckte er ihn ein, doch als er das Gewölbe verlassen wollte, erwartete der Prior ihn bereits in der Kapelle.“ Vladimir nahm einen großen Schluck Wein. „Vier Wochen wurde der Frater aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. In dieser Zeit durfte er seine enge Zelle nur verlassen, um seine Arbeit im Skriptorium zu verrichten, derweil war es den anderen Brüdern strengstens untersagt auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln.“ – „Und was war mit dem Zettel? Hat Girolamo ihm erlaubt ihn zu behalten?“ – „Der Prior wusste nichts davon, und Baptist hatte auch keinerlei Interesse es ihm zu sagen, denn er erkannte immer klarer, von welchem Wert die hinterlassenen Bücher waren.“ Schweigend saßen sie vor dem Feuer. Es war spät geworden, aber Annie war noch kein bisschen müde. „Ich werde uns mal etwas zu Essen machen“, sagte Vladimir plötzlich, erhob sich abrupt und ließ Annie alleine in der unheimlichen Bibliothek. Sie fürchtete sich ein wenig, dennoch sah sie sich neugierig um. Mit seinen alten Mauern und den hohen blütenverzierten Säulen erinnerte sie der Saal an einen verwunschenen Palast, in dem jedoch keine Menschen sondern alte Bücher hausten. Aber wovor hatte sie Angst? Vor dem sonderbaren Rascheln des Papiers? Dem Ächzen der übervollen Holzregale? Oder dem Flüstern der Bücher? – „Unsinn“, sagte sie laut zu sich selbst, um sich Mut zu machen. „Bücher sind wohl das letzte, vor dem man sich fürchten muss.“ – „Nimm dich in Acht!“ Annie erstarrte. Sie hätte schwören können, dass die Stimme aus einem der Bücherregale gekommen war. „Ich hoffe du magst Crostini al pomodoro“, sagte Vladimir, als er mit einem Tablett zurück in die Bibliothek kam. „Hast du mir einen Schrecken eingejagt“, fuhr sie ihn an. „Warum, wen hast du erwartet, einen Geist?“ Annie warf ihm einen strafenden Blick zu. „Lass dich nicht von ihnen ärgern“, sagte er dann, während er ihr einen Teller hinstellte. „Von wem?“ – „Von den Büchern.“ Annie lachte. „Glaubst du tatsächlich, dass ich mich von diesen vermoderten alten Schwarten ärgern lassen würde?“ Ein leichtes Beben erschütterte den Saal, nachdem sie ihre Worte ausgesprochen hatte. „Ich wollte auch nur sagen“, begann Vladimir, und warf einen strafenden Blick in die Runde, „dass sie manchmal etwas eigensinnig sind.“ Während Annie sich heißhungrig über ihr Essen hermachte, ruhte einer ihrer Blicke immer auf den Büchern, die jedoch ganz friedlich in ihren Regalen standen. „Was stand denn auf dem Zettel, den Baptist in der unterirdischen Bibliothek gefunden hatte?“ erkundigte sie sich, nachdem sie den letzten Brotkrümel verputzt hatte. „Es war eine Art Gebrauchsanweisung für die Bücher. Bloß ein paar Anweisungen und Warnungen.“ – „Was für Warnungen?“ – „Nun, zum Beispiel, dass sie ihre düstere Behausung niemals verlassen dürften, da sie sonst großen Schaden anrichten würden...“ Vladimir schwieg. Annie bemerkte, dass sich ein finsterer Schatten über sein Gesicht gebreitet hatte. „Was ist los?“ wollte sie wissen. Er schien durch ihre Worte, wie aus einem Traum erwacht. „Möchtest du noch etwas essen?“ fragte er ablenkend. Annie schüttelte den Kopf. Als Vladimir später mit dem Tablett in der Küche verschwand, blickte Annie lange in die lodernden Flammen des Kaminfeuers. Es war ihr plötzlich, als wäre sie bereits ihr ganzes Leben an diesem Ort. Nichts schien ihr auf einmal mehr fremd oder ungewöhnlich, es war alles so, wie es sein sollte. An ihre Eltern verschwendete sie dabei nicht einen Gedanken, so, als hätte die Erde sie verschlungen, als wären sie niemals da gewesen…

3. Kapitel: Achill

Als Annie am nächsten Morgen erwachte, fand sie sich in einem gemütlichen Himmelbett mit schneeweißen Vorhängen wieder. Die Morgensonne glühte hell durch ein großes, rundes Fenster, das mit dünnen Gitterstäben verziert war. Es dauerte eine Weile, bis ihr wieder einfiel, wo sie war. Sie musste vergangene Nacht eingeschlafen sein, da sie sich nicht mehr erinnern konnte, wie sie in dieses traumhafte Bett gekommen war. Doch nun war sie bestens ausgeschlafen und voller Tatendrang. Eilig zog sie sich etwas über und trat hinaus in den hohen gewölbten Flur des alten Hauses, durch dessen zahlreiche Fenster sie in den ehemaligen Klostergarten blicken konnte. Wie still und friedlich hier alles war, dachte sie, und ging langsam auf die großen Flügeltüren der Bibliothek zu.Das Feuer brannte noch im Kamin wie am Abend zuvor, als sie in den einsamen Büchersaal kam. Neugierig ging sie die steile Wendeltreppe hinauf, die sich in der Mitte des Raums befand. „Bist du endlich aufgewacht?“ begrüßte sie Vladimir auf dem oberen Treppenabsatz. „Hier sind ja mindestens noch einmal so viele Bücher wie unten“, staunte Annie, als sie auf die hohe Galerie trat. „Und was ist in dem Raum dort?“ – „Das ist das Skriptorium, mein Arbeitszimmer“, erwiderte Vladimir. Annie ging zu den hohen Regalen, die auf der halbkreisförmigen Galerie hintereinander aufgestellt waren. Dazwischen waren große Fenster, durch die man eine fantastische Aussicht auf das ganze Anwesen und die gewaltige Bergkette dahinter hatte. Annie trat an eines der Regale heran und begann die Titel der Bücher zu studieren, als ihr plötzlich eines direkt vor die Füße fiel. „Ich habe es gar nicht angerührt“, verteidigte sie sich entrüstet. „Es will, dass du es liest“, erklärte Vladimir und hob es auf. „Es ist mein Lieblingsbuch. Riechst du den überirdischen Hauch der Götterwelt und den blutigen Atem der Schlacht?“ Er wedelte mit der Hand über die Seiten. Natürlich roch Annie gar nichts, außer dem Staub, der ihr in die Nase stieg, so dass sie Niesen musste. „Es ist sicher sehr spannend“, bemerkte sie dann mehr höflich als begeistert. „Na, dann weißt du ja, was du den Rest des Nachmittags machen kannst, ich muss nämlich wieder an die Arbeit.“ Mit diesen Worten drückte Vladimir ihr das Werk in die Hand und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Skeptisch betrachtete Annie das alte Buch. Es war nicht sehr groß und hatte einen blutroten Umschlag, auf dem in großen Lettern „Ilias“ geschrieben stand. Sie öffnete es. „Vom Zorn singe, o Göttin, des Peleussohnes Achill...“, begann sie zu lesen, weiter kam sie nicht, da das Buch auf einmal heftig zu beben begann. Erschrocken ließ sie es fallen und spürte plötzlich die scharfe Spitze einer Lanze auf ihrer Brust. „Ich bin Achill, der Sohn der göttlichen Thetis, und ich hoffe, du hast einen guten Grund mich aus dem Reich der Schatten zu rufen“, erklärte der Mann mit der Waffe barsch. Annie sah ihn fassungslos an, unfähig auch nur einen Laut auszustoßen. Wild funkelte sie der Krieger an, der eine eherne Rüstung, silberne Beinschienen und einen schweren Helm mit einem Federbusch trug. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie dann zögerlich. „Was wäre denn so ein Grund?“ Achill nahm die Lanze von ihrer Brust und lehnte sie an eines der Regale, dabei glänzte sein Helm wie ein Stern und sein wuchtiger Schild leuchtete wie Mondschein. „Du hörtest vom Krieg, der einst gegen Ilion entbrannte?“ fragte er mit düsterer Miene. Annie schüttelte den Kopf: „Wer war dieser Ilion?“ – „Ilion war das hochaufragende heilige Troja, dessen Mauern einst die Götter errichteten“, versetzte Achill gravitätisch. „Ach, dann meinst du den trojanischen Krieg?“ – „Beinahe zehn Jahre kämpfte ich an der Seite des mächtigen Griechenfürsten Agamemnon“, fuhr Achill fort, „doch meine Treue wurde nicht belohnt.“ Er schwieg, und sein Blick wurde noch finsterer. „Der Herr der Männer nahm mir das Ehrengeschenk, das ich mir zuvor mit Stolz und Schweiß verdient hatte: Die liebliche Briseis mit den rosigen Wangen.“ – „Das Geschenk war eine Frau?“ – „Nicht irgendeine Frau“, donnerte Achill. „Die Schönste unter allen Weibern.“ Damit war Annies Einwurf zwar nicht geklärt, dennoch schwieg sie und ließ den Wütenden weitererzählen. „Er entführte die liebliche Briseis aus meinem Zelt. Für diese Entehrung schwor ich Agamemnon den Griechen in der Schlacht gegen Troja nicht mehr beizustehen, selbst wenn der männermordende Hektor sie scharenweise erlegen würde.“ – „Hektor?“ – „Hektor war der stärkste unter den Männern Ilions“, erklärte Achill. „Patroklos, der treue Freund, fiel durch seine Hand, weil er Zeus’ Willen nicht erfüllen wollte.“ – „Was wollte Zeus?“ unterbrach Annie ihn erneut. „Er wollte, dass Agamemnons Heer fällt. Und Apollon, der Gott, der den Griechen ebenfalls zürnte, führte Hektors Hand, als er den edlen Patroklos mit seinem Speer durchbohrte.“ Während dieser Worte ergriff er wütend seine Lanze. Annie erschrak, da sie befürchtete, dass der Zorn des Achill am Ende sie treffen würde. „Blutige Rache schwor ich dem Mörder meines Freundes, und ließ mir vom Götterschmied Hephaistos Rüstung und Waffen schmieden. So zog ich in die Schlacht, doch der feige Hektor floh vor mir wie ein Hase.“ – „Das kann ich gut verstehen“, bemerkte Annie. „Dreimal jagte ich ihn um die Stadt, bevor ich ihn im Zweikampf mit meinem Schwert erschlug. Am Ende schleifte ich Hektors Leichnam zwölf Mal um die Mauern von Troja, um den Tod meines Freundes zu rächen.“ Achill verstummte. „Und wie kamst du ins Reich der Schatten?“ fragte Annie vorsichtig. „Die Waffen der Sterblichen konnten mir nichts anhaben, alleine ein Pfeil, den Apollon, der Meister des silbernen Bogens lenkte, schickte mich in den Hades.“ – „Aus welchem Grund?“ wollte Annie wissen, doch Achills Gestalt zerrann auf einmal wie Morgennebel vor der heraufsteigenden Sonne...„Du wirst nicht glauben, was gerade passiert ist“, rief Annie aufgeregt, während sie ohne anzuklopfen in Vladimirs Arbeitszimmer stürmte. „Der Mann aus deinem Lieblingsbuch stand gerade in der Bibliothek leibhaftig vor mir und hat mir vom trojanischen Krieg erzählt.“ Vladimir sah sie lächelnd an. „Dann hast du hoffentlich gut zugehört.“ - „Du glaubst mir nicht?“ rief Annie entrüstet. „Kein Wort“, erwiderte Vladimir trocken - doch da war wieder dieses rätselhafte Lächeln, das Annie nicht deuten konnte. „Du darfst nicht alles glauben, was du siehst“, erklärte er schließlich. „Und ein trojanischer Held in voller Rüstung ist wohl eher eine Ausgeburt deiner Phantasie, als eine Erscheinung deiner Augen.“ Annie sah ihn verwirrt an. Sie hatte sich Achill nicht eingebildet, er war wirklich da gewesen. Und woher wusste Vladimir überhaupt, dass er in seiner Rüstung vor ihr erschienen war, das hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Nachdenklich trottete sie zurück in die Bibliothek. Erneut hob sie das blutrote Buch auf, das sie vor Schreck fallen gelassen hatte, und begann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Copyright 2014 - Globehouse Verlag, München
Bildmaterialien: Copyright 2014 - Globehouse Verlag, München
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2891-9

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