Cover

Prolog

~Alicia~

 

Ausnahmsweise begann der Tag für mich ohne große Unruhen, was ich durchaus nicht an allen Tagen behaupten konnte. Meine Eltern verkündeten stolz am Frühstückstisch, dass sie für die gesamte Familie eine Reise organisierten, die uns quer durch Europa führte und ich gelangte ohne Stolpersteine zu meiner Arbeit.
Vor einem halben Jahr schloss ich die Highschool als Klassenbeste ab und beschloss danach, einige Praktika zu absolvieren. Vom Tierarzt bis zum Anwalt befand sich alles in der Reihe möglicher Jobs, die später einmal für mich in Frage kamen.
Trotzdem trat mir noch kein Traumjob in den Weg. Ich wollte nicht einfach irgendetwas machen, ich suchte nach einem Beruf, der mir ein Leben lang Spaß und Freude bereitete.
Ich wusste, dass viele Leute meine Meinung nicht teilten und mir eher den Vogel zeigten, als mich wirklich ernstzunehmen. Sie klammerten sich lieber an die Ansicht, es sei doch ganz egal, was ich machte. Hauptsache, das Geld stimmte. Doch für jemanden, der dank seiner Eltern seit frühester Kindheit ausgesorgt hatte, spielte Geld nur eine minderwertige Rolle.
Damit wollte ich nicht sagen, dass ich mich auf dem dicken Konto meiner Eltern ausruhte. Vielmehr mochte ich die Selbständigkeit und den Fakt, durch eigene Arbeit mein allein verdientes Geld in Händen zu halten. Das Konto bedeutete lediglich, dass ich mir um Geld keine allzu großen Sorgen machen musste und damit jegliche Freiheiten besaß, auch nach der Schule für einige Zeit Dinge zu tun, die anderen verwehrt blieben.
Meiner Familie gehörte seit zwei Generationen eine der bekanntesten Weinfirmen des Landes, welche mein Vater und mein Großvater aufgebaut und hochgebracht hatten. Früher oder später würde diese Firma meinem älteren Bruder zufallen. Schon seit Jahren griff er unserem Vater unter die Arme und auch ich half ab und an aus. Aber das gehörte nun einmal nicht zu dem Leben, welches ich mir vorstellte.
Stattdessen hielt ich mich mit Aushilfsjobs über Wasser und weigerte mich partout, Geld von meinen Eltern anzunehmen. Schließlich wohnte ich noch bei ihnen, womit ich mir den Unterhalt sparte, bis ich genau wusste, was ich mit der Zukunft anstellen wollte.
Ein Studium an einer renommierten Uni stellte mit meinen hervorragenden Noten kein Problem dar. Es war für mich auf jeden Fall eine Option, die ich im Hinterkopf behielt.
Bis ich entschied, welche Richtung und Fächer mir lagen, jobbte ich halbtags. Derzeit hatte ich einen Job in einem 4-Sterne-Lokal ergattern können. Das The Boheme erlangte einen gewissen Bekanntheitsgrad aufgrund seiner prominenten Gäste und der exzellenten Küche. Ich konnte nicht leugnen, dass ich es damit ganz gut erwischt hatte. Die meisten Leute, welche das Lokal aufsuchten, waren äußerst nett und zählten seit Jahren schon zu den Stammgästen. Auch meine Kollegen sparten nicht an Hilfsbereitschaft.
Viele von ihnen kannten mich durch meine Eltern und ihren ansehnlichen Ruf, weswegen ich am Anfang die Karten direkt offen auf den Tisch gelegt hatte: Die Mitarbeiter sollten nicht bloß nett zu mir sein, weil ich zum Yates-Clan gehörte. Und mit Samthandschuhen anfassen brauchten sie mich erst recht nicht. Ich wollte wie jede normale Mitarbeitern behandelt werden.
Kaum jemand verstand, dass ich diesen Job mochte. Er machte mir Spaß und ich kam unter die Leute. Gut möglich, dass ich in dieser Zeit endlich eine Entscheidung traf, welche Richtung mir augenscheinlich zusagte. Und ich hoffte mehr denn je, dass das schnell passierte.
Denn ich wollte hier weg. Nein, ich musste weg. In den vergangenen drei Monaten waren unzählige Dinge geschehen, die ich alle einzeln mit einem fetten roten Edding am liebsten aus meinem Gedächtnis gestrichen hätte.
Heute war der erste Tag nach einer Woche, in der ich wieder zur Arbeit erschien. Zwar kreisten meine Gedanken weiterhin um die eine Person, die dafür sorgte, dass ich zu einem Wrack mutierte, aber ich konnte mich nicht länger Zuhause verstecken.
Selbst meiner älteren Schwester und meiner besten Freundin gelang es nicht, mich mit einer großen Portion Eis aufzuheitern, obwohl das süße Zeug zur besten Variante gehörte, meine Laune anzuheben. Doch dieses Mal blieben jegliche Bemühungen ihrerseits umsonst.
Er war es, der mir schlaflose Nächte bescherte. Und er blieb der Grund, weshalb ich mir die Augen aus dem Kopf weinte. Er war es auch, der mir versicherte, ich könnte ihm vertrauen und mir dann doch nur das Herz in winzig kleine Stücke riss.
Seine charmante Art hatte dafür gesorgt, dass ich mich bedingungslos in ihn verliebte. Ich sollte ihn dafür hassen. Aber wie sehr ich mich anstrengte, ich schaffte es einfach nicht.
Ein stechender Schmerz zog sich meine Hand entlang und lenkte die Aufmerksamkeit meiner Gedanken auf sich.
Ein Laut entwich mir, der einem wilden Zischen ähnelte. Ruckartig zuckte meine Hand von der Tasse weg, die ich soeben noch festgehalten hatte, als handelte es sich um eine giftige Schlange. Ich stellte die Kaffeekanne zurück auf die Theke.
Das heiße Getränk war übergeschwappt und bildete eine große Pfütze unter der weißen Keramik. Blind griff ich nach einem Lappen und wischte mir die Finger sauber. Sie waren gerötet und drohten, anzuschwellen. Aber ich achtete kaum darauf.
„Hey Süße, ich mach das schon“, vernahm ich die Stimme meiner Freundin und Kollegin Holly. Sie stellte sich neben mich und setzte die Kaffeetasse auf ein Tablett.
Stumm nickte ich. Obwohl ich nie ein Wort über die Geschichten der vergangenen Wochen verloren hatte, wussten sie alle Bescheid. Aber ich wollte deren Mitleid nicht. Das sorgte ansonsten nur dafür, dass ich mich noch schlechter fühlte, falls das überhaupt noch im Bereich des Möglichen lag.
„Danke“, murmelte ich und wollte mich neuen Tätigkeiten zuwenden, als mein Blick zufällig den Eingang des Lokals streifte und mein Herz einen Moment aussetzte.
„Oh, scheiße“, fluchte Holly. Zuerst glaubte ich, auch sie hätte sich verbrannt. Doch dann fiel mir auf, wie sie die Person ebenfalls erkannte, die gerade über die Schwelle trat.
Von dem dunklen Haar tropften die Regentropfen hinab zu Boden. Sein Shirt klebte an dem durchtrainierten Körper, sodass sich die Muskeln darunter deutlich abzeichneten und keine Gelegenheit für eigene Fantasien boten.
Riley Max Jones ... Er war der Mann, dem ich meine Liebe schenkte und der es eigentlich nicht verdiente.

Kapitel 1

 

~Drei Monate vorher~
    

~Alicia~

 

„Ich komme zu spät. Vorsicht!“, rief ich, bevor die mir entgegenkommenden Passanten in mich hineinliefen.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und es passierte zum ersten Mal, dass ich mich verspätete. Ich hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit. Aber was konnte ich dafür, wenn der Wecker seinen Geist aufgab und das Zeitliche segnete?
Ich hielt nicht viel von der Benutzung meines Handys als Wecker und blieb lieber bei der altmodischen Variante, die einen Platz in Omas Schatztruhe wahrlich verdiente.
Ich streckte meinen Arm nach vorne, wie ein Footballspieler, der das lederne Ei verteidigte. Die Leute wichen mir zu allen Seiten aus und entkamen damit knapp einem schmerzhaften Zusammenprall.
Glücklicherweise lag unser Haus nicht weit vom Lokal The Boheme, in dem ich derzeit arbeitete, entfernt, sodass ich nur wenige Minuten später durch den Eingang stürmte. Wenn ich bislang immer darauf geachtet hatte, nicht aufzufallen, dann warf ich all meine guten Vorsätze direkt mit dieser einzigen Aktion über Bord. Köpfe drehten sich in meine Richtung. Die Leute unterbrachen ihre Gespräche oder hielten mitten in der Bewegung inne, als sie ihr Besteck in gen Mund führten.
Ich straffte lässig meine Schultern, als sei es das Normalste der Welt, so einen Auftritt hinzulegen. Dann strich ich mir die Haare nach zurecht und stolzierte hoch erhobenen Hauptes nach hinten in den Mitarbeiterbereich.
Doch so lässig, wie ich unter Umständen auf meine Umwelt wirkte, fühlte ich mich gar nicht. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, der bei uns in der Umkleide stand, erschrak ich vor mir selber. Schweiß perlte mir von der Stirn das Gesicht hinab, sammelte sich am Kinn und tropfte nach unten. Meine Haare standen wild und zerzaust ab und ich glich mehr einer Marathonläuferin nach einem kilometerweiten Rennen in sengender Hitze.
Eine Dusche erschien mir als das beste Mittel gegen derartige Ausbrüche. Aber dafür blieb keine Zeit. Ich hastete zu meinem Spind und holte die Arbeitskleidung heraus. Diese bestand aus einem schwarzen Blazer und weißem Rüschenhemd. In dem Outfit fühlte ich mich immer ein bisschen wie ein eingezwängter Pinguin.
Seit wenigen Wochen arbeitete ich im The Boheme. Vom ersten Augenblick an akzeptierten mich die Kollegen in dieser Gemeinschaft und die Arbeit begann allmählich Spaß zu machen. Zwar war ich mir unsicher, ob ich besagten Job mein restliches Leben über verrichten wollte, doch für den Anfang reichte er vollkommen.
„Was hast du denn angestellt? Lange Nacht?“ Holly öffnete ihren Spind, der sich neben meinem befand und holte eine Bürste heraus. Sie platzierte sich dicht vor dem Spiegel und fuhr mit der Bürste durch ihr eigenes Haar. Fast glaubte ich, sie wollte mir damit verdeutlichen, dass auch ich eine Haarpflege dringend benötigte.
Und mal ehrlich: Absolut falsch lag sie damit nicht, aufgrund der Beweise, die meine zerzausten Haare lieferten. Als mich mein eigener Anblick traf, seufzte ich. „Mein Wecker hat nicht geklingelt.“ Die knappe Antwort musste reichen. Die Hoffnung, dass mein Fehlen unbemerkt blieb, konnte ich allerdings wie einen schweren Anker direkt über Bord werfen. Nicht viele Leute arbeiteten für das The Boheme und wenn der Chef im Haus war oder sogar sein Sohn, konnte ich mich auf eine endlos lange Standpauke einstellen.
Ich machte keinen Hehl daraus, dass ich die beiden nicht unbedingt ganz oben auf meiner Favoriten-Liste derjenigen Leute einordnete, die ich ehrlich mochte. Das war wohl der Teil meines Jobs, der mir am wenigsten zusagte. Wenn sie uns mit ihrer Anwesenheit beehrten, was viel zu oft vorkam, nutzten sie jegliche Gelegenheit schamlos aus, die Mitarbeiter von A nach B zu scheuchen. Der scharfe Befehlston unterstrich dabei ihre hohe Stellung noch zusätzlich. Trotzdem blieb das Klima weitestgehend entspannt, solange sie sich nicht in der Nähe befanden.
„Dein Wecker hat also nicht geklingelt?“ Mit dem lauten Zuschlagen ihrer Spindtür holte mich Holly zurück in die Realität. Merklich zuckte ich zusammen, während meine Augen in ihre Richtung schweiften. Ihr Blick triefte nur so vor Ungläubigkeit.
Zögerlich nickte ich. „Wenn du mir nicht glaubst, frag doch meinen Wecker.“
Mir war bewusst, dass es an eine dämliche Erwiderung grenzte, aber wenn Holly mir nicht glaubte, musste sie eben damit rechnen, dass ich konterte.
„Tut mir leid. Aber ich habe nun eher an eine Art ...“ Sie hielt inne und fuchtelte wild mit einer Hand in der Luft, auf der Suche nach dem passenden Ausdruck. „... Date gedacht“, vollendete sie ihren Satz.
Stumm starrte ich meine Freundin einige Sekunden lang an, bevor ich losprustete. Bei Holly rechnete ich mit allem, aber nicht mit derartigen Gedanken. Denn sie wusste genau, dass meine einzigen Dates am Abend mein Bett und eine romantische Komödie waren, in der nicht ich die Hauptrolle spielte.
Einige Sekunden brauchte ich, um mich wieder einzukriegen. Die winzigen Lachtränen wischte ich mir daraufhin aus den Augenwinkeln. „Okay, dieser Scherz hat mir gerade echt den Tag gerettet. Du hast was gut bei mir.“
Ich schloss das weiße Hemd bis zum Kragen und steckte mit Hilfe meiner Notfall-Spangen die widerspenstigen Haare zu einem Dutt nach oben.
„Das war kein Scherz, Ally. Ich meine es ernst.“ Holly positionierte sich an der Tür, ihre Hand schon auf der Klinke. Für mich gehörte das zu einem eindeutigen Zeichen von Nervosität. Es signalisierte, dass wir uns nicht zu lange in der Umkleide aufhalten, sondern endlich an die Arbeit sollten. Schließlich wurden wir nicht fürs Plaudern und Herumstehen bezahlt. Kein Augenblick verstrich, in dem uns der Chef diese Worte nicht mit bissigem Unterton eintrichterte.
„Und ich auch. Ich habe keine Dates, das weißt du“, machte ich ihr klar.
Holly gehörte zu den Menschen, die das komplette Gegenteil von mir waren. Sie traf sich mit Männern, staubte hemmungslos eine Nummer nach der anderen ab und ich lernte spätestens jede Woche einen neuen Kerl an ihrer Seite kennen. Auch versuchte sie mir, die Kunst des Flirtens näher zu bringen, scheiterte allerdings bereits nach einigen Tipps kläglich und hielt sich seitdem glücklicherweise dezent im Hintergrund. Manchmal erkannte ich dennoch, wie es auf ihrer Zunge kribbelte, wieder einen ihrer klugen Ratschläge an mich weiterzugeben.
„Ich prophezeie dir, dass eines Tages auch einmal ein Mann durch diesen Eingang spaziert und dir den Kopf furchtbar verdreht, dass du deine rosarote Brille nie wieder abnehmen willst. Das wird doch wohl nicht so schwer werden, dich zu vermitteln.“
Ich hakte mich bei ihr unter. „Sei dir bewusst: Ich werde mich nicht vermitteln lassen, egal, wer da durch die Tür stolziert.“
„Wollen wir wetten: Der nächste Kerl, der uns einen Besuch abstattet, ist es“, erwiderte Holly. Da ich genau wusste, dass sie ohnehin nur scherzte, fand ich es umso amüsanter.
„Und wenn es ein glatzköpfiger Mann mit vielen Falten ist?“
„Dann kenne ich endlich dein düsteres Geheimnis: Du stehst auf ältere Männer.“
Lachend stolperten wir aus der Umkleide. Ich konnte von Glück reden, dass ich die abendliche Schicht erwischt hatte, in der unser Chef oder sein Sohn grundsätzlich nicht im Haus waren. An diesen Abenden gestalteten wir uns den Aufenthalt im Lokal besonders bequem.
„Du kannst ruhig auf irgendwelche Opas wetten, aber das wird trotzdem nicht passieren.“ Kurz gesagt: Ich war ein hoffnungsloser Fall, der über kurz oder lang noch als alte Jungfer endete. Keine allzu rosige Zukunft, aber genauso malte ich sie mir aus.
Zu später Stunde füllte sich das The Boheme mit vielen Leuten, welche ihren Abend meist bei einem kühlen Bier ausklingen lassen wollten. Es gab reichlich zu tun und genau das genoss ich. Denn so bestand für mich keine Chance, über die Ansicht von Holly oder gar mein Studium nachzudenken, von dem ich noch nicht wusste, in welche Richtung es überhaupt gehen sollte.
Ich bediente gerade einen Tisch, als plötzlich vier junge Männer lauthals und grölend durch die Tür kamen. Es war nahezu filmreif, dass sich alle hier aufhaltenden Personen gleichzeitig in die Richtung wandten und von ihren anderen Tätigkeiten abwichen.
Die Jungs mussten etwa in meinem Alter sein. Sie unterhielten sich lautstark, als seien sie die einzigen Menschen auf diesem Planeten, sodass auch die anderen Gäste gut an deren Gespräch hätten teilhaben können.
Ich warf Holly einen flüchtigen Blick zu. Sie stand an der Theke und musterte die vier Fremden mit erhobener Augenbraue. Es fiel mir nicht schwer zu erkennen, dass es hinter ihrer Stirn ratterte und sie sich schon überlegte, was sie davon halten und ob sie die Jungs hochkant wieder nach draußen befördern sollte.
Und das konnte ich definitiv nachvollziehen. Denn mir erging es nicht anders. Wir waren ein 4-Sterne-Lokal, da duldeten wir keine Störenfriede. Ihren Klamotten nach zu urteilen, waren die Jungs sowieso nicht in der Lage, unsere Rechnung zu bezahlen. Sie wirkten nicht gerade wie Leute, die mit viel Geld gesegnet wurden. Immer wieder konfrontierte man mich mit Umständen, in denen reiche Leute keine Gelegenheit ausließen, um ihr dickes Konto zur Schau zu stellen.
Ich schüttelte den Kopf, nahm die restliche Bestellung entgegen und kehrte zurück zur Theke, um den Kaffee zuzubereiten.
„Lass mich das machen. Das da drüben ist übrigens dein Tisch.“ Holly schubste mich mit ihrem Hintern zur Seite, um sich selbst mit der Kaffeemaschine zu beschäftigen.
Leicht neigte ich den Kopf zur Seite. Sie überließ mir also freiwillig einen Tisch voller Idioten und war nicht erpicht darauf, selber die ein oder andere Telefonnummer abzugreifen? Was stimmte nicht mit ihr?
Als ich einen Blick über meine Schulter riskierte, wunderte mich ihr Verhalten nicht unbedingt. Auch mich überkam unweigerlich ein Schauer, weil ich nicht gerade scharf darauf war, die Vier zu bedienen.
Vielmehr spürte ich deutlich, wie sich ein leichter Schweißfilm auf meine Handflächen legte. Schon der zweite Ausbruch innerhalb eines Tages und dieser hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Schwer schluckte ich. Nicht nur, dass ich keine Dates hatte, ich besaß kein großes Talent darin, eine vernünftige Konversation mit Männern zu führen. Dann keimte in mir immer eine gewisse Anspannung auf und wenn ich tatsächlich irgendwelche Wörter herausbrachte, grenzte es eher einem unverständlichen Kauderwelsch anstatt eines grammatikalisch richtigen Satzes.
„Bist du dir sicher, dass du mir diese Bestellung abnehmen willst? Sie gehört schließlich auch zu meinem Bereich“, versuchte ich verzweifelt, mich aus der Affäre mit den Chaoten-Tisch herauszuziehen. Vergebens.
„Ich komm klar. Jetzt mach schon, Ally. Die Jungs sind bestimmt durstig.“ Sie schenkte mir einen verschwörerischen Blick. Wenn mich nicht alles täuschte, konnte ich sogar ein schelmisches Funkeln in ihren Augen erkennen.
Ich seufzte. Holly konnte nicht ernsthaft glauben, dass einer dieser halbwüchsigen Männer auch nur im Ansatz meinem Traumprinzen ähnelte.
Aber mit ihr zu diskutieren war zwecklos. Also ergab ich mich in mein Schicksal, griff nach Block und Stift und machte mich auf den Weg zu Tisch Nummer 9.
Schwer wie Blei fühlten sich meine Beine an, als sie sich bei jedem einzelnen Schritt mehr weigerten, nach vorne zu gehen. Die wenigen Meter, die es zu überbrücken galt, zogen sich unendlich weit in die Länge zu ziehen. Als mich dank der Nervosität auch noch ein Schwindel überfiel, spannte ich alle Muskeln an, um das Gleichgewicht zu halten. Das war die typische Reaktion meines Körpers, wenn er merkte, dass ich gleich in eine fatale Situation geraten könnte.
Um mich selber zu beruhigen, atmete ich tief durch und verhinderte damit, einer Hyperventilation zu erliegen. Bevor ich es bemerkte, stand ich vor dem Tisch. Fest umklammerte ich den Block in meiner Hand und starrte auf einen unwillkürlich gewählten Punkt auf der Tischplatte.
Ganz ruhig, Ally, redete ich mir gut zu. Das waren schließlich auch kein Stück anders als die üblichen Gäste. Ich sollte mich nicht anstellen wie ein Kleinkind, das vor jedem fremden Menschen ängstlich das Weite suchte und sich hinter dem Rockzipfel seiner Mutter versteckte.
„Was kann ich euch bringen?“ Über mich selbst erstaunt, dass ich es tatsächlich fertig brachte, die Frage ohne Stottern aus meinem Mund zu befördern, hielt ich den Stift bereit, um mir ihre Bestellung zu notieren.
Obwohl ich niemanden von ihnen direkt ansah, spürte ich, wie sie die Augen neugierig auf mich richteten und mich von oben bis unten scannten.
„Wie wäre es mit dir? Nackt und mit einer umgebundenen Schleife auf einem Silbertablett?“
Mir blieb die Luft im Hals stecken und ich unterdrückte einen Hustenreiz. Ich riskierte einen Blick, während mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief und ich mich regelrecht dazu zwingen musste, nicht panisch davonzulaufen.
Auf einen dämlichen Spruch war ich nicht vorbereitet. Selbst wenn ich es geahnt hätte, fiel mir der passende Umgang mit derartigen Vorkommnissen unglaublich schwer. In diesen Momenten, auch wenn sie nur selten vorkamen, gefrierte mein Hirn zu einer Schockstarre und blockierte jeden in der Regel gut funktionierenden Mechanismus.
„Ich komme in ein paar Minuten wieder, wenn ihr euch entschieden habt.“ Wenigstens blieb mir meine Höflichkeit erhalten.
Bevor ich mir einen weiteren Spruch antun musste, machte ich auf dem Absatz kehrt. Mein Gang entsprach einem Sprint, als ich mich zurück hinter die Theke begab.
„Was ist passiert?“ Holly gesellte sich zu mir, nachdem sie eine weitere Bestellung an einen der Tische gebracht hatte.
„Was passiert ist? Das kann ich dir sagen.“ Und dann erzählte ich ihr haarklein von dem Vorfall. Jedes einzelne Wort dieses jungen Mannes hatte sich detailgetreu in mein Gedächtnis gebrannt.
So unbemerkt wie nur irgend möglich, schielte ich zu den vier Jungs. Den Sprücheklopfer musterte ich besonders. Von seinen Freunden war er der Attraktivste. Das fiel mir sofort auf und leugnen ließ es sich ohnehin nicht, denn jeder, der sehen konnte, erkannte sofort das perfekte Aussehen. Seine dunkelblonden Haare stylte er mit Gel, was auf sehr viel Aufwand hindeutete. Und seine Augen erst! Sie leuchteten in dem strahlendsten Meerblau, das ich je gesehen hatte. Mein Herz vollführte einen kurzen Salto.
„Er steht auf dich. Das solltest du ausnutzen.“
„Hast du mir gerade überhaupt zugehört? Wenn er wirklich auf mich steht, wie du behauptest, wieso kann er doch mit einem vernünftigen Spruch ankommen.“ Ich hätte nichts dagegen, wenn er mich fragen würde, wie es mir ging. Das wäre zumindest netter und zuvorkommender als dieses Silbertablett-Gerede.
„Das sind Männer. Was erwartest du? In der Gruppe werden sie doch sowieso mutiger als alleine“, erklärte sie.
Sie konnte mühelos reden. Inzwischen war Holly an derartige Sprüche gewöhnt und steckte sie leicht weg. Aber ich? Der Erdboden sollte sich bitte vor mir auftun, mich verschlingen und nie wieder ans Tageslicht lassen.
„Okay, soll ich den Tisch übernehmen? Ich kann dir die Nummer klarmachen, wenn du willst.“
Mein Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer Mischung aus Schock und Verwirrung. Schnell schüttelte ich den Kopf. Holly sagte das nicht einfach nur so, nein, sie zog auch das, was ihr in den Sinn kam, knallhart durch. Da wollte ich das besser selbst in die Hand nehmen. Allzu schlimm konnte es schon nicht werden und wenn sie nicht bald eine vernünftige Bestellung abgaben, besaß ich jedes Recht, sie dem Lokal zu verweisen.
Ich nahm eine aufrechte Haltung ein, Brust raus, Po rein. „Ich mach das schon. Es ist schließlich auch mein Bereich.“ Und wenn es die Intention der Jungs war, mich einzuschüchtern, dann zeichnete ich ihnen einen fetten Strich durch ihre Rechnung. Leicht wollte ich es ihnen auf keinen Fall machen.
Bevor ich es mir anders überlegte, marschierte ich zurück zu dem Tisch der Vier. Dieses Mal war es ein entschlossener Soldaten-Schritt, rechts, links, rechts, links.
Allerdings verließ mich mein neugewonnener Mut just in dem Moment, als sich vier Augenpaare in meine Richtung drehten. Wenn ihr Blicke Waffen wären, hätten sich ihre Pfeile spätestens jetzt tief in meinen Körper gebohrt und mich zu Boden gezwungen.
„Habt ihr euch entschieden?“ Meine Stimme zitterte. Ich hasste das Gefühl, wenn jemand mich vollkommen in seiner Gewalt hatte.
„Als Erstes hätte ich gerne ein Lächeln von dir.“ Wieder so ein Satz, der mich regelrecht aus der Bahn warf, obwohl ich dieses Mal darauf vorbereitet war. Ich unterdrückte den Drang, einen Kommentar von mir zu geben. Mal abgesehen davon, dass mir gerade ohnehin keine Erwiderung auf der Zunge lag.
Ein allgemeiner Jubel brach unter ihnen aus. Obwohl ich niemanden direkt ansah, erkannte ich, wie die Gäste um uns herum sich merklich gestört fühlten. Mir erging es dabei nicht anders.
„Und zu deinem Lächeln hätte ich gerne eine Coke.“
Meine Schultern bebten, als ich die Luft erleichtert ausstieß. Endlich traf er seine Entscheidung, ohne mir weitere Sprüche reinzudrücken. Noch mehr würde ich definitiv nicht verkraften.
Ich nickte und notierte mir auch die Wünsche seiner Freunde. Wortlos entfernte ich mich wieder von ihnen, um die Getränke zuzubereiten. Das leise Flüstern, das unter ihnen entstand, entging mir nicht und wenn mich nicht alles täuschte, gab es für sie gerade nur ein Hauptthema auszudiskutieren: Die unglaublich peinliche Kellnerin.
„Und?“ Holly zog das Wort ungewöhnlich in die Länge. „Hast du schon ein Date am Start?“
„Kannst du bitte aufhören, ständig von Dates zu sprechen? Es hängt mir allmählich schon zu den Ohren raus.“
„Date, Date, Date.“ Ihr Singsang lief in ein kleines Tänzchen über, worüber ich lediglich den Kopf schütteln konnte. „Nein, ernsthaft, Ally. Du solltest ihm eine Chance geben. Der ist doch ganz süß.“
„Wo soll ich ihm eine Chance geben? Ich kenne ihn doch überhaupt nicht und er hat mich noch nicht einmal um ein ...“ Ich hielt kurz inne. Ich gab mir nun nicht die Blöße, dieses Wort auch noch laut auszusprechen und meiner Freundin damit recht zu geben. „Er hat noch nicht einmal danach gefragt, ob wir etwas zusammen unternehmen wollen. Womöglich will er vor seinen Freunden bloß cool dastehen.“ Das grenzte an eine logische Erklärung.
„Ich denke eher nicht.“
„Doch, ich sage dir ...“ Erneut unterbrach ich mich, als sie mir in den Arm pikste und bedeutete, ihrem Kopfnicken zu folgen.
Oh, nein! Der Sprücheklopfer höchstpersönlich kam auf mich zu. Vermutlich wollte er sich beschweren, weil ich meine Zeit mit Quatschen zubrachte, anstatt mich um ihre Getränke zu kümmern. Wenn er das dem Chef steckte, stieg die Quote, dass ich meinen Job verlor ins Unermessliche.
Schnell drehte ich mich wieder der Kaffeemaschine zu, mit der ich gerade einen Latte macchiato zubereitete. Ich tat einfach, als hätte ich ihn nicht gesehen. Vielleicht lief er ja dann auch an mir vorbei zur Toilette, deren Tür sich neben unserem Arbeitsplatz befand.
„Hey.“
Und plötzlich zerbrach meine Hoffnung in tausend winzige Scherben. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich und setzte einen überraschten Ausdruck auf, als rechnete ich nicht damit, dass er mich meinte. „J-Ja?“, stotterte ich. Verlegenheit gehörte definitiv zu diesen Gefühlen, die die Welt nicht brauchte.
„Tut mir leid wegen eben. Es war keine Absicht von mir, dich zu vergraulen.“
Ich nickte. „Schon okay“, murmelte ich. Mehr brachte ich nicht zustande. Inzwischen musste er mich doch für komplett bescheuert halten. Frauen waren nicht gerade dafür bekannt, mit Worten zu geizen. Da bildete ich wohl eine sehr große Ausnahme.
„Nein, ehrlich. Ich wollte dich eigentlich auch nur fragen, ob du nicht Lust hast, mit mir die Tage etwas zu unternehmen?“
Ein lautes Klirren ließ mich aufquietschen wie eine verängstigte Maus in der Falle. „Verdammt“, fluchte ich. Das Glas mit dem Latte macchiato lag vor meinen Füßen und sein gesamter Inhalt bildete eine große Pfütze, die sich schnell in meine Schuhe sog.
Ich bückte mich, um diese Sauerei aufzuwischen. Heute war eindeutig nicht mein Tag. Wie sehr ich mir mein Bett nun herbeiwünschte, unter deren Decke ich mich ganz tief verkriechen konnte.
„Brauchst du Hilfe?“, hörte ich den Kerl über mir. Ich wäre dir dankbar, wenn du einfach verschwindest, schoss es mir durch den Kopf. Gäbe ich doch nur so eine taffe Person ab, ihm das mitten ins Gesicht zu schleudern.
„Nein, geht schon.“ Es war schließlich mein Job, vor großmauligen Männern auf den Knien herumzurutschen. Sarkasmus ließ grüßen.
„Wie du meinst. Also, was sagst du? Hast du Lust, etwas mit mir zu machen? Vielleicht Kino und danach etwas trinken?“
Holly hatte recht. Er wollte sich mit mir treffen. Aber die Frage war eher: Wollte ich das überhaupt?
Als ich mich wieder erhob und auf eine Augenhöhe mit ihm kam, kannte ich die Antwort darauf immer noch nicht.

 

Kapitel 2

 ~Riley~

 

Ich unterdrückte ein Lachen, als die junge Kellnerin das Glas samt Inhalt fallen ließ. Offenbar schien ich sie aus dem Konzept gebracht zu haben. Ich beobachtete jeden einzelnen Schritt, den sie machte und wollte von ihr wissen, ob ich ihr behilflich sein konnte. Im Grunde gehörte es nicht gerade zu meiner Art, anderen zu helfen oder diese Frage auch nur annähernd ernst zu meinen. Deshalb war ich auch unglaublich froh darüber, als sie verneinte und ich somit nur noch darauf wartete, bis sie sich wieder erhob, damit wir auf einer Augenhöhe miteinander kamen.
Sobald meine Freunde und ich den Nobelschuppen betreten hatten, fiel diese zierliche Kellnerin mir auf. Sie zählte nicht gerade zu meinem Beuteschema, aber dennoch gab es etwas an ihr, das mich tatsächlich zu der Überlegung führte, sie einfach anzusprechen.
Dass sie jedoch so verklemmt auf meine Sprüche reagierte, machte die gesamte Angelegenheit nicht gerade leichter. Ich hatte bereits unzählige Frauen in meinem Bett. Einige lernte ich auf Partys kennen, andere in einem Café und wieder andere im Park beim Joggen, wenn ich absichtlich in sie hineinlief und mich tausend Mal für meine Unachtsamkeit entschuldigte.
Aber keine von ihnen, und das konnte ich mit Sicherheit sagen, war so schüchtern, dass sie kaum einen vernünftigen Satz zustande brachte. Sie war seltsam, aber genau das machte es auch so spannend. In Bezug auf Frauen hatte ich bislang noch nie eine richtige Herausforderung. Zumindest erinnerte ich mich an keine einzige, die es wirklich wert war, Erwähnung zu finden. Jegliche Frau, die ich kennenlernte und mit der ich flirtete, warfen sich innerhalb kürzester Zeit an meinen Hals. Nach einem One Night Stand schmiss ich sie noch vor dem Frühstück aus dem Haus, lag es mir schließlich fern, mehr Zeit als nötig mit ihnen zu verbringen.
Und diese tollpatschige Person gehörte schon bald zu meiner Liste. Auch bei ihr dachte ich nicht gerade an die große Liebe oder gar an eine Beziehung auf längere Sicht hinaus. Sie warf ich einfach mit den Frauen in einen Topf, die für eine Nacht ausreichten. Jemand, den man leicht ersetzte.
Und wenn sie sich zu sehr dagegen sträubte, mich an sich heranzulassen, beendete ich das Ganze schnell und schmerzlos. Wieso sollte ich mich lange mit einer Frau abgeben, wenn es sowieso an eine Hoffnungslosigkeit grenzte, ihr mehr als einen zögerlichen Kuss zu entlocken?
Ich wartete zwei oder drei geschlagene Minuten, in denen sie mich einfach nur anstarrte, als sei ich ein Zombie, der ihr Gehirn fressen wollte. Ich korrigiere: Ein Zombie, der ihr Gehirn bereits verschlungen hatte. Denn so, wie sie gerade auf mich wirkte, schien bei ihr da oben nicht mehr allzu viel los zu sein.
Aber ich ließ ihr den Moment, denn damit blieb mir genügend Zeit, um sie einmal genau von oben nach unten zu mustern und zu checken, ob sich die Mühe überhaupt lohnte, sie auf ein Date einzuladen. Die Vorstellung, dass sie sich auch ohne Date auf ein kleines Abenteuer mit mir einließ, verwarf ich direkt wieder, denn die Chance lief gegen null.
Ihre Haut war blass und das Gesicht zierte lediglich ein dezentes Make-up. Aber auch ohne dieses Zeug besaß ihr Gesicht eine makellose Schönheit. Ihre Haare fielen in leichten Wellen über die Schultern. Sie waren merkwürdig zerzaust, als sei sie gerade erst aus dem Bett gefallen. Dennoch hatte die Kombination aus heller Haut und blonden Wellen etwas Engelsgleiches. Echt süß!
Allerdings musste sie dringend etwas an ihrem Outfit ändern. Es sah grauenhaft aus und außerdem machte es auf mich eher den Eindruck, sie sei geradewegs einem Kloster entflohen. Das Hemd bis zum Anschlag zugeknöpft, blitzte kein Stück ihres Dekolletés hervor. Damit reizte sie bis aufs Äußerste, meine Fantasie an die Oberfläche zu locken.
„Also, ich ...“, begann sie endlich nach einigen Minuten der Trance. Wow, Dornröschen erwachte also wieder aus ihrem endlos langen Schlaf. „Ich denke, das ist keine gute Idee. Ich habe unglaublich viel zu tun und ich ...“
Möp, das war definitiv die falsche Antwort. Eine Antwort, die ich nicht hören wollte. So etwas wie ein Korb existierte in meinem Leben nicht. Eine Frau gab mir keine Abfuhr. Ich war derjenige, der diese reihenweise an Frauen verteilte.
Sie redete weiter, ohne dass ich auch nur ein einziges Wort verstand. Aber viel schien sie ohnehin nicht mehr sagen zu wollen. Es glich eher ein einzelnes Durcheinander von wenigen aneinander gefügten Begriffen, die allesamt keinen Sinn ergaben.
Innerlich verdrehte ich genervt die Augen. Sicher, dass sie ein Mensch war? Bislang hatte ich noch keine Bekanntschaft mit einer Spezies wie ihrer gemacht. Sie wirkte vollkommen verunsichert und scheu, als hätte ich ihr eine verbale Ohrfeige verpasst und sie suche jetzt mit allen Mitteln nach einem Fluchtweg. Armes, verängstigtes Rehkitz. Und dabei wollte ich ihr doch schlichtweg einen Gefallen tun.
„Du wirst doch sicher einen Abend frei haben“, beharrte ich. Wenn diese Kellnerin wirklich glaubte, mich so leicht abzuwimmeln, dann hatte sie sich tief in ihre perfekte Haut geschnitten.
Ich griff nach einer Serviette und schrieb mit einem auf der Theke liegenden Stift meine Nummer darauf. Die Serviette schob ich ihr hin und wartete auf eine Reaktion.
Im Grunde hatte ich keinen blassen Schimmer, weshalb ich mich überhaupt mit ihr befasste. Sie sah mir nun nicht gerade wie eine dieser Schlampen aus, die direkt mit einem Typen nach Hause verschwanden, kaum dass sie ihn fünf Minuten kannten.
Nein, stattdessen war sie ein unscheinbares Mauerblümchen, mit dem man vorsichtig umgehen musste, damit sie ihre Blütenpracht beibehielt. Und genau das war es, was mir widerstrebte. Denn der Geduldigste war ich noch nie. Ich genoss es in vollen Zügen, wenn auch Frauen die Initiative ergriffen und ordentlich anpackten. Noch nie musste ich mich abmühen, eine Frau um den kleinen Finger zu wickeln. Sie fraßen mir freiwillig aus der Hand und bissen höchstens dann zu, wenn sie erkannten, was für ein abgekartetes Spiel ich tatsächlich mit ihnen trieb. Und sobald ich mit dieser Kellnerin abschloss, würde auch sie mir völlig gezähmt zu Füßen liegen.
Die Vorfreude auf diesen Moment konnte mein breites Grinsen nicht länger verbergen. „Du kannst dich bei mir melden, solltest du es dir anders überlegen.“ Bevor sie einem weiteren ihrer Stotteranfälle erlag, wandte ich mich von ihr ab und schlenderte lässig zurück zu meinen Leuten, die mich bereits sehnsuchtsvoll erwarteten.
„Was war das gerade?“
„Du hast sie dir doch nicht ernsthaft klargemacht?“
Als hätte ich es geahnt, begann direkt die Fragerunde. Mir war bewusst, dass sie nicht ganz verstanden, weshalb ich ausgerechnet diese wortkarge Kellnerin auserwählte, wenn an den einzelnen Tischen unzählige andere Frauen nur darauf warteten von mir ins Bett gebracht zu werden. Doch derzeit stand mir der Sinn nach einer kleinen Herausforderung und diese Kellnerin strahlte sie förmlich zu allen Richtungen aus.
„Seit wann stehst du auf Jungfrauen, die unmöglich zu knacken sind?“
„Erstens hat nie jemand behauptet, dass sie Jungfrau ist und zweitens ...“ Ein allgemeines Gelächter entstand, aufgrund meiner Behauptung, weshalb ich die Stimme erheben musste, um gegen den plötzlichen Lärmpegel anzukommen. „Und zweitens brauche ich vielleicht auch einen Kick dabei. Allmählich wird es doch recht eintönig, wenn Frauen sich mir freiwillig an den Hals werfen.“
Die Jungs stimmten mir zu. „Gutes Argument, aber ich wette dennoch dafür, dass sie sich nicht bei dir melden wird. Wahrscheinlich hat sie die Nummer sowieso schon zerrissen und in den nächsten Müll befördert.“
Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich streckte Phil die Hand entgegen. „Ich bin dabei. Sie wird sich innerhalb dieser Woche noch melden.“
Er schlug ein. „Geht klar.“
Und dabei beließ ich es. Ich lauschte kaum mehr den Gesprächen meiner Freunde, sondern warf schlichtweg einen verstohlenen Blick in die Richtung der Fremden, deren Namen ich noch nicht kannte. Zugegeben, obwohl sie nicht gerade redegewandt war, konnte ich nicht leugnen, wie gut sie aussah. Wenn ich genau darüber nachdachte, besaß ich womöglich doch ein gewisses Interesse daran, sie näher kennenzulernen. Gerade ihre schüchterne Art verlieh ihr etwas Geheimnisvolles, das ich zu gerne erforschen wollte.
Die Gespräche an unserem Tisch verstummten, als die Kellnerin die Getränke brachte. Aber dieses Mal war es die andere der beiden.
Nachdem sie die Gläser abgestellt hatte, knallte sie das Tablett mit einer solchen Wucht auf den Tisch, dass dieser erzitterte. Sie beugte sich tief zu mir hinab und gab sich keinerlei Mühe, ihr Dekolleté vor unseren gierigen Blicken abzuschirmen. Denn anders als ihre Kollegin hatte sie die letzten beiden Knöpfe ihres Hemdes offengelassen. Ich riskierte einen kurzen Einblick. Sie besaß definitiv genügend Holz vor der Hütte, um dieses auch nicht verstecken zu müssen.
„Pass jetzt genau auf, Schönling. Wenn du mich nicht zum Feind haben willst, dann solltest du es mit Ally besser ernst meinen. Denn andererseits ...“ Sie griff nach einer Serviette und riss diese in der Mitte entzwei. „Ally ist sehr empfindlich und ich hatte schon mit genügend Typen eurer Sorte zu tun, um zu wissen, dass ihr von einem Betthäschen zum Nächsten hüpft. Aber sie ist nicht diese Art von Frau. Kapische?“
Ich blieb unbeeindruckt. Als könnte mir eine Frau ernsthaft etwas anhaben können. „Den Schönling nehme ich jetzt einfach als Kompliment. Und keine Sorge, die sogenannten Betthäschen bekommen meine Nummer erst gar nicht. Ally braucht also keinen Anstands-Wau-Wau.“ Das entsprach sogar der Wahrheit. Meistens erinnerte ich mich nicht einmal mehr an ihre Namen, wenn ich sie morgens unsanft zur Tür beförderte. Vielleicht brauchte ich jetzt tatsächlich wieder eine ernsthafte Beziehung neben all den Snacks für zwischendurch.
Sie nickte. „Dann hätten wir das schon mal geklärt.“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück an ihre Arbeit, was sie sicher besser konnte, als mich in die Schranken zu weisen. Zwar rief Phil ihr noch einen Spruch hinterher, dass sie gerne auch seine Nummer bekommen konnte, aber seine Anmache blieb unkommentiert.
„Da hat’s dir aber jemand gezeigt. Die hat echt Feuer unterm Hintern. Aber wie ich dich kenne, wirst du dich davon nicht beeindrucken lassen.“
Mein Blick glitt zum wiederholten Mal zu der schüchternen Kellnerin. Ally hieß sie also. Der Name passte wirklich zu ihr. Er klang genauso zurückhaltend wie sie, zerging aber gleichzeitig wie Eis auf der Zunge. Tuschelnd unterhielt sie sich mit ihrer Freundin, wobei ich bloß die Augen verdrehte, denn es war kaum zu übersehen, in welche Richtung ihr Gespräch glitt. Hauptgegenstand davon bildete der seltsame Typ dieses Tisches. Obwohl einige Frauen verdammt gut im Bett waren, bedeutete das nicht automatisch, dass ich ihre Verhaltensweisen je durchschauen würden. Sie blieben das größte Rätsel der Natur.
„Aber mal etwas anderes“, holte Matt mich aus meinen Gedankenzügen. „Läuft heute Abend wieder ein Rennen?“
Ich schüttelte den Kopf, war schließlich niemand besser informiert als ich, wenn wieder eines der berüchtigten Rennen vor der Tür stand. Nicht gerade legal, aber genau das gab mir den Kick, den ich manchmal brauchte, damit die Langeweile mein Leben nicht komplett zerfraß.
„Morgen Abend ist wieder etwas angekündigt. Wetten werden gerne schon entgegengenommen.“
„Du fährst also mit?“
„Als ob Riley sich ein Rennen entgehen lässt.“
Womit Dylan den Nagel auf den Kopf traf. Es kam nur selten vor, dass ich einem Rennen fernblieb. Und ich zählte zu den Besten, also fuhr ich morgen bedenkenlos mit. Koste es, was es wolle! Und über diesen Themenwechsel erleichtert, vergaß ich die hübsche Blondine im Hintergrund fast völlig.

 

Kapitel 3

 

Kapitel 3

~Alicia~

Grübelnd lag ich auf meinem Bett und starrte das Stück Serviette in meiner Hand seit einer gefühlten Ewigkeit an. In fein säuberlicher Schrift stand eine Nummer darauf und unter dieser Nummer war sein Name zu lesen. Riley.
In der anderen Hand hielt ich fest umklammert mein Smartphone. Der Drang in mir wuchs, mich direkt bei ihm zu melden. Doch das gute Engelchen auf meiner Schulter riet mir genau zum Gegenteil, während das Teufelchen mich dazu anstachelte, ihm irgendwelche versauten Nachrichten zukommen zu lassen.
Vielleicht hatte er mir aber auch eine falsche Nummer notiert, um vor seinen Freunden gut dazustehen.
Mir erschien er sowieso recht seltsam. Viel zu sehr von sich selbst überzeugt. Wen konnte er auch mit solchen Sprüchen beeindrucken? Sie waren dumm und unüberlegt. Absolut nicht mein Fall.
Meine beste Freundin Blaire verteidigte ihre Meinung, Männer würden in einer Gruppe sowieso nur Mist von sich geben. Wenn sie das glaubte, stimmte das wohl auch, denn was Männer betraf, wusste sie immer genau Bescheid. Im Gegensatz zu mir, die von uns beiden hier die naive und träumerische war.
Ich zerknüllte den Zettel zu einer winzigen Kugel und warf ihn auf meinen Nachttisch. Damit entschied ich die Sache in kurzen Zügen und ohne großen Aufwand. Sollte dieser Kerl sich doch jemand anderen suchen, mit dem er seine Spielchen treiben konnte. Ich fiel sicher nicht auf ihn herein.
Mit einem schnellen Ruck sprang ich von meinem Bett und tapste hinüber zum Fenster. Es herrschte ein lauer Sommerabend. In den Straßen unterhalb unseres Luxus-Apartments, das ich nahezu alleine bewohnte, weil meine Familie es vorzog, in der riesigen Villa wenige Kilometer außerhalb der Stadt zu wohnen, reihten sich die Autos dicht aneinander und warteten auf das grüne Licht der Ampeln. Ließ man den Blick in die Ferne schweifen, erkannte man, wie New York in den buntesten Farben hell erstrahlte. Selbst aus dem Weltall musste es ein atemberaubender Anblick sein.
Ich liebte diese Stadt, diese Menschen und die Tatsache, dass es hier wirklich nie langweilig wurde.
Mein eigenes Spiegelbild sah mich an, als könnte es nicht fassen, dass ich gerade tatsächlich an die Stadt dachte, anstatt mich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Zum Beispiel Riley, ungeachtet meiner Ansicht, dass er nicht einen einzigen Gedanken meinerseits verdiente.
Trotzdem wandte ich wie aus einem Reflex heraus meinen Blick ab und führte ihn über die Schulter. Er suchte etwas ganz Bestimmtes und als er es fand, kniff ich schnell die Augen zusammen, so dass es fast schon schmerzte.
Nein, ich würde diesen Fremden nicht anrufen. Ich kannte ihn nicht und meine Eltern hatten mir beigebracht, keinen fremden Männern zu trauen. Schon gar keinen gutaussehenden Männern, die nur blöde Sprüche klopften.
Verdammt, ich brauchte den Rat meiner besten Freundin Blaire. Dringend! In solch einer Situation wusste sie mir immer zu helfen, obwohl ich bislang noch nie in einer ähnlichen Situation gesteckt hatte. Aber ich war mir sicher, dass sie dennoch nicht untätig sein würde und wusste, was zu tun war.
Also schmiss ich mich zurück auf mein Bett, die zerknüllte Serviette auf meinem Nachttisch ließ ich dabei unbeachtet und griff nach meinem Handy. Ich wählte die Kurzwahl für ihre Nummer, die ich auf der zwei, gleich nach meiner Mom, abgespeichert hatte.
Nach dem sechsten Klingeln, als ich die Hoffnung schon beinahe aufgab, sie doch noch an den Hörer zu bekommen, ging sie schließlich ran. Blaire meldete sich mit einem gähnenden Ja, das mir abrupt verdeutlichte, sie geweckt zu haben.
Der Blick, der meine Uhr traf, ließ mich für einen winzigen Augenblick innehalten und darüber nachdenken, direkt wieder aufzulegen. Es war schon recht spät, fast Mitternacht. Zwar noch nicht so spät, um sich inzwischen in einem Schlafmodus zu befinden, vor allem, wenn man Blaire hieß, aber dennoch spät genug, um Studenten wohl aus dem Bett zu holen. Hatten sie nicht eigentlich den Ruf, die Nächte über durchzufeiern? Wenn an diesem Gerücht etwas dran war, schien Blaire auf jeden Fall nicht zu dieser Sorte Studenten zu gehören. Ob ich das gut oder schlecht fand, konnte ich nicht sagen.
„Hey.“ Meine Stimme hallte krächzend durch den Raum und meine Kehle fühlte sich seltsam trocken an. „Ich bin’s, Ally. Sorry, ich wollte dich nicht wecken. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du schon schläfst.“ Ich schluckte einige Male, um die Trockenheit aus meinem Mund zu verbannen, was mir nur schwer gelang.
„Ally!“ Plötzlich klang Blaire hellwach. Fast sah ich sie vor mir, wie sie sich kerzengerade in ihrem Bett aufsetzte und über der Frage grübelte, was ich um diese Uhrzeit noch von ihr wollen könnte. „Was gibt’s, altes Haus?“
Ich schmunzelte über ihre Offenheit und die Fröhlichkeit, die inzwischen zu einem Markenzeichen von ihr geworden war. In puncto Fröhlichkeit konnte niemand Blaire das Wasser reichen.
„Nichts Besonderes. Ich rufe eigentlich nur an, um dich zu fragen, wie es dir geht.“
Lügnerin, flüsterte die boshafte Stimme in meinem Inneren. Natürlich wusste ich, dass sie recht hatte. Zumindest teilweise. Ich rief Blaire an, weil ich wissen wollte, wie es ihr ging und weil ich ihren Rat brauchte.
„Um Mitternacht? Bist du dir sicher?“
„Wieso sollte ich mir nicht sicher sein?“ Meine Stimme überschlug sich und ich wusste, dass eine Spur Unsicherheit in ihr mitschwang. Na super, den Oscar als beste Hauptdarstellerin konnte ich mir in diesem Film schon mal getrost abschminken. Nicht einmal ich kaufte mir die Show, die ich hier abzog, ab.
„Weil ich dich wie lange schon kenne? Seit der Grundschule, dem Kindergarten? So sehr du dich auch anstrengst, du kannst vor mir nichts verbergen. Was ist los? Hast du was angestellt und weißt jetzt nicht, wie du wieder aus der Nummer rauskommst?“
Wieso kam sie ausgerechnet darauf, dass ich etwas ausgefressen haben könnte? Ich zählte wahrscheinlich zu den langweiligsten Personen auf diesem Planeten. Ich dachte nie an Blödsinn, hatte einen unglaublich guten Highschool-Abschluss hingelegt und ging mit meinen 19 Jahren noch nicht einmal auf irgendwelche Partys, bei denen Besäufnisse ganz oben auf der Liste standen.
Ich seufzte leise, kaum hörbar, so dass ich bezweifelte, Blaire könnte es gehört haben. „Wie kommst du darauf? Ich habe einfach einen harten Tag hinter mir, das ist alles.“ Im wahrsten Sinn des Wortes.
Ich zögerte einen winzigen Moment. Doch als diese Stille aus dem Hörer drang, hielt ich es nicht länger aus. „Okay, okay. Ich rufe nicht einfach so an. Ich hatte heute eine seltsame Begegnung.“
Und damit schilderte ich ihr jedes noch so kleine Detail über das Aufeinandertreffen mit Riley. Selbst meine Tollpatschigkeit mit dem zerbrochenen Glas ließ ich nicht aus. Wie schaffte sie es nur immer wieder aufs Neue, mich so nervös werden zu lassen, bis ich es nicht mehr aushielt und ihr letzten Endes alles erzählte, was mich bedrückte?
„Riley heißt er also?“, fragte sie, als ich mit meiner Erzählung geendet hatte.
„Hat er zumindest auf die Serviette mit seiner Nummer geschrieben.“ Ich nahm ohnehin nicht an, dass es sich um seine richtige Nummer handelte. Wieso sich also die Mühe machen und dort anrufen?
„Sein Name klingt so geheimnisvoll.“ Blaire geriet förmlich ins schwärmen, dabei hatte sie Riley doch gar nicht gesehen.
„Ich finde, sein Name klingt nach viel Ärger“, konterte ich. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, als ich seine Augen wieder vor mir sah. Auch seine dämlichen Sprüche, die er mir entgegengebracht hatte, sprachen nicht gerade für ihn.
„Quatsch. Er ist sicher so ein Lederjacken-Typ mit einer heißen Maschine.“
„Mit der er viel Ärger treiben kann“, beharrte ich. Mir war nicht ganz klar, weshalb ich so erpicht darauf war, mir einzureden, dass dieser Riley nicht auch seine netten Züge hatte. Aber ich lebte nach dem Motto, der erste Eindruck zählte. Wenn es nach mir ging, scheiterte er bereits bei diesem ersten Eindruck.
„Hör doch mal auf mit deinem Ärger. Seit ich dich kenne, findest du an jedem Typen irgendwelchen Makel, nur damit du ihnen keine Chance geben musst. Okay, bei Josh konnte ich dein Unbehagen verstehen, aber die restlichen Männer, die auch nur annähernd Interesse an dir zeigten, hast du ziemlich schnell wieder in die Flucht gejagt.“
Ich erschauderte bei dem Gedanken an Josh. Ich gehörte zu der Sorte Frau, die sich mehr auf das Innere einer Person konzentrierte. Aber sowohl das Äußere, als auch das Innere stimmten bei Josh einfach nicht überein. Er trug Hosenträger und Slipper, eine riesige Hornbrille, kaute den ganzen Tag über nur Kaugummi, welcher sich ständig in seiner Zahnspange verhedderte und redete von nichts anderem als Computern und der IT-Firma seines Vaters, die er nach dem College einmal erben würde. Ich hatte ihm eine Chance gegeben und beschloss danach, meine Handynummer neu zu beantragen.
Nein, danke, auf so jemanden konnte ich ganz gut verzichten und schob den Gedanken an Josh ganz schnell wieder beiseite.
„Erde an Ally. Hörst du mir überhaupt noch zu?“, holte mich Blaire zurück in das Hier und Jetzt.
„Sorry, was hast du gerade gesagt?“, wollte ich wissen. Josh hatte mich gerade einfach zu sehr abgelenkt, so dass ich tatsächlich nicht verstanden hatte, was Blaire danach noch sagte.
„Ich habe gesagt, dass ich vorbeikomme und wir das Problem gemeinsam aus der Welt schaffen. Es ist an der Zeit, dass die kleine Ally erwachsen wird.“
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, hatte sie aufgelegt.
Mit einem Knurren schmiss ich das Telefon auf mein Kissen, obwohl ich kurz davorstand, es gegen die Wand zu pfeffern. Aber ich brauchte das Gerät noch und damit unterdrückte ich diesen riesigen Drang. Was wollte sie um diese Zeit noch bei mir?
Blaire stand aber tatsächlich in gefühlter Rekordzeit nur wenige Minuten später auf der Matte und tropfte meinen Flur voll. Dass es draußen in Strömen zu regnen begonnen hatte, war mir in all dem Aufruhr gänzlich entgangen.
Sie hing ihr Regencape auf den Haken, wo dieser nun weiterhin fröhlich vor sich hintropfte und sich unter diesem eine große Wasserpfütze bildete.
„Ich weiß wirklich nicht, warum du unbedingt herkommen musstest, obwohl wir das auch ganz gut am Telefon hätten klären können“, begrüßte ich sie und ging voraus in die Küche, wo wir uns auf den Barhockern der Kücheninsel niederließen.
Der Tee stand schon bereit, weil ich wusste, wie sehr Blaire Tee liebte.
„Das hätten wir im Detail nicht alles am Telefon bequatschen können. Stell dir mal vor, wir werden belauscht? Dann findest du unser Gespräch in den nächsten Tagen noch auf Facebook wieder.“
Ich verzog das Gesicht bei dieser Vorstellung. Manchmal fragte ich mich sogar, wer von uns beiden hier die Verrückte war.
„Ich glaube nicht, dass unsere Gespräche so interessant sind, um sie wirklich auf Facebook zu posten.“
Sie winkte nur ab, während sie sich einen Cookie aus der Keksdose schnappte und diesen in ihren Tee tunkte. „Du kannst das nie mit Sicherheit sagen. Aber egal. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen. Wo ist die Serviette?“
Urplötzlich dachte ich an die zerknitterten Serviette mit der sauberen Handschrift darauf, welche immer noch auf meinem Nachttisch lag und auf ihr weiteres Schicksal wartete.
„In meinem Zimmer“, sagte ich kleinlaut, weil ich befürchtete, dass sie nichts Gutes im Schilde führte, sobald ich ihr die Serviette aushändigen würde.
Sie streckte mir ihre Hand entgegen. „Her damit.“
Leicht neigte ich den Kopf zur Seite und musterte sie fragend, in der Hoffnung, ich würde etwas in ihrem Gesicht lesen können. Irgendeine Antwort auf das, was ihr innerlich vorschwebte. Leider vergebens. „Wozu brauchst du sie?“
„Stell keine Fragen. Hol sie doch einfach.“
Fest biss ich mir auf die Lippe. Der Schmerz, der danach entstand, beruhigte mich ein bisschen und für einen kurzen Moment konnte ich mich auf etwas anderes konzentrieren, als auf Blaires wachsenden Enthusiasmus. Allerdings hielt diese Ablenkung nicht lange an.
Wie ein begossener Pudel trottete ich in mein Zimmer und holte die Serviette, die ich noch einmal in meiner Hand zerknüllte. Auf meiner Handfläche hatte sich inzwischen ein leichter Schweißfilm gebildet. Vielleicht machte dieser ja sowohl Rileys Namen als auch seine Nummer unkenntlich.
Aber auch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Blaire starrte Ewigkeiten darauf, als wollte sie sich jede einzelne Ziffer genau in ihr Gedächtnis brennen.
Wie ein Chamäleon, das seine lange Zunge reflexartig und ohne Vorwarnung nach seiner Beute streckte, hielt sie plötzlich mein Handy in der Hand.
Danach passierten mehrere Dinge gleichzeitig und alles ging sehr schnell vonstatten. Ich schmiss mich auf die Kücheninsel und versuchte, ihr mein Handy wieder abzunehmen. Sie hingegen drehte sich elegant von mir weg und tippte auf diesem herum. Nicht einmal den Hauch einer Chance bekam ich, an das Smartphone zu gelangen.
Nun gab es zwei Möglichkeiten: Entweder, sie speicherte Rileys Nummer ein oder, an die Möglichkeit wagte ich jedoch gar nicht erst zu denken, sie schrieb ihm eine Nachricht.
Als ich fast schon aufgab, ihr das Handy wegnehmen zu können, legte sie es zurück auf die Theke. „Jetzt können wir wohl nur noch auf eine Antwort warten.“
Mir fiel die Kinnlade nach unten. Das konnte unmöglich ihr ernst sein. Mit offenem Mund starrte ich das Gerät an, das ich voller Unfassbarkeit in die Hand nahm, dann starrte ich Blaire an und wieder zum Handy.
Meine Augen brannten, weil sich heimlich Tränen in sie schlichen und mein Herzschlag beschleunigte sich, so dass jeder wohl Angst davor haben würde, gleich einem Herzinfarkt zu erliegen.
„Das ... Das hast du nicht wirklich getan? Wie kommst du dazu?“ Meine Aufregung sorgte dafür, dass meine Stimmfarbe um einige Oktaven nach oben schoss.
Lässig zuckte Blaire mit den Schultern und nippte an ihrem Tee. „Ich habe dir bloß einen Gefallen getan. Reg dich nicht so auf und vielleicht meldet er sich auch gar nicht.“
Sie hatte mir einen Gefallen getan? Ungläubig schüttelte ich den Kopf und schickte Stoßgebete zum Himmel, in der Hoffnung, diese ganze Situation würde sich noch als schrecklicher Alptraum entpuppen. Aber je länger ich hier saß, desto bewusster wurde mir, dass ich nicht aufwachen würde.
Blaire umfasste meine Hände und hielt sie so fest, dass es kein Entrinnen gab. „Ich fass es einfach nicht, dass du das wirklich getan hast.“ Mehr als ein Flüstern war aus meinem Mund nicht mehr herauszubringen.
„Süße, wenn ich nicht wüsste, was gut für dich ist, dann würde ich dich gar nicht erst so ins kalte Wasser schmeißen. Vertrau mir, ich hab bei Riley ein echt gutes Gefühl und du verdienst es auch, glücklich zu sein.“
War ja klar, dass sie so etwas von sich gab. Aber hatte ich nicht auch ein Mitspracherecht, mit wem ich glücklich sein wollte? Und im Gegensatz zu Blaire fand ich bei Riley derzeit noch kein einziges Argument, welches es wirklich verdiente, auf die Pro-Seite zu rutschen.
Andererseits sollte ich ihm wohl die Gelegenheit dazu geben, sich zu beweisen und vielleicht fand er ja doch Gefallen an mir, obwohl ich das doch sehr in Zweifel zog.
Als hätte er jedoch meine Unsicherheit bemerkt und die negativen Gedanken gelesen, vibrierte plötzlich das Handy auf der Theke. Durch die Vibration schob es sich immer mehr in meine Richtung, als würde es sagen wollen, jetzt sei kein Hasenfuß, sondern lies die Nachricht.
Obwohl ich Blaire nicht ansah, spürte ich ihren erwartungsvollen Blick, der auf mir lag und mich förmlich zu durchbohren versuchte.
„Jetzt mach schon. Oder soll ich nachsehen?“
Damit Blaire sich eine passende Nachricht überlegen konnte, die womöglich noch mit zweideutigen Ansichten versehen war? Nein, danke.
Also griff ich mit gemischten Gefühlen nach dem Handy und öffnete die Nachricht, welche bloß zwei kurze Sätze enthielt.
„Schön, dass du dich meldest. Wie wäre es morgen mit Kino?“

Kapitel 4

~Alicia~

 

Wie gebannt starrte ich die Flecken an meiner Decke an. Ich konnte nicht genau sagen, wie viel Zeit vergangen war, nachdem ich mich auf mein Bett geschmissen hatte und nun reglos auf dem Rücken lag.
An den Fingern zählte ich die Tage nach meiner letzten Nachricht an Riley ab. Blaire hatte mir eingeschärft, das Ego eines Mannes niemals so sehr zu pushen, indem ich mich zu schnell auf ein Date einließ.
Riley hatte sich bereits einen Tag später mit mir verabreden wollen. Blaire riet mir davon ab. Und ich befolgte diesen Ratschlag.
Daher antwortete ich ihm knapp, dass ich zu tun hätte. Na ja, vielmehr schrieb Blaire ihm das. Meine Finger hatten bloß sekundenlang über der Tastatur meines Handys gehangen, ohne auch nur ein Wort niederzuschreiben.
Wenn mir das Schreiben nun sogar schon schwerfiel, wollte ich gar nicht erst wissen, wie kommunikativ ich wohl bei einem möglichen Gespräch mit Riley sein würde.
Jetzt lag ich wieder auf meinem Bett und meine Rechnung ergab, dass eine knappe Woche vergangen war. Eine Woche, in der ich nichts mehr von Riley gehört hatte. Seltsamerweise war mir aber jene Woche unglaublich lang vorgekommen.
Ich scrollte die wenigen Nachrichten zum wiederholten Mal durch. Ich hatte ihm geschrieben, dass es meine Zeit nächsten Samstag zuließ, um ihn zu treffen. Und dieser Tag rückte immer näher. Morgen schon sollten wir uns sehen. Mein erstes Date klopfte erst leise, dann immer lauter gegen die Tür, bis es plötzlich im Raum stand und ich mich nicht länger dagegen wehren konnte.
Mit schnellen Bewegungen schrieb ich eine weitere Nachricht. „Steht die Verabredung morgen?“
Mein Daumen hing über dem Senden-Button, als wartete er auf meine Erlaubnis, die Nachricht an die betreffende Person weiterzuleiten.
Verabredung? Wie altmodisch klang dieses Wort? Heute sagte doch niemand mehr Verabredung.
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Ich löschte die Frage wieder und legte mein Handy neben mich. Weil ich es einfach nicht über mich brachte, Riley zu schreiben, musste ich darauf hoffen, dass er morgen Abend am verabredeten Treffpunkt auftauchen würde.
Er wollte ins Kino und allein der Gedanke an einen dunklen Raum mit viel zu engen Sitzen löste in mir eine regelrechte Panikattacke aus. Ich musste mich wieder beruhigen, bevor ich zu hyperventilieren begann. Doch selbst die aufmunternden Worte meiner besten Freundin oder meiner Schwester halfen nichts.
Das Einzige, das mir womöglich eine ausreichende Ablenkung liefern konnte, war die Verabredung mit meiner Familie. Sie hatten mich gefragt, ob ich mit ihnen Essen gehen wollte. Gerne verbrachte ich jede einzelne freie Minute mit meinen Eltern und Geschwistern, sodass ich nicht lange überlegen musste und zusagte.
Die digitale Uhr auf meinem Nachttisch, die mir zugleich als Wecker diente, zeigte 17:00 Uhr an. In einer Stunde sollte ich mich am Treffpunkt einfinden.
Eigentlich noch genügend Zeit, um mich noch mit anderen Dingen zu beschäftigen, wie der Suche nach einem geeigneten College für mich.
Meine Eltern gaben mir dieses eine Jahr nach meinem Highschool Abschluss, um mir im Klaren darüber zu werden, in welche berufliche Richtung ich gehen wollte.
Während meine Freundinnen inzwischen fast ausnahmslos auf weit entfernte Colleges gingen, stand ich mit meiner Suche weiterhin am Anfang und blieb vollkommen planlos, wie ich meine weitere Zukunft gestalten wollte.
Dabei brachte mir die Aussage von Jacob, meinem älteren Bruder, auch nicht viel. Für ihn war wahrscheinlich noch vor seiner Geburt klar, dass er irgendwann die Firma unserer Eltern übernehmen würde. Und obwohl ich in den Ferien oder am Wochenende dort oft ausgeholfen hatte, war mir ziemlich schnell bewusst, dass diese Fußstapfen für mich eine Nummer zu groß waren.
Anders als bei vielen meiner Freundinnen akzeptierte meine Familie diese Entscheidung.

Die Stunde verflog wie aufsteigender Rauch, der sich einfach in Luft auflöste und es so wirkte, als hätte es ihn nie gegeben.
Beim Don Giovanni, in dem ich mich mit meiner Familie treffen wollte, handelte es sich um ein nobles Fünf-Sterne-Lokal mit exklusiver Küche aus Europa. Trotz des sehr italienischen Namens gab es hier eine beachtliche Auswahl französischer, deutscher und griechischer Gerichte.
Ich lief auf den langen Tisch zu, an dem alle bereits saßen. Dafür musste ich mich an anderen Tischen vorbeischlängeln, immer darauf bedacht, niemandem direkt in die Augen zu blicken, denn ich wusste, was sonst passierte.
Grundsätzlich mied ich die Aufmerksamkeit anderer, wenn sie mich mit ihren Blicken durchbohrten. Aufgrund des Status meiner Familie fiel es mir leider nicht leicht, dieser Beachtung, die man uns schenkte, immer zu entfliehen.
Heute trug ich ein rotes Kleid, welches bereits über meinem Knie endete. Viel zu kurz für meinen Geschmack, deshalb hatte ich mich für eine schlichte Strumpfhose entschieden und meine weißen Lieblingssneaker. Zum Outfit und der Umgebung passten diese überhaupt nicht ins Bild. Allerdings besaß ich, im Gegensatz zu meinen älteren Schwestern Livia und Rebecca, nicht die Grazie, auf hohen Stiefeletten mit Pfennigabsatz zu stolzieren.
„Entschuldigt die Verspätung“, begrüßte ich die Runde höflich, lächelte kurz und setzte mich auf den freien Platz zwischen Jacob und Livia.
Von dem Geschwister-Clan war ich die Zweitjüngste im Bunde. Nach mir kam Salome. Livia und Jacob waren die Älteren und dann gab es da auch noch Rebecca. Man konnte von uns also zurecht behaupten, dass wir eine typisch amerikanische Familie waren.
Abende wie diese gehörten inzwischen zur Seltenheit. Deswegen genoss ich sie auch so sehr. Als ich noch klein war, hatte unsere Mom oft mit uns gebacken, vor allem an Weihnachten.
Seit die Firma allerdings in den vergangenen Jahren einen hochaufstrebenden Kurs erlebte, hatte sich vieles in meiner Familie geändert. Wir hielten zwar immer noch zusammen wie Pech und Schwefel, aber man spürte deutlich, dass etwas anders war.
„Für mich nur Wasser, bitte“, bat ich den Kellner, als er mir Weißwein in mein Glas einschenken wollte. Alkohol vertrug ich nicht besonders. Nach einem Glas Wein konnte man sicher sein, dass ich ein Kinderlied nach dem anderen trällerte. Und ich kannte sie alle auswendig.
Dann doch besser auf den Wein verzichten.
„Schwesterchen, wo hast du dich eigentlich in den letzten Tagen herumgetrieben? Wir bekommen dich ja kaum noch zu Gesicht. Es wird wohl wieder an der Zeit sein, zurück in die Wohnung zu ziehen“, sprach mich Jacob von der Seite aus an.
Meine Familie bezog ein Haus außerhalb von Manhattan in Staten Island, einem weiteren Bezirk New Yorks. Doch beide Bezirke waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Während Manhattan das reinste Chaos geschäftstüchtiger Menschen bildete, hielt in Staten Island völlige Ruhe und Abgeschiedenheit Einzug.
Als Kind besuchte ich jeden Sommer unser Haus und ich liebte es, draußen im Garten zu spielen, ohne davor Angst haben zu müssen, vom Abgas der paffenden Automotoren vergiftet zu werden.
Aber Manhattan war mein Zuhause und ich konnte mir keinen anderen Ort zum Leben vorstellen. Ich mochte die freundliche Bäckerin, die um die Ecke unseres Apartments ihre Brötchen verkaufte und mich so lange kannte, um mir hin und wieder eines heimlich umsonst einzustecken. Und ich genoss vor allem die Schlittschuhbahn am Rockefeller-Center mit dem riesigen Weihnachtsbaum, wo ich jedes Jahr meine Freizeit verbrachte. Nicht zu vergessen der Times Square, auf dem sich unzählige als Actionhelden verkleidete Menschen tummelten, mit denen man sich fotografieren lassen konnte.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Eine wild fuchtelnde Hand, die plötzlich ihren Weg vor meine Augen fand, holte mich zurück in die Realität. Mist, offenbar war ich wieder einem meiner schon recht seltsamen Tagträume zum Opfer gefallen.
„Entschuldige.“ In meinem Kopf ratterte es. Wie war noch gleich seine Frage?
Abwartend ruhte sein Blick auf mir und ich spürte deutlich, wie auch die anderen am Tisch ihre Gespräche unterbrachen und verstohlen zu uns hinübersahen.
Eine unglaubliche Hitze stieg in mir hoch, die sich schnell auf meinem gesamten Körper verteilte. Nicht einmal bei meiner Familie bekam ich es auf die Reihe, normal zu wirken, ohne dass eine Peinlichkeit der Nächsten folgte.
Ich erhob mich von meinem Platz. „Entschuldigt mich für einen Moment“, bat ich meine Familie und lief schnurstracks nach draußen an die frische Luft, immer darauf bedacht, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern.
Ich kannte das Problem ganz genau, vor dem ich gerade flüchtete. Aber wie sollte ich meiner Familie erklären, dass es mit einem Jungen auf sich hatte, dem ich nebenbei auf meiner Arbeit begegnet war und der mich seitdem keinen klaren Gedanken mehr fassen ließ?
Erstens würde mein Vater mit großer Wahrscheinlichkeit eigenhändig meine Kündigung noch morgen Früh auf den Tisch meines Chefs legen. Und zweitens: Riley wäre mit einer solchen Sicherheit bald einen Kopf kürzer, bevor es überhaupt erst richtig angefangen hatte.
Ich meine ... angefangen war vielleicht das falsche Wort dafür. Ich sollte es auf mich zukommen lassen und mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Sobald er erkannte, wie ich tickte, konnte ich mir ein weiteres Treffen mit ihm ohnehin gleich wieder abschminken. Wer wollte schon eine unerfahrene Frau, die noch nicht einmal einen vernünftigen Satz zustande brachte?
Fakt blieb allerdings, dass es mir in der Nähe von Männern immer schwerfiel, selbst das Atmen nicht komplett einzustellen.
Als ich durch die Tür trat, schlug mir sofort kühle Luft entgegen und die Hitze verflüchtigte sich allmählich.
Die Tage und vor allem Nächte wurden inzwischen immer kühler. Deutlich spürte man, wie der Herbst in New York ankam. Er kam leise, still und heimlich. Gestern noch liefen die Leute mit hautengen Klamotten durch die Straßen und heute holten sie schon ihre Mäntel heraus.
Und das machte sich just in dem Moment bemerkbar, als ich hier draußen stand und mir einfiel, dass meine Jacke immer noch im Lokal an einem Haken hing.
Ich schlang meine Arme um den Körper. Mein Atem stieg in weißem Rauch auf und verlor sich irgendwo in der Luft.
Bald würde ich mich wieder zu meiner Familie gesellen müssen. Von Unhöflichkeiten hielten sie wenig, vor allem, wenn sich jemand ohne gute Begründung entfernte.
Aber so sehr ich meine Familie auch liebte, manchmal wünschte ich mir, einfach als ganz normales Mädchen aufgewachsen zu sein.
Meine Eltern hatten sich den gesamten Reichtum selber aufgebaut. Vor allem meine Mutter wusste, was es bedeutete, arm zu sein. Genau daran könnte es liegen, weshalb sie beschlossen hatten, ihren Kindern alles zu ermöglichen, was sie sich je erträumten. Wir wurden auf die besten Privatschulen geschickt und es fehlte uns nie an etwas.
Doch nach meinem Highschoolabschluss wollte auch ich endlich für mein Geld arbeiten. Der Reichtum hatte meine Eltern so verändert, dass sie es nicht nachvollziehen konnten. Und selbst meine Geschwister taten sich schwer damit zu verstehen, weshalb ich auf mein Taschengeld verzichtete.
Viele meiner Freundinnen gingen auf Daddy’s Kosten shoppen, kehrten mit unzähligen Klamotten und Accessoires nach Hause und trugen diese ein einziges Mal. Danach verstaubten sie in ihren Kleiderschränken. Hauptsache, sie erleichterten sich um tausende Dollar. Anstatt das Geld in wohltätige Zwecke zu stecken.
Ich zählte zum kompletten Gegenteil in dieser Schicht. Eine wahre Rarität. Vielleicht fühlte ich mich auch deshalb in diesen Kreisen oftmals wie eine Außenseiterin. Nie genau zu wissen, wohin man gehörte, war schwer und manchmal wünschte ich mir einfach, ich könnte herausfinden, wie es in einer normalen Familie zuging, die nicht so viel Geld besaß und die nicht immer darauf achten musste, wie sie aussah, weil sie nicht in der Öffentlichkeit stand.
Aber man konnte sich seine Familie nun einmal nicht aussuchen und beschweren sollte ich mich wirklich nicht, wenn man bedachte, was meine Eltern alles auf sich genommen hatten, nur damit wir es einmal besser hatten als sie.
Ich wandte mich wieder um und wollte zurück ins Innere, wo es warm und kuschelig war. Wenn ich doch nur etwas anderes als ein Kleid angezogen hätte. Aber Hosen für eine Frau, die in der Öffentlichkeit stand, zierten sich nicht. Wenigstens das behielt ich aufrecht.
Nebenbei streiften meine Augen einen schwarzen Peugeot, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte und den jungen Mann, der gegen die Motorhaube lehnte und zu mir hinübersah.
Unsicher schweifte mein Blick von links nach rechts und kurz über meine Schulter, um sicherzugehen, dass seine Aufmerksamkeit tatsächlich mir galt.
Erst beim genaueren Hinsehen erkannte ich dieses unverkennbar makellose Gesicht und den durchtrainierten Körper, deren Fasen wohl ausschließlich nur aus Muskeln bestanden.
Riley, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Er war hier. Wie war das nur möglich? Woher wusste er, dass auch ich hier sein würde?
Schwer schluckte ich und trotz der Kälte, die mich umgab, spürte ich, wie die Hitze unter den Klamotten meine Haut zum Glühen brachte.
Unverwandt sah er mich an, ich starrte zurück ohne auch nur einmal mit den Augen zu blinzeln. Ich war mir fast sicher, dass ich ihn mir nur einbildete.
Jetzt beherrschte dieser Mann sogar noch meinen Kopf. Ich hatte ihn doch erst einmal gesehen und dieses eine Mal reichte schon aus, um keinen positiven Eindruck bei mir zu hinterlassen.
Und trotzdem musste er etwas Undefinierbares an sich haben, damit meine Gedanken von dem morgigen Date so sehr beeinflusst wurden und ich selbst auf den Rat meiner besten Freundin hörte, um ihm eine Chance zu geben.
Aber ich wusste: Er bedeutete Ärger und von einer anderen Meinung musste Riley mich erst noch überzeugen.
„Hey, Schwesterchen, wo bleibst du? Wir warten auf dich.“ Mein Bruder Jacob tauchte wie aus dem Nichts neben mir auf und sah mich abwartend an. Dass ich der Familiensitzung solange fernblieb, war mir total entgangen. Viel zu sehr beschäftigte ich mich mit allen Dingen, die definitiv nicht in diesem Restaurant geschahen.
Ich wandte mich ihm zu, ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen. „Entschuldige, ich war zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt. Ich komme gleich.“
Er nickte, verschwand dann wieder im Inneren, während ich noch einen Blick hinüber zu Riley warf. Aber er war verschwunden.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.08.2017

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /