Ich kann kaum glauben das es vorbei ist. All die Mühe, der Stress und die Ärgernisse. Letztendlich hatte es sich gelohnt und nun stehe ich hier, als letzte Schülerin, an der Türschwelle meiner alten Schule. Ich werde den Anblick, der sich vor mir bietet wirklich sehr vermissen, obwohl ich ihn im laufe des Schuljahres oft genug gehasst habe. Das gesamte Schulgebäude ist unregelmäßig gepflastert, so das es Mädchen unmöglich war mit hochhackigen Schuhen herumzustolzieren, und der nagelneue Zaun ist zu hoch als das ein Schüler darüber klettern könnte. Doch er ist nicht Blickdicht und bietet eine wunderbare Aussicht. Ich liebe die großen Bäume die bei Wind ihre eigene Melodie hatten und nie ihren silbrigen Glanz verloren. Es war schrecklich im Herbst zuzusehen wie die Bäume und Sträucher ihre Kleidung verloren und nur wirre Äste zurückblieben. Dahinter konnte man die Felder und Häuser sehen. Kein schöner Anblick, nein, denn die nackten Pflanzen kamen mir vor wie entstellte Skelette.
Ich nehme an den Steintreppen platz, nachdem ich den braunen Lockenkopf meines Brudes in den Feldern gesichtet habe.
Es ist Tradition das er mich abholt, seitdem wir in dieser Kleinstadt, alias Dorf wohnen. Immer ist er schon da wenn ich Schulschluss habe, denn er nimmt stets den kürzesten weg zur Schule, dann spazieren wir zusammen den längsten nach hause. Ich glaube er hatte einfach vergessen das ich heute später aus habe.
Er öffnet das Tor, dass den Eingang des Schulgebäudes darstellt. Im Gegensatz zu den Zäunen ist das Tor alt geblieben und vermittelt jedem, der an der Schule vorbeigeht einen merkwürdigen Gesamtanblick, denn die Schule ist ein altes, verziertes Sandsteingebäude, das mit modernen, hässlich quadratischen Bungalows ausgestattet wurde.
Aber nun wieder zu meinem Bruder. Anfangs wusste ich, das er nur kam, weil meine Eltern sichergehen wollten, das ich nichts anstelle, denn das war ja der der Grund des Umzuges. Im laufe der Jahre war ich mir nicht mehr so sicher. Meinen Bruder, der übrigens Mischa heißt, mag ich aus meiner Familie, allgemein aus meiner Verwandtschaft, am liebsten, weil er der einzige ist, der sein Interesse an mir nicht vortäuscht, und weil ich mich bei ihm so unglaublich geborgen fühle. Er ist für mich da, auch dann wenn er nichts macht, nichts sagt. Bevor wir aufs Land zogen waren war unsere Beziehung zueinander komplett anders, denn wir waren distanzierter, weil weder er, noch ich mit der scheiße klar kamen die ich angestellt hatte. Er versuchte für mich da zu sein, obwohl die taten die ich begann ihn verschreckten. Ich mied ihn, verstieß ihn aus meinen Gedanken, meinem Umfeld. Mein armer Bruder.
Mit einem schelmischen Grinsen und einem „Hey, na wie war's?“ kommt er auf mich zu.
Da er gerade in der Richtung kommt, in der gerade die Sonne ist, blinzele ihm mit einem schiefen Lächeln entgegen und zucke die Schultern.
„Wie immer. Ich bin froh das es vorbei ist.“
„Glaub ich dir liebend gern“ seufzt er und nimmt Links neben mir Platz. Still greife ich in meinem Rucksack und reiche ihm die Mappe in der sich mein Zeugnis befindet. Ebenso still nimmt er seine Sonnenrille ab und ließt das Zeugnis, das er der Mappe entnommen hat. Wie immer ist er viel zu warm für dieses Wetter angezogen. Ich habe ihn, ehrlich gesagt, seid unserer Kindheit nicht mehr in kurzen Hosen gesehen, außer im Schwimmbad natürlich. Stattdessen ist er, wie immer ganz in schwarz, verschmilzt Nachts mit der Nacht.
Nach wenigen Minuten greift er in seine Jeanstasche und holt eine Zigarettenschachtel heraus, fordert mich anhand der Gestik auf nach einer zu greifen und zückt sich schließlich selbst eine, weil ich die Schachtel weggedrückt habe. Dann zündet er die Kippe an, gibt mir die Mappe zurück und starrt ins Weite während er einen tiefen Zug nach dem anderen nimmt.
„Weißt du, ich wusste nicht das du besser geworden bist als ich,“ beginnt er, „und ich wusste auch nicht das du dich so rein gesteigert hast, dieses Jahr, immerhin habe ich dich kaum lernen gesehen.“ Ich frage mich ob das Neid in seiner Stimme ist. Kurz schaut er mich mit seinen Gewitteraugen vorwurfsvoll an, als ob er wissen würde was ich denke, bis er weiter die Umgebung am Horizont mustert.
„Ich habe ja nicht mal gelernt. Ich habe alles, was ich dich vorletztes Jahr abgefragt hatte, im Kopf behalten“ rechtfertige ich mich. Seine Reaktion an der Mimik ablesend, stelle ich fest das er geschmeichelt ist, schließlich hatte ich damals den Eindruck gemacht als würde ich ihm nicht gerne helfen, habe mich mit ihm gestritten und im Stich gelassen. Doch ich habe ihm trotzdem geholfen, bin, nachdem ich aus dem Haus gestürmt bin, in sein Zimmerfenster geklettert und habe ihn nicht selten von hinten umarmt. Nicht wissend, das es einen Nutzen für mich hat.
„Die Alten werden sich freuen. So viele einer hatte ich damals nicht.“ beginnt er, nach ein paar Minuten der, an uns klebenden Stille.
„Doch sie werden diese Freude nicht zeigen.“ beende ich.
„Aber Mum wird dir zuliebe eine Erdbeertorte backen.“
„Mit viel Schlagsahne und geraspelten Pistazien, so wie ich es liebe. Aber die Hauptspeise wird deine sein, damit ich nicht auf die Idee komme das sie mich lieb hat.“ stelle ich mit ironischem Unterton fest, und bin diesmal diejenige die in die Ferne schaut.
„Höchstwahrscheinlich werden sie uns dann anbieten nach Italien zu fahren.“ murmelt er nach einer kleinen Pause, bevor er das letzte mal an der Zigarette zieht.
„Oder die Nordsee.“
„Oder Griechenland.“ Er bläst den Rauch aus während er das sagt.
„Nicht ohne über die Hitze dort zu jammern,“ grinse ich ihm entgegen.
Zum Schluss drückt die Zigarette an einer Treppenstufe aus und lässt sie dort liegen, steht auf und ich halte mich an seinem Arm fest, während ich es ihm gleich tue. Zum letzten mal winke ich dem Hausmeister, als wir durch das Tor schreiten und ich die Schule hinter mir lasse.
Unser Vater nimmt die Mappe ebenso stumm ab wie Mischa, ließt das Zeugnis mit verschlossener Miene durch, während Mutter sich die Hände an der Schütze abwischt, ihre, an einem goldenen Kettchen hängende Brille aufsetzt und sich an an dem Sofarücken lehnt, auf dem er sitzt und ihm durch die Schulter linst. Es ist ungemütlich leise im Raum und ich verbringe die Zeit damit meinen Blick durch die 'ach so perfekten' Familienbilder, die Gemälde und insbesondere Mischa's Radierungen schweifen zu lassen, bis ich schließlich bei dem Künstler selbst ankomme, der wie seine Zeichnungen schön, aber teilnahmslos im viel zu großen Raum an der Wand lehnt.
„In Mathematik hättest du besser seien können Larissa.“ unterbricht Vater die Stille, dann fängt Mutter an über meine mangelnde Bereitschaft in Gruppenarbeiten zu klagen.
Bla Bla, wichtig für die Bewerbung, Bla. Mir fällt auf, das Mischa's Haut und die Wand den selben Teint besitzt. Zur Stärkung verdreht er die Augen und schenkt mir sein schiefes Lächeln. Ich schaue weg und konzentriere mich darauf Mutter in die Augen zu sehen, vornehmend, mir irgendwann die Ohren zu beschädigen, nur um nie wieder ihre Stimme zu hören.
„Aber Mum, wieso beschwerst du dich jetzt bitte so über einen einzigen negativen Punkt bei der Bemerkung, wenn Herr Mühner die halbe Seite vollgeschrieben hat und ich noch dazu nur zwei dreier im Zeugnis habe?!“ ereifere ich mich schließlich nach ihrer Rede.
„Weil dein Bruder nur positive Bemerkungen hatte!“ gibt sie, immer lauter werdend zurück.
„Ach so, so ist das also?! Du willst uns jetzt vergleichen? Ist dir klar wie kindisch das schon wieder von dir ist?“ Während ich das sage gibt Vater ein tiefes seufzen von sich und greift sich an die Schläfe. Für einen kurzen Augenblick vergesse ich die geladene Situation und vergleiche ihn mit Sigmund Freud, würde Vater nicht so verwachsen aussehen.
„Du verstehst mich wohl nicht Mädchen. Es geht hier um deine Zukunft, natürlich will ich das du gut abschneidest, euch miteinander zu vergleichen ist da doch vollkommen normal!“ Sie geht einen schritt nach vorn und streicht sich eine Strähne ihres lockigen roten Haares zurück.
Schließlich schaltet sich Mischa ein. „Mama du hast doch gehört was sie vorher gesagt hat. Sie hat außer eben diesem Punkt nur positive Bemerkungen und ihre Noten sind bei weitem viel besser als meine. Wozu dann noch vergleichen?“ Mutig von ihm sich zwischen zwei streitende Frauen zu stellen. Mutters Augen funkeln hingegen gefährlich, so als ob sie noch eine ganze Ladung hätte, die sie mir am liebsten an den Kopf werfen würde. Ich verlagere mein Gewicht auf das linke Bein und verschränke die Arme gegeneinander. Nach einer Minute des Schweigens sieht Mutter wieder schaut Mutter weg, aus dem Fenster.
„Abendessen gibt es um halb sieben.“ beendet sie schließlich und deutet gleichzeitig an, das wir uns während der Zeit nicht mehr Blicken lassen sollen. Während sie das so gleichgültig sagt, denke ich an meine Kindheit, wo ich sie Mama nannte und meine Stimme gleichzeitig verniedlichte, weil ich ihr zeigen wollte, was für ein nettes Kind ich doch war. Wo ich und Mischa noch als süß bezeichnet wurden, ihnen keine Probleme machten und Mischa alles tat, um Daddy stolz zu machen. Ich bin mir sicher, das meine Eltern unser Erwachsenwerden ebenso sehr bereuen wie wir.
Da wir noch drei Stunden Zeit haben, gehen wir vorerst in sein Zimmer, wo er den Computer anschaltet und wir daraufhin eine halbe Stunde mit unseren Freunden camen. Eigentlich bin ich umsonst im Bild. Ich sage nichts, außer ich werde etwas gefragt. Und ich werde selten etwas gefragt. Die Gespräche werden immer kürzer. Die Stille, die früher genossen wurde, ist jetzt unangenehm geworden. Stunden haben wir früher vor dem PC verbracht, nur um ihnen nah zu sein, doch wir entfernten uns immer mehr voneinander, wurden zu Landmenschen, während sie Großstadtmenschen blieben. Kein Tag ohne Handy leben, nur zwischendurch lieben, für drei Kilometer den Bus nehmen, das war unnötig geworden.
Ich kann kaum fassen wie unwichtig mir mein Handy mittlerweile ist.
Obwohl der Umzug unfreiwillig war, brauchten wir das Land, das wussten sowohl ich als auch mein Bruder. Vor drei Jahren hatten wir versucht uns zu integrieren. Hatten Stunden vor dem Skaterplätzen, Bibliotheken, Bars, dem Schwimmbad verbracht. Doch die Leute blieben unter sich und wir blieben unter uns, ohne irgendjemandem besonders nah zu kommen. Mir war klar, das Mischa begehrt wurde, vor zwei Jahren wurde er umschwärmt, die letzten zwei bewundert, weil er mich abholte.
Ich meine, wer bin ich schon in deren Augen.
Das Gespräch endet plötzlich, wie immer in letzter Zeit. Ich frage mich, wann es anfängt: „Tut uns leid, wir müssen lernen, wir haben keine Zeit, die Welt geht unter, wir sind es leid.“
Insgeheim bewundere und beneide ich die Menschen, die trotz großer Distanz einander nah sind, stets innig Lieben und immer einen Weg finden einander nicht aus den Augen zu verlieren.
Mein Blick begegnet seinen und ich weiß das er das gleiche denkt wie ich. Nach einer Schweigeminute ziehen wir unsere Schuhe an und gehen wieder raus, in den Wald. Wir brauchen beide Abkühlung. Es ist Hochsommer,die Luft ist so stickig als würden wir alle in einem Luftballon sitzen, der immer leerer wird. Kein Lüftchen weht, selbst die Tiere sind zu träge um sich bemerkbar zu machen. Nur die Insekten scheinen verschont zu bleiben, denn sie sind so aufdringlich wie immer. Im Wald zu sein, bietet immer eine Abkühlung, wenn man nur tief genug ihn ihn eindringt. Weg von der drückenden Hitze.
Wir gehen schweigend, mal schnell, dann langsam, immer einander anpassend. Der Wald ist nicht groß, doch groß genug um sich darin zu verirren, denn es gibt nur einen breiten Weg, der mit feinem und groben Kies ausgeschüttet ist. Doch es ist ein Wanderweg. Einer, der diese Stadt mit der anderen verbindet. Über Wiesen geht und Anschließend in einen anderen Wald führt. Darunter sind viele andere Wege, mal oft begangen, mal schmaler werdend, und man sollte keinem von ihnen folgen. Wir gegen keinen Weg, wir laufen einfach, denn wir haben einen eigenen Weg. Seit dem ersten Sparziergang liebe ich diesen Wald. Er ist dezent. Ich kenne Wälder, denen nachgeholfen wurde. In denen plötzlich Blumen sind, die unmöglich dort wachsen konnten, oder wo man auf einmal Teiche mit Fischen findet, wo früher nur eine etwas tiefere Stelle war. Es sind Wälder, bei denen man versucht mehr Menschen hinein zu bekommen, Wälder, die zu Parks werden. Dieser ist still, nicht Braun, nicht Grün, nicht Bunt, ein paar Blumen und Pilze hier, da. Ich finde, es gibt keinen vollkommeneren Ort als ein Wald wie dieser hier. Diesmal biegt Mischa schneller nach Links ab als gewöhnlich und wir sind schneller draußen. Fragend schaue ich zu ihm hoch, doch er tippt nur mit dem Zeigefinger zu der stelle, wo Leute ihr Uhren tragen. Und tatsächlich, als hätte Mischa eine innere Uhr mit Alarmeinstellung: pünktlich zum Essen sind wir wieder zuhause und es ist genauso wie wir es vorhergesagt hatten. Es gibt Pellkartoffeln und Steaks, Mischas Lieblingsessen, doch zum Nachtisch eine Erdbeertorte mit viel Schlagsahne und geriebenen Pistazien. Wie immer essen wir still, wobei dieses mal die stille bedrückender ist. Wütende Blicke zwischen mir und Mutter, aufbauende bei Mischa, Vater konzentriert sich aufs Essen und hat seinen Blick in den Blumentopf in der Mitte des Tisches versunken. Ich hasse es. Das Viereck einer scheinbar perfekten Familie, dabei wäre ich längst wo anders, würde der Gedanke an meinen Bruder mich nicht immer wieder aufhalten.
An sich ist es merkwürdig, am Vormittag zog sich die Zeit dahin, während danach alles zu plötzlich kam, zu schnell endete. Während des Nachtisches verkündet Vater, das wir dieses Jahr wieder wegfahren wollen und macht uns Vorschläge wie die Nordsee, Italien, Frankreich oder Türkei, doch als es zu Griechenland kommt beschwert sich Mutter, weil es dort viel zu heiß ist. Damals war sie die meiste Zeit im Hotel weil sie sich einen extremen Sonnenbrand zugefügt hatte. Doch dann kam eine Überraschung: Vater schlägt eine fahrt nach Neuseeland vor.
„Wieso denn nicht, es ist das Ende der Welt, ein perfekter Ort zum schreiben.“ Er lehnt sich zurück und wirft die Serviette, die er gerade benutzt hat auf den Teller.
Ihr müsst wissen, unsere Eltern sind beide Schriftsteller.
„Und schaut euch dort erst mal die Landschaft an! Man kann dort alles unternehmen, Surfen oder Berge steigen oder wandern und noch viel mehr!“
„Mutter, dir kann es doch egal sein, du wirst sowieso immer im Haus bleiben, beziehungsweise das Grundstück nicht verlassen.“ erwidere ich leicht angepisst.
„Das war ja auch auf euch bezogen.“ zischt sie als Antwort.
„Also was ist denn jetzt, Europa oder Neuseeland?“ will Vater endlich wissen.
„Wie lange würden wir denn in Neuseeland bleiben?“ meldet Mischa sich auch mal zu Wort.
„Drei Monate, wenn es euch Recht ist.“
Mein Bruder und ich sehen uns an. „Die ganzen Ferien?!“ entkommt es mir.
„Na warum denn nicht? So wie ich euch kenne habt ihr für die Ferien doch sowieso nichts vor?“ Vater hat echt nerven!
„Hast du denn nicht daran gedacht das wir vielleicht endlich mal unsere Freunde besuchen möchten?“ wende ich ein.
„Eure Freunde? Welche, doch nicht etwa die, die sich nicht mal mehr die Zeit dafür geben euch mit dem Arsch anzuschauen?“
Darauf wusste weder ich noch Mischa eine Antwort.
„Das Sommerhaus ist schon gemietet. In einer Woche ist es soweit, also Packt bitte solange eure Sachen. Ihr könnt jetzt nach oben gehen.“, schließt Vater das Thema ab und wir werden mit der stummen Aufforderung, uns nicht mehr Blicken zu lassen, weggeschickt.
Auf diese möchten wir aber nicht eingehen. Erst recht nicht, weil ich noch mehr von dieser Torte will. Mischa stemmt mit finsterer Miene seine Hände gegen die Tischkante.
„Wieso zum Teufel beginnst du mit uns eine Diskussion darüber wo wir unsere Ferien verbringen wollen, wenn du doch eh schon alles bereit hast? Du hast schon alles gemietet, gekauft, bereitgelegt, fragst uns aber trotzdem nach einer Meinung. Was wäre, wenn ich und Lari schon Tickets nach England hätten?“ Während er sprach habe ich schon mal die Tortenstücke, die ich noch essen wollte, auf meinen Teller gelegt und bereitete mich mitsamt des Tellers auf einen dramatischen Abgang vor. Vaters Miene bleibt ruhig, er überkreuzt das rechte Bein über das linke und verknotet seine Hände darin. Die Pose in der er immer raucht.
„Ich weiß das ihr nichts vorhabt. Noch dazu kenne ich euch als euer Vater gut genug, um zu wissen das ihr euch so oder so nach uns richten werdet. Larissa, du hättest ruhig die ganze Torte nehmen können, außer dir isst sie sowieso keiner.“
„Na schönen dank auch, Dad.“ Murre ich.
Mich ignorierend gibt er noch einen drauf.
„Zum Schluss möchte ich noch hinzufügen, das es uns an sich egal ist, ob ihr dabei seid oder nicht. Wenn ihr nicht mitwollt, bitte, wir können die Tickets wieder abbuchen. Aber denkt ja nicht das wir euch dann genug Geld für neue Flugtickets nach England da lassen.“
Ich stehe schnell auf und packe den empörten Mischa am Arm, während Mutter überrascht nach Luft schnappt. Die Tür hinter uns zu knallend, will Mischa schon nach oben gehen, doch ich halte ihn immer noch am Arm fest und hindere ihn dabei. Durch die geschlossene Tür hören wir, wie Mutter ihn aufgeregt fragt, wieso er das am Schluss gesagt hat. Einen Augenblick herrscht stille, bis wir vernehmen, wie ein Streichholz an gemacht wird, kurz darauf Schritte, die hektisch ein Fenster öffnen. Vater räuspert sich laut.
„Ich frage mich das ebenfalls. Das hier die Stimmung geladener ist als sonst, ist nicht gut. Wenn sie tatsächlich nicht mitreisen möchten, soll mir das recht sein July, das wollte ich ihnen nicht vorenthalten. Es soll nur zu einer entspannteren Familienlage dienen.“
„Ja aber musstest du das mit dem Geld hinzufügen?“ zischt sie ihm als Antwort und beginnt die Teller aufeinanderzustapeln.
„Weil ich nicht will das sie nach London Fliegen, ganz einfach.“ Mutter lässt das Wasser in der Spüle ein und wäscht das Geschirr.
„Du denkst noch immer, das Larissa in der Lage wäre wieder mit dem ganzen anzufangen?“ fragt sie in die Stille hinein.
„Ich will mir einfach keine Sorgen um die beiden machen, verstehst du nicht? Das muss nicht unbedingt heißen, das ich Larissa für fähig halte, alte Geschichten wieder aufzurollen, doch sie kann den Kontakt zu alten Freunden suchen, nehmen wir Alex als Beispiel. Ihn so zu sehen wird die beiden fertig machen. Im Trauerzustand begeht man manchmal dumme Dinge, das wissen wir beide.“ Ich schaue Mischa an, der sich wie ich auf die Treppenstufen niedergelassen hat. Er konzentriert sich auf den Boden und bemerkt meine Augen nicht. Gemeinsam beobachten wir anhand des Türschlitzes, durch den das Licht der Küchenlampe fließt, wie Vater auf und ab schreitet.
„Ich will es ihnen in Neuseeland sagen.“ ergreift Vater wieder die Stille. Er setzt sich auf meinen Stuhl, sein Schatten zeigt es. Mutter hat aufgehört zu spülen.
„Bist du dir sicher? Wir können doch beide nicht abschätzen, wie sie reagieren werden.“ gibt sie ein. Was wollen sie uns sagen? Diesmal sehen ich uns Mischa uns gleichzeitig an, er hat die Augenbrauen zusammengezogen.
„Ich würde es dir jetzt nicht mitteilen, wenn ich den Entschluss nicht schon vor Monaten gefasst hätte.“ erwidert er dunkel. Wir hören, wie er sich erneut eine Pfeife anzündet.
„Egal wie sie es aufnehmen werden, ich will es ihnen Unbedingt sagen.“ sagt er nochmal, jetzt fast flüsternd, doch wir hören ihn trotzdem. Mutter seufzt wieder tief, schiebt einen Stuhl zurück und setzt sich, ein Handtuch auf den Tisch schmeißend. Ich sehe sie in meinem inneren Auge den Kopf schütteln, als sie sagt „Ich habe Angst davor Will, Ich will nicht wissen was für eine Reaktion sie darauf haben würden. Am liebsten würde ich es ihnen im Sterbebett sagen,“ anhand ihrer Stimme fängt sie an zu weinen. „weil ich so ein Feigling bin und in dem Moment nichts mehr zu verlieren hätte.“
Bruder gibt nur ein Murren von sich. Fast im gleichen Moment stehen wir auf, ich kralle meine Hand in seinen Arm und ziehe ihn die Treppen nach oben. Obwohl wir uns beide Gedanken machen und unsere Eltern zur Rede stellen würde, zwinge ich mich dazu einen Film anzuschalten und verschließe die Zimmertür. Somit verbringen wir die Nacht damit, uns alte Filme anzusehen und uns abzulenken. Er wird von mir genervt weil ich ihm Zöpfchen ins Lockenhaar flechten will und er schmeißt mich mehrmals mithilfe eines einzigen Treffers mit dem Kissen aus dem Bett. Schließlich schlafen wir an einem undefinierbaren Zeitpunkt ein, kurz davor stelle ich mir nicht zum letzten mal die Frage, warum wir nochmal getrennte Zimmer haben. Das Gespräch unserer Eltern habe ich längst vergessen.
Die nächsten Tage vergingen schnell und ohne irgendwelcher weltbewegender Ereignisse. Ich und Mischa gingen meistens in den Wald oder in den Schwimmbad, weil es in dieser Woche besonders heiß ist. Im allgemeinen bin ich mit Mischa zusammengeschweißt. Wir lesen nebeneinander, zocken zusammen, schlafen meistens im Garten oder in einem von unserem Zimmer gemeinsam ein. Mehrmals erwische ich ihn dabei, wie er mit zusammengezogenen Augenbrauen nachdenkt, wohl an Vaters aussage. Drei Tage vor der Abreise verkündet dieser uns beim Frühstück, das in Neuseeland milde Wetterbedingungen herrschen, wir jedoch trotzdem Badesachen mitnehmen sollten. Gleich danach wollen wir uns dran machen unsere Koffer zu packen, doch als ich gegen Mittag fertig bin und in Mischas Zimmer reinschaue, sitzt er gegenüber vom Koffer, auf einem riesigen Wäschehaufen und ließt. Nachdem ich ihn zusammengeschissen habe mache ich mich selbst dran, während er mich unterhällt.
„Wusstest du, das die Golden Gate Bridge der beliebteste Ort für Selbstmorde ist?“ Ich hoffe das war eine Rhetorische Frage, doch schon nach wenigen Sekunden der Stille lugten seine Gewitteraugen über dem Buch hervor.
„Mh Mischa! Das weiß doch jeder. Was ließt du eigentlich?“
„Wenn das jeder weiß, warum ich dann dann erst jetzt?“ Still legt er sein Lesezeichen ins Buch und gibt es mir. 'Zehn Gründe, die Todsicher fürs Leben sprechen', na super. Das Cover ist schön.
„Klingt depressiv?“ Mit hochgezogener Augenbraue gebe ich ihm das Buch wieder.
„Es ist genial. Packs mit ein, kannst es am Arsch der Welt lesen.“ Er legt das Buch auf den offenen Deckel des altmodischen Koffers und streckt sich genüsslich aus.
„Was denkst du du bis jetzt eigentlich von Neuseeland? Wir waren noch nie an der Südhalbkugel.“ Ignoriere ich seine Aussage und setze mich im Schneidersitz am Fußende hin, seine Sachen ordentlich zusammenpackend, ihn im Stillen beobachtend.
„Weißt du, wenn ich in Amerika leben würde wär' die Golden Gate der letzte Ort an dem ich Selbstmord begehen will.“ Wie kommt er denn jetzt darauf?
„Wie kommst du denn jetzt darauf? Warum sagst mir das?“ spreche ich laut meine Gedanken aus und klinge bestimmt besorgter als ich es eigentlich bin. Mischa ist glücklich. Glücklicher als ich. Er passt sich nur zu sehr den Büchern an die er gerade ließt. Die Srme hinter seinem Kopf überkreuzt, setzt er sein überheblichstes Grinsen auf.
„Na ich sag's dir damit du kommst und mich rettest. Mich von hinten anspringst und umarmst, so wie die Jahre davor. Und am Ende sterben wir beide. Klingt das nicht toll?“ So wie die Jahre zuvor. Wie süß. Aber wieso fängt er jetzt mit dem Thema an, verdammt?
„Du bist doch so ein blöder Spinner, Mischa!“
„Soll das heißen du würdest mich nicht retten?“ Spöttisch zieht er seine Mundwinkel nach unten.
„Das soll heißen das du ein Spinner bist. Wenn du dich dazu entschließt an 'nem Ort wie der Golden Gate runter zu springen würde ich mich dazustellen. Aber du hast eben gesagt das es der letzte Ort wäre, also hat sich das ja geklärt.“ An seinen Augen kann ich ablesen, das er enttäuscht ist. Vielleicht hat er ja eine dramatische Rede erwartet, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist meine Laune jetzt im Keller. Mürrisch packe ich weiter, stehe auf und werfe vom Schrank noch weitere Sachen rein, ein paar Pullover, dann noch Socken und Unterwäsche, Bücher, Gegenstände von denen ich weiß das er sie brauchen wird. Binnen fünf Minuten bin ich fertig und mache mich dran das Zimmer zu verlassen.
„Lari?“ hält mich die Stimme meines Bruders auf. Ich drehe mich kurz um. Mischa scheint verunsichert zu sein. Die eine Hand in seinen Schulterlangen Lockenhaar vergraben, die andere unter seinem Shirt, sieht er aus wie ein Gott.
„Was gibt’s?“ geb' ich nur zurück, meinen Körper schon der Tür zugewandt.
„Willst du gehen?“ fragt er unnötigerweise. Schnell merkt er den wie unsinnig das klingt und verbessert sich: „Warum?“
„Weil du ein Idiot bist.“ Graue Augen mustern mich besorgt. Die Hand, die an seinem Bauch war, kratzt nun laut Bartstoppeln.
„Warum bist du beleidigt?“ Er setzt sich auf und sieht und sieht so knuffig aus, wie Jungs es nur in einer Situation, in der sie den Faden verlieren sein können.
„Warum redest du lauter Blödsinn?“ frage ich zurück und verschwinde aus dem Zimmer, verschließe mich in meinem und höre Musik. Kurz muss ich weinen, weil die Vergangenheit wieder hervorkommt, doch ich fasse mich schnell wieder. Soll er doch.
Ich suche nach allen möglichen Mitteln mich zu unterhalten, doch da ich das meiste mit Mischa tue, muss ich mich des öfteren dazu zwingen nicht zu ihm zu gehen. Vater hatte recht, die Stimmung hier ist verdammt angespannt, und wären wir nicht so scharf darauf zu hören was unsere Eltern uns für ein Geheimnis zu entlüften haben, würden wir tatsächlich hier bleiben. Mich würde es nicht wundern, wenn ich in irgendeiner weise auf Vater wütend wäre und meine Eltern eines Tages streiten höre, schließlich zicken sich in dieser Woche alle gegenseitig an hier.
Ich muss meine Gedanken auf etwas anderes Bringen, mich auf die nächsten drei Monate konzentrieren, alles, nur nicht die Vergangenheit.
Ich habe keine Ahnung was in Neuseeland auf uns wartet, doch da Vater uns erklärt hat wie viel man dort unternehmen kann, habe ich keine Angst mich dort zu langweilen. Ich kämpfe mit mir selbst. Nicht nur wegen Mischa. Ich hoffe wir finden dort Freunde, doch andererseits will ich das auf keinen Fall, weil wir wieder abreisen werden und es genau so wird wie mit den alten Freunden als London. Die Nachricht, das wir nicht in unsere Heimatstadt fahren konnten, nahmen sie ziemlich gelassen auf, doch ein Wunder war es nicht. Schließlich hatte sie die Lücke, die nach unserem Umzug entstanden war, bestimmt wieder gefüllt. Wenn wir nur das selbe in Neuseeland könnten …
Fast eineinhalb Stunden später ist mein Zimmer aufgeräumt. Ich räume immer auf wenn ich nichts besseres zu tun habe. Und wenn ich gerade Dinge verdrängen oder bearbeiten will. Ich weiß nicht wieso, doch meine Ordnung gefällt mir nicht. Ich würde am liebsten alles wieder so haben wie es war. Die Tassen, die ich verwendet habe, gehören da hin, alles, was auf Mischa hindeutet, vermisse ich. Ich würde wieder mit mir selbst kämpfen, zu ihm zu gehen, doch als würde er meine Gedanken lesen, klopft er selbst an. Ich schalte die Musik aus und mache auf. Er lehnt mit seinen 1,92 Metern am Türrahmen und weiß wohl selbst nicht wie goldig er aussieht. Nachdem ich ihn für eine Weile gemustert habe, wende ich den blick von ihm ab und betrachte stattdessen die warme, hellbraun gestrichene Wand.
„Is alles wieder okay?“ fragt er ruhig.
Ohne es zu wollen, füllen sich meine Augen wieder mit Tränen und ich erinnere mich wieder an den Tag, an dem ich meinen Bruder vor einem Sprung in die Tiefe gerettet habe. Denn wie er es angedeutet hatte, habe ich mich auf ihn gestürzt und habe ihn umarmt, ihn so davon abgehalten.
„Ach komm schon Lari,“ beginnt er wieder, und beginnt mich an den Oberarmen zu streicheln. „Ich hatte es doch nicht so gemeint. War nur'n Spaß.“
„Aber das ist kein Spaß, du Idiot!“ schreie ich ihn an und boxe ihm in den Bauch. Vollkommen unbeeindruckt schaut er mir weiterhin in die Augen.
„Dir ist doch hoffentlich klar, das ich nicht daran gedacht habe, oder?“ Während er das sagt hält er sich die eine Hand an den Bauch und die andere schlaff neben seinem Körper. Seine wärme fehlt mir.
„Aber hatten wir damals nicht abgemacht, das wir es nie wieder erwähnen?“ krächze ich unter tränen. Er sieht scharf die Luft ein und fast sich in die Haare.
„Deswegen sagte ich doch, das ich es nicht absichtlich gesagt habe!“ schreit er jetzt. Unerwartet ob der Lautstärke zucke ich zusammen.
„Wieso kannst du nicht einfach wie jede andere Frau nachgeben und mich umarmen?“ Fragt er wieder ruhiger. Ich habe aufgehört zu weinen und weiß nicht, wohin mit meinen Armen.
„Vielleicht weil wir das falsche Verhältnis zueinander haben und es nicht die richtige Situation dafür ist.“ Trotzdem breite ich stumm die Arme aus, woraufhin er sofort den kleinen Schritt bis zu mir macht und die Aufforderung annimmt. Von der Seite könnten wir komisch aussehen, ich bin schließlich fast zwanzig Zentimeter kleiner als er, und trotzdem schafft er es irgendwie sein Kinn an meiner Schulter abzustützen, während ich meine Arme und seine Schultern schlinge. Alles in allem ist er der wohl süßeste große Bruder den man haben kann und ich verdränge seine vorherige Aussage einfach.
Die sieben Tage vergingen viel zu schnell. Uns wurde empfohlen früh ins Bett zu gehen, weil wir schon um vier Uhr morgens aufstehen müssen, doch die Nacht ist heißer als alle anderen, fast 30°. Ich höre, wie sich mein Bruder im anderen Zimmer hin und her wälzt. Als ich mir sicher bin, das beide unserer Eltern schlafen, ziehe ich mich an und will gerade zu ihm gehen, doch da sehe ich, dass er wohl das gleiche vorhatte, denn er steht ebenso wie ich angezogen im Flur. Weil wir angst haben unsere Eltern zu verpassen, gehen wir nicht in den Wald. In unserem Garten gibt es einen kleinen Pool, dem vorgestern das Wasser ausgelassen wurde, doch er bietet immer noch eine tolle Abkühlung. Mir fällt auf das wir ihn noch nie richtig benutzt haben. Schnell trage ich ein paar Decken von der Terrasse hinüber, während Mischa nach einer möglichst trockenen Stelle sucht.
Die Nacht verbringen wir damit, uns vorzustellen, wie es in Neuseeland wohl sein wird. Ich verrate ihm, das ich mir insgeheim wünsche dort Freunde zu finden.
„Ich weiß. Ich hoffe es irgendwie auch. Andererseits hoffe ich es nicht, wir bleiben ja nur diese drei Monate dort.“
„Das gleiche denke ich auch immer. Wenn wir Freunde finden, verfliegt die Zeit als wären es Wochen. Wenn nicht, als wären es Jahre.“ Es entsteht eine kurze Pause.
Was während der Pause passiert ist: Ich realisiere das ich gerade etwas sehr, sehr schlechtes gesagt habe. Mischa zieht sich zurück. Ist beleidigt aber vor allem traurig. Das kann ich in seinen Augen sehen.
Er macht Anstalten zu gehen. Versucht sich aufzurappeln. Ich bin schneller und ziehe ihn wieder hinunter zu mir. Erst da sehe ich, das er Tränen in den Augen hat.
Der Grund ist Alex.
Alex und er waren unzertrennlich, seid der Kindheit. Sie lernten sich kennen, als Alex mir mit einer kleinen Schaufel eins Übergezogen hat, und Mischa sich daraufhin mit ihm geprügelt hat. Die Zeit verging. Als wir dann alle langsam zu Erwachsenen wurden begann Alex immer mehr zu wollen, einer, der nie genug vom Leben haben konnte, während Mischa nur Alex hatte, Alex und seine Bücher. So gesehen waren sie die typischen besten Freunde. Alex war weiß, Mischa Schwarz. Ich brachte Alex mit meinen Leuten zusammen, wir zerrissen einander die Kleider, färbten die Haare. Ja, Alex war nicht nur Mischas bester Freund. Mischa hatte es wirklich am schlimmsten, denn wir entzogen uns ihm beide. Er war derjenige, der in seinem Zimmer saß und auf uns wartete, während wir London unsicher machten. Ich gebe zu, ich habe an ihn gedacht, hatte ein sehr schlechtes Gewissen, aber er war einfach nicht für solche Dinge geschaffen. Das wussten wir alle, waren uns im geheimen einig, das wenigstens er nicht beschmutzt werden sollte. Der Höhepunkt des ganzen kam, als ich mit Alex geschlafen hatte, obwohl ich nichts von ihm wollte. Ich wusste nicht, das er in mich verliebt war, und auch nicht, wie man sonst mit so einer Situation zurecht kommen sollte. Gleichzeitig konnte keiner wissen, wie sich die Lage ändern würde. Das war die Zeit in der ich merkte, das ich so war wie Mischa, doch nur weil es so war, hieß das nicht, das ich es auch einsehen sollte, oder? Ich fühlte mich zum ersten mal mit ihm verbunden, denn ich wollte das alles auch nicht.
Alex begann, die Gruppe zu führen, und er stieß mich aus. Wir waren Partygänger, Rebellen, die die Furcht, den Abscheu, die Verachtung und den Respekt der anderen genossen. Doch er führte sie zu den harten Drogen, zu den dreckigen Geschäften. Er hat sie alle umgebracht. Letzten Endes finde ich es gut, das er mich ausgestoßen hat. Und es wäre gut zu sagen, das Alex am ende gestorben ist, doch er lebt. Vielleicht heute noch.
Wieso kann ich Dummkopf bloß nicht den Mund halten?! Ich setze mich halb auf ihn und umarme ihn richtig fest. Er vergräbt sein Gesicht in meinem welligen Haar und ist bedrohlich still. Nur das vibrieren seiner Brust verrät, wie sehr er gerade mit sich kämpft um nicht zusammenzubrechen.
„Komm schon Mischa, lass es raus.“ doch er schüttelt nur den Kopf. Schließlich sitzen wir so da. Ich streiche ihm für ungewisse Zeit gegen den Kopf und sage gar nichts. Wir hören einfach nur dem zirpen der Grillen zu, erinnern uns an alte Zeiten. Schließlich beginnt er zu reden, beginnt mit unnötigen fragen. Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Doch nach einer geraumer Zeit verstummt er wieder.
„Bin ich dir lästig?“ fragt er, als es schon dämmert. Ich schaue ihn an.
„Wie kommst du denn darauf?“ Er schaut zurück.
„Na weil du dir jemanden zum reden wünschst. Ich meine, wir reden ja ziemlich viel, manchmal frage ich mich, ob ich dir lästig bin, weil eben nur ich da bin, immer da bin.“ Es herrscht eine Zeit lang stille.
„Ich hab dich lieb.“
Er schüttelt den Kopf. „Das beantwortet aber nicht meine Frage.“
Mit entweicht ein seufzen. Erst jetzt merke ich, wie müde ich eigentlich bin. Ich stehe auf und hole noch eine Decke aus dem Wohnzimmer. Anders als ich erwartet hatte, wartet er hellwach auf mich. Ich setze mich neben ihn und decke uns zu, schiebe seinen Arm über mich und lehne meinen Kopf an seine Brust. Gemeinsam schauen wir auf die letzten Sterne der verschwindenden Nacht.
„Ich hab dich lieb, du bist, warst und wirst mir niemals im Leben lästig sein.“ sage ich nachdem auch der letzte Stern verschwunden ist. Unerwartet gibt er mir einen Kuss auf die Stirn. Ich dachte er ist eingeschlafen.
Mutter weckt uns um halb fünf. Nachdem wir wir uns noch umgezogen hatten, nehmen wir ein karges Frühstück zu uns. Wir hatten die Koffer schon einen Tag davor hinunter geschleppt. Letztendlich fahren wir mit dem Taxi nach München. Während sowohl ich, als auch mein Bruder kaum die Augen offen halten können und uns an dem kühlen Klima im Airport ergötzen, kann Mutter kaum still sitzen. Unser Flug würde erst in einer halben Stunde gehen und ich höre Mischa schon leise neben mir im Schlaf murmeln. Immer wieder sehe ich zur Uhr, doch sie scheint in Schneckentempo voranzugehen. Somit lehne ich mich an Mischas Schulter und wagte ebenfalls ein Nickerchen. Mutter weckt uns, als ich kaum zehn Minuten geschlafen habe.
„Ihr könnt auch genug im Flugzeug schlafen,“ warnt sie uns. „Ich habe keine Lust euch hinter mir her zu schleifen, also reißt euch zusammen!“
Träge setze ich mich auf und sehe aus den Augenwinkeln, das Mischa sich die Augen reibt.
„Wie lang würde denn der Flug dauern?“ wendet er sich, unsere hysterische Mutter ignorierend, an Vater.
Der hat sich inzwischen eine Zeitung gekauft und sitzt, uns gegenüber, die Beine übereinander, lesend. Er schaut nicht auf, als er zu erklären beginnt.
„Unser Flug nach Dubai wird acht Stunden dauern. Dann wird knapp zwei stunden später der Flug nach Sydney starten. Ich dachte mir, das wir die Zeit gut nutzen könnten indem wir eine Dusche nehmen. Etwas essen natürlich auch.“ Er faltete sorgfältig die Zeitung zusammen.
„Der Flug nach Sydney wird lange dauern. Wenn ich mich nicht irre, genau fünfzehn stunden. Deswegen wurdet ihr heute von uns gebeten, lockere Kleidung und Unterhaltungsgegenstände in die Handtaschen einzupacken.“ Er schaut mich an.
„Hast du dafür gesorgt Larissa?“
Ich nicke. „Sowohl für mich, als auch Mischa. Spiele und Bücher. Deshalb trägt Mischa die Tasche.“ Er nickt ebenfalls.
„Das ist sehr gut. Ich rate euch auch, während dem Flug nach Dubai möglichst nicht zu schlafen und euch zu beschäftigen. Fünfzehn stunden werden für euch beide lang genug sein, um auszuschlafen. Ich würde euch raten, in Dubai Stützstrümpfe anzuziehen, denn obwohl ihr noch Jung seid, könnt ihr Probleme mit der Durchblutung bekommen. Wie auf allen Reisen sollt ihr viel trinken. Habt ihr noch Fragen?“
Nacheinander wurden wir von vier Augenpaaren angestarrt. Beide nicken wir. Knapp fünf Minuten später kommt die Durchsage der leitenden Flugbegleiterin, dass das Flugzeug nach Dubai jetzt Abflug bereit wäre. Und schon hetzt Mutter uns wieder. Wir sind überglücklich darüber, das unsere Sitze weder neben, noch überhaupt in der Nähe unserer Eltern sind.
„Wollen wir denn jetzt wirklich irgendwas machen oder schlafen?“ wende ich mich an Mischa, der interessiert den Flugarbeitern zusieht – er sitzt am Fenster.
„Na ich würde am liebsten schlafen.“ beantwortet er meine Frage ohne aufzuschauen.
Genervt murre ich „Ich doch auch!“
Endlich wendet er sich vom Fenster ab und grinst mich an. „Na dann werden wir eben schlafen, Larilein.“ Sein Grinsen ist ansteckend und somit ist es eben beschlossen. Wir machen es uns gemütlich und ich hole zwei von seinen Pullovern hervor, weil es uns doch etwas kalt wird. Wir schlafen ein, noch bevor die aufgetakelte Stewardess mit ihren Sicherheitshinweisen beendet hat.
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2013
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