Erinnerung
Franz sitzt am Strand von Jesolo und schaut auf das Meer. In weiter Ferne sieht er ein Schiff, dass langsam am Horizont verschwindet. Seine Gedanken wandern
durch das letzte Jahr. Was ist geschehen?
Franz besitzt eine kleine KfZ Werkstätte mit vier Mechanikern und einer Sekretärin, die halbtags die Büroarbeit erledigt.
Seine Frau hat ihn verlassen, mit einem anderen durchgebrannt.
Franz erinnert sich:
Nach der Scheidung, seine Tochter Anna blieb bei ihm, trat Franz einem wohltätigen Verein bei.
Obwohl er den ganzen Tag in seiner Firma arbeitete, wollte er am Wochenende noch was Gutes tun. Er half bei der Essensausgabe für Obdachlose. Franz wurde von allen gemocht. Er war eine gute Seele.
Auch mit seiner vierzehnjährigen Anna schien es keine Probleme zu geben.
Sie war in der Schule unauffällig und brachte gute Noten nach Hause. Franz war zufrieden.
Eines Tages jedoch, kam Anna nicht nach Hause.
Franz hatte wie immer das Essen gekocht und wollte mit seiner Tochter einen ruhigen Abend verbringen.
Beim Abendessen wurde immer über den Tag gesprochen.
Anna erzählte von der Schule, Franz von seiner Arbeit.
An diesem Abend war es schon nach 17 Uhr. Langsam begann sich Franz Sorgen zu machen. Seine Tochter war sonst immer pünktlich.
´Ich werde noch ein bisschen warten, dann rufe ich ihre Freundin Laura an. Vielleicht hat sie den Bus verpasst`, denkt sich Franz.
Um 18 Uhr war Anna noch immer nicht zu Hause. Ihr Handy war ausschaltet.
Laura, ihre beste Freundin, wusste auch nicht wo Anna sich aufhielt. Sie war nicht im Bus, erzählte das Mädchen.
Franz war in großer Sorge. Er setzte sich ins Auto und fuhr zur nächsten Polizeistation. Hier konnte man ihm keine Auskunft geben. Das Mädchen wurde erst seit einer Stunde vermisst. Er werde schon Bescheid bekommen, wurde Franz mitgeteilt.
Wieder im Auto, legte Franz seinen Kopf auf das Lenkrad und die Tränen rannen ihm über das Gesicht.
Er machte sich Vorwürfe: Hab ich was falsch gemacht? Hab ich was übersehen?
Hab ich zu wenig Zeit mit ihr verbracht? Hat sie mir was verschwiegen?
Fragen auf die er keine Antworten fand.
Er fuhr ins Krankenhaus, auch dort konnte man ihm nicht weiter helfen. Kein Mädchen war in den letzten Stunden eingeliefert worden.
Wieder zu Hause, setzte sich Franz an den Esstisch, der noch immer für zwei gedeckt war.
Sein Magen verkrampfte sich und er musste sich übergeben.
Wo ist Anna? Sie muss doch nach Hause kommen. Franz legte sich auf die Couch. Die Augen fielen ihm zu. Er träumte von Anna, sah sie von einem Auto überrollt, oder in den Händen von Vergewaltigern.
Um fünf Uhr morgens wachte er mit steifen Gliedern auf. Sofort fiel ihm das Entsetzliche wieder ein. Mit langen Sätzen lief er in Anna`s Zimmer.
`Vielleicht ist sie inzwischen da`, denkt er hoffnungsvoll.
Franz warf sich auf sich auf das unbenützte Bett und schrie laut.
´Nein, nein, das kann nicht wahr sein.´ Seine Tränen tropften auf das Polster, in dem noch immer der Duft von Anna `s Haaren war.
Er nahm eine heiße Dusche und fuhr wieder zur Polizei. Keine neuen Nachrichten. Immerhin wurden die Daten aufgenommen. Auch im Krankenhaus nichts Neues.
Franz fuhr zu seiner Werkstatt und erzählte seinen Mitarbeitern, dass Anna verschwunden war.
Niemand hatte sie gesehen.
Franz rief in der Schule an. Vielleicht gab es da einen Anhaltspunkt.
Der Direktor, Herr Schwarz, versprach mit den Schülern zu reden. Eine Stunde später rief er Franz an, er möge bitte in die Schule kommen.
Herr Schwarz saß an seinem Schreibtisch und ein Mitschüler namens Lucas stand vor ihm, als Franz eintrat.
Sein Herz schlug bis zum Hals. Was würde er jetzt hören?
„Jetzt erzähl uns mal, was du beobachtet hast, Lucas“, sagte der Direktor.
„ Also, ich habe Anna in ein schwarzes Auto steigen sehen, und das nicht zum ersten Mal. Fast jeden Tag wird sie von der Schule abgeholt. Im Auto sitzt ein junger Mann, so um die 25 Jahre. Er küsst Anna zur Begrüßung und dann fahren sie weg.“
Franz musste sich setzen. Sein Herz fing an zu rasen. Er zitterte am ganzen Körper. Er hatte Nichts gewusst.
„Aber Anna ist doch immer pünktlich nach Hause gekommen und sie hat mir nie was von einem Freund erzählt“, bringt Franz endlich hervor.
„Leider kann ich nicht mehr sagen“, meint Lucas
„Vielleicht kann die Polizei jetzt etwas damit anfangen.“
Der Direktor hob bedauernd die Schultern.
Langsam verließ Franz den Raum und machte sich wieder auf den Weg zur Polizei.
Er erzählte den Beamten, was Lucas gesehen hatte und ein Protokoll wurde aufgenommen.
Wieder in seiner Werkstatt angekommen, versuchte er seine Exfrau zu erreichen. Nur die Mailbox.
Auch am nächsten Tag und am Tag darauf, und in all den folgenden Tagen.
Anna blieb verschwunden.
Die Polizei hatte alles abgesucht, nirgends eine Spur von seiner Tochter.
Er war traurig und sein Herz war wie versteinert. Sein herzliches Wesen mit Menschen umzugehen war weg.
Monate vergingen. Franz hatte sich immer mehr bei seinem Verein nützlich gemacht. Er wollte am Wochenende nicht alleine sein.
Seine Kollegin Elsa versuchte ihn immer wieder zu trösten. Elsa mochte Franz schon lange. Sie liebte ihn heimlich und wollte ihm helfen.
Aber Franz hatte die Hoffnung schon aufgegeben.
Franz und Elsa hatten viel zu tun. Im Winter kamen die Obdachlosen in Scharen. Für eine heiße Suppe mussten sie oft lange warten.
Elsa hatte mit ihrer ruhigen Art das Vertrauen von Franz gewonnen.
Die beiden sprachen viel miteinander und Franz fühlte sich wohl in ihrer Nähe.
Heute wollte er sie nach Dienstschluss ins Kino einladen. Aber noch gab es viel zu tun.
Viele von den Obdachlosen kannten Franz und sein Schicksal. Da waren Peter, Jakob und Josef und auch Maria und Sophie. Viele von ihnen sprachen nicht.
Sie nickten zum Dank nur mit dem Kopf.
Franz reichte jedem eine volle Suppenschale. Wieder kam eine junge Frau mit zottigen, schwarzen Haaren an seine Theke. Ihre Augen blickten Franz traurig an. Sie nahm ihre Suppe und ging weiter.
Das Mädchen setzte sich an einen freien Tisch und begann langsam ihre Suppe zu löffeln. Niemand von den anderen beachtete das Mädchen.
Elsa und Franz begannen das Geschirr abzuräumen. Das Mädchen saß noch immer alleine am Tisch. Franz setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand.
Er sah am linken Daumen ein Muttermal. Es wurde ihm ganz heiß. Seine Tochter Anna hatte auch ein solches Muttermal. Er hob den Kopf und blickte in die traurigen Augen des Mädchens. Das ist meine Anna, dachte er. Er sprang auf und lief zu Elsa.
„Das ist meine Anna“, sagte er laut.
„Das glaub ich nicht, Anna war doch blond“ meinte Elsa.
„Ich habe ihre Augen gesehen und das Muttermal auf der Hand. Sie ist es. Warum erkennt sie mich nicht?“
Er läuft zu dem Tisch und nimmt das Mädchen bei der Hand. Elsa streicht die Haare zur Seite und blickt Franz an.
„ Es ist Anna,“ sagt sie leise.
„Anna, erkennst du uns nicht. Was ist los?“
Franz kann nicht glauben, dass er seine Tochter wieder gefunden hat. Er ist außer sich vor Freude und Sorge, warum ihn Anna nicht erkennt. Jetzt sieht er auch wie schmutzig ihre Kleidung ist.
„Wir bringen sie ins Krankenhaus“, sagte Elsa resolut. „Dort kann man ihr helfen“
Schnell wurde Anna in das Krankenhaus gebracht. Dort wurde sie untersucht.
Franz und Elsa warteten lange bis endlich ein Arzt auf sie zukam.
„Ihre Tochter steht unter Drogen. Sie kann sich an nichts erinnern. Wir müssen sie ein einige Tage hier behalten damit wir ein paar Tests durchführen können. Sie können jetzt für ein paar Minuten zu ihr“, meinte der Arzt freundlich.
Franz konnte sein Glück nicht fassen. Er hatte seine Tochter wieder. Elsa freute sich mit ihm.
Nach ein paar Tagen ging es Anna besser. Franz besuchte sie jeden Tag und konnte sie nach einer Woche mit nach Hause nehmen.
Eines Abends saßen Elsa, Franz und Anna bei einer Tasse Tee und Anna begann zu erzählen:
„Ich hatte einen Freund Martin. Er war schon 25 und ich war total verliebt. Er holte mich immer von der Schule ab und brachte mich pünktlich nach Hause. Ich traute mich, es niemanden zu erzählen.
Eines Tages nahm er mich mit zu seinen Freunden. Dort muss mir jemand etwas in mein Getränk gegeben haben. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Als ich wieder zu mir kam war ich in einem Raum eingesperrt. Noch ein anderes Mädchen war bei mir. Susi. Sie war so böse. Sie färbte meine Haare schwarz.
Viele Wochen wurde ich dort festgehalten. Immer wieder wurden mir Drogen gegeben. Irgendwann ließen sie mich frei und ich landete auf der Straße. Die Obdachlosen haben mich mitgenommen.“
Nachdem Anna ihre Geschichte beendet hatte, liefen Franz und Elsa die Tränen über die Wangen.
Heute gönnt sich Franz einen Urlaub mit seiner Tochter Anna.
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2013
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