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Leseprobe

Wie kommt das Neue in die Welt? Die Zeit, so scheint es, reißt alles mit sich, was nicht gut befestigt ist. Aber den entsprechenden „Morgen nach dem Sturm“, der das Freigelegte und das vom Wind neu kombinierte Alte zum Vergleich anbietet, gibt es nicht. Die Gegenwart ist keine, wenn sie nicht unübersichtlich ist. Die Texte und Interviews in diesem Heft lassen diesen Wirbel spüren, ein bewegtes Jetzt erahnen, und wir sind schon gespannt, sie einmal im Rückspiegel zu lesen, wenn unser Heute zum Gestern geworden ist.

die Redaktion

Franz Müller Ihr seid ein Filmemacher-Kollektiv, das im Kern aus vier Personen besteht: dem Regisseur Mariano Llinás, dem Kameramann und Theaterregisseur Agustín Mendilaharzu, die leider nicht hier sein können und euch beiden, Laura Citarella, Regisseurin und Produzentin, und Alejo Moguillansky, Regisseur und Cutter. Ezequiel Pierri ist als freier Produzent eine Art Satellit in eurer Gruppe. Wie habt ihr euch getroffen?

Alejo Moguillansky Mariano und ich haben uns an der Film-Universität kennengelernt. Mariano arbeitete gerade an seinem ersten Film, Balnearios (2002). Er war dabei, eine Produktionsweise ohne staatliche Gelder zu entwickeln. Das hatte mehrere Gründe, auf die wir bestimmt noch zu sprechen kommen werden. Mit Balnearios begann unsere Zusammenarbeit. Am Anfang haben wir uns viel gestritten, wir wurden aber schließlich enge Freunde. Und dann kam Laura dazu und gab unserem Chaos eine Struktur.

Laura Citarella Mariano hatte einen Preis gewonnen, um seinen ersten Film zu machen. Und da sagte wohl jemand zu ihm: Warum gehst du nicht zum INCAA (Instituto Nacional de Cine y Artes Audiovisuales), der staatlichen Einrichtung zur Filmförderung in Argentinien. Er ging also dorthin und fand eine Welt vor, mit der er nichts zu tun haben wollte. Also entschied er sich, den Film mit zwei oder drei Leuten zu machen. Er war mein Dozent an der Universität. Dort machten wir einen Kollektivfilm namens El Amor (primera parte), bei dem vier Leute Regie führten. Ich war Regieassistentin und Mariano eine Art Betreuer für uns. So habe ich angefangen, mit Mariano zusammenzuarbeiten. Danach begannen wir mit Historias extraordinarias, und das war glaube ich der Moment, in dem wir kein System, aber einen sehr besonderen Weg der Zusammenarbeit fanden, in dem „El Pampero Cine“ endlich seine Struktur und Organisation bekam. Mit Historias extraordinarias wurden Mariano, Alejo, Agustín und ich zu einer festen Gruppe.

Franz Müller Die Förderstruktur in Argentinien lässt sich mit der deutschen Filmförderung mit BKM, FFA und regionaler Förderung vergleichen. Für keinen eurer Filme habt ihr jemals INCAA-Förderung beantragt?

Laura Citarella Für keinen.

Franz Müller Warum habt ihr entschieden, euch nicht auf die großen Töpfe zu bewerben?

Laura Citarella [lacht] Das hat viele Gründe. Es gibt eine traditionelle Art Filmproduktion zu denken, die einer vertikalen Struktur ähnelt und bei der es jemanden gibt, dem der ganze Zirkus quasi gehört. Es hat auch mit Geld zu tun, dass die Filme zu einem Produkt werden, das man verkaufen muss. In dieser Struktur muss man sich mit vielen Dingen auseinandersetzen, die nichts mit Kino zu tun haben. Ein Grund ist vielleicht, dass wir nicht denken, dass ein Film ein verkäuflicher Gegenstand ist. Das ist vielleicht ein politischer Grundsatz, dass wir Filme so machen wollen, dass sie kein Produkt sind, sondern etwas anderes werden.

Alejo Moguillansky Ja, es geht darum, die industriellen Strukturen zu vermeiden. Und darum, diese Verrücktheit zu vermeiden, die in jeder Institution passiert: dass der Filmemacher über seine Idee nachdenkt, Drehbuchförderung beantragt, ein Jahr lang das Drehbuch schreibt, dann Gelder für die Vorproduktion beantragt, ein weiteres Jahr lang den Film vorproduziert, und dasselbe für den Dreh, und am Ende hat der Filmemacher in vier Jahren vielleicht vier Wochen hinter der Kamera verbracht. Das ist der Fehler des industriellen Systems. Man denke nur an Charlie Chaplin. Chaplin hat jeden Tag im Jahr gedreht, sie hatten ihr eigenes Studio und drehten ständig.

Franz Müller Aber das war doch ein industrielles System bei Chaplin. Ich weiß nicht, ob das, was du beschreibst, eine Industrie ist.

Laura Citarella Es ist die heutige Industrie.

Franz Müller Ich weiß nicht, ob man ein Fördersystem ein industrielles System nennen kann. Hat euer Verzicht auf die großen Fördertöpfe vielleicht auch damit zu tun, dass die Filmförderung auf ausgearbeiteten Drehbüchern beruht? Manchmal beruht ein Film aber nur auf einer Bildidee oder etwas anderem Ungreifbaren, das man überhaupt nicht niederschreiben kann.

Laura Citarella Ja, weil es eben doch auch eine Art von Industrie ist, die Arthouse-Industrie, in der man Gelder auftun kann und wo man sich selbst mehr verkaufen muss als seinen Film, um die Leute zu überzeugen, dass man die Beste ist und das Geld verdient. Und dann gibt es andere Gelder, für die man seinen beinahe fertigen Film einreicht, was ich für gerechter halte. Aber auch um diese Art von Mitteln existiert eine Industrie, mit Filmfestivals usw., weil sich viele Filmemacher darum bemühen. Um ein offensichtliches Beispiel zu nennen: Südamerika ist…

Alejo Moguillansky … Armut.

Laura Citarella Genau. Ihr Europäer mögt es, zu sehen, wie es in unserer Region zugeht. Also schreiben die Leute hier Filme darüber, nur um an die Mittel zu kommen. Es gibt gewissermaßen einen Mangel an Freiheit in diesem Prozess. Vielleicht ist der Mainstream – jetzt sage ich etwas –, vielleicht ist Hollywood am Ende ehrlicher, weil eindeutiger.

Franz Müller Für mich sind eure Filme das Gegenteil dieser Art von World Cinema, das durch alle Länder tourt. Ich mag auch Lisandro Alonsos Filme, aber er macht in gewisser Weise Filme für diesen Markt, der nicht wirklich ein Markt ist, für das Fördersystem, und das sieht man den Filmen an. Und das wiederum schätze ich an euren Filmen: sie sind frei, sie haben nicht diese…

Laura Citarella …Verpflichtungen.

Saskia Walker Bei den Festivals, für die ich arbeite, sehen wir viele frische, innovative Filme aus Argentinien. Wie ich mittlerweile verstanden habe, besteht ein Grund dafür darin, dass die private Filmhochschule Fundación Universidad de Cine, die FUC, in Buenos Aires, wo ihr euch alle getroffen habt und wo Mariano und Agustín unterrichten, allen Studierenden ein Leben lang kostenfrei Zugriff auf sämtliche Technik für Produktion und Postproduktion gewährt. Kameras, Avid, alles umsonst!

Publikum Da gibt es auch eine ideologische Dimension. Wenn ich es richtig verstehe, versucht ihr nicht, die industriellen Strukturen zu umgehen, sondern die kapitalistischen.

Alejo Moguillansky Dem stimme ich zu.

Laura Citarella Wir haben eine kollektive Struktur, keine oppressive, hierarchische.

Ezequiel Pierri Wenn man Geld von der INCAA, also Staatsgeld bekommt, muss der Film auch in seiner Herstellung einer gewissen Agenda folgen. Man muss ihn in vier Wochen drehen und nach sechs Monaten abgeben. Lauras Film La mujer de los perros musste in verschiedenen Jahreszeiten gedreht werden, und es kann sehr schlecht für einen Film sein, wenn man z.B. Kunstschnee benutzen muss, weil man nicht abwarten kann.

Publikum Wäre es interessant für euch, mit Streaming-Diensten wie Netflix zusammenzuarbeiten?

Laura Citarella Ich glaube nicht, dass Netflix an uns interessiert ist. [Gelächter] Davon einmal abgesehen versuchen wir, das Leben der Filme auf der großen Leinwand so weit wie möglich zu verteidigen. Wenn man mit Netflix zu tun hat, hört das auf. Innerhalb eines Monats steht dein Film auf einer Online-Plattform und die Leute schauen ihn sich auf ihrem Smartphone an.

Alejo Moguillansky Mehr als das. Wir versuchen die Idee zu verteidigen, dass die Freiheit eines jeden einzelnen Films absolut ist. Zum Beispiel haben wir Lauras ersten Film Ostende gedreht, geschnitten und auf einem Festival präsentiert, dem BAFICI (Buenos Aires Festival Internacional de Cine Independiente). Und nach der Premiere wies uns unser Freund Walter Jacob, der in fast allen unserer Filme mitgespielt hat, darauf hin, dass es in Ostende ein narratives Problem gibt, dass der Film hier und da eine Szene mit einem Erzähler bräuchte. Und dann haben wir – nach der Premiere des Films – diese Szenen gedreht und in den Film eingefügt. So etwas könnte man höchstens im Theater machen! Wie sollten wir so etwas mit Netflix aushandeln? Die müssten schon sehr neugierig sein. Vielleicht sind sie das ja auch, und es ist ein Vorurteil…

Publikum Du wolltest noch etwas zur Kontinuität des Erzähl- und Produktionsprozesses sagen, in Analogie zum frühen Hollywoodkino am Beispiel von Charlie Chaplin.

Alejo Moguillansky Was ich meine, ist wirklich die Idee der Freiheit. Es gibt einen schönen Dokumentarfilm darüber, wie Chaplin in den Jahren 1916/17 ein Studio und eine Menge Geld erhielt, unter der Bedingung, in, sagen wir, zwei Monaten acht Kurzfilme zu machen. Und dann haben er und seine Truppe von Schauspielern und Schauspielerinnen einfach nur gedreht und gedreht und gedreht, bis die Filme da waren. Mir gefällt diese Logik der alten Hollywood-Studios, nicht die von heute, und in gewisser Weise versuchen wir etwas Ähnliches. Bei „El Pampero“ kopieren wir im Grunde das Produktionssystem der Off-Theater von Buenos Aires. Es gibt in Buenos Aires eine große Szene von Off-Theatern, die größte weltweit. (Knapp 500 Off-Theater im Jahr 2019, Anm. d. Red.) Wenn Geld da ist, produzieren sie, wenn kein Geld da ist, produzieren sie auch. Sie müssen produzieren, denn wenn sie es nicht tun, tut es keiner. Und das Theater braucht sie. Und die Freiheit, die sie haben, ist absolut. Sie ändern Dinge von einer Vorstellung zur nächsten, sie haben eine wirklich kollektive Seele. Und eigentlich besteht das Geheimnis von „El Pampero“ darin, dieses System kopiert zu haben, mehr oder weniger dasselbe System, das Chaplin hatte. Nun ja, Chaplin hatte eine Menge Geld und „El Pampero“ hat keins [Gelächter], und die Off-Theater haben sogar noch weniger Geld als „El Pampero“.

Laura Citarella Es hat nicht nur mit der Seele des unabhängigen Theaters zu tun, sondern auch mit dieser Idee kollektiven Arbeitens, wo jeder viele Dinge gleichzeitig tut, auch die Schauspieler, die mit „El Pampero“ zusammenarbeiten und die fast zur Familie gehören. Es ist nicht so, dass wir ein Drehbuch schreiben, casten und uns dann für die Besetzung entscheiden. Nein, wir denken beim Schreiben der Filme darüber nach, wer welche Rolle spielen wird. Und dann ist da diese Form von Komplizenschaft zwischen den Leuten, die Regie führen, denen, die produzieren und denen, die spielen. Manchmal bringen die Schauspieler einfach ihre eigenen Kostüme mit. Es gibt nicht so viele Zwischenglieder, es ist nicht eine Person für dieses verantwortlich, eine andere für jenes, sondern alle entscheiden alles, wenn es ein Problem gibt. Es gibt dann keine Probleme der Produzentin oder des Regisseurs, sondern nur Probleme des Films. Es müssen also alle immer kollektiv denken. Und das ist, glaube ich, auch ein Merkmal des unabhängigen Theaters.

Saskia Walker Es gibt da eine Szene in La Flor, die Dreharbeiten zeigt, da benimmt sich der Regisseur schlecht gegenüber seinen vier Schauspielerinnen.

Laura Citarella Ja, da erscheint auch diese Figur der Produzentin, und sie behandelt die Schauspielerinnen wie ihren Besitz, wie in industriellen Strukturen.

Saskia Walker Dann war das eine Parodie, ein Pastiche?

Laura Citarella Ja sicher, das ist das Gegenteil von dem, wie wir arbeiten, obwohl Mariano Llinás als Regisseur einen sehr intensiven Charakter hat und alle sich ihm gegenüber verhalten müssen. Aber wir sind Freunde und arbeiten zusammen an einem Film und teilen die Probleme. Es ist also genau das Gegenteil.

Franz Müller Wie geht ihr damit um, wenn zum Beispiel Mariano zehn Jahre lang diesen großen Film machen will, und Alejo und du sagt beide, dass ihr auch einen Film machen wollt? Denn ihr seid ja im Kern nur vier oder fünf Leute, und ein Film wie La Flor braucht viel Energie. Wie handhabt ihr das innerhalb des Kollektivs?

Laura Citarella Während der zehn Jahre von La Flor habe ich als Regisseurin zwei Filme gemacht und Alejo fünf.

Alejo Moguillansky Am Anfang waren wir vier Leute, aber heute ist „El Pampero“ eine große Gruppe. Um uns herum gibt es viele Leute, sowie Unterfamilien innerhalb von „El Pampero“. Das ist der einzige Weg, um weiterzukommen.

Franz Müller Es ist also nie vorgekommen, dass jemand einen Film drehen wollte und jemand anderer gesagt hat: „ich will diesen Sommer drehen?“. Ich bin nur neugierig…

Alejo Moguillansky Jede Gruppe hat Konflikte. Und unsere Aufgabe besteht darin, sie zu lösen. Natürlich gibt es Streit, es wird herumgeschrien…

Laura Citarella Sehr oft sogar! [Gelächter] Wir reden lieber nicht darüber. [Gelächter] Die Lösung bestand darin, mehr Leute zu involvieren und einzuarbeiten, denn es ist nicht so einfach, à la „El Pampero“ zu arbeiten. Es reicht nicht, jemanden anzurufen. Man braucht Leute, die die Strukturen kennen und die unsere Art zu arbeiten verstehen.

Publikum Mir ist nicht klar, wir ihr eure Filme finanziert. Habt ihr noch andere Jobs? Und wie geht ihr an den Verleih eurer Filme heran? Habt ihr darüber nachgedacht, mit Sales Agents oder Verleihfirmen zu kollaborieren?

Laura Citarella Die Finanzierung ist immer sehr schwierig, für alle, nicht nur für uns, die wir nicht mit offiziellen Institutionen zusammenarbeiten. Der Schlüssel ist, sich klarzumachen, dass jeder Film eine andere Strategie braucht. Beim traditionellen Weg Film zu produzieren, sind die Schritte vorgegeben. Wir haben mehr als nur einen Weg, um das Geld für einen Film zusammenzubekommen. Es hängt von den Erfordernissen des Films ab. La Flor zum Beispiel wurde über zehn Jahre lang gedreht, aber jede Episode wurde hinsichtlich ihrer Produktion neu durchdacht. Die erste Episode wurde mit einem Preisgeld finanziert, das wir für Historias extraordinarias bekommen hatten. Für die zweite haben wir einen Deal mit einer Institution in Argentinien gemacht, wo Mariano und ich als Programmer für ein Filmfestival gearbeitet haben und unsere Honorare in den Film gesteckt haben. Für eine andere Episode bekamen wir eine Förderung vom Hubert Bals Fund. Es hängt davon ab, was man braucht – manchmal nicht viel mehr als eine Kamera und ein paar Freunde. Zudem haben wir unsere eigene Kamera, unsere eigene Technik. Wir drehen allerdings nicht mit einer Alexa, sondern mit kleinen Kameras, die von einer Person bedient werden können. Wir versuchen eine Struktur zu schaffen, für die wir nicht so viel Geld brauchen. Es geht nicht nur darum, wie wir unsere Filme finanzieren, sondern auch darum, was für Entscheidungen wir treffen.

Alejo Moguillansky Wir sparen für unsere Filme kein Geld zusammen. Alle Preisgelder werden in den nächsten Film investiert oder unter allen Beteiligten aufgeteilt. Es hängt davon ab, wie eng gestrickt unsere Budgets sind. Und was Nebenjobs betrifft: wir machen häufiger Fernseh-Dokus, wir unterrichten, wir arbeiten als Script Doctor… und wenn du Bedarf hast, streiche ich dir deine Wohnung. [Gelächter]

Laura Citarella Wir versuchen aber immer sicherzustellen, dass alle, die an einem unserer Filme mitarbeiten, genug Geld bekommen, um in dieser Zeit keinen anderen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 19.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6425-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vorwort Gespräch: La Flor & El Pampero Cine Mariano Llinás: Wie produziert man Filme ohne Staatsgeld? Nele Wohlatz: Drei Filme von Nicolás Pereda Julian Radlmaier: Kino aus der Form Dominik Graf: Direzzione Delirium Katinka Narjes: Keep Me in the Loop Interview: Bertrand Bonello Glossar Veröffentlicht am

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