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Leseprobe

Jeder Film ist ein Modell, größer oder kleiner als die Wirklichkeit. Im besten Fall hilft uns der ungewohnte Maßstab, die Welt neu zu sehen. Diese Ausgabe beschäftigt sich im wörtlichen wie im übertragenen Sinne mit Modellen und widmet dem Handwerk des make believe einen kleinen Schwerpunkt. Der Visual Effects Supervisor Alex Lemke und der Modellbauer Simon Weisse erzählen aus dem Nähkästchen der Trickarbeit, und welche Mittel unser Abstraktionsvermögen am Besten kitzeln. Die Schnittmeisterin Claire Atherton arbeitet an einer anderen Naht: Ein Film wird lebendig, in dem man seine Geheimnisse respektiert, sagt sie. Die Filmemacher Peter Liechti und Alexandre Koberidze forschen in sehr persönlichen Texten nach den Quellen des Lichts. Liechti: „Sich nicht in die Abhängigkeit eines genialen Vorbildes begeben, sondern dessen Mut und Energie als Quelle für die eigene Courage nutzen…“
In diesem Sinne:

die Redaktion

Charlotte Selb

Du bist Quereinsteigerin beim Filmschnitt. Welche Rolle spielte dabei deine erste Begegnung mit Chantal Akerman und dein Studium der chinesischen Sprache und Zivilisation, dein Interesse an taoistischer Philosophie?

Claire Atherton

Da muss man ganz von vorne anfangen. Das hat überhaupt nicht mit der chinesischen Kultur oder mit Chantal begonnen. Ich weiß nicht, warum ich schon in jungen Jahren sehr schnell unabhängig sein wollte, einen Weg gesucht habe, mich selbst zu finanzieren. Ich habe schon früh gearbeitet, verschiedene Dinge, beispielsweise für Solidarność, einen Verein zur Unterstützung der polnischen Arbeiter*innen. Irgendwann war ich auf der Suche nach einem Praktikum. Ich kannte Delphine Seyrig, die eine Jugendfreundin meiner Mutter war. Sie bot mir an, beim Centre Audiovisuel Simone de Beauvoir als Technikerin eine Ausbildung zu machen. Mir gefiel am Centre SdB, dass ich da eine Funktion, eine Rolle, hatte. Ich musste sowohl wirklich als Technikerin arbeiten, als auch organisieren und aufräumen. Und ich mochte das sehr. Ich erzähle diesen Weg hier gerne, da ich glaube, dass wir aus vielen verschiedenen Fasern bestehen. Viel öfter spreche ich über den Taoismus, da ich ihn für wichtiger halte, dabei sind die Dinge oft aus verschiedenen Schichten aufgebaut. Und wie wir nicht wissen, wie ein Leben aufgebaut ist, wissen wir auch nicht, wie ein Film aufgebaut ist. Dies entspricht meiner Lebensart: Wir können vorab nicht wissen, wo wir ankommen werden. Doch nach einer Weile blicken wir zurück und sehen all die kleinen Dinge, die uns an diesen Ort gebracht haben. Das ist doch genau so, wie man einen Film aufbaut. Zur gleichen Zeit, parallel zu meinen Jobs und zu meinem Praktikum am Centre SdB, habe ich eben auch Chinesisch studiert.

Da Delphine Seyrig die Präsidentin des Centre SdB war, bat sie mich eines Tages, Chantal bei den Aufnahmen eines Theaterstücks, in dem Delphine mit ihrer Nichte Coralie Seyrig auftrat, zu begleiten. So habe ich Chantal kennengelernt. Als wir im Theater ankamen, war ich nur darauf vorbereitet, die Schärfe zu ziehen, denn ich war damals erste Kameraassistentin (Technikerin, erste Kameraassistentin, Tontechnikerin usw., kurz gesagt, Assistentin). Und Chantal filmte. Kurz darauf sagte sie dann aber zu mir: „Mach du das ruhig, ich steh hier nicht gut.“ Und so fand ich mich im Alter von 21 Jahren dabei wieder, mit Chantal ein Theaterstück abzufilmen. Dann sagte sie: „Ich ziehe Schärfe für dich“. Ich hatte nicht einmal Zeit, Angst zu haben oder mich von der Situation einschüchtern zu lassen, obwohl ich Jeanne Dielman im Alter von 14 Jahren – immer noch die Verbindung zu Delphine Seyrig – gesehen hatte. Alles verstanden habe ich nicht wirklich. Andererseits spürte ich, dass in mir etwas vorging.

Ich war von Chantal nicht eingeschüchtert. Sie hatte so eine große Einfachheit an sich. Ich war beim Filmen nicht nervös. Wenn ich heranzoomte, um mich Delphine (filmisch) zu nähern, wollte sie das gerade sagen. Wenn ich schwenken wollte, wollte sie genau das gerade sagen. Wir hatten sehr schnell das Gefühl, dass wir uns gut verstehen, dass wir „das Gleiche empfinden“, sagte sie. Am Ende des Stücks ging sie auf Delphine zu und fragte: „Wer ist die Kleine? Mit der möchte ich arbeiten.“ So war das. Zu dieser Zeit hatte ich bereits einiges für das Centre SdB geschnitten, aber der Schnitt brachte uns nicht zusammen.

Ich möchte hervorheben, dass alles, was wir tun, uns irgendwo hinführt und wir nicht wissen müssen, warum wir Dinge tun, wenn wir sie tun. Es ist das Leben, die Begegnungen, die Offenheit für die Gegenwart, für das Unbekannte, für das Unerwartete, das uns in Bewegung setzt und uns hilft, unser Leben zu gestalten und Filme zu machen. Und der Filmschnitt verkörpert ein Eintauchen in das Unbekannte. Es geht vor allem um das Empfangen von Bildern, um diese Leere in uns selbst und den Versuch, die Bilder in Beziehung zu setzen, ohne sie zu entschlüsseln, ohne sie zu entmystifizieren. Sie haben eine geheime Bedeutung. Sie sind jenseits dessen, was sie zeigen. Das ist unsere Arbeit.

Das Chinesische. Es fällt mir immer schwer, darüber zu reden. Es klingt immer, als wäre alles nach einem Plan organisiert gewesen. Ich habe die Verbindungen aber erst viel später hergestellt.

Die chinesische Sprache ist eine Assoziation von Bildern, die einen Sinn ergeben. In der chinesischen Sprache gibt es auf vielen Ebenen Assoziationen von Wörtern, die Sinn ergeben. Was ich immer sehr gerne mag: Um zu sagen „sei vorsichtig“, sagen wir xioxīn (小心), es sind zwei Zeichen, eines bedeutet „klein“, das andere „Herz“. Ich finde das sehr hübsch. Wir sehen Bilder. Wir sehen ein kleines Herz und wir denken, dass wir vorsichtig sein müssen. Um zu sagen: spazieren gehen, sagt man, sànbù (散步), „seine Schritte zerstreuen“. Das Zeichen des Hauses ist ein Dach mit einem kleinen Schweinchen darunter (Jiā (家) = mián (宀) + sh (豕)). Das sind Bilder, die Sinn ergeben.

Daneben gibt es die taoistische Philosophie, in der die Leere sehr wichtig ist, denn die Leere ist kein Niemandsland, sie ist kein Mangel, sie ist nicht etwas Hohles. Es ist ein Raum für den Lebensatem, ein Raum für Verbindungen. In der chinesischen Malerei wird viel mit Leere gearbeitet, um den Betrachter*innen die Möglichkeit zu geben, das Werk am eigenen Körper zu erleben und es nicht einfach nur hinzunehmen. Im Taoismus gibt es diese Idee, dass man zu etwas anregt, es nicht aufzwingt. Eine Art und Weise in der Welt zu sein und die Dinge auf sich zukommen zu lassen.

Was mich auch wirklich geleitet hat, ist die Beziehung zur chinesischen Poesie, die Art und Weise, in der für einige Dichter*innen, insbesondere Li Bai aus der Tang-Dynastie, Gedichte Assoziationen von Bildern sind. Es gibt keine Pronomen, es gibt keine Spuren der Zeit, keine vergangene Gegenwart, es gibt kein Ich… es gibt nur Bilder, die nebeneinander gestellt werden und Sinn ergeben. Aber sie nehmen nicht nur eine Bedeutung an, sondern können unterschiedlich interpretiert werden. Da ich in recht jungem Alter damit anfing, Mandarin zu lernen und an der Uni Sinologie zu studieren, wurde ich von all dem durchdrungen. Ich habe nie wirklich verstanden, woher meine Herangehensweise an den Schnitt kommt, aber ich denke, dass sie daher kommt. Die Art und Weise, wie ich Chantal begegnet bin, war sehr stark mit dieser Herangehensweise an die Kunst verbunden, der ich durch die chinesische Kultur begegnet bin. In der chinesischen Tradition ist die Kunst eine Lebensform, sie ist nicht vom Leben zu trennen.

In meiner Arbeit mit Chantal findet sich dieses Kunstverständnis wieder. Es gibt die Idee, dass man einen Film nicht macht, um eine Botschaft zu vermitteln, sondern um die Zuschauer*innen ins Bild zu setzen, und genau darum geht es in der chinesischen Dichtkunst.

Bei eurer Arbeit habt ihr nicht versucht, den Bildern einen Sinn aufzuzwingen, von Anfang an zu wissen, welche Botschaft ihr vermitteln und welche Geschichte ihr erzählen wollt. Ihr habt wirklich auf der Grundlage von Bildern, Tönen, Materie, Texturen geschnitten.

Ja, das stimmt. Wir wussten nie wirklich, was wir damit meinten. Am Anfang stand immer Chantals Lust auf einen neuen Film. Dessen Gestalt offenbarte sich dann erst im Schnitt. Oft konnten wir sogar erst am Ende, wenn der Film fertig war, Worte dafür finden. Das entspricht unserer grundlegenden Herangehensweise an die Kunst.

Die Filme sind noch in Bewegung. Manchmal, wenn ich bestimmte Filme erneut anschaue, empfinde ich sie nicht in der gleichen Weise. Sie sind nicht verschlossen, es sind sehr offene Filme. Und wie die Bilder empfangen werden, nicht klassifiziert, nicht sofort definiert, sondern ihre Geheimnisse respektiert werden, lässt den Film selbst lebendig werden. Es handelt sich nicht um ein Produkt, wie man uns glauben lassen will.

Chantal hat einen sehr, sehr schönen Text über diese Arbeitsweise geschrieben. Sie schrieb ihn, bevor sie mit der Arbeit an De l’autre côté begann. Ich finde, sie sagt das so gut, dass mich dieser Text noch heute verfolgt.

Eine zeitgenössische Erzählung, zweifellos, aber über eine Situation, die so alt ist wie die Welt und zu der man immer wieder zurückkehren muss. Ich bin gebeten worden, meine Gedanken genauer zu definieren. Sie möchten wissen, von welchem Ende aus ich meine Themen anzugehen pflege. Ich würde mich auch besser fühlen, wenn ich das wüsste. Ich wäre ruhiger, aber auch weniger interessiert an dem Thema. Denn was mich fasziniert und mich auch erschreckt, wenn ich einen Dokumentarfilm machen will, ist der Prozess des Entdeckens während des Filmens. Meine Gedanken zu präzisieren, wäre für mich gegen das Projekt eines Dokumentarfilms gerichtet und würde mich ein bisschen beängstigen. Denn während ich einen Dokumentarfilm drehe, bin ich wie getrieben, blind, ich werde zu einer schwammartigen Aufnahmefläche mit schwebendem Gehör, auf der sich erst nach langer (Belichtungs-)Zeit der Film offenbart. Mir macht nicht Angst zu denken, sondern einen Dokumentarfilm in etwas „Vorgedachtem“ einzusperren, weshalb ich versuche, völlig jungfräulich am Tatort zu erscheinen und mich von der Materie des Dokumentarfilms in Besitz nehmen zu lassen und nicht das Gegenteil. Was natürlich unmöglich ist, weil man stets dort, wo man hinkommt, alles dabei hat, was man mit sich herumschleppt und was ein Teil von einem ist. (Aus der Pressemappe von De l’autre côté, 2002).

Das ist das Wesen unserer Arbeit. Es ist wirklich die gleiche Herangehensweise wie beim Schnitt: Nicht vordenken, das Thema des Films nicht zu schnell in eine Richtung fixieren, sondern die Bilder aufnehmen, sie in Beziehung setzen und versuchen, einen Rhythmus zu finden. Der Rhythmus kommt nach und nach, und wenn er einmal gefunden ist, schafft er die Erzählung selbst.

Wir haben beim Schnitt eine große Verantwortung, denn beim Dreh gibt es zwangsläufig Dinge, die der Regie entgehen. Und heute verlangen wir von vielen jungen Regisseur*innen, sie sollen genau wissen, was sie sagen wollen, wenn sie einen Film drehen. Um zu überzeugen, um Geld aufzutreiben, muss man wissen, was man sagen wird, wie man es sagen wird, welche Methode man anwenden wird. All diese schrecklichen Worte. Und die ganze Spannung, diese Verantwortung, liegt auf den Schultern der Regisseur*innen. Wir im Schnitt müssen ihnen helfen, diese Angst zu überwinden, das Wesen des Films zu finden und all die Momente zu begrüßen, die den Dreharbeiten entgangen sind, weil der Film sich im Unerwarteten befindet. Sonst könnten Filme von Robotern gemacht werden.

Es macht einen Film aus, dass es einen Blick gibt, etwas Unerklärliches. Das bedeutet nicht, dass es keinen Gedanken, keine Reflexion gibt, aber Gedanke und Intuition schließen einander nicht aus. Intuition ist stark, wenn Gedanken ihr Unterbau sind. Wie bei einem gepflügten Feld. Das Denken gleicht dem Pflügen der Erde. Wenn man das Land nicht pflügt, trocknet alles aus und nichts wächst. Auch die Intuition kann nicht gedeihen. Aber wenn man nicht darüber nachdenkt, wie man vorgehen wird, sondern vielmehr hinterfragt, sich bewegt und lebendig zuschaut, die Dinge aufnimmt: All das ist Denken. Dann nährt es den Film. Wir im Schnittprozess empfangen das und setzen es in Resonanz. Und dadurch geschehen großartige Dinge. Aber wenn die Schnittmeister*innen Angst haben, verlangen sie zu viel von den Regisseur*innen. Auch in unserem Beruf müssen junge Menschen von Anfang an wissen, was sie tun wollen. Den Schnitt, meine Art des Schnitts, sehe ich auch als eine politische Positionierung: Den Anspruch erheben, an einem Material zu arbeiten, ohne genau zu wissen, wohin wir gehen, die Arbeit lebendig und kreativ gestalten und versuchen, Gedanken und Bewegung zu provozieren. Deshalb halte ich den Schnitt für politisch. Und der Schnittraum ist ein äußerst wichtiger Ort. Das erscheint selbstverständlich, aber man muss es einfach mal aussprechen. Die Dinge zusammenfügen, eine mögliche Denkweise eröffnen, was könnte politischer sein als das?

Es ist paradox, dass die Filme von Chantal Akerman immer als äußerst meisterhaft und präzise beschrieben wurden, während die Kreation selbst für sie und für dich etwas sehr Intuitives und Einfaches war.

Ja, aber das ist nicht widersprüchlich. Was Chantal geleitet hat, war präzise Intuition. Oder präzise Visionen. Natürlich bin ich mit der Machart der ersten Filme weniger vertraut, weil ich jünger bin als sie. Ich weiß nicht, ob Chantal euch diese Geschichte mal erzählt hat: Sie ging mit Aurore Clément in jedes Schuhgeschäft in Brüssel, um das Paar Schuhe zu finden, das genau das Trittgeräusch macht, das sie sich für Les Rendez-vous d’Anna wünschte. Nur dieser Klang durfte es sein, kein anderer. Aber woher kommt dieser Drang? Sie kann das nicht rechtfertigen, nicht rational argumentieren. Ich will Absätze, weil das Geräusch von Kreppsohlen uns an den Ostblock erinnert? Nein. Das ist nur eine Erinnerung, also intuitiv, organisch. Wenn es in ihrem Körper auf diese Weise mitschwingt, dann ist alles möglich. In Jeanne Dielman ist es genauso: Ein Film, der viele Dinge anprangert, aber er ist auch ein Liebesfilm und ein Film über die Art und Weise, wie man diese berühmten Kalbskoteletts macht und so weiter. Er ist sehr präzise und sehr

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 19.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6426-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vorwort Masterclass Claire Atherton Alexandre Koberidze: Lieber Leo Interview: Simon Weisse Alexandre Koberidze: Mehr als die Luft Interview: Alex Lemke Peter Liechti: Lauftext 20)* Glossar Veröffentlicht am

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