Mit Quarantäne kennt sich die Filmgeschichte aus. Je nach Genre ist mit verschieden schweren Verläufen zu rechnen, aber über die meisten Isolationsgeschichten könnte man mit Werner Enke sagen: „Es wird böse enden.“ Hoffen wir, dass es im wirklichen Leben anders kommt. So oder so, der Film ist als Gedankenspiel, Zeitkonserve, ‚Lagerfeuer“ so wichtig wie lange nicht. Kino ist eine soziale Praxis eben nicht nur, wenn man zusammenkommt, um etwas zu sehen. Sondern auch, wenn es darum geht, Erfahrungen zu teilen. Solidarität ist der Motor, in Zeiten der Pandemie und danach. Wir wünschen allen unseren Leser*innen, dass sie gesundheitlich, menschlich, ökonomisch gut durch die Krise kommen – und dass wir uns bald sehen, wenn die Kinos endlich wieder öffnen.
PS: Vielen Dank auch an THE MATCH FACTORY für die finanzielle Unterstützung dieser Ausgabe.
Die Redaktion
Liebe Fiches du Cinéma,
vor mehr als zwanzig Jahren habe ich mich entschlossen, einen Teil des Jahres in einem kleinen Dorf zu verbringen. Mit der Zeit ist dieser Teil der wichtigste geworden. Uns hier in Pompignan hat die Ausgangssperre nicht wie ein Elektroschock oder ein Bruch ereilt. Meine Straße gabelt sich in zwei Wege, der eine geht zum Friedhof, der andere durchquert die Weinberge und führt dann in die Garrigue, die hier typische Strauchlandschaft. Jeder aus dem Dorf kommt früher oder später auf ein Gespräch durchs Fenster vorbei. Ich muss also nicht auf Gesichter verzichten, ich sehe sie mir gerne an, mache Filmskizzen von ihnen, die ich mit denen teile, die hier leben. Jede Gelegenheit ist günstig, um die Riten dieser kleinen Gemeinschaft festzuhalten. Die Ausgangssperre ist kein harter Bruch, wie sie das für die Städter zu sein scheint, die auf professionelle und soziale Bewegungen verzichten müssen. Die Dorfgemeinschaft entprofessionalisiert, entklassengesellschaftet, das ist keineswegs eine naive Ansicht: Es gibt hier Leute, die hart arbeiten und die, deren Familien seit Generationen vermögend sind, es gibt die, die aus Portugal kommen und in den Steinbrüchen arbeiten, andere, die die Felder bewirtschaften und einige kommen jeden Tag mit dem Auto von auswärts hierher. Man trifft sich, spricht miteinander, beobachtet sich, mag sich oder auch nicht, aber man lebt zusammen. Der Schock der Städter, die vielfach nach sozialen Klassen, Beruf, Generation, gemeinsamen Vorlieben oder Viertel getrennt leben, er bleibt hier aus.
[fig.1]
Kann ich also auf eure Fragen antworten, die deutlich an einen Berufsstand gerichtet sind? Der Film gehört zu meinem Leben, aber die berufliche Sphäre der Filmbranche nicht. Hier bin ich Marie, keine Regisseurin, viele hier kennen meine Filme nicht, keiner käme auf die Idee mich zu fragen, „welche Konsequenzen hat die Ausgangssperre für Deine Arbeit?“. Das macht hier für niemanden Sinn, obwohl sie wissen, dass ich ständig irgendwas filme und sie meine Skizzen über Pompignan mit großem Interesse ansehen. Manchmal stoßen sie auch zufällig auf meine anderen Filme, die „professionellen“. Einige sind begeistert! „Andere sagen eher, na das ist schon speziell, hm?“. Das ist alles und das ist gut so. Sie nehmen sich das, was sie sich nehmen wollen. Wenn ich inszeniere, lasse ich nichts zu, aber danach soll jeder leben, wie er will… Mein Problem oder mein Glück ist, dass ich verschiedene Leidenschaften haben: für den Mann, mit dem ich das Leben teile, für diese Landschaft, die Schönheit, die Tiere, die Küche, das Lachen, die Gerechtigkeit, die Gesichter, den Wein, die Freunde, dieses Dorf und alle, die dort wohnen, für das, was ich filme, egal ob große Produktion oder Skizze. Gleiche Intensität, gleiche Begeisterung, gleiche Verrücktheit, gleicher Wahnsinn, gleicher Genuss. Unter den Filmen, die ich mir ansehe, sind wenige, die mich aufrütteln. Von Zeit zu Zeit entsteht ein überraschender, explosiver Film, hervorgebracht von einem Wesen aus Fleisch und Blut und das ist dann für mich eine Lektion in Bescheidenheit. Hier gibt es niemanden, mit dem ich über Film reden kann. Das ist geheimes Territorium, das ich nur mit meinem Lebensgefährten teile oder mit einigen Besuchern oder bei meinen Aufenthalten in Paris, auf Festivals, bei Filmbegegnungen mit jenen, die an der gleichen Krankheit leiden und mit denen ich mir meine Kämpfe liefere.
[fig.2]
Ihr fragt mich, womit ich mich gerade beschäftige. In den letzten zwölf Jahren habe ich fünf Drehbücher für Langfilme in meinen Schubladen beerdigt, nach langen Bemühungen bei Kommissionen und Fernsehsendern, bei denen oft herausgekommen ist, was ich nach dem ewigen Zweiten unter den Profiradfahrern ein Poulidor-Ergebnis nenne: knapp vorbei und doch nicht gut. Ich hatte verschiedene fähige Produzenten, habe sogar einzelne Etappensiege erzielt, aber irgendwann fuhr’s vor die Wand, puff, Schublade, keine Chance, das nötige Geld zusammenzubekommen. Ich lehne mich nicht gegen meine Niederlagen auf. Ich mache eben anders meine Filme, was mir erlaubt, mich aufzuregen, ohne bitter oder depressiv zu werden. Ich befriedige meine Begierden mit kurzen oder mittellangen Filmen, mit Filmskizzen, Filmessays, ich höre nicht auf zu drehen, zu schneiden. Manchmal habe ich das Glück, dabei von einer Produktion begleitet zu werden, immer auch von treuen Technikern und Schauspielern. Und ich höre nicht auf, die Filme zu zeigen.
[fig.3]
Seit mehreren Jahren besteht meine Ausgangssperre eher darin, dass ich im Off des Filmgeschäfts lebe, aber ich mache niemanden dafür verantwortlich. Meine Wünsche, mein Geschmack haben mich isoliert, schon seit langer Zeit sage ich, dass ich unsere Epoche nicht sonderlich mag und sie gibt es mir zurück. Eine Epoche, in der alles zunichte gemacht wird, was in meinen Augen wertvoll ist. Sowohl, was das Leben als auch den Film anbelangt. Der Film muss nicht zwangsläufig erzählend sein, nicht zwangsläufig gesellschaftlich relevant, nicht zwangsläufig künstlerisch wertvoll, nicht zwangsläufig populär, nicht zwangsläufig elitär, nicht zwangsläufig kommerziell und vor allem nicht zwangsläufig durch ein einziges Adjektiv definiert. Der Film meiner Träume ist eine Unzahl von Wahrheitspartikeln, Wahrheit durchaus im Plural gedacht: eine Enthüllung der Erfahrung von uns allen. Filme wie subjektive Brillen, möglichst befreit von den Zielen, wie sie mediale oder politische Macht, Clanstrukturen, Gemeinschaften oder Eliten diktieren.
[fig.4]
Die großen, die sehr großen Filmemacher*Innen der letzten zwanzig Jahre gehen durch die Maschen dieses Netzes und wir leben mit dem Blick von Nuri Bilge Ceylan, Jia Zhangke, Quentin Tarantino, Kelly Reichardt oder Wang Bing… Stop, ich werde keine französischen FilmemacherInnen in diesen Topf werfen, aber es gibt sie, auch verkannte FilmemacherInnen aus allen Teilen der Welt, die auf ihre Art weiterstricken, wie sie gerade können (die Organisation ACID [Association du cinéma indépendant] hat da einige Schätze ans Licht gebracht).
[fig.5]
In den letzten Monaten bin ich rückfällig geworden, mein altes Laster, eine merkwürdige und philosophische mittelalterliche Erzählung. Ich möchte, dass dieser Film zustande kommt, er begleitet mich schon seit langer Zeit, wohlwollende und fähige Produzenten haben mich dabei unterstützt, ich habe einen Teil des Geldes auftreiben könnten, aber nicht genug, um ihn zu drehen. Eine andere Frage, die ich mir stelle: Wenn man so lange den dringenden Wunsch mit sich herumschleppt, einen solchen Film zu machen, hat er sich dann nicht bereits erübrigt? Verliert er nicht seinen Wert? Ich sage das, weil ich oft gespürt habe, dass es einen solchen Aberglauben in der Branche gibt. Aber ich glaube derart an diesen Film, dass ich immer wieder darauf zurückkomme. In letzter Zeit habe ich mit Noëlle Renaude daran gearbeitet, einer Dramaturgin und Autorin, die sehr empfänglich für diesen Film ist. Wir haben ihn lebendiger gemacht, bündiger, ich lasse nicht locker, ich suche eine Produktion und ich möchte immer noch glauben, dass er eines Tages existieren wird.
Marie Vermillard
Link zur französischen Erstveröffentlichung:
www.fichesducinema.com/2020/03/chronique-6-marie-vermillard-cineaste
Der Text entstand als Antwort auf die Fragen: „Woran haben Sie gearbeitet, als die Ausgangssperre in Frankreich verhängt wurde? Welche beruflichen und wirtschaftlichen Folgen wird die Epidemie für Sie haben? Gibt es schon Lösungen für die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Umbruch ergeben? Können Sie während der Ausgangssperre arbeiten, an was genau und wie? Ist die erzwungene Klausur für Ihren Schreibprozess oder Ihre Entwicklungsarbeit günstig oder ist das im Gegenteil ein Hindernis?“, veröffentlicht in der Reihe „Chroniques du cinéma confiné“ (Chronik des Films unter der Ausgangssperre) am 29.3.2020. Vielen Dank an die Fiches du cinéma und Marie Vermillard für die Abdruckgenehmigung, auch der Fotos.
Übersetzung: Marcus Seibert.
1. Refus de toute règle scénaristique / Incohérence scénaristique
2. Le son réalisé après le tournage / Incohérence de fabrication
3. Le tournage exclusivement sur support pellicule périmée / Incohérence de sophistication
4. Utilisation de trucages à condition qu’ils soient visibles, réalisés au tournage (surimpressions, projections etc). Bannir la post-production / Incohérence d’effets
5. Utilisation d’effets optiques à la prise de vue (filtres etc) / Incohérence de style
6. Le film doit être intemporel dans une géographie incertaine, bannir tout effet de réalisme / Incohérence temporelle et géographique
7. La fabrication du film (décors, costume et régie) doit uniquement s’appuyer sur de la récupération / Incohérence de goût
8. Les films doivent être des hybrides, contenants au minimum deux genres cinématographiques / Incohérence de style
9. La pellicule utilisée, peut être le 16mm, le 35mm, le super 8mm / Incohérence économique
10. Le réalisateur doit être, l’auteur, le cadreur et le directeur artistique du film / Incohérence créative
11. Les acteurs devront alterner inexpressivité et sur-expressivité / Incohérence de jeu
12. Le film ne doit appartenir à aucune tendance esthétique, narrative. Il doit être profondément cinématographique et donc fragile / Incohérence cinématographique
Katrin Olafsdottir et Bertrand Mandico
Manifeste de l’Internationale Incohérence / Reykjavik / Barcelone / Paris / Berlin / 12 octobre 2012
International /
Inkohärenz
1. Ablehnung jeglicher Drehbuchregel / Drehbuch–inkohärenz
2. Der Ton folgt dem Dreh / Anfertigungsinkohärenz
3. Aufnahmen ausschließlich auf abgelaufenem Filmmaterial / Kultiviertheitsinkohärenz
4. Verwendung von Spezialeffekten nur, wenn diese sichtbar gemacht werden und während
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6427-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Vorwort
Marie Vermillard: Brief aus der Ausgangssperre
Manifest International/Kohärenz
Interview: Jim McKay
Manifest: Flamme. Kino Manifest 2018
Istvan Gyöngyösi: Phantomschmerzen
Gespräch: Malek Bensmaïl
Aline Fischer: Unveräußerlich: La Clef Revival
Interview: Sascha Arango