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Leseprobe

VORWORT


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Die Redaktion

Carlos Reygadas

Ich war nie Lehrer, weil man da bezahlt wird und damit kommt Verantwortung. Wenn ich als Künstler rede, kann ich mich ohne jede Form von Verantwortung äußern. Béla Tarr leitete eine Filmschule in Sarajevo, deren Grundidee war, Filmemacher einzuladen, die tun konnten, was sie wollten. Aki Kaurismäki sagte zu Béla, er würde für zwei Wochen kommen und nur still dasitzen. Das wäre sein Unterricht. Das ist die sinnvollste Art Film zu unterrichten, von der ich bislang gehört habe.

Nicolas Wackerbarth

Ich habe gelesen, dass du als Kind viel Zeit in dieser steinernen Berglandschaft verbracht hast, so wie der Protagonist deines ersten Films Japón. War dieser Ort, dieser Canyon im Norden Mexikos, der Anfangspunkt für das ganze Projekt?

Es gibt viele auslösende Kräfte, wenn man einen Film anfängt. Eine davon war die Idee, dass ein Mann Selbstmord begehen will, aber wahrscheinlich nach etwas anderem sucht. Und dann, durch Instinkt und andere Dinge, kommt er zurück. Er kommt nicht dahin zurück das Leben zu lieben, sondern entdeckt den Lebenswillen neu und die Wertschätzung des Lebens. Ein anderer Antrieb für den Film war bestimmt, dass mir alle Orte, die man sieht, sehr nah sind. Ich habe sie schon immer gekannt. Als ich anfing Filme zu machen, wollte ich die Orte und Leute, die ich liebe, mit der Öffentlichkeit teilen.

Kanntest du auch bereits Ascen, die alte Frau, die alleine im Steinhaus hoch oben am Berghang wohnt?

Nein, aber eine andere ältere Dame, die die Rolle eigentlich spielen sollte. An dem Tag, als wir anfingen zu drehen, hatte sie eine Panikattacke und verschwand. Die ersten Wochen mussten wir alleine mit Alejandro Ferretis drehen. Jeden Tag nach Drehschluss gingen wir dann hinab ins Dorf und schauten nach jemandem, der die Rolle spielen könnte. Als wir in der Metzgerei drehten, kam eine alte Frau und wollte Fleisch kaufen. So haben wir Magdalena Flores gefunden. Sie sagte zu. Ich musste aber auch noch mit ihren Kindern und ihrem Mann reden. Ich arbeite immer so, finde Leute zufällig an alltäglichen Orten. Ich muss sagen, dass sie sogar stärker ist, als die Frau, die ich ursprünglich vorgesehen hatte. Wenn du mit ganz normalen Menschen arbeitest, kann auch mal jemand verschwinden. Es ist nicht wie in einem professionellen System, in dem Verträge eingehalten werden. Ich muss oft improvisieren.

Wie hat die Improvisation und die Tatsache, dass es eine andere Darstellerin wurde, den Film verändert? Haben die realen Persönlichkeiten der Darsteller auch den Film inspiriert?

Den Hauptdarsteller kannte ich schon als Jugendlicher. Und es geht in dem Film immer darum, wie wir uns im normalen Leben verhalten, das betrifft auch die Geschichte. Ob wir es mögen oder nicht, es gibt immer eine Art Geschichte, die sich im Film aufbaut, weil wir chronologisch existieren. Weil wir in der Zeit leben, gibt es eine chronologische Art der Struktur, wie wir das Leben wahrnehmen. Aber der Sinn eines Films ist nicht nur seine Geschichte. Eine Geschichte ist wie der Grundriss eines Hauses. Wir alle haben ein Skelett und wir brauchen es, aber wir sind definitiv mehr als Skelette. Ich würde gerne die Regeln des Dramas überwinden, aber nicht die chronologische Konstruktion des Geschichtenerzählens. Das Drama ist Theater und Literatur. Es ist eine andere Kunstform als Kino.

Was genau hat es dir gegeben, dass Du mit dem Schauspieler befreundet bist. Was hat er zum Film beigetragen?

Einerseits seine physische Präsenz, die sehr besonders ist. Ich schaue mir meine Filme ungern an, nachdem sie beendet sind, aber kürzlich mussten wir eine neue Farbkorrektur für Japón machen. Dafür schaut man sich den Film stumm an. Da habe ich verstanden, wie besonders der Mann und die Frau sind. Wenn du gute Leute, gute Orte und gute Objekte hast, hast du bereits mehr als die Hälfte eines guten Films. Das allein ist entscheidend. Denn sie einfach nur anzuschauen, bereitet mir große Freude. Das ist genau das, was ich als Zuschauer erleben will. Tatsächlich hat uns Alejandro das Motiv vorgegeben. Er ist ein typischer mexikanischer Mann aus den Siebzigern, der über Albert Camus, Arthur Koestler und die Möglichkeit des Menschen, aus freiem Willen sein Leben zu beenden, reden kann.

Suizid war ein reales Thema für ihn?

Nur aus meiner Perspektive. Wenn man ihn fragen würde, würde er das wahrscheinlich nicht bestätigen, aber so habe ich ihn wahrgenommen.

Florinda Frisardi

Zu Beginn des Films kommt der Protagonist in das Dorf und Tal. Der Richter spricht mit ihm, schaut aber direkt in die Kamera. Es wirkt wie ein Interview für einen Dokumentarfilm. Langsam drängen sich immer mehr Leute in die Kadrage und plötzlich bewegt sich die Kamera ohne jede Motivation weg von der Menschenmenge hin zu dem alltäglichen Leben der Dorfbewohner. Der Schwenk endet auf einem Kanal, in dem junge Leute schwimmen und ein Traktor vorbeifährt. Wie arbeitest du mit nichtprofessionellen Schauspielern bei einer so komplizierten Kamerabewegung, die Choreografie erfordert?

Weil ich nicht glaube, dass das Kino ein Ort für die Kunst des Dramas ist, ist es für mich auch kein Ort für die Kunst des Schauspiels oder für Schauspieler. Einen Maler würdest du nie fragen, warum er keine Schauspieler malt. Von einem Maler erwartest du, dass er echte Leute und echte Objekte malt. Ich visualisiere Film. Die Mechanik des Films, die Orte, die Einstellungen. All das passiert vor dem Dreh. Die Jugendlichen, die am Ende dieser Einstellung im Kanal schwimmen, habe ich gesehen, als ich auf Locationsuche war. Ich mache immer einen Großteil des Scoutings selbst. Als der Film geschrieben war, entschied ich mich, alleine all die Dinge zu tun, die der Protagonist im Drehbuch tut. Ich ging alleine in dieses Tal und fragte nach dem Dorfvorsteher. Ich wurde zu diesem Typen geführt, den wir im Film sehen. Er fragte mich nach meinem Ausweis, so wie es später im Film passiert. Das war wirklich absurd, in Mexiko braucht man normalerweise für nichts einen Personalausweis. Aber offenbar war er selbst so stolz auf seinen und wollte ihn mir präsentieren. All diese Details, all diese gefundenen Dinge, vermische ich mit der Komplexität des Gefühls. Das ist für mich ganz natürlich, ich habe einen dokumentarischen Ansatz, versuche dann zu etwas Komplexerem und Sinnlicherem zu gelangen. Ich glaube, so konstruieren wir Realität. Es gibt direkte Kommunikation mit Leuten im alltäglichen Leben und dann etwas Anderes, eine innere Entwicklung der Wahrnehmung in jedem von uns. Beim Film geht es darum, Momente, Leute und Situationen zu präsentieren, die konzeptionell und politisch gedacht sind, viele davon habe ich bereits in meinem Kopf prävisualisiert. Andere sind Improvisationen, abgeleitet aus der Realität. Statt eine Geschichte zu erzählen, spreche ich lieber davon sie zu präsentieren. In Japón gibt es eine Menge komplizierter Kamerabewegungen, weil ich die Leute und Orte, die ich liebe, zeigen wollte, ohne zu schneiden. Ich wollte einen echten und keinen kinematografisch konstruierten Ort zeigen. Später habe ich zu schätzen gelernt, wie man Raum und Rhythmus durch Schnitte herstellt und habe die gegenwärtige Mode angeberischer Plansequenzen abgelehnt. In meinen Filmen ist die Kamera oft bewegungslos. In meiner Vorstellung sind Kamera und Tongeräte Trichter für die Realität. Diese Trichter funktionieren für mich wie ein Pinsel. Erst als ich kürzlich diese Farbkorrektur für Japón gemacht habe, ist mir klargeworden, dass auch in einer Plansequenz Zeit und Raum strukturiert sind. Es muss also gar kein unbeweglicher Pinsel, keine unbewegliche Kamera sein. Wer weiß, vielleicht arbeite ich doch wieder mit Plansequenzen [lacht].

Wie viel Zeit hast du, um eine solche Szene zu drehen? Einen Tag?

Ich habe soviel Zeit, wie ich will. Wirklich. Zeit ist überhaupt kein Problem für mich. Das Kino ist nur teuer, weil die Leute in die Vorstellung von Filmemachen als Industrie verliebt sind, mit einer großen Crew und teuren Maschinen. Neben Actionfilmen wie Spider-Man kann man aber auch einen großen Film mit nur einer Kamera, einem Tonaufnahmegerät und zwei Menschen, die diese Apparate bedienen, machen. Filme sind generell viel zu teuer. Ich habe meinen ersten Film mit 37.000 Dollar gedreht, die ich von einem Kunstsammler bekommen habe. Und ich habe auf Film gedreht, drei Monate. Es gab keine Autos, Garderoben, Lampen, all das, was teuer ist. Wir wollten nur eine Kamera mit gutem Filmmaterial, gutes Essen für alle, einen Platz zum Schlafen und Zeit. Seit meinem ersten Film habe ich mich entschieden, eine Einstellung morgens und eine Einstellung am Nachmittag zu drehen. Manchmal haben wir auch vier Einstellungen geschafft, aber oft brauchen wir den ganzen Tag für eine Einstellung. Ich drehe über einen langen Zeitraum mit einer Crew von acht bis zehn Leuten und wenig Equipment.

Da du mit Laien arbeitest, gehe ich davon aus, dass die mehr Zeit mitbringen als Schauspieler. Dadurch wird die Arbeitssituation vermutlich intimer.

Sehr intim. Von Anfang an sprechen wir darüber, dass man viel Zeit mitbringen muss und das alltägliche Leben für ein paar Monate pausieren muss. Leute, die zusagen, Teil meiner Filme zu werden, müssen viel investieren. Aber am Ende, aus ganz offensichtlichen Gründen, bereuen sie es nie. Die meisten Menschen begrüßen das, wenn das Alltagsleben für drei bis sechs Monate aussetzt. Du musst dich nicht mehr um die Logistik, das Essen und all diese Trivialitäten kümmern. Du vergisst das alles und lebst einfach in einer Gemeinschaft, wie als Teenager im Internat.

Florinda Frisardi

Wie arbeitest du mit Laien? Probst du vorher oder wissen die bis zu Beginn der Dreharbeiten nichts über das Buch?

In meinem Arbeitsprozess ist das Casting der Schlüssel zu allem. Würdest du mit einem Schauspieler arbeiten, würde er dir alles mit seiner Technik liefern, die Repräsentation einer Figur. Ich versuche dagegen eine Person zu finden, die die richtige Energie für die Figur besitzt. Wenn das Casting stimmt, was bei mir nicht immer der Fall war, geht alles sehr einfach von der Hand. Selbst Dinge, wie komplizierte Bewegungsabläufe vor der Kamera. Denn die Energie passt auf den Charakter der echten Person. Abseits davon muss man mit jeder Person anders arbeiten. Jeder hat seine eigenen Stärken und Schwächen. Das ist dasselbe wie mit Schauspielern.

Solange wir auf Film gedreht haben, gab es nie viel Material. Wir haben die Einstellung deshalb sehr mechanisch vorbereitet. Ich will nicht, dass die Schauspieler viel von der Story wissen, dass sie nicht anfangen, ihrer Figur zu glauben. Sie lernen den Dialog mechanisch. Dann bringen wir alles und jeden an seinen Ort. Wenn das getan ist, drehen wir. In Japón hatten wir ein Drehverhältnis von 1:3. Wir drehen normalerweise nie mehr als drei Takes. In Stellet Licht habe ich hinterher festgestellt, dass fünfzig Prozent der verwendeten Einstellungen First Takes waren. Jetzt dreh ich digital und mache den Fehler, zu viel zu drehen. Was natürlich nicht die Schuld des Digitalen ist, sondern mein eigene [lacht]. In Zukunft werde ich wieder auf Film drehen.

Florinda Frisardi

In Japón wird in einigen Momenten die vierte Wand durchbrochen. Als der Neffe die Steine für sich beansprucht und mit einigen Arbeitern zu Ascen auf den Berg hochkommt, um das Steinhaus, in dem sie lebt, abzubauen, beginnen die Arbeiter zu lachen. Sie beschweren sich über die Filmcrew hinter der Kamera. Warum hast du diese Szene im Film gelassen?

Ich wusste gar nicht, dass man das vierte Wand nennt [lacht]. Du musst mir erklären, was die anderen drei sind. [Publikum lacht.] Ich weiß es wirklich nicht. Wenn du drehst, versuchst du die Gegenwart einzufangen, und nicht Unterhaltung herzustellen. Wenn du die Wand der Fiktion einreißt oder brichst, statt das falsche Gerüst hinter der Fassade zu zeigen, realisierst du, dass dort ein Gebäude steht und kein Gerüst. Die Fiktion bricht nicht in sich zusammen, sondern wird stärker, weil du realisierst, dass da Realität innerhalb der Fiktion ist. Es bricht nichts zusammen, wenn ein Kind in die Kamera schaut, weil sie oder er nicht weiß, dass sie oder er etwas Fiktives tut. Wenn jedoch Silvester Stallone in der Mitte einer Einstellung in die Kamera schauen würde, würde das sofort schief gehen. Wenn das, was du drehst, keine informative Konstruktion für das Storytelling wie in einem Stallone-Film ist, sondern etwas anderes, dann sollte das kein Problem sein. Wenn diese Leute im Film also sagen „Die Crew gibt uns nichts zu trinken“, dann realisieren wir natürlich, dass wir einen Film schauen. Aber meistens ist uns das sowieso bewusst. Wir wollen nur scheinbar an diese Fiktion als etwas Reales glauben. Aber ich denke, wir können darüber hinausgehen! Ich erinnere mich, dass der Tonmann angeboten hat, diese Bemerkung rauszunehmen, und der Kameramann angeboten hat, die Szene neu zu drehen. Aber in dem Moment habe ich persönlich gefühlt, dass wir da zufällig einen Einblick in etwas Anderes bekommen, was ich im Film erhalten wollte. Noch einmal. Wenn du vorbereitet bist, bist du bereit wahrzunehmen! Nur dann kann ich mich auf ein derartiges Detail einlassen und begreifen, welchen Wert es hat. Ein Film muss besser sein, als das, was der Geist sich ausdenken kann. Ich erinnere mich, dass wir am Ende des Drehs eine Einstellung an dem Haus in den Bergen bei Nacht drehten. Es war mein erster Film und wir hatten nur ganz wenig Licht. Ich drehte eine Einstellung von unseren Scheinwerfern mit allen Insekten, die um sie herumflogen. Im Schneideraum wollte ich diese Einstellung immer wieder in die Szene reinschneiden, in der der Protagonist im Haus weint und auf die Rückkehr der Frau wartet. Einfach so. Aber leider habe ich mich am Ende dagegen entschieden, weil mir das zu künstlich und exzessiv vorkam. Aber das wäre schön gewesen.

Robert Niemann

Es gibt zwei besondere Momente. Einer in Japón, wenn sich die Kamera auf Ascen zubewegt, sich ihr nähert und ihre Gesten dabei unsicherer werden, sie zusehends labil wirkt. Es offenbart sich ihre Schamhaftigkeit, wir beobachten ihre Scham. In Battle in Heaven (Batalla en el cielo) sehen wir eine Detailaufnahme einer entblößten Vulva, die pulsiert. Wie gehst du als Regisseur am Set in der Vorbereitung solcher Szenen mit den Laiendarstellern

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Die Autoren
Bildmaterialien: GeneralPublic
Cover: GeneralPublic
Lektorat: Revolver
Übersetzung: Diverse
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2020
ISBN: 978-3-7487-3965-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Texte Masterclass Carlos Reygadas, Interivew Viktor Kossakowsky, Abschlussrede DFFB Angela Schanelec, Vertikale Andreas Hildebrandt, Interview Dan Sallitt.

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