Vorwort
Auge und Ohr werden gerne als „audiovisuell“ zusammengefasst, aber wir alle wissen, dass das Hören aus reiner Höflichkeit zuerst genannt wird. Die meisten Filme jedenfalls privilegieren das Auge, zumindest wenn es um den Einsatz von Produktionsmitteln geht, aber eben auch intellektuell. Entsprechend wird die Geschichte des Films oft als visuelle Entwicklung erzählt und das Aufkommen des Tons als Störung und Rückfall in ein mediengeschichtlich älteres Register. Aber nicht nur war der Ton immer schon da, mit zum Teil erstaunlichen Soundeffekten und variantenreicher Musik, auch der Übergang zum Synchronton hat das Kino durchaus nicht zu jenem „abgefilmten Theater“ gemacht, das noch heute als Definition für das „Unfilmische“ herhalten muss. In Lucrecia Martels Kino spielt der Ton eine zentrale Rolle; sie spricht vom Akustischen als dem einzigen Element, das den Körper des Zuschauers und nicht nur das Ohr im Wortsinne berührt und umfängt. Ihre Ausführungen, die dieses Heft eröffnen, werfen ein Schlaglicht auf eine vernachlässigte akustische Filmgeschichte, und zugleich auf das „Unerhörte“ und Bahnbrechende ihres Kinos: die Anwesenheit des Unsichtbaren. Und wer weiß, vielleicht lässt sich dieses scheinbare Kino-Paradoxon auch als Klammer gebrauchen, die Texte dieser Ausgabe zu lesen.
Die Redaktion
Nicolas Wackerbarth
Der Morast (La Ciénaga) pendelt immer hin und her zwischen dem Realen und dem Fiktiven. Einer der Protagonisten, der kleine Luciano, muss am Ende sogar sterben, weil er an das Fiktive glaubt. Er stürzt von einer Leiter, als er über eine Mauer schauen will, hinter der er eine afrikanische Riesenratte vermutet. Wie gelingt es dir beim Drehbuchschreiben das Reale und das Fiktive in der Balance zu halten?
Lucrecia Martel
Ich muss sagen, dass ich aufgrund der Wirtschaftskrise von 1989 keine wirkliche filmische Ausbildung hatte. Es war eine Art Wunder, dass ich La Ciénaga geschrieben habe. Das ist mir oft in meinem Leben passiert. Ich habe es gemacht, weil ich gesehen habe, dass andere auch Drehbücher schrieben. Ich hatte viele Notizen mit Fragmenten von Gesprächen in meiner Familie oder Dinge, die Freunde mir erzählt hatten. Und bei diesen Notizen hatte ich das Gefühl, dass es etwas gab, das sie alle verband. Also habe ich ein Drehbuch geschrieben, mit 150 Seiten. Dann kam eine bedeutende Produzentin zu mir, Lita Stantic. Lita war die Produzentin der ersten berühmten Regisseurin Argentiniens, María Luisa Bemberg. Die beiden hatten nach der Militärdiktatur in Argentinien den sehr erfolgreichen Film Camila – Das Mädchen und der Priester (Camila) gemacht und wurden berühmt. Von Salta aus gesehen – die Provinz, in der ich wohne – waren diese zwei Frauen überall zu sehen. In allen Zeitungen, sie wurden in allen Fernsehsendungen interviewt, sie waren überall. Aus Ignoranz dachte ich, dass Kino eine Frauensache sei. Viele Frauen aus meiner Generation saßen einem ähnlichen Trugschluss auf. Dabei haben diese Frauen sehr kämpfen müssen, um ihre Filme zu machen. Lita Stantic hatte meinen Kurzfilm Historias Breves I: Rey Muerto gesehen und fand ihn interessant. Als sie anrief und mich fragte, ob ich einen Langfilm hätte, gab ich ihr das Drehbuch von La Ciénaga, das ihr sehr gut gefallen hat. Bevor ich wusste, ob der Film überhaupt produziert werden würde, hatte ich schon ein Jahr lang in meiner Provinz gecastet. Vielleicht war das eins der wichtigsten Dinge für meinen Lernprozess. Bei uns um die Ecke gab es eine sehr kleine Garage und ich habe im Radio Werbung gemacht, dass ich dort für einen Film casten würde. Gecastet würden Menschen zwischen 5 und 80 Jahren, ab 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends [Gelächter]. So hatte ich das Gefühl, ich gehörte schon zur Filmszene. Ich stand jeden Morgen auf und ging zu der Garage, wo die Menschen bereits in einer langen Schlange anstanden. Dort habe ich die komischsten Situationen erlebt. Eines Tages kam dieser Mann zu mir und sagte: „Ich weiß, dass Sie Geld suchen, um diesen Film realisieren zu können. Meine Frau hat ein Grundstück und ich habe einen Kremationsofen entworfen.“ Sowas gab es in Salta damals nicht. „Das ist ein super Geschäft. Wie viel Geld haben Sie denn bisher?“ Ich habe ihm gesagt: „Ich habe noch gar kein Geld, ich mache dieses Casting, damit jemand auf mich aufmerksam wird.“ Er sagte: „Wenn Sie 40.000 Dollar haben, können wir den Kremationsofen zusammen bauen“ [Gelächter]. Ich antwortete: „Aber auf wie viele Leichen müssen wir warten, damit wir den Film drehen können?“ Das ist nur ein kleines Beispiel für viele komische Situationen. Etliche Leute kamen auch aus einem Krankenhaus in der Umgebung, weil sie ohnehin warten mussten. Es war eine sehr menschliche Erfahrung. Insgesamt kamen um die 4000 Menschen, ich habe alle auf VHS aufgenommen. In dieser Region im Norden Argentiniens reden die Leute sehr gerne und in langen Sätzen, und ich bin mit dieser Lust am Reden aufgewachsen. All dies erzähle ich euch, um auf zu zeigen, wie die narrativen Strukturen meiner Filme aus der mündlichen Erzählform entstehen.
Christoph Hochhäusler
In La Ciénaga gibt es eine Art dreidimensionale Erzählung. Man hat das Gefühl, dass in alle Richtungen erzählt wird, im Vordergrund, im Hintergrund, aber auch im Off geschieht etwas Wichtiges. Es passieren gleichzeitig ganz verschiedene Geschichten. Unser Interesse navigiert unberechenbar, ein wenig gelenkt vom Ton, immer wieder an eine andere Stelle von diesem komplexen Ganzen. Wie schreibt man das? Wie sehr ist das schon geschrieben? Wie sieht so ein Drehbuch aus?
Ehrlich gesagt, kann ich diesen Schluss erst ziehen, nachdem ich die Filme gemacht habe. Ich mag das Falsche im Kino, die Lügen, das Künstliche. Das ist das Faszinierende am Kino. Und manchmal verstehe ich die Regisseure nicht, die auf der Suche nach Wahrheit sind. Für mich ist das so banal, die Falschheit zu verachten, bei all ihrer Kraft. Was ich aufbaue, ist etwas Falsches, etwas Lügnerisches. Wenn man alle Elemente auswählt, die Location, die Requisiten, die Kostüme, die Schauspieler, das Licht, den Ton, was für einen Sinn hat es dann, etwas zu filmen, das schon so definiert ist? Der Film funktioniert wie ein schiefes Prisma. Dieses Prisma erlaubt uns, den Konstruktionscharakter der Realität zu sehen. Deswegen glaube ich nicht an die Idee, dass das Kino die Realität widerspiegeln soll. Ich glaube an das Gegenteil. Natürlich macht jeder die Filme, die er mag … Aber was mich am Kino interessiert, ist, dass dieser freiwillige Kunstgriff uns erlaubt, zu sehen, wie sehr Realität konstruiert ist. Aus meiner Sicht ist das die politische Möglichkeit, die Chance des Kinos. Nicht die Handlung. Die Handlung, der Plot ist eine Ausrede, um mit Zeit und Raum umzugehen, aber es ist nicht das Relevante im Kino. Es ist wie bei einem Liebesstreit: Jemand erzählt dir davon und wenn sie keine große Erfahrung mit der Liebe hat, wird sie wollen, dass du darüber nachdenkst, was die andere Person gesagt hat: „Er sagte das, und dann habe ich dies gesagt, und dann hat er das gesagt …“ Aber der Inhalt der Diskussion liegt bestimmt nicht in diesem „und dann hat er das gesagt“, sondern darin, wie all das gesagt wurde.
Vielleicht kannst du etwas konkreter werden. Was stand auf dem Papier und wie hat es sich in der Arbeit verwandelt?
Weil ich als Kind Asthma hatte, war mir die Tatsache, dass es Luft gibt, sehr bewusst. Für einen Asthmatiker ist der Eindruck, in Luft eingetaucht zu sein, äußerst stark. Es ist ein bisschen wie das Eintauchen ins Wasser, wenn man Töne anders wahrnimmt. Unter Wasser hören wir auf eine bestimmte Weise, weil die Schallwellen schneller ankommen. Wenn man tief im Schwimmbecken ist und die Augen schließt, und ein Freund ins Wasser springt, wird man die Bewegung des Wassers nicht nur auditiv, sondern auch mit dem Körper spüren – die Wellen dieses Sprungs. Für mich gibt es eine sehr starke Verbindung zwischen der Berührung und dem Ton. Das Publikum hier scheint mir gesund zu sein, deswegen weiß ich nicht, ob sie ASMR kennen. Ich meine „gesundes Publikum“, weil dieses ASMR etwas Perverses ist – eine Perversion, die öffentlich zugänglich ist. Sie können sich das auf YouTube anschauen. Es geht um Menschen, die sich dank der sozialen Netzwerke getroffen haben, weil sie alle die Gemeinsamkeit haben, Gänsehaut zu bekommen, wenn sie gewisse Töne hören. Schauen Sie sich das an, das ist sehr interessant, um über das Kino nachzudenken – so wie jede Perversion. Die Verbindung zwischen Berührung und Ton, diese Immersion, könnte auch im Kino stattfinden. Wir haben den Zuschauer, der in Luft eingetaucht ist. Der Ton bestimmt alles, was außerhalb des Bild-Rechtecks, im Off passiert. Ich denke, es ist Zeit für meinen Zaubertrick! [Martel lässt das Saallicht dimmen und deckt ihr leeres Wasserglas mit einem Smartphone ab. Das Innere des Glases wird von dem blau schimmernden Display beleuchtet. Sie hält das Glas in die Vertikale. Sie zeigt auf das Rechteck des Smartphones, welches für sie die Leinwand im Kino darstellt und auf das blau erleuchtete Glas, das den Raum, der den Zuschauer im Kino umgibt, sichtbar macht.] Das bedeutet, dass unser Zuschauer in dieses Schwimmbad aus Luft getaucht ist, in diesen Ton, aus dem er nicht fliehen kann, denn sogar wenn er taub wäre, würde er die Vibrationen in seinem Körper spüren. Und dieser ganze Ton, der hier im Saal und außerhalb der Leinwand stattfindet, ist aus meiner Sicht, was das Kino zu einer 3D-Erfahrung macht. Es gibt eine Tradition im Kino, die den Ton nur benutzt hat, um die Bilder zu stärken. Man sieht, dass ein Pferd vorbeiläuft, also hört man ein Pferd. Jemand weint, wir hören das Weinen. Diese Verwendung des Tones hat die Erzählweise sehr stark strukturiert. Und aus meiner Sicht gibt es eben auch die Möglichkeit, die Referentialität des Bildes zu destabilisieren. Bild und Licht haben etwas Wahrhaftiges an sich. Wenn ich in einer Sekunde einen Tisch sehe, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ich dann sage, ich hätte einen Hund gesehen. Er hat auch vier Beine, aber man merkt sofort, dass das ein Tisch ist. Das Bild eines Tisches ist stark mit dem Tisch verbunden. Aber der Ton eines Tisches ist nicht so leicht mit einem Tisch zu assoziieren. Es gibt die Möglichkeit, den Ton so zu benutzen, dass er diese starke Beziehung zwischen Bild und Referent bricht, und damit alles, was wir über den Referenten zu wissen glauben. Die starke Beziehung zwischen Licht und Wahrheit kennen wir Katholiken sehr gut, denn Licht und Wahrheit, das ist Gott, das ist Christus. Diese visuelle Kultur ist durch eine judeo-christliche Kultur vorgeprägt. Aber wer lauert denn in der Finsternis, dort, wo der Ton so wichtig ist? Vielleicht wissen Sie es nicht, weil Sie Protestanten sind oder Atheisten, noch schlimmer [Gelächter]. In der Finsternis steckt das Böse, der Teufel – ein Flüstern, die Versuchung. Die ambivalente Welt der Dunkelheit, in der man keine Gewissheit haben kann, ist genau die Welt, die mir besser gefällt. Denn diese Welt zweifelt und ist mehrdeutig. Diese Welt der Finsternis braucht Zeit, weil der Ton Zeit braucht, um wahrgenommen werden zu können. Im hellen Licht kann man rennen, weil man alles sieht und erkennt, und man glaubt, man beherrsche die Welt. In der Dunkelheit, im Ton, müssen wir langsam denken. Das Kino ist das Zusammentreffen zwischen diesen beiden Elementen, die Möglichkeit, durch die Ambiguität des Tones die Klarheit der Bilder in Frage zu stellen. Es ist für mich beim Schreiben hilfreich, um auf deine Frage zurückzukommen, nie daran zu glauben, dass ich von der Vergangenheit in die Zukunft gehe. Ich denke eher, dass ich mich in einer abstrakten Zeit befinde, in der die Töne nicht selbstverständlich direkt mit den genauen Zeiten der Dinge verbunden sein müssen. Der Ton, den ich für eine Szene auswähle, kann aber durchaus in einer Ursache-Wirkung-Beziehung mit einer anderen Zeit stehen.
Welche Hilfsmittel, denn du sprichst ja von Werkzeugen, hast du für dich gebaut, um dieses Dreidimensionale, dieses Zeitvolumen umzusetzen?
Es sind vor allem Gespräche, die mir helfen. Normalerweise fange ich mit den Dialogen an. Für alle Filme hatte ich ein allgemeines Tonkonzept. Im Fall von La Ciénaga war es dieser bedrohliche Sturm in den Bergen um das Tal von Salta: Man glaubt, es wird regnen, aber dann ziehen die Wolken wieder weg. Im Fall von Das heilige Mädchen (La niña santa) war es die Welt des Flüsterns. Die Welt der Annäherung, der Geheimnisse. Diese Tonwelt, in der nichts passiert: „Guten Tag, wie geht’s Ihnen?“, „Gut, uns geht’s allen gut.“ Es ist eine Darstellung des Wohlfühlens. Dieser Ton hat ein Volumen und eine Banalität. Und man sagt eigentlich nichts oder sehr wenig. Oder es kann bedeutsam sein, wenn wir darüber hinaus etwas mehr wissen. Und im Fall von Die Frau ohne Kopf (La mujer sin cabeza) folgte das Tonkonzept der Idee, im Kopf der Protagonistin zu sein, es sich so vorzustellen, als sei man in einem SUV. Wenn man in einem SUV sitzt, hat man seine eigene Luft, seinen eigenen Ton, man ist abgekoppelt, isoliert in einer Blase.
Es gibt in der Filmgeschichte ein paar Filmemacher, die ein besonderes Verhältnis zum Ton hatten. Orson Welles zum Beispiel, Francis Coppola oder auch Max Ophüls, die bereits in der Vorbereitung eine Art Hörspiel gemacht haben, um den Film zu formen. Ist das etwas, womit du auch arbeitest, dass du vorher Sachen aufnimmst und Töne sammelst?
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0709-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
REVOLVER LIVE! + MASTER CLASS
LUCRECIA MARTEL
KATRIN EISSING:
ANALOGE MUSIKSCHULE
EMIN ALPER:
ZUR LAGE DER FILMEMACHER*INNEN IN DER TÜRKEI
EDGAR REITZ:
VIER THESEN ZUR FILMKULTUR IN DEUTSCHLAND
SILVIA SZYMANSKI:
BRANDO FÜR BLINDE
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