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Leseprobe

VORWORT


Sollten wir heute andere Filme machen als gestern? Haben wir überhaupt eine Wahl, oder wird die neue Lage, der neue gute oder böse Geist, sowieso durch uns und unsere Filme hindurch atmen? Manche machen drei Filme im Jahr, immer am Puls der Zeit, Stachel im Fleisch einer Gesellschaft, oder wenigstens spielerische Ausprobierer in Form und Gefühl. Andere bringen alle fünf Jahre einen Film zur Welt. Filme wie Kinder, die aufwachsen, uns begleiten und verändern, um am Ende vielleicht groß, gar bedeutend zu werden oder sich zuletzt einfach in der Masse der brav Arbeitenden einzuordnen. Was all jene, die Filme machen, verbindet, ist die ganz persönliche Hoffnung, dass „vielleicht morgen oder übermorgen oder an einem der kommenden Tage“, wie Chantal Akerman schreibt, „etwas aus dem völligen Dunkel zum Vorschein kommt und man plötzlich sicher ist, dies wird ein schönes Stück Kino.“


Die Herausgeber

An dem Tag, an dem ich mich entschieden habe, über die Zukunft des Kinos nachzudenken, bin ich mit dem falschen Fuß aufgestanden — leider nicht nur an diesem Tag. Ich habe Pampelmusensaft in ein umgedrehtes Glas gießen wollen. Ich habe mein Bad überlaufen lassen. Ich habe mit einer ausladenden Bewegung meinen Kaffeebecher umgestoßen. Ich habe mir mein T-Shirt falsch herum übergestreift. Ich habe vergessen, das Wechselgeld im Tabakladen entgegenzunehmen, als ich mir Zigaretten gekauft habe, die ich dann liegen gelassen habe. Mein Hund hat nicht reagiert, als ich ihn gerufen habe. Ich habe eine Glückwunschpostkarte zum Geburtstag bekommen und musste weinen. Ich habe das falsche Telefon abgehoben, als es geklingelt hat. Das E auf meiner Tastatur ist hängen geblieben und ich musste an jemanden denken, ohne mich an seinen Namen zu erinnern. Hinterher ist mir der Name wieder eingefallen, Georges Perec. Hat er an die Zukunft der Literatur gedacht, als er schrieb? Ich dachte plötzlich, dass er so früh gestorben ist, weil er zu viel geraucht hat und habe daraufhin meine Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt, mir aber gleich eine neue angezündet. Ich habe die Freundin angerufen, die mir die Karte geschickt hat und hatte auf einmal jemand anderen am Telefon. Ich habe gesagt, „Entschuldigen Sie, ich bin noch nicht  wach.“ An dem Tag, an dem ich mich entschieden habe, über die Zukunft des Kinos nachzudenken, war ich auf einmal sicher, dass ich die nicht mehr erleben werde. Ich habe mich gefragt, ob die Zukunft wirklich immer vor einem liegt. Ich habe also vor mich geschaut und mich dann umgedreht. Ich habe mich gefragt, ob Leute, die mit hängendem Kopf herumlaufen, überhaupt einen Sinn für die Zukunft entwickeln können oder nur die, die mit stolz erhobenem Haupt durchs Leben gehen. Ich war mir sicher, dass ich meine Zukunft bereits hinter mir habe, weil man bei einem Menschen meines Alters normalerweise nicht sagt, er hätte eine schöne Zukunft vor sich. An dem Tag, an dem ich mich entschieden habe, über die Zukunft des Kinos nachzudenken, bin ich also wirklich mit dem falschen Fuß aufgestanden. Wenn man mit dem falschen Fuß aufsteht, kann man nicht denken. Und vor allem nicht an die Zukunft des Kinos. Wenn man mit dem falschen Fuß aufsteht, sollte man am besten gar nicht aufstehen. Man sollte sich keinen Pampelmusensaft eingießen (wenn es noch welchen gibt). Man sollte sich kein Bad einlaufen lassen, sich keinen Kaffee machen (wenn es noch welchen gibt). Man sollte auf keinen Fall seinen Hund rufen. Wenn man mit dem falschen Fuß aufsteht, sollte man nicht Geburtstag haben und auch nicht telefonieren. Und noch weniger an Georges Perec denken. Schon gar nicht an Literatur. Man sollte auch nicht zu wildfremden Leuten sagen, ich bin noch nicht wach. Wenn man mit dem falschen Fuß aufsteht, sollte man wieder ins Bett gehen. Wenn man dann zufällig wach wird und man an etwas denkt, ohne eigentlich zu denken, das, man weiß nicht wie, durch den nunmehr wachen Kopf schießt, der in diesem Moment vergisst, dass er denken soll, freut man sich plötzlich, weil vielleicht morgen oder übermorgen oder an einem der kommenden Tage etwas aus dem völligen Dunkel zum Vorschein kommt und man plötzlich sicher ist, dies wird ein schönes Stück Kino.



Der Text wurde ursprünglich für Trafic 50 „Was ist Kino?“ geschrieben, aber erst in Nummer 97, Februar 2016 unter dem Titel „Le jour où“ anlässlich des Todes von Chantal Akerman abgedruckt. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags P.O.L Editeur. Übersetzung: Marcus Seibert.

Beim möglichst objektiven Aufnehmen dieser Bilder in der Hauptstadt von Jakutien habe ich mich ehrlich gefragt, wem ich damit eine Freude machen werde, denn die UdSSR wird im Allgemeinen nur als Hölle oder aber als Paradies beschrieben. Zum Beispiel:

Jakutsk, Hauptstadt der sozialistischen Sowjetrepublik von Jakutien, ist eine moderne Stadt, in der komfortable Autobusse der Bevölkerung zur Verfügung stehen und auf der Straße eine ZIM-Limousine kreuzen, den Stolz der sowjetischen Automobilindustrie.


Im fröhlichen Wettkampf der sozialistischen Arbeit machen die glücklichen sowjetischen Werktätigen,

unter ihnen auch ein pittoresker Repräsentant der waldreichen Gegenden,

sich daran, Jakutien zu einem Land zu formen, in dem es sich gut leben lässt!

Christoph Hochhäusler

Ich würde gerne unser Gespräch anfangen mit dem Satz „Wir bleiben Kinder, aber vergessen, dass wir spielen“. Du hast ja sehr früh angefangen zu spielen. Und ich würde mich interessieren für diesen Übergang von kindlichem Spielen und Spielen mit Auftrag.

Denis Lavant

Ich weiß gar nicht, ob es da wirklich einen Übergang gibt. Ich habe das Spielen einfach fortgesetzt, meine Art, mich zu verhalten, meinen Blick, die Wahrnehmung der Welt, vor allem der Welt der Erwachsenen. Das habe ich nur professionalisiert. Ich war früh schon ein Gaukler und Possenreißer im Straßentheater. Ich habe mir schon zu Schulzeiten vorgenommen, eine poetische Lebensform zu finden, auf den Händen zu laufen, wie ein Seiltänzer zu balancieren, Gedichte auswendig zu lernen und damit über Wörter zu verfügen. Für mich ist Poesie auch ein kinematographischer Terminus, weil man da Begriffe in Bilder fasst. Ich habe mich anfangs als Mime im Stile Marcel Marceaus verstanden, habe kleine Pantomimen aufgeführt vor Eltern und Freunden. Dann bin ich in die Theatergruppe unseres Gymnasiums gekommen. Es gab da einen Geschichtslehrer, Michel Fragonard, ein großer Theaterliebhaber. Er hatte selbst bei der Theatergruppe Aquarium angefangen und später eine völlig freie Theatergruppe gegründet, in der es keinen Regisseur gab. Jeder sagte, was er dachte und so bildete sich die Inszenierung heraus. Das war so was, wo ich dachte, so was muss ich machen. Das ist ein Ort, der mir gefällt. Wegen des künstlerischen Niveaus, aber auch des geistigen, wegen der Freiheit des Ausdrucks, auch der Freiheit der Beziehungen und des Umgangs zwischen den Leuten. Man konnte sich umarmen, raufen, starken Gefühlen Ausdruck geben. Das fand ich perfekt. Der Übergang fand am ehesten statt, als ich beschloss alles zu tun, um Schauspieler zu werden. Ich wollte verstehen, wie das geht und dafür muss man auf eine Schauspielschule gehen und üben. Das ist die einzige Art, wie man begreift, wie das Metier geht, indem man immer wieder übt.

Spielen bedeutet ja immer, dass man andere Dinge darf und bestimmte Grenzen sprengen kann. Inwieweit hat das zu tun mit einem Leben, in dem das vielleicht nicht möglich war. Hattest du das Gefühl, du musst dich befreien und befreist dich in diesem Raum, in dieser Manege, sozusagen?

Das war für mich ein Freiraum, wo ich mich ausdrücken konnte, was in meinem Familienumfeld nicht unbedingt üblich war und auch nicht in diesem Clanzusammenhang der Schulklassen, den üblichen Beziehungen zwischen Jungs oder zwischen Jungs und Mädchen damals. Im Theater war es möglich, die Festungsmauern des Anstands des bürgerlichen Milieus und des jugendlichen Schulzusammenhangs zu sprengen. Bei Leuten wie Leos fand ich einfach toll, dass man die Gelegenheit bekam, Dinge zu machen, die man normalerweise ganz sicher nicht macht. Das hat mich beglückt. Ich erinnere mich noch an eine Szene aus Boy Meets Girl. Am Anfang des Films gibt es da diesen Freund, ich erinnere mich nicht mehr an den Namen der Rolle, jedenfalls wurde er gespielt von Christian Cloarec, der meine Freundin verführt hat. Ich treffe ihn am Quai der Seine. Wir diskutieren ziemlich heftig, ich gehe von ihm weg und komme dann wieder zurück und schubse ihn in die Seine. Ein transgressiver Moment, das macht wirklich Spaß, so was im Kino zu machen.

Publikum

Es gibt keine Konsequenzen.

Genau. Das ist abgesichert, geschützt durch die Magie des Kinos, wie im Theater. Da gibt es die Grundvoraussetzung, dass man auf einer Bühne steht und man sich deshalb eine Menge Dinge erlauben kann, zu denen man auch die Kraft in sich findet, die man aber im normalen Leben nie machen würde.

Mit dreizehn hast du schon Straßentheater gespielt. Wenn du zurückschaust, inwieweit hast du das Gefühl, du lernst dazu? Was lernt man eigentlich im Laufe eines Schauspielerlebens? Was trainiert man? Was kann man besser? Was verliert man vielleicht? Vielleicht kannst du über diese Strecke sprechen.

Es gibt Dinge, die man erwirbt, andererseits welche, die man verliert. Und dann gibt es auch noch das Leben, von dem man ganz allgemein eine Menge lernt, auch durch die Erfahrung des Spielens und die persönlichen Erfahrungen im Leben, durch das Altern, durch die Begegnungen, die man hat, durch die Liebesverhältnisse, den Liebeskummer, die Traurigkeit, die Trauer und durch die Einflüsse der Umgebung. Alles das ist Material, alles hat Einfluss auf das Spiel, aber auch das, was man spielt und zu spielen ablehnt. Der Weg eines Schauspielers ist immer von Zufällen bestimmt. Zum Beispiel die Geschichte mit Leos Carax. Ich hatte überhaupt nicht vor, fürs Kino zu spielen. Ich war ein Gaukler, ein Straßentheaterspieler und das macht unglaublich Spaß. Ich habe allerdings schon früh angefangen, mit großen Regisseuren zu arbeiten. Vitez hat mir vorgeschlagen, in einer Oper mitzuspielen. Ich galt als sehr physischer Schauspieler, weil ich von der Pantomime kam. In der Tat war ich auch anfangs eher Tänzer als Schauspieler. Aber ich wollte zum Wort, zur dramatischen Kunst, wie man so sagt. Am Anfang hatte ich viele sehr physische Rollen und das gefiel mir, weil das einfach toll ist, sich so zu bewegen. Und dann hat mich Leos ausgewählt — warum weiß ich nicht — als sein Alter Ego in dem ersten Spielfilm Boy Meets Girl. Ich hatte keinerlei Ambitionen Kinofilme zu drehen. Ich wollte Theaterschauspieler sein. Das war mein Ziel, auch wenn mich das zum Film gebracht hat. Nach Boy Meets Girl war das auch erst mal für mich erledigt. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass es einen zweiten Film geben wird. Dann kam Mauvais sang (Die Nacht ist jung), da war einiges drin, das war absolutes Risiko. Und man muss ja auch sagen, Filmemachen, davon kann man leben. Und jeder Film mit Leos war eine künstlerische Erfahrung und auch eine des Lebens, das hat mich erwachsen werden lassen, das hat mich verstehen lassen, wie Sachen als Schauspieler laufen. Konkret ist für mich nur: Man ist immer sein eigenes Instrument. Man spielt, man wird von Regisseuren ausgewählt, man stellt sich Regisseuren oder Texten lebender oder bereits gestorbener Dramatiker zur Verfügung, aber man entwickelt dabei, unterhält, erzieht und zähmt seinen Körper und seinen Geist, damit beide in der Lage sind, in sehr verschiedene Materien einzusteigen, sich dienstbar zu machen. Für mich steckt wirklich die Idee dahinter, dass man sich zur Verfügung stellt. Das Älterwerden, ich bin ja jetzt bald 54, sorgt schon dafür, dass ich weniger Energie habe. Als ich jünger war, gab es nur den Text und die Bühne. Ich wollte mich immer gleich bewegen, überall hinspringen. Inzwischen springe ich nicht mehr überall hin, aber ich halte mich mehr an das Handwerkliche, und mit der Erfahrung und den verschiedenen Versuchen habe ich den Eindruck, dem Wesentlichen näher oder weiter zu kommen, als mit dem, was ein Text vorgibt. Das ist wie mit dem Gedächtnis. Lange Zeit musste ich einen Text nur dreimal lesen, dann konnte ich ihn auswendig. Inzwischen ist mein Gedächtnis nicht mehr so frisch. Gleichzeitig komme ich weiter im Verständnis des Ganzen und außerdem wiegt da auch die Erfahrung von über 50 Lebensjahren. Ich arbeite ja mit meinen Erinnerungen an alte und neue Empfindungen, allerdings ohne eine spezielle Methode. Ich stehe persönlich kritisch der Stanislawski-Methode des Actors Studio gegenüber. Ich wende das nicht an. Meine eigene Technik ist komplett anarchisch, aber sie erlaubt mir, weiterzukommen und zwar durch Authentizität und Wahrheit.

Sandra Hüller

Mich interessiert, Sie reden so viel über Leos Carax, weil Sie sich bestimmt auch gut kennen und viel miteinander gemacht haben. Aber meines Wissens war die Erfahrung bei Les Amants du Pont-Neuf (Die Liebenden von Pont-Neuf) sehr extrem und hat Sie auch dazu bewogen, danach zu pausieren und sich zu sammeln. Mich interessiert, wie man mit einem Regisseur, mit dem man so was erlebt hat, wieder zusammenfindet. Es gab ja weitere Zusammenarbeiten. Das ist auch die Frage nach dem, was passiert ist in den Dreharbeiten, etwas, das mit einem Vertrauensbruch zu tun hatte, so viel ich weiß.

Das war in der Tat ein Vertrauensbruch, wobei ich nicht mal weiß, ob es vorher ein wirkliches Vertrauensverhältnis gab. Unsere Beziehung war anfangs eigentlich ein Misstrauensverhältnis. Misstrauen des Regisseurs gegenüber der Anarchie des Schauspielers und Misstrauen des Schauspielers gegenüber dem, wohin man mich in die Filmwelt mitnehmen wollte, gegenüber dieser Form, die ich nicht ganz verstanden habe. Ich glaube, Les Amants du Pont-Neuf, das waren wirklich monströse Dreharbeiten, eine absolute Grenzerfahrung, weil das drei Jahre gedauert hat, wir also drei Jahre lang Clochards waren und Leos mich und Juliette dazu getrieben hat, da an die Grenzen der Authentizität, des Realismus, des Erspürens von selbst Erlebtem zu gehen. Und weil es um das Milieu des sozialen Elends ging, ist das nicht gerade angenehm. Selbst wenn man jedes Mal wieder rausgezogen wird, wenn man in die Seine geworfen wird, kann das psychisch schon seine Folgen haben. Man kann sich dabei verloren gehen, mit dem ganzen Alkohol, mit der ganzen Angst, mit dem totalen Niedergang, auch körperlich. Das waren wirklich extrem harte Dreharbeiten, sehr einsam, was mich anbelangt, obwohl man von einem großen Drehteam umgeben ist. Man ist allein mit seiner Figur und mit deren Problemen. Und weil es gerade um

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2209-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Revolver ist eine Filmzeitschrift von Filmemachern herausgegeben und erscheint halbjährlich. Der Schwerpunkt liegt auf Werkstattgesprächen „auf Augenhöhe“. Die Redaktion sind Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg, Franz Müller, Nicolas Wackerbarth, Marcus Seibert, Saskia Walker, Zsuzsanna Kiraly, Hannes Brühwiler, Istvan Gyöngyösi und Cécile Tollu-Polonowski.

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