VORWORT
Wie kann man die Vergangenheit zur Gegenwart machen? Das ist eine der Grundfragen des Kinos. Auch die drei großen Interviews in diesem Heft schauen zurück nach vorn. Der Drehbuchautor Razvan Radulescu spricht über das Gefühl der Scham nach der Revolution, und welche Form die Erinnerung diktiert, Peter Liechti erzählt (kurz vor seinem frühen Tod Anfang dieses Jahres) von der Genese seiner Projekte und ihrer mitunter jahrzehntelangen Inkubation, Günter Stahnke berichtet von den Verletzungen und Untiefen der Filmproduktion in der DDR-Diktatur und seinem Überwintern in der Heiteren Dramatik. Zugleich präsentiert sich Revolver grafisch in neuer Form: Die Gestaltung des Heftes verantworten mit dieser Ausgabe die Grafiker Mathilde Lesueur und Jérémie Harper.
Die Herausgeber
Nicolas Wackerbarth
Als Drehbuchautor blickst du auf ein beeindruckendes Oeuvre zurück, viele dieser Filme sind bereits Teil der Filmgeschichte. Du hast als Schriftsteller angefangen und zwei Romane veröffentlicht, was hat dich zum Film gebracht?
Răzvan Rădulescu
Ich kann dir nicht genau sagen, wie ich angefangen habe. Fehlstart, könnte man sagen. Als ich mich für ein Studium entscheiden sollte – meine Eltern waren entschlossen, mich wettbewerbsfähig zu machen, so dass es außer Frage stand, dass ich studiere – wollte ich Opernregie machen, ich mochte Oper sehr und verfügte über musikalische Kenntnisse. Das gab es aber nicht und alle sagten, ich sollte es mit Theater an der Akademie für Theater und Film versuchen, was mir ein Ding der Unmöglichkeit zu sein schien. Besonders damals, vor ’89, weil es völlig überlaufen war, 100 Bewerber auf einen Platz.
Vor ’89 heißt vor der Revolution.
Jetzt, da ich die Schule besser kenne, verstehe ich überhaupt nicht, warum sie so begehrt ist. Damals war sie so etwas wie ein unerreichbares Paradies. Ich bin nicht hingegangen, ich habe mich für Literatur entschieden. Die humanistische Richtung, was meinen Vater sehr verunsicherte. Seit ich 16 war, sagte er zu mir: Werde Anwalt, wenn du etwas Humanistisches willst, das ist solider als die Künste, die keine Zukunft haben. Ich habe also Literatur und Französisch studiert und währenddessen einen Lesezirkel besucht, in dem einige bereits bekannte Schriftsteller ihre Ansichten unterbreiteten oder gar einen fertigen Text und du aufgefordert warst, Stellung zu beziehen und diese auch argumentativ zu entwickeln. Ich erinnere diese Zeit als eine, in der ich wirklich ein spezifisches Wissen aufbauen konnte darüber, wie man über Fiktion spricht. Weil es im Rahmen der Hochschule geschah und man von dir erwartete, keinen Blödsinn zu reden und deine Rede zu strukturieren.
Und als ich das Philologiestudium abgeschlossen hatte, eröffnete plötzlich die Musikakademie eine Sektion für Opernregie, das war unvorstellbar gewesen bis dahin und ich dachte, dafür muss ich mich bewerben. Und ich habe mich beworben. Es waren wenige, die bereit dazu waren, und ich muss zugeben, dass die Erfahrung schlecht war. Was ich also schon immer machen wollte, war eine riesige Enttäuschung. Weil die Musikakademie in Rumänien voll ist mit Leuten, die sich an der Romantik und an den Darbietungen der Romantik orientieren. Kunst mit großem K. Da geht’s um Sänger, die so sehr darauf bedacht sind, ihre Stimme nicht zu ruinieren, dass sie dir absolut unfreundlich begegnen, wenn du sagst: Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen oder ein Bier. Bist du verrückt geworden, sagen sie, draußen ist März, es ist viel zu kalt. Sie sind völlig paranoid, was ihre Stimme angeht. Ich erinnere mich daran, wie einer kam, um mich zu begrüßen und er trug einen Schal bis hierhin, ich dachte, ich werde angegriffen. Die Professoren sind unfähig, die, die gut sind, lehren nicht. Mit sehr wenigen Ausnahmen waren die Musiker, denen ich da begegnet bin, bestenfalls die besten Musiker auf dem Stockwerk ihres Wohnblocks.
Ich habe schließlich nur eine einzige Inszenierung gemacht, La voix humaine von Poulenc, nach Cocteau. Ich habe es sehr genossen. Ich war glücklich, alle Freiheiten zu haben, ich habe es so gemacht, wie ich es machen wollte. Es ist sehr schlecht angekommen, weil ich natürlich die Musik in eine bestimmte Richtung gedrängt, das Schauspiel in eine bestimmte Richtung getrieben habe. Das einzige, was ich wollte, war eine gute Darstellung auf der Bühne. Das wurde natürlich nicht honoriert und ich wusste auch, dass ich keine Opern mehr inszenieren werde, weil die Opernhäuser in Rumänien – es gibt drei davon – nur mit Verträgen auf Lebenszeit arbeiten. Sie sagen also: Ok, du kannst kommen und für uns arbeiten, aber wir werden dich anstellen, du wirst von uns deine Rente bekommen, du wirst sozial abgesichert sein, alles ist wunderbar und du arbeitest von neun bis fünf und wenn es was zu inszenieren gibt, dann inszenierst du. Und das gefiel mir überhaupt nicht und ich begann, für ein Magazin das Layout zu machen. Und währenddessen schrieb ich. Ich ging weiterhin zu diesem Lesezirkel und schrieb. Es war eine Zeit, in der ich nicht den Anspruch hatte, Kunst zu machen, ich sagte mir, ich muss Geld verdienen, Spaß haben… So traf ich Cristi Puiu. Wir haben uns auf einer Party kennengelernt, auf der wir als letzte übriggeblieben waren und über Musik und Malerei redeten, damals malte er noch und machte noch keine Filme. Er schickte mir Musik, für die ich mich interessierte und ich sammelte Literatur für ihn und schickte ihm Texte, die ihn interessierten. Und als er von Genf nach Bukarest zurückkehrte, wollten wir was mit Film machen. Dass wir Marfa și banii, Stuff and Dough schrieben, wurde durch einen Zufall möglich, der Gründung des CNCs, des Nationalen Zentrums für Kinematographie, in jenem Jahr…
Irene Rudolf
…’99…
…’99. Der Plan für eine solche Institution existierte da schon eine Weile. Ihr kennt vielleicht Radu Gabrea, er hat lange in Deutschland gearbeitet und hat hier auch einen Film gemacht, der so etwas wie Kultstatus genießt, Ein Mann wie Eva, der handelt von Fassbinder und Eva Mattes spielt darin Fassbinder. Nach der Revolution kehrte Gabrea nach Rumänien zurück und schaffte es irgendwie, das CNC ins Leben zu rufen und sich zu dessen ersten Leiter ernennen zu lassen und seine junge Sekretärin sagte zu Puiu: Pass auf, es wird eine Ausschreibung geben, hast du nicht ein Drehbuch? Und wir haben in zwei Wochen eins gemacht und das war Marfa și banii. Ich will’s nicht kleinreden, es war sehr harte Arbeit. Wir haben viel miteinander gesprochen und ich erinnere mich an die Kopfschmerzen, die ich nach zwei Wochen Schreiben hatte.
Der Film hat sämtliche folgenden Filme des neuen rumänischen Kinos beeinflusst und als ich ihn gesehen habe, habe ich ihn gemocht, ohne aber darin eine Offenbarung zu sehen. Magst Du den kulturellen Kontext beschreiben, in dem die Produktion eine derartige Wirkung entfalten konnte?
Es ist sicherlich eine Frage der Umstände, weil der Film nicht schlecht ist, das sehe ich, und er hat sich so etwas wie Frische bewahrt. Aber er haut einen keineswegs um. Es ist nur ein einfacher, ehrlicher Film und ich denke, dass sowohl Puiu als auch ich das große Glück hatten, auf eine nicht unsinnige Weise mit dem Schreiben anzufangen, Film zu denken oder zu machen und keine unverwirklichbaren Ansprüche auszustellen wie über Dinge sprechen, derer wir uns nicht sicher sind, Schauspieler haben zu wollen, die unerreichbar waren oder eine Produktion stemmen zu wollen, die was weiß ich für Gelder benötigt hätte, mit Geschichten, die für uns ohnehin nicht so interessant waren oder nicht zu bewältigen gewesen wären. Glücklicherweise konnten wir, glaube ich, einen Film machen, der sich völlig einfügte in das, woran wir beide stark glaubten. Eins der Dinge, an die ich immer noch noch glaube, ist, dass du keine Geschichte über die großen Ereignisse des Lebens erzählen und eine Ode an diese schreiben solltest, sondern in deiner Küchenschublade nachschauen und eine Ode an deinen Korkenzieher schreiben solltest, weil das eine Einrichtung ist, derer du dich viel öfter bedienst als einer Pistole. Oder eine Ode an eine Gabel. Um dich herum sind lauter bedeutungsvolle Dinge, sie haben eine Funktion. Lass uns nicht pompös werden, das war die Idee. Und das war damals unerhört. Ich will dir nichts vormachen, wir haben viele Filme gesehen, bevor wir Marfa și banii gemacht haben, und der Film ist von vielen Filmen beeinflusst, die wir mochten.
Hast du eher rumänische Filme gesehen?
Nein, ich spreche von Filmen, die wir mochten, ich erinnere mich, zu jener Zeit alles gesehen zu haben, was Cassavetes gemacht hat und ich mochte es sehr, noch bevor ich selbst irgendeine Art Film machte. Ich erinnere mich, damals Dreyer gesehen zu haben und völlig weg gewesen zu sein, weil es so einfach war, zumindest war es das, was ich damals davon verstanden habe. Und ich finde immer noch, dass er auf sehr einfache Art und Weise die Geschichte und die Inszenierung angeht. Ich hatte damals so um die 20 Filme von Rohmer gesehen und mochte ihn sehr. Einen Film zu machen war damals für uns beide ein Ding der Einfachheit, da gibt’s nichts Großes zu erzählen. Du musst einer Figur folgen oder etwas Einfaches über sie erzählen, eine Sache herausarbeiten, vielleicht eine moralische. Die Reaktion des Publikums kam für uns nicht ganz unerwartet, weil wir die Reaktion der Produzenten kannten. Die Produzenten waren zu Beginn überglücklich, vom CNC das Geld für diesen Film zu bekommen, weil sie die Chance erblickten, es beiseite zu schaffen.
Das war ein Produktionshaus aus früheren Zeiten. Das damalige Budget lag bei ungefähr 300.000 Dollar, damals rechneten wir noch nicht in Euro, und die Hälfte davon haben sie sofort geklaut. Das Geld war, glaube ich, schon woanders, als wir einander die Hand gaben und hallo sagten. Ich erinnere mich, dass sie tatsächlich sagten: Unsere Sache steht unter einem guten Stern und wir haben für euch eine Feier vorbereitet. Und wir gingen also auf diese Party, die wirklich obszön verschwenderisch war, sie hatten in Restaurants bestellt, da waren Menschen, die wir danach nie wieder gesehen haben, die gesamte Buchhaltung, deren Söhne und Töchter, alle waren sie mit ihren Familien gekommen, es müssen einige hundert Leute auf dieser Party gewesen sein.
Während wir dachten, dass wir und der Beginn des Films, den sie mit uns machen, Anlass der Party wären, haben sie, wie wir später herausfanden, einen Typen verabschiedet, der in Rente ging. Sie haben uns zum Vorwand genommen, um für ihn teure Geschenke und eine Abschiedsfeier zu finanzieren.
Und dann fingen sie an: Wisst ihr, in diesem Film sind zu viele Schimpfwörter, und würdet ihr es nicht gut finden, wenn dieses Auto, anstatt sein Ziel zu erreichen – sie haben doch ohnehin Ärger auf der Fahrt – wäre es also nicht besser, wenn sie einen Unfall hätten und wir einen Stuntman engagieren und das Auto ersetzen und so weiter. Weil es ihnen nur darum ging, das Auto durch ein neues zu ersetzen, das sie danach behalten würden. Und wir wussten, dass das alles höchst problematisch werden und den Film killen könnte. Cristi hat damals seine ersten grauen Haare bekommen, kein Witz. Es war ernster, als ich es erzähle, du siehst ihn – während er darauf wartet, dass das Geld kommt, damit das Set eingerichtet wird – Snake auf seinem Nokia spielen, bis er die Tastatur versenkt. Der Ton war schrecklich, weil der Viertaktmotor des Autos auf drei Zylinder lief, du hörst das auf der Tonspur. Und als der Film in die Kinos kam, war sofort klar, dass das junge Publikum sich augenblicklich mit der Art, wie die Figuren sprechen, identifiziert. Viele Flüche und sehr verächtlich.
Für die ältere Generation, insbesondere für Filmkritiker und Filmemacher, war das kein Kino. Und sei es nur, weil die Kamera eine Schulterkamera ist.
Ihr habt auf Film gedreht?
35mm.
Dann habe ich eine sehr schlechte Kopie gesehen.
Nein, du hast eine gute Kopie gesehen. Der Credit dafür geht an das Kopierwerk, für die Farbkorrektur.
Und das wurde schließlich als Frische interpretiert.
Ja, zum großen Teil.
Aber warum war das etwas Neues?
Für Rumänien war es das. Du als Filmkritikerin hast vielleicht recht, wenn du aus einer historischen Perspektive wertvolle Dinge im rumänischen Kino vor ’89 siehst, ich tue es nicht. Es ist ganz einfach, ich habe nur einen Namen, einen Regisseur, für mich ist es Alexandru Tatos. Kein Pintilie, kein Gulea, kein Daneliuc, kein Pița.
Es gibt nur einen Film, der es wert ist, gesehen zu werden, Secvențe. Vielleicht wäre ich nicht so radikal, wenn es darum ginge, ob Filmgeschichte wertvoll sei, als wenn es darum geht, wie diese Filme aussehen, wie sie von der Zensur mystifiziert wurden, wie diese Künstler sich verkauft und ihre Ästhetik kompromittiert und ihre Chance und ihr Talent zerstört haben.
Durch die Zensur?
Durch den Kompromiss, nicht durch die Zensur. Weil es, um Filme zu machen, auch einfacher war, solche Filme zu machen. Ein bisschen Propaganda in jedem Film. Und alle sagten: Nein, ich mache keine Propagandafilme, ich verkaufe mich nicht, na gut, ich kann in meinem Film ein Stückchen Propaganda liefern. Und jedes Mal, wenn du dir eine rumänische Produktion des Kinos vor ’89 anschaust, hast du diesen verhinderten und verformten Film.
Stilistisch und thematisch bewegte sich das rumänische Kino vor ’89 ziemlich synchron zu dem, was sonst in Europa gemacht wurde. Wenn wir über die späten Fünfziger und über Liviu Ciuleis Pădurea spânzuraților sprechen…
…The Forest of the Hanged, Der Wald der Gehängten, gewann in Cannes ’64 den Regiepreis…
…der Film sieht wie viele anständigen Filme jener Zeit aus. Da sind Filme in den Siebzigern, du siehst den Stil, dass sie sich die neuen Kamerabewegungen zu eigen gemacht haben, den Zoom übernommen haben…
…Cristi Puiu spricht davon, dass Reconstituirea, Die Rekonstruktion, ein wichtiger Film ist für ihn.
Nicht für mich. Im Film ist so etwas wie echtes Talent, weil Pintilie tatsächlich sehr talentiert ist. Aber da ist auch diese ganze Hysterie, die Pintilie später völlig ruiniert hat. Er ist ein hysterischer Filmemacher. Dass die Revolution kam, hat vielen Filmemachern, wenn nicht allen, so etwas wie die Vorstellung eingegeben, dass sie die Probleme jenes Landes in jedem einzelnen Film, den sie machen, lösen können. Und Pintilie macht dasselbe. Jeder Film von Pintilie nach ’89 ist ein hysterischer Film, weil er über streunende Hunde sprechen will und darüber, dass Rumänien korrumpiert ist und über die Tatsache, dass wir schöne Musik haben und über die Tatsache, dass wir ein gastfreundliches Volk sind, aber auch darüber, dass wir ein verwirrtes Volk sind. Über alles. Das bringt diese Filme dazu, eine Sorte Salat zu sein. Unverdaulich.
Ein Film wie Hârtia va fi albastră, The Paper Will Be Blue, deine erste von bisher drei Kooperationen mit dem Regisseur Radu Muntean, handelt von der Revolution und ihr habt die Wahl getroffen, die Geschichte in einer einzigen Nacht zu erzählen, warum?
Es war ein Film, der geschehen ist, er war nicht wirklich beabsichtigt. Es war eher so etwas wie „Zeitgeist“. Es waren einfach 20 Jahre nach der Revolution vergangen. Und das fiel mit etwas Anderem zusammen, einem Vorausblick von damals. Als wir begannen, darüber nachzudenken, lagen 18 Jahre dazwischen. Aber das Gefühl war da, dass die Dinge in unserer Vergangenheit sehr weit zurückliegen. Und auf der anderen Seite gab es eine berühmte Prognose, eine orakelhafte Vorahnung, die plötzlich überprüfbar wurde. ’89 waren die Menschen enthusiastisch, weil das Regime gewechselt hat, alles möglich schien – wunderbare Zeiten, und zugleich lächerliche Zeiten. Berliner erinnern sich wahrscheinlich an den Enthusiasmus, als die Mauer fiel und die Menschen sich zu verbrüdern schienen und es keine Feinde mehr gab. Eine Nacht lang zumindest nicht. – Und keiner war böse, weil der böse Typ getötet wurde und die kommunistische Partei war ein Ding der Vergangenheit und alle sind jetzt gut. Und dann war da dieser Typ, Silviu Brucan, ein Politologe, ein marxistischer Philosoph, ein Vertreter des alten Regimes, aber einer, den man als Dissident kannte, und der sagte im Fernsehen: Ich glaube, dass sich Rumänien in frühestens 20 Jahren demokratisieren wird. Und für diejenigen, die gerade vor zwei Tagen Demokratie erlangt hatten, für einen, der dachte, dass
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Die Autoren
Bildmaterialien: Mathilde Lesueur, Jeremy Harper
Lektorat: Zuszsanna Kiraly, Istvan Gyöngyösi
Übersetzung: Marcus Seibert
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2015
ISBN: 978-3-7396-1691-9
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