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I - Die Suspension

„Haylee Blackbird?“
Widerwillig hebe ich meine Hand.
„Willst du etwas zu deiner Verteidigung sagen?“ Mit einer hochgezogenen Braue, bedenkt mich Mrs. Wallobee mit ihrem stets strengen und dunklen Blick.
Ich schüttle lediglich meinen Kopf unter dieser andauernden Verurteilung.
„Dann bist du die nächsten zwei Wochen suspendiert. Die Schule schickt dir deine Hausaufgaben zu.“ Mit einem Handwink, der mehr verriet, was diese alte Schachtel schon seit Jahren über mich gedacht hat, als jemals jemand in Worte fassen könnte, schickt sie mich hinaus.
Schnaubend wende ich mich ab und verdrehe dabei die Augen. Bevor ich jedoch zur Türe hinaus bin, halten ihre Worte mich eine Sekunde länger zurück. „Mit dieser Einstellung wirst du es nie weit bringen.“
Zornig schlage ich die Türe hinter mir zu, woraufhin das Mädchen, welches noch immer ihre andauernd, blutende Nase hält, erschrocken in den Armen ihrer Eltern zusammen zuckt. Wütend funkle ich sie an.
Sie erwidert meinen Blick bloß noch mit der Hälfte an Abscheu, welche sie, schon seit wir uns kannten, für einander übrig haben.
Auf der anderen Seite des Flures, welcher sich vor der Direktion gabelt, springen zwei Schüler auf, welche mich hastig zu sich winken.
„Dafür werden wir dich anzeigen!“
„Und für die Nasenop wirst du auch blechen!“
Ich rümpfe angewidert meine eigene Nase. „Jetzt sieht sie wenigstens nicht mehr so fett aus, dein dämlicher Zinken!“ Mir doch egal, ob mich ihre Eltern anzeigen wollen. „Außerdem ist bei mir ohnehin nichts zu holen.“
Schnaubend wende ich mich auch von denen drei ab und gehe auf die beiden Schüler zu. Ein Mädchen, rothaarig, schlank, athletisch und so schüchtern, dass ich sie regelrecht zu ihrem Glück zwingen hatte müssen. Neben ihr, Adam... >Der< Adam! Mein Ex-Freund, mittlerweile bester Freund und, auch wenn Jem nichts davon wusste, mein heimlicher Schwarm... wieder.
Adam und ich waren zusammen gekommen, als wir beide zwölf gewesen sind. Tatsächlich sind wir sogar an meinem Geburtstag zusammen gekommen. Er hat nämlich am selben Tag und hat extra seine Party abgesagt, um mit mir feiern zu können. Als wir uns dann beim Flaschendrehen geküsst haben, wurden wir quasi >verkuppeltJem wechselte zu uns, kurz nachdem ich Schluss gemacht habe, mit Adam. Damals hatte ich die Ansicht, ich will mich ausprobieren, mit anderen ausgehen und mich nicht ihm gegenüber schuldig fühlen. Jem gestand mir, dass sie ihn superheiß fand, als sie jedoch erfuhr, dass ich erst vor kurzem mit ihm noch eine langjährige Beziehung beendet gehabt hatte, schwieg sie und hielt sich stur zurück.
Anfänglich hat mich dieses Verhalten so sehr beeindruckt, dass sie quasi über Nacht meine beste Freundin wurde. Schicksal, möchte man meinen, wenn man darüber nachdenkt, wie attraktiv Adam in den letzten Jahren geworden ist. Früher ist er noch als >süß< durchgegangen. Heute ist er heiß und begehrt in der Oberschule! Intelligent, witzig, riecht stets zum Anbeißen... Schwärm!
Wie dem auch sei, ich verkuppelte vor einem Jahr Jem und Adam, da ich fürchterlich Mitleid mit Jem bekommen hatte, als Adam jedoch ja zu ihr gesagt hat... Mensch, noch nie in meinem Leben, bin ich dermaßen hart in der Realität gelandet!
Adam gehört zu mir. Punkt aus...
Aber Jem ist meine beste Freundin. Der Typ Mensch, den du nicht leiden sehen kannst und über alles liebst! Daher stelle ich, wie Jem damals, meine wiedergekehrte Schwärmerei für Adam hintenan. Auch wenn ich mir manchmal gerne einbildete, Signale von ihm wahrzunehmen.
„Haylee! Erzähl mir alles! Ich habe wilde Gerüchte über deine Schlägerei gehört!“ Der rothaarige Wirbelwind zieht mich in ihre Arme, in welchen ich dankbar versinke.
„Alles in Ordnung bei dir? Bist du auch verletzt?“ Fragt Adam seinerseits und legt eine Hand auf meine Haare, eine andere um seine Freundin. „Ich habe nur noch gesehen, wie man euch beide auseinander gezogen hat. Was ist passiert?“
Stöhnend winde ich mich aus Jem´s Umarmung und deute den anderen, mir zu folgen. „Die blöde Schlampe hat sich total lustig über meine Mutter gemacht!“ Zische ich aufgebracht.
„Du meinst, wegen dem Vorfall, letzten´s im Supermarkt?“ Adam wirft mir einen mitfühlenden Blick zu. Ich weiß, dass sein älterer Bruder dort arbeitet, anscheinend hat dieser den Zwischenfall mitbekommen und ihn überall herumerzählt.
„Schlag deinem Bruder für mich in sein hässliches Gesicht!“ Murre ich und verschränke die Arme vor dem Brustkorb. „Wieso muss der immer alles herum plappern? Ich meine... Was geht ihn das überhaupt an?“ Brause ich weiter auf, auch wenn Adam nichts für das Verhalten seines Bruders kann.
„Was? Um was geht es denn? Was ist im Supermarkt passiert?“
Ich stöhne genervt und stoße dabei so fest die gläserne Eingangstüre des Schulgebäudes auf, dass sie dahinter, gegen einen der Pfeiler schlägt. Einige Schüler wenden sich dabei, erschrocken nach mir um.
Na super! Jetzt habe ich bestimmt den Ruf einer Schlägerbraut... „Meine Mom hatte einen >Anfall<.“ flüstere ich etwas leiser, damit niemand mithören kann. Beide rücken näher an mich heran, um mich auch wirklich zu verstehen. „Sie hat in Merkury´s Supermarkt Flaschen und Schachteln nach irgendwelchen imaginären Wesen geworfen. Ihr wisst schon...“ Ich deute mit meinem Zeigefinger gegen meine Schläfe und wirbel damit herum, während ich pfeife. „Sie ist ja nicht ganz dicht und so. Aber das war sogar für sie heftig.“
„Ach, das war der Tag, an dem dich die Direktorin früher nach Hause geschickt hat, nicht wahr?“
Ich nicke Jem zu. „Genau.“ Zwar habe ich ihnen gesagt, dass meine Mutter einmal wieder einen >Vorfall< gehabt hat, doch ins Detail bin ich zu dieser Zeit nicht gegangen. Wenigstens richten sich ihre Panikanfälle und Halluzinationen nicht speziell gegen mich. Ehrlich gesagt, treten sie sogar bloß auf, wenn ich nicht anwesend bin. Zwar kann ich sie nachts hin und wieder mit >irgendjemandem< tuscheln hören, doch wie gesagt... Halluzinationen.
„Nun, ja. Wenigstens hat es fast eine ganze Woche gedauert, bis das Gerücht laut geworden ist.“ Ich werfe Adam einen undankbaren Blick zu. „Ich sage ja nur...“
Die Augen verdrehend schubse ich ihn leicht, wodurch er gegen seine Freundin taumelt. Jem lacht und fängt ihn hilfsbereit auf. „Du bist nicht hilfreich, Adam!“
„Gehst du jetzt direkt heim, oder hast du Lust noch etwas mit uns zu unternehmen?“
Kurz überdenke ich meine Möglichkeiten. Entweder etwas mit dem widerlich süßen Pärchen unternehmen, oder heim zu meiner Mom und ihrer gespaltenen Persönlichkeit? Die Qual, der schlechten Wahl... „Ich werde mich wohl heimlich in mein Zimmer schleichen. Wenn ich nicht bald weiterspiele, werde ich nicht weiter aufleveln und dann lauft ihr beide mir demnächst mit den Quests davon.“
„Wir >schreiben< uns später im Chat!“ Ruft Jem mir, hörbar besorgt, hinterher, während ich loslaufe, um die Straßenbahn zu erwischen.
Darin quetsche ich mich buchstäblich zwischen einen richtigen Andrang von Fahrgästen. Leute, die offensichtlich heute früher aus hatten. Fleißige Arbeiter, welche an einem Mittwoch wohl früher Schluss gemacht haben. Oder kam mir die Straßenbahn bloß so voll vor? Eigentlich ist es bei unserer Haltestelle, welche sich gegenüber von der Hedwig-Oberschule befindet, selten so voll, es sei denn, es handelt sich, um Schulanfang oder -ende. Heute jedoch, scheint sie ganz besonders voll zu sein, sodass ich acht Stationen bloß stehen kann und mich wie ein Tetris-Stein fühle, welcher gedreht und geschoben wird, damit er einen passenden Platz erhält.
Als es endlich so weit ist, und ich aussteigen muss, komme ich gerade noch durch die sich rasch schließende Türe und stolpere über den Krückstock eines älteren Mannes.
„Bitte verzeihen Sie. Geht es Ihnen gut?“ Hastig versichere ich mich, dass ich dem Mann nichts getan habe, dann biege ich durch einige Schleichwege, um zu einer Altbauwohnung zu kommen, mit sieben Stöcken... ohne Lift. Stöhnend besteige ich die endlose Treppe, bis hinauf in den fünften Stock, wo ich an der Türe so leise wie möglich, den Schlüssel einstecke. Fast lautlos gleitet der Mechanismus in die Türe zurück und ich kann die, von mir neu besorgte, Türklinke unhörbar hinunterdrücken. Der letzte Schließmechanismus hat bereits seit Jahren gebockt oder gar nicht richtig geschlossen. Als Adam´s Vater vor einigen Jahren dann, eine Sicherheitstüre bei ihnen zuhause eingebaut hat, hat Adam die Türklinke, samt dem Rest einfach zu mir mitgenommen und wir hatten es zusammen montiert.
Seit diesem Tag stehen keine Fremden mehr in unserer Küche, oder orientierungslose Penner.
„Mom?“ Frage ich leise in den verlassenen Flur hinein und steige über einige Schuhe hinweg, welche ich aus Protest herumliegen lasse. Keine Antwort... Nun ja, ich habe es zumindest versucht!
Auf Zehenspitzen schleiche ich durch den Flur, öffne meine behelfsmäßige Schiebetüre zur Seite und schließe sie genauso knatternd wieder. Als kein Ton aus der restlichen Wohnung erklingt, seufze ich erleichtert. Ich bin allein.
Mit wesentlich gebesserter Laune werfe ich mich auf das Schlafsofa, welches in meinem winzigen Zimmer steht, und strecke mich der Länge nach aus. Endlich ein paar Stunden selige Ruhe...
Da hörte ich auch bereits, wie sich das Türschloss herum drehte. Mist! Hastig schalte ich das Nachtlicht aus, welches ich letztes Jahr von Jemma zu meinem achtzehnten Geburtstag bekommen habe und praktisch durchgehend leuchtet, wenn ich zuhause bin.
Leider bleibt weiteres Glück weit entfernt von mir, denn meine Mutter öffnet trotz meines Versuches, unsichtbar zu bleiben, meine Schiebetüre. „Schön, du bist früher zuhause, das heißt, wir können gemeinsam Essen, bevor ich zur Nachmittagsschicht aufbreche!“ Freudig lächelnd, und meinen genervten Seufzer scheinbar mit Absicht überhörend, wuselt sie weiter in die Küche, zusammen mit ihrem blauen Einkaufskorb.
Widerwillig folge ich ihr. „Ja, ich hatte heute früher Schluss.“ Warf ich ihr praktisch vor, doch wie immer, bemerkt sie meinen Sarkasmus nicht.
„Wie schön! Das freut mich!“ Strahlt sie, als gäbe es die deutlichen schwarzen Ringe unter ihren blassen grauen Augen überhaupt nicht. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie erneut die ganze Nacht mit irgendwelchen, nicht anwesenden, Geistern, gesprochen hat.
Kopfschüttelnd setze ich mich an den Esstisch, welcher übrigens auch als Arbeitsplatte fungiert, und sehe ihr beim Auspacken zu. Vorsichtig pult sie das Klebeband vom nicht mehr schließenden Kühlschrank und stellt alles nötige hinein. Eine Packung Milch, sechs Eier, zwei Joghurts, eine Tafel Schokolade, so wie ein Glas mit Gürkchen. Danach nimmt sie einen neuen Streifen von der Kleberolle und klebt den Kühlschrank wieder zu.
Nachdem sie auch das Müsli verstaut hat, bleibt nur noch Knoblauch, offenbar vom Nachbarn geklaut, Faschiertes, zwei Karotten, Spaghetti, so wie eine Dose mit Tomatensauce übrig.
Überraschung! Es gibt wie jeden Tag Spaghetti Bolognese.... Dass ich jedoch kein Fleisch mehr esse, und das seit bereits drei Jahren, weiß sie ganz genau! „Das bedeutet, wir können noch zusammen früh Abendessen, bevor ich zur Arbeit muss!“
Etwas, dass ich normalerweise tunlichst vermied... „Yipie.“ Heuchle ich im typischen Teenagertonfall. „Würdest du aber bitte das Faschierte weglassen, Mom? Du weißt, ich esse kein Fleisch mehr.“ Erinnere ich sie.
Natürlich erhielt ich dieselbe Antwort, wie jedes Mal, bei diesem völlig überflüssigen Gespräch. „Unsinn! Du bist ein attraktives, junges Mädchen, mitten im Wachstum. Im Fleisch befinden sich wichtige Nährstoffe, die dich kräftigen. Du isst das Fleisch. Außerdem liebst du doch Spaghetti bereits dein ganzes Leben lang!“
Nicht mehr, seit es diese jeden Tag zum Essen gibt. „Als ich sagte, ich würde am liebsten jeden Tag Spaghetti essen, war ich erst fünf!“ Erinnere ich sie vorwurfsvoll.
„Es gibt doch nicht jeden Tag Spaghetti... erst gestern, ja! Da habe ich ein leckeres Sandwich gegessen. Ohne Spaghetti Bolognese!“
Ich fasse mir frustriert an die Stirn. Ja >sie< hat das vielleicht gegessen... aber für mich zum Abendessen hat sie einmal mehr Spaghetti gekocht und in einem Topf stehen lassen. „Schön für dich, Mom.“ Was sollte ich auch sonst groß darauf sagen? Diskutieren kann man einfach nicht mit dieser Frau! Nicht, dass sie dumm wäre. Das bei weitem nicht! Eigentlich ist sie sogar überraschend intelligent und versteht viele Sachen so gut, dass ich hin und wieder überlege, ihr einen IQ Test zu unterziehen. An Tagen wie diesen jedoch... hatte ich vielmehr große Angst vor der Antwort.
„Okay, Themenwechsel. Ich habe die nächsten Wochen frei. Hat meine Direktorin bereits bei dir angerufen?“ Mein Blick gleitet zum wild blinkenden Anrufbeantworter, der mir ihre Antwort bestätigte.
„Nein, du weißt ich hasse Telefone. Wenn es etwas wichtiges ist, sollte man sich ohnehin besser treffen.“ Die Instrumente des Teufels... Oder so ähnlich.
„Wieso hörst du dann nicht einfach den Anrufbeantworter ab? So schwer ist das ja eh nicht!“ Lege ich ihr nahe, obwohl ich weiß, sie wird es ohnehin nicht tun. „Was ist, wenn ich im Krankenhaus liege und sterbe? Wartest du dann so lange, bis mein Todesschein eintrifft?“
Jetzt bekam ich eine gewünschte Reaktion. „Schätzchen, mit dem Tod treibt man keine Scherze!“
Ich verdrehe die Augen, während ich auf das blinkende Symbol des Anrufbeantworters zugehe. „Ja, ja...“ Die ersten beiden Nachrichten waren von Mutters Therapeuten. Anscheinend ist sie zur heutigen Sitzung nicht erschienen. Der erste Anruf scheint eine Aufforderung zu sein, zumindest am Nachmittag auf einen Sprung vorbei zu kommen. Bei der zweiten Nachricht, handelt es sich um einen neuen Termin, den ich für sie eintragen soll.
Kopfschüttelnd höre ich der Mahnpredigt meiner Direktorin zu. Ich habe ihr zwar gesagt, dass es nichts nützt anzurufen, da meine Mutter ohnehin weder dran geht, noch abhebt, doch sie wollte ja nicht hören.
Die vierte Nachricht jedoch, überraschte mich überaus. Meine Mutter hatte bisweilen das Zimmer verlassen, um sich für die Arbeit fertig zu machen, da vernahm ich auch bereits eine völlig fremde Stimme. „Hi, Edna, meine Süße, ich bin es Olive! Wie geht es dir? Ich hoffe doch gut? Und deinem kleinen Sonnenschein? Wie geht es Haylee? Sie muss mittlerweile ja schon groß sein. Melde dich bei mir, Lästerschwester, ja? Meine Nummer hast du ja! Liebe dich!“
Ich verziehe bei dieser Quietschestimmme angewidert das Gesicht. „Was war das denn?“
Im selben Moment in dem ich dies Frage, kommt meine Mutter wieder in die Küche. „Was war was?“
„Kennst du eine Olive? Die hat eben...“ Ich verstumme, als meine Mutter bleicher wurde, als jemals zuvor. Augenblicklich wollte ich zu ihr stürzen, um sie vor einer Ohnmacht abzufangen, doch stattdessen greift sie sich auf ihr Herz und atmet tief durch, während ihr dicke Tränen aufsteigen.
„Sie... Sie haben mich gar nicht vergessen?“
Irritiert drücke ich auf den Wiederholknopf und spiele meiner Mutter die gespeicherte Nachricht erneut vor. Währenddessen scheint genau das Gegenteil zu geschehen. Als hätte jemand plötzlich die Lichter in meiner Mutter angeknipst, leuchtete sie regelrecht auf. Ihre Wangen werden sichtbar rosiger, ihre dunklen Augen strahlen voller, als jemals zuvor und ihre Lippen verziehen sich zu einem verträumten Lächeln. Als das Band endet, seufzt sie selig.
Okay... ich habe ehrlich keine Ahnung, was ich von alldem halten soll? Das hier ist einfach zu schräg! „Mom? Erklärst du mir das bitte? Wer ist der Quietscheball?“
Als meine Mutter die Spaghetti blubbern hört, rennt sie augenblicklich zum Herd, mit einer völlig neuen Körperhaltung. Plötzlich... wirkt meine Mutter viel weniger zerbrechlich. Wie ist das nur möglich?
„Olli ist eine alte Freundin von mir. Eine... sehr alte, aus Kindheitstagen. Während unserer Schwangerschaften haben wir fünf uns wohl aus den Augen verloren.“ Lacht sie, als würde sie mir eine Geschichte erzählen, über die sie gerne spricht. Eine Geschichte, die ich noch nie zuvor gehört habe! Meine Mom und Freunde? Niemals! Sie ist einfach zu schräg, als dass es Leute länger als nötig mit ihr aushalten würden.
„Fünf? Du hast mir nie etwas von irgendwelchen Freundinnen erzählt.“ Eigentlich redet sie entweder nur das nötigste, oder von ihren imaginären Verfolgern.
„Ich darf auch nicht über sie sprechen.“ Jetzt begann meine Mutter zu flüstern. „Weißt du... wenn >sie< wüssten, dass wir noch Kontakt haben, würden >sie< uns penetranter aufspüren! Und das kann ich nicht riskieren. Ich werde >sie< nie in deine Nähe lassen! Das habe ich dir geschworen.“
Und vorbei ist es mit ihrer intelligenten Zeit. „Schon gut!“ Erwidere ich, da ich nicht mehr von diesem Unsinn hören will. „Ich habe ohnehin wichtigeres zu tun.“ Beleidigt, darüber, dass meine Mutter ausgerechnet an diesem Punkt zurück in ihre Paranoia fallen muss, gehe ich zurück in mein Zimmer. Meine Mutter weiß bereits seit langem, dass ich ihre Paranoia und Halluzinationen nicht ernst nehme. Ich finde es einfach nur peinlich! Ja, okay. Sie kann nichts dafür, irgendwelche Kontakte sind in ihrem Hirn einfach falsch verknotet. Trotzdem könnte sie etwas dagegen tun, wenn sie zu ihren Sitzungen ginge und ihre Medikamente nähme. Stattdessen blamiert sie uns beide lieber immer und immer wieder.
So wie ich ihre >verrückten Zustände< ignoriere und als unwichtig abtue, akzeptiert sie es, dass ich nichts davon hören will. Ob sie es mir übel nimmt, oder gar verletzt deshalb ist, weiß ich nicht. Einerseits wünsche ich mir wirklich, dass es ihr besser geht, oder dass sie sich zumindest ein kleines wenig mehr Mühe deshalb gäbe. Aber nein, meine Mutter hört ja auf nichts und niemanden!
Nach einer Stunde, in der meine Mutter immer wieder in mein Zimmer getrampelt kommt, um mir zu sagen, dass das Essen fertig ist, oder gar bereits kalt geworden sei, gibt sie es endlich auf und geht zur Arbeit. Zwischendurch kann ich sie zu allem Überfluss wieder mit sich selbst sprechen hören, daher lege ich eine CD ein und höre sie auf Zimmerlautstärke, um die Nachbarn nicht versehentlich zu verärgern.
Blöde Mom!
Blödes Zuhause!
Blöde Krankheiten!
Ich wünschte, ich könnte Studieren und Ärztin werden... Dann könnte ich meiner Mutter zumindest Pulver untermischen, um sie wieder normal zu bekommen... Aber nein... dafür haben wir ohnehin kein Geld.

 

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Donnerstag nach der Schule kommen Jem und Adam mich gemeinsam besuchen. Ich erzähle ihnen natürlich sofort von dem Vorfall des Vortages und wie wenig meine Mutter das Thema Suspension interessiert zu haben scheint. Na gut, ich gebe zu, ich habe es bloß angedeutet, was meine Mutter im Normalfall ohnehin nicht versteht. Für sie habe ich aus Gründen, die sie nicht zu interessieren schien, Urlaub und bin zuhause. Das alleine zählt.
Somit kann sie den Mittag mit mir verbringen und gemeinsam einkaufen gehen. Ihre Worte, nicht meine! Ich denke nicht einmal im Traum daran!
„Bist du dir sicher, dass es nicht wieder irgendeine Halluzination gewesen ist?“ Jem kneift dafür ihren Freund in die Seite.
„Ja, ich bin mir sicher!“ Keife ich zurück. „Sie war... plötzlich so normal! Ich kann es überhaupt nicht beschreiben. Meine Mom schien wieder richtig Leben in sich zu haben, nicht wie sonst so... ihre...Roboterart...“ Nun ja, sie wissen ja, was ich meine.
„Aber von einem Moment auf den anderen, war sie wieder die Alte?“ Erkundigt sich Jem vorsichtig. Ich nicke, mit einem angefügten, langen Seufzer. „Also für mich hört es sich nicht nach einem Hirngespinst an. Besonders wenn du sagst, du hast selbst die Stimme dieser Frau am Telefon gehört. Vielleicht... solltest du diese Olive mal anrufen?“
Ich lache laut auf. „Ja, klar und was soll ich sie fragen? Ob sie vielleicht die Bedienungsanleitung für meine Mutter in der Jugend verschmissen hat?“
Jem schnalzt missbilligend mit ihrer Zunge. Eine Eigenart, die ich von Zeit zur Zeit von ihr übernehme. „Nein, aber du könntest dich etwas über die Vergangenheit deiner Mutter erkundigen!“
Hm... Gar keine so dumme Idee, wenn ich ehrlich bin. „Sie sagte ohnehin, dass meine Mom ihre Nummer hat. Das heißt, sie muss im Telefonbuch stehen.“ Hastig springe ich auf und laufe zum Telefon, unter welchem das Buch vergraben liegt. Ironisch, nicht wahr. Meine Mom hasst Telefone, speichert sich jedoch alle Nummern und Adressen, die sie bekommen kann, in ihrem kleinen blauen Büchlein ein. „Hab sie!“
Mit zittrigen Fingern betätige ich das schlichte schwarze Zahlenfeld, welches vor mir an der Wand hängt. Altmodisch, auch das ist mir bewusst, aber ich kann froh sein, dass meine Mutter zumindest das hier erlaubt. Ich selbst habe kein Smartphone und wenn ich eines geschenkt bekommen würde, würde sie total ausflippen. Keine Ahnung warum es sie so wahnsinnig macht.
Als sich nach zwei Pieptönen, die bekannte, quietschige Stimme vernehme, bildet sich mir ein verdammter Kloß im Hals. Was... mache ich denn da? „Olive McBird, bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht und ich rufe Sie umgehend zurück. Vielen Dank.“ Sie klingt überraschend seriös. Olive McBird? Diesen Namen hatte meine Mutter niemals erwähnt.
Jem stößt mich auffordernd mit einem Arm an. „Jetzt sag schon etwas!“ Flüstert sie, sodass man sie am Telefon nicht wahrnehmen kann.
„Ähm... Ja, klar. Entschuldigung. Hier spricht Haylee Blackbird. Ich bin die Tochter von Edna Blackbird, die Sie gestern angerufen haben. Ich... ähm...“ Und weiter? Was soll ich sagen? Was möchte ich wissen?
„Sag einfach, du würdest dich über einen Rückruf freuen!“ Wirft nun Adam ein.
Gute Idee!
„I-ich würde mich s-sehr über einen Rückruf von Ihnen freuen, bitte Melden Sie sich bald zurück.“ Damit lege ich auf und atmete tief durch.
Wow... Was war das denn bitte schön? So nervös habe ich mich noch nicht einmal beim ersten Date mit Adam gefühlt.
Tja, genau hier endet meine Geschichte, an und für sich. Nichts weiter geschah, die nächsten beiden Wochen lang. Ich hole mir lediglich mein >gerade mal bestanden< Zeugnis ab und das war es. Hier hört mein Leben einfach auf. Alles ruhige und typische war mit einem einzigen Satz beendet.

II - Das befremdliche Familienessen

„Was? Wo willst du hinfahren?“
Offensichtlich hatte ich mir mit diesem Anruf selbst ins Bein geschossen. Anstatt diesen Sommer mit meinen Freunden abzuhängen, hin und wieder meine Mutter von sich selbst zu bewahren und lange auszuschlafen... war nicht drin! Ich hatte es mir selbst verbockt! Ich könnte heulen...
„Du erinnerst dich doch sicher noch an diese Olive, meine alte Freundin, die angerufen hat?“ Zögerlich nicke ich, während meine Mutter quietschvergnügt ihre Sachen einpackt. „Nachdem du sie, ohne meine Erlaubnis, zurückgerufen hattest...“ Ja, das hielt sie mir seit zwei Wochen vor! „...haben wir uns per Mail ein wenig herum geschrieben.“ Mail? Meine Mutter benutzt nicht einmal ein Handy, aber das uralte Ding da, was überhaupt keinen Speicher besitzt und nur Strom frisst, ja das ist in Ordnung! Ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, ob mir zum Weinen oder Schreien zumute war...
„Jedenfalls, haben die ein Ferienhaus und das haben sie uns angeboten.“
„Sie? Wer sind >sie<?“ hake ich ungläubig und mit mangelndem Geduldsfaden nach.
„Na meine damaligen Freundinnen. Olive, Odette, Marie und Sabrina.“
Ehrlich! Ich habe noch keinen einzigen dieser Namen jemals in meinem Leben gehört! Wer zum Teufel ist diese Frau? Und was hat sie mit meiner Mutter gemacht? „Mama, wir können doch nicht für zwei Monate zu irgendwelchen Fremden Familien fahren!“ Erinnere ich sie.
„Das sind doch keine Fremden! Es sind meine Freundinnen!“ Widerspricht sie, mit einem typisch mütterlichen Ton, welcher keinen Widerspruch zulässt.
„Mama, ernsthaft! Du hast in meinem ganzen Leben noch keinen Ton über diese Leute verloren! Ich kann ja nicht einmal Gesichter oder Erzählungen zu diesen Namen zuordnen! Ich finde dass das wirklich keine gute Idee ist! Nicht in deinem Zustand.“
Woher sollte ich schon wissen, ob diese Leute die Macken meiner Mutter kennen? Und dann müssen die das auch noch zwei Monate lang aushalten? Nein, ich habe alles andere als ein gutes Gefühl bei diesem Gedanken. Und das lag nicht nur daran, dass ich bei meinen Freunden bleiben möchte.
„Unsinn, ich habe schon oft von meinen Mädels erzählt. Wir haben immerhin unsere gesamte Jugend miteinander verbracht. Wir waren immer schon beste Freundinnen! Sogar studiert haben wir gemeinsam! Kannst du dir das vorstellen? Seit deiner Kindheit mit vier anderen verbunden zu sein, als seien sie deine Schwestern?“
Ich warf frustriert meine Hände in die Höhe. Ich hasste es, wenn meine Mutter so klar im Kopf war und noch dazu solchen Stuss sprach! Das ist doch wirklich nicht normal.
Anstatt weiterhin zu versuchen, sie zu übertönen, packte ich sie an den Schultern und zwang sie mich anzusehen. „Mama! Wann hast du deine Freundinnen das letzte Mal gesehen?“ Betroffen biss sie sich auf die Lippe und ich konnte buchstäblich dabei zusehen, wie sie wieder davon driftete. Fort von mir, in eine völlig andere Realität. „Wann hast du das letzte Mal mit einer von ihnen gesprochen?“
„Olive... hat angerufen.“ Sagte sie schwach.
„Ja, jetzt. Nach wie vielen Jahren, Mama? Sag´s mir. Was sind das für Freundinnen, die dich in deinem Zustand einfach alleine lassen? Wissen sie es denn überhaupt?“
Wieder träge, wie eh und je, setzte sie sich mit einem abweisenden Gesichtsausdruck, auf den Rand des Koffers, welcher auf dem Bett steht. Stöhnend über ihre gewohnte Abwesenheit, zerre ich den Koffer unter ihr hervor und stelle ihn halb offen auf den Boden.
„Du weißt, ich will dich nicht schlecht machen, Mama. Oder gar deine Freundinnen. Ich weiß, sie müssen dir einmal ganz viel bedeutet haben.“ Gabe ich zu, um ihr entgegenzukommen. Immerhin wollte ich hier nicht die bockige Tochter markieren. „Aber du kannst nicht in deinem Zustand ganz plötzlich bei ihnen auftauchen. Sie wissen bestimmt nicht wie sie reagieren sollen.“ Kopfschüttelnd, da sie mich nicht einmal dabei ansieht, krame ich in ihrer Medikamentenschublade, nach Schlaftabletten und reiche ihr zwei davon, mit der Flasche Wasser, welche auf der Kommode stand.
„Aber sie werden es verstehen. Sie sind meine Freundinnen und gemeinsam mit mir durch die Hölle gegangen. Sie können und werden es verstehen, Haylee! Sie sind meine besten Freundinnen. Und ich liebe sie!“
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als auch bereits die ersten Tränen über ihre Wangen sickerten.
Ach... Mama... Wie schön musste es sein, in seiner eigenen Illusionsblase zu leben?

 

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Gegen meinen Willen! Ich konnte es kaum glauben! Jetzt stehe ich hier in der Tiefgarage, während meine Mutter überlegt, welcher Schlüssel der richtige ist. Seit fünf Jahren ist sie diesen Schrotthaufen, den sie Auto nennt, nicht mehr gefahren. Einen kleinen gelben Käfer, der seine besten Jahre schon seit langer Zeit hinter sich hatte. Sie behauptete zwar immer, den hätte ihr ihr Vater vererbt, doch das wollte ich nicht wirklich glauben. Wenn ich nur ansatzweise nach ihm kam, wie sie immer behauptete, hätte er niemals so einen Wagen gefahren.
„Du brauchst mich gar nicht so anzusehen!“ Murrt meine Mutter, auf meinen Blick hinauf. „Ich weiß, du hältst es immer noch für eine Schnapsidee, aber ich werde zu den Mädels in den Staaten fahren!“
Ich stampfe frustriert auf, da ich nicht weiß, wohin mit meinem Zorn. „Aber dann fahr doch verdammt noch einmal alleine! Weshalb muss ich mit?“
„Du bist ein hormongesteuerter Teenager, Haylee! Natürlich lasse ich dich nicht alleine zuhause. Und das für zwei Monate!“
Ich verschränke zornig die Arme vor dem Brustkorb und mahle mit dem Kiefer. „Du bist die gemeinste und dümmste Mutter auf der Welt! Ich habe ja noch nicht einmal einen Freund!“ Nicht, dass sie sich um meine Ernährung, oder die Sicherheit in diesem Viertel sorgen macht. Nein, es geht ihr rein darum, ob ich ein Sozialfall werde... Wie nett!
„Steig jetzt ein. Ich glaube, ich habe den richtigen.“
Anstatt mich neben sie zu quetschen, nehme ich direkt neben meinem Koffer auf der Rückbank platz. Kopfschüttelnd schiebt sie ihren eigenen auf den Beifahrersitz und schnallt sich an.
Während der kommenden, sechsstündigen Fahrt sprechen wir kein Wort. Wir halten nicht einmal, um zu pinkeln! Nur einmal muss sie einen Tankstopp einlegen, an welchem ich hastig hinein laufe, um mir etwas zu trinken und Knabbern zu besorgen.
Als wir spät abends auch endlich an unserem Zielort ankommen, bekomme ich das nur mit, da ein spitzer Schrei in mein Träumeland eindringt. Erschrocken fahre ich von meiner lümmelnden Position hoch, meine Chips verstreuen sich zerkrümelt auf meinen Sachen, so wie dem Boden und meine Cola verschwindet irgendwo auf nimmer wiedersehen unter dem Sitz. „Scheiße...“ Fluche ich und reibe mir die Augen.
Wo sind wir?
„Oh Edna! Es ist so lange her! Du siehst so gut aus!“
„Hast du etwas mit deinen Haaren gemacht? Die waren früher doch viel plüschiger!“ Vier oder fünf Stimmen sprachen wild durcheinander, quietschten erneut und plapperten dann erneut wie Teenager weiter.
Blinzelnd kämpfe ich gegen das Licht einer der vielen Straßenlaternen an, während ich mich abschnalle, und versuche einigermaßen wieder ansehnlich herzurichten.
Als ich die Fahrerseite öffne, da ich dank Mamas prall gefüllten Koffer nicht auf meiner Seite aussteigen konnte, öffne, verstummen mit einem mal sämtliche Gespräche.
Vier unbekannte Blicke, hefteten sich so plötzlich auf mich, als sei ich ein seltenes Insekt, dass erst einmal erforscht werden muss. Recht unsicher wie diese Leute wohl auf mich reagieren werden, schiebe ich einige lose Strähnen hinter meine Ohren und winke zögerlich. „Hi!“
Das Leben kehrte buchstäblich zurück in die vier Schreckschrauben und der hysterische Anfall begann von neuem. „Oh Gott! Seht sie euch nur an! Sie ist genauso perfekt wie die anderen!“ Quietscht die eine Rothaarige vergnügt, doch kassiert von der größten der fünf Frauen einen Seitenhieb.
„Marie!“ Zischt sie.
Meine Mutter kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu und tat etwas, dass ich wirklich nicht erwartet hatte. Sie knuddelte mich ganz stolz! „Meine Lieben... Das ist Haylee, meine Tochter.“
Und der nächste Ausbruch erfolgte! Mit einem Mal wurde ich von den vier unterschiedlichsten Frauen umschwirrt, die ich je gesehen habe. Eine rothaarige, recht blasse Frau, adrett gekleidet und sehr feminin ausgestattet. Eine große, das musste Olive sein, soweit ich es bisher herausgehört habe. Lange braune Haare, hingen ihr bis zu der Taille, glatt herab und ihre Augen leuchteten buchstäblich grün. Sie sah einfach atemberaubend schön aus!
Die zweitkleinste war etwas schüchterner, sie sprudelte nicht wie ein Wasserfall auf mich ein, doch umarmte mich herzhaft. Ihre Taille sprach für sich und als sie mich an sich drückte, war sie herrlich weich, während der Duft von Zimt von ihr ausging. Aus unerklärlichen Gründen trug sie den Geruch von Weihnachten an sich! Und das, um diese Jahreszeit.
„Liebling, das sind Olive,“ die große attraktive Frau, „Marie,“ die rothaarige, feminine Tante, „Odette,“ Eine ganz quirlige, blondhaarige, welche einen Dutt trug und „Sabrina.“ Die Weihnachtsfee. „Das sind meine besten Freundinnen aus Kindheitstagen.“
Erneut stand ich im Mittelpunkt, als würde man irgendetwas von mir erwarten. Daher hob ich erneut die Hand und spuckte ein zögerliches „Hi!“ aus. Einmal mehr...
„Na stell dich schon vor. Sie kennen dich ja immerhin nicht!“
„Ich sie auch nicht!“ Erwidere ich vorwurfsvoll.
„Na dann sollten wir das ändern, nicht wahr?“ Odette legt einen Arm, um mich und mustert mich kritisch. „Du hattest noch nichts ordentliches zum Abendessen, nicht wahr? Gut dass wir auf euch gewartet haben. Jetzt esst ihr euch mal satt und dann bringe ich euch in unser Haus am See. Dort werden wir alle den Sommer verbringen.“
Wir... was? Wo? Hilfesuchend blickte ich zu meiner Mutter, doch diese war völlig in einer Welt vor meiner Zeit versunken.
Hilfe! Irgendjemand?
Was >wir alle< bedeutete, wurde mir erst im Esszimmer klar. Dort saßen, vier schwatzende Teenager. Drei fluchten plötzlich laut auf, als ich eintrat, und eine kassierte jeweils einen fünfziger. Okay, das ist schräg!
„Sorry, wir haben alle auf einen Jungen gewettet.“
Offensichtlich hatte ich einen Witz verpasst, denn selbst die Mütter lachten amüsiert über die Wette. Woraus auch immer diese bestanden haben mochte.
„Hi, ich bin Katya, Olive´s Tochter.“ Das junge Mädchen, welches aufstand, schien in meinem Alter zu sein, doch überragte mich, ähnlich wie dessen Mutter, um einen ganzen Kopf. Ihr Haar jedoch war schwarz und kurz gehalten und ihre Augen dunkelbraun. Irgendwie wirkte sie exotisch und schön, sodass ich augenblicklich neidisch auf sie wurde. Okay, sie würde ich bestimmt nicht leiden können.
„Das sind noch Lucy,“ eine blonde, die gerade ihr Geld zählte. „Tyrone,“ ein Typ mit einem braunen Wuschelkopf. Wie gerne würde ich dem mal durchs Haar strubbeln! „Und Calyle, erwarte aber nicht, dass er mit dir je ein Wort wechselt. Er hält sich für zu fein dafür.“ Witzelt Katya übertrieben und deutete auf den rothaarigen Typen, welcher ihr nun einen vernichtenden Blick zu warf. Die Ähnlichkeit zu seiner Mutter Marie war kaum zu leugnen. Sein Haar war zwar um einige Nuancen dunkler und glich damit eher einem dunklen rostrot, er trug es lang und zur Seite zu einem Zopf gebunden, seine Haut jedoch, war genauso hell, und seine Augen ein lichtes hellblau.
So. Das ist also die Welt meiner Mutter?
„Setz dich zu mir Haylee, immerhin hast du mir gerade hundertfünfzig Mücken eingebracht.“ Die Blondhaarige zwinkert mir verschwörerisch zu, während ich um den Tisch herum, auf ihre Seite zuging. Zwischen ihr und Calyle, saß ich ausgerechnet der attraktiven Katya gegenüber, welche sich feminin eine Serviette auf dem Schoß entfaltete. Als sie ihre Hand wieder auf dem Tisch ablegte, griff Tyrone nach dieser und beide verschränkten ihre Finger ineinander. Also ein Pärchen?
Mein Blick wanderte über den großteils weiblich vertretenen Tisch und blieb an meiner geschwätzigen Mutter hängen. So etwas hatte ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen. Ernsthaft... Wer ist das zum Teufel? Meine Mutter ganz bestimmt nicht.
Ein leerer Teller erschien in meinem Blickfeld, wodurch ich mich gezwungenermaßen an Calyle wenden musste. „Danke.“ Ich nahm den Teller entgegen und gab ihn an Lucy weiter. Als der Nächste kam, behielt ich ihn und begann endlich einmal das Essen zu sondieren.
Kartoffelpuffer, verschiedene gekochte Gemüsesorten wie Erbsen, Sprossen, Mais, kleine Karotten. Saucen, ein riesiger Braten, ein Hühnchen, Brötchen und diverse Füllungen. Das war ja ein richtiges Festmahl!
„Na wenigstens keine Spaghetti.“ Murre ich so leise, dass es keiner hören kann, und will schon zugreifen, als meine Mutter einen erschrockenen Laut von sich gibt. „Ach herrje... Wir essen ja normalerweise immer Spaghetti zu Abend. Macht es dir eh nichts aus, Haylee, wenn wir mal...“
„Nein!“ Werfe ich ein und häufe jede Menge Gemüse auf meinen Teller. „Ist eine tolle Abwechslung.“ Ich wollte nicht vor allen erwähnen, dass ich schon seit Jahren keine Spaghetti mehr sehen konnte, um meine Mutter nicht in Verlegenheit zu bringen. Oder... vielleicht sollte ich es sogar tun? Immerhin würden dann ihre >Freundinnen< langsam einen Eindruck der >neuen< Edna bekommen!
Andererseits... Vielleicht konnte ich ihr ja noch eine gewisse Schonfrist einräumen? So glücklich hatte ich meine Mutter immerhin noch nie gesehen. Lachend unter so viel Liebe...
„Na, hast du überhaupt keinen Hunger?“ Tyrone hielt noch immer Katya s Hand, doch trotzdem konnten beide problemlos essen, so als hätten die beiden dies schon seit Monaten einstudiert. Oder gar Jahren?
Ich räuspere mich. „Doch, doch.“ Dann gebe ich noch etwas Sauce auf das Gemüse und stecke mir seufzend etwas in den Mund.
„Willst du überhaupt kein Fleisch? Du kannst ruhig zugreifen.“ Bot Tyrone an und deutet auf die beiden verschiedenen Fleischsorten. Als ich sie bloß ansehe, wird mir schlecht und Horrorbilder aus Massentierhaltungen kommen mir bildlich hoch.
„Igitt, nein danke!“ Erwidere ich, ohne den Ekel in meiner Stimme verheimlichen zu können.
„Vegetarierin?“ Fragt Lucy aufrichtig interessiert.
„Vegan!“ Korrigiere ich.
„Also isst du nicht einmal Eier oder trinkst Milch?“ Erkundigt sich Tyrone, als Lucy und Katya einen irritierten Blick wechselten.
„Genauso´wenig wie Käse, Joghurt und vieles andere!“ Füge ich positiv überrascht hinzu, dass das Wort hier gar jemand kannte.
Sabrina, welche neben ihrem Sohn saß, zog eine Braue hoch. „Klingt nicht sehr gesund, dich dermaßen einseitig zu ernähren.“ Es klang nicht unbedingt tadelnd oder besser wissend. Sie schien ehrliches Interesse an dieser Art der Ernährung zu haben.
„Es kommt darauf an, was du isst. Es gibt dieselben Nährstoffe, welche man mit tierischen Produkten zu sich nimmt genauso, oder leicht abgeändert in bestimmten Pflanzenarten. Man muss nur wissen, wo man suchen muss und die Ernährung dementsprechend anpassen. Schon hat man ein fünf Gänge Menü, aus nichts weiter, als >Grünfutter<.“ Ich versuche es mit Humor, in der Hoffnung, dass man mich damit nicht für verrückt halten möchte.
Tatsächlich klappt es. Die drei Jugendlichen neben mir kichern mit mir, während Sabrina in Gedanken die Möglichkeiten durchzugehen schien.
„Ist es denn nicht schwer, nicht schwach zu werden, mit all den Sünden um dich herum?“ Erkundigt sich Lucy völlig fasziniert von dem Thema.
„Wenn du magst, such einmal im Internet nach Schlüsselwörtern wie Stopfgans, Massentierhaltung, Schnabelhacke oder Kastenhaltung. Also, wenn ich schwach werden sollte, projiziere ich einfach eines dieser Bilder hoch und... schon vergeht mir der Appetit.“
Tyrone blickt angewidert auf sein eigenes Essen hinab, während Katya genüsslich weiter futterte. „Okay, Themenwechsel bitte. Haylee, erzähl doch mal! Wie hast du bisher gelebt?“
„In... einer kleinen Wohnung mit meiner Mutter, an der Grenze zu Amerika.“
„Also bist du in Kanada aufgewachsen?“
Ich nicke zustimmend.
„Cool, wir waren noch nie außerhalb von Amerika.“ Beklagt sich Tyrone, doch seine Mutter schien schon wieder in einem Gespräch der >Erwachsenen< verstrickt zu sein und bemerkte daher die Anspielung überhaupt nicht.
„Na, ja. Es gibt ja auch in Amerika viele idyllische Flecken!“ Wirft Lucy ein. „Wir haben sogar ein Disney Land in der Nähe, was brauchst du also mehr?“
Katya kichert, während Tyrone die Augen verdreht.
Mein Blick fällt für einen Moment auf Calyle, für den Fall, dass er zu diesem Thema ebenfalls etwas anmerken möchte. Oder vielleicht sogar das Thema erneut wechseln, doch dieser stochert lediglich in seinem Essen herum, ohne etwas davon in den Mund zu stecken.
Armes Ferkelchen... Jetzt wurde es getötet und verarbeitet und landet schlussendlich doch im Mist... So etwas hasste ich unter anderem am meisten!
„Weißt du, wenn es nur ansiehst, verschwindet es nicht.“ Stochert Tyrone, als er meinen Seitenblick zu Calyle bemerkte.
Calyle blickt zwar auf, sieht jeden der Reihe nach an, doch als er bei mir ankommt, verdreht er lediglich die Augen und steht auf. „Mom, ich bin oben und packe fertig.“
„Ja, Schätzchen. Lass dir aber Zeit.“ Erwidert die rothaarige Marie, ohne von dem scheinbar spannenden Thema von Mama´s Arbeit aufzusehen.
Nach weiteren zehn Minuten, in denen es um die Umgebung hier ging, oder Katya vom Haus am See schwärmte, schlug Lucy vor, dass wir uns ebenfalls zurückziehen und die Mütter untereinander ließen. Ich fand das keine so gute Idee, daher zog ich mir meine Mutter für einen Moment zur Seite.
„Geht´s dir gut, Mama?“
Sie nickt fleißig. „Natürlich, alles ist perfekt. Es läuft viel besser, als in all meinen Träumen! Alles sind noch genauso wie früher.“
Ich verdrehe genervt die Augen. „Mama! Ich meine wegen deiner Krankheit!“ Erinnere ich sie leise. Wieder nervös geworden, sieht sie sich vorsichtig um. „Siehst du >etwas< oder >jemanden<? Fühlst du dich schlapp? Hast du Angstzustände?“
Sie denkt auffällig lange darüber nach, ihr Blick gleitet währenddessen suchend umher. Als sie nichts zu finden schien, hellt sich ihr Gesicht wieder auf.
„Nein, nichts Liebling. Alles ist in Ordnung mit mir. Hier können die >Gestalten< ohnehin nicht hinein. Es ist ein geheiligter Ort. Uns kann also nichts geschehen!“
Ich verdrehe die Augen. „Okay. Na wenigstens etwas. Sei trotzdem auf der Hut und wenn dir... etwas auffällt, nimm bitte deine Tabletten!“
Meine Mutter blickt mich mitleidig an, als sie eine Hand auf meinen Kopf legt. „Haylee, wir wissen beide, dass die Medikamente nichts bringen. Es ist nun mal meine Bürde >sie< zu sehen und dich vor >ihnen< zu beschützen. Und ich bereue keine einzige Sekunde davon!“
„Wie du meinst.“ Na toll, das bedeutete ja doch bloß, dass ich alle aufklären und beruhigen muss, wenn es soweit kommt. Dumme Halluzinationen! „Dann werde ich mal zusehen, dass ich mich mit den Kindern deiner Freundinnen vertraut mache.“
„Sei nett, Haylee!“ Mahnt meine Mutter mich noch.
Ich strecke ihr lediglich die Zunge raus, dann laufe ich hoch in den ersten Stock. Den lauten Stimmen folgte ich in eine Art Spielzimmer. Die Türe stand weit offen, das Licht war gedimmt worden und verschiedene Sorten von Knabberzeug lag überall herum. In der Mitte des ganzen Chaos saßen drei Jugendliche und versuchten sich mit ihrem Geschrei zu übertönen. Als sie mich sahen, winkten sie mich sofort zu sich.
„Wo ist Calyle? Macht der bei eurer After-Abendessen-Orgie gar nicht mit?“ Erkundige ich mich, um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken.
Tyrone saß in einem plüschigen Sandsack, auf ihm seine Freundin Katya und Lucy auf der anderen Seite, kippte gerade eine Dose Cola auf einmal hinunter. Deshalb also der Tumult.
Als sie abstellte, rülpst sie lautstark, woraufhin sogar ich lachen muss. Das war echt widerlich! „Nope, der ließt in seinem Zimmer. Das tut er immer.“ Es war eine einfache Feststellung, so als ob wir über seine Haarfarbe reden würden.
„Okay... Jedem das seine. Und was tut ihr da?“
„Jeder muss eine Dose Cola kippen.“ Erklärt Tyrone. „Und wer danach am längsten Rülpst, hat gewonnen.“
Katya wirft mir eine verschlossene Dose zu. „Na los, zeig was du drauf hast, Blackbird!“ Gleichzeitig jubeln sie mir zu, als ich die Dose misstrauisch beäuge. Na gut, dann eben noch etwas Zucker, damit ich ja nicht schlafen kann heute Nacht.
Zischend ploppt die Dose auf, als ich die Lasche hinein drücke, setzte sie an und trinke sie auf einmal aus. Ich schaffte es gerade mal so, nicht alles wieder durch die Nase aus zu husten, und musste daher absetzen. Enttäuscht wurde erneut Lärm gemacht.
„Schade. Versuch es später aber unbedingt noch einmal! Wir üben das schon seit Jahren!“ Beschwört Lucy mich.
„Ihr kennt euch schon lange, was?“ Frage ich und unterdrücke ein Rülpsen, welcher sich trotzdem seinen Weg hoch bahnte. Ekelhaft!
„Ja, unser ganzes Leben. Wir wurden alle im selben Jahr geboren, so wie du. Unsere Mütter haben uns gleichzeitig bekommen, wusstest du das überhaupt nicht?“
Was? Gleichzeitig? Aber... Rein rechnerisch müssten sie sich alle in derselben Nacht befruchten haben lassen... Geht so etwas überhaupt? „N-Nein... Wie alle gleichzeitig? Bisher wusste ich nicht einmal, dass meine Mutter Freundinnen hatte.“
Katya rollt sich buchstäblich auf Tyrone´s Schoß zusammen, während er ihr Haar sanft streichelte und ihren Oberarm. Die beiden sahen so vertraut aus... Sie musste schon länger miteinander gehen.
„Ja, unsere Mütter haben sich damals geschworen, dass sie immer alles gemeinsam machen würden. So heirateten sie gleichzeitig, wurden schwanger in derselben Hochzeitsnacht und so weiter. Aber ein wenig muss Tante Edna dir doch darüber erzählt haben, oder? Wir kennen mehr Stellen ihrer Geschichten, als gut für unsere Psyche sein kann.“ Witzelt Katya.
„Wie gesagt, nein. Bis zu Olive´s Anruf, hatte ich keine Ahnung von irgendetwas. Meine Mom und ich haben immer alleine gelebt. Und einen Vater hatte ich nie.“ Das ihre Psychosen es unmöglich gemacht hatten, irgendetwas diesbezüglich über ihre Vergangenheit heraus zu bekommen, verschwieg ich besser.
„Kinder?“ Ich schrak zusammen, als Marie´s Stimme plötzlich im Flur erklang. Sichtlich missmutig, standen alle drei auf und blickten hinaus. Ich folgte ihnen und beobachtete dabei, wie die erste Türe ebenfalls aufging. „Wir brechen bald auf. Entscheidet euch, bei wem ihr mitfahren wollt. Haylee, wenn du magst, kannst du bei Tyrone, Calyle und den Mädels mitfahren. Ich würde dann mit Edna fahren, ist das okay für dich?“
Ich nicke zögerlich. „J-Ja. Kein Ding.“ Ist das hier eine >Zwangs-Freundschaft-Beglückung<? langsam bekam ich das Gefühl, als wäre es jedem wichtig, dass wir uns alle miteinander verstanden, uns besser kennen lernten und gar Freundschaft schließen.

III - Das Haus am See

Die zwei Stunden zum Haus am See hin, verbrachte ich zwischen Calyle und Lucy gezwängt. Katya saß logischerweise bei ihrem Freund vorne und da ich gesagt hatte, dass es mir egal ist, wo ich sitze, hatte ich das doofe Los gezogen. In der Mitte zu sitzen ist doch wirklich das Letzte!
Besonders da wir als Schlusslicht die ganze Fahrt über, freie Sicht auf den Schrottwagen meiner Mutter hatten! Olive, Odette und Sabrina fuhren ihre eigenen Kombis oder massive Geländewagen. Dann kam meine Mutter mit ihrem winzigen Flitzer, der an jeder Ampel absoff und dann wir mit dem letzten roten Geländewagen. Wie alles am und rund um´s Haus war sogar der Wagen rot gehalten. Ein dunkles kirschrot, megacool, aber übertrieben neumodern. Selbst die Navigation funktionierte über Sprachsteuerung! Wie gemein! Tyrone, Katya, Lucy und selbst Calyle haben bereits ihre Führerscheine. Ich habe noch nicht einmal darüber nachdenken müssen, so unwahrscheinlich ist es irgendetwas Leistbares für mich zu finden.
Zwei Stunden später, eingesperrt mit völlig fremden Kids, kommt endlich das erlösende Ende in Sicht. Leider damit nicht das Ende meiner Probleme!
„Achja, ich wollte es erst jetzt ansprechen, kurz bevor wir da sind.“ Katya wandte sich mir vom Beifahrersitz aus zu. „Hier treffen wir auf den anderen Teil der Familie. Den... Nun ja, nicht so tollen, würde ich mal sagen.“ Als ob ich diesen Teil hier besser finden würde!
„Wie meinst du das? Wie viele alte Freundinnen gibt es denn noch?“
„Ach, das sind keine Freundinnen unserer Mütter, aber wir leben aus... komplizierten Gründen zusammen. Wir kennen uns alle seit unserer Jugend. Aber richtig gut ausgekommen sind wir nie mit ihnen, oder unseren Müttern.“
„Besonders mit Olympia nicht!“ Meckert Lucy und gibt dabei einen Würgelaut von sich.
„Ja, besonders mit Olympia solltest du dich nicht anlegen, sie ist eine richtig fiese Bitch! Ryan und Lysander sind lediglich kollegial, aber nicht wirklich gefährlich.“
„Klingt nach... einer interessanten Gesellschaft.“ Ich will weg hier!
„Ja, ich sage das auch nur, da du dir mit Olympia ein Bett wirst teilen müssen.“
„Was?“ Rufe ich erschrocken aus, sodass sogar mein völlig versunkener Sitznachbar verwirrt aufblickt. „Ich werde mir bestimmt kein Bett mit...“
„Ein Stockbett!“ Wirft Tyrone amüsiert ein und schenkt mir ein freches Lächeln, durch den Rückspiegel. „Cat, das war gemein.“
Katya zuckt lediglich mit den Schultern. „Ich weiß, ich wollte eben auch einmal jemanden schocken.“
„Danke, ich bin geschockt genug.“ Murre ich und wende abweisend den Blick aus dem Fenster ab. Das kann doch nicht wahr sein! Dass die mich dermaßen vorführen muss. Blöde Kuh!
„Jetzt sei nicht beleidigt, Haylee! Katya hat ja nur einen Scherz gemacht.“ Lucy stößt mich freundschaftlich mit dem Arm an. Alles Idioten hier! Wieso muss ich mir das noch einmal antun? Obwohl ich achtzehn bin! Bloß weil ich so nett bin und auf meine Mutter aufpassen will? Scheiß auf Nächstenliebe... Ich will nach Hause!
„Wir sind da, Mädels!“ Verkündet Tyrone plötzlich und parkt rückwärts auf einem dunklen Parkplatz ein.
Ich steige hinter Lucy aus, da Calyle keine Anstalt machte, sich in Bewegung zu setzen. Verwirrt blicke ich noch einmal hinein. „Will ihn denn niemand an schubsen, oder so?“ Mit einer Gabel anstechen, ob er durch ist? Wer weiß?
„Ne, lass ihn mal. Spätestens wenn die Autobatterie leer ist, hat er kein Licht mehr und kommt rein.“ Scherzt Lucy und schultert bereits zwei Rucksäcke, nur um daraufhin ihrer Mutter hinterherzulaufen.
Zu gütig die Herrschaften... kein Wunder, dass er diese Idioten nicht leiden kann.
Ich trödle etwas herum, während ich den Koffer von der Rückbank unseres Käfers ziehe, bis ich als Letzte zurückfalle. Erst als alle einige gute Meter vorangegangen waren, gehe ich selbst zurück zum Auto und öffne die Türe auf Calyle´s Seite. „Drinnen hast du besseres Leselicht.“ Meine ich scherzhaft. Er reagiert nicht, sondern scheint vollkommen fixiert, auf das letzte Drittel eines dicken Wälzers zu sein.
Seufzend mache ich einen Schritt zurück, öffne die Fahrertüre und ziehe den Schlüssel ab.
„He!“ Kommt es anklagend vom Rücksitz.
„Wir sind da.“ Ohne auf irgendeine Art der Bestrafung zu warten, laufe ich zurück zu meinem stehen gelassenen Koffer und schleife ihn mit mir mit. Auf der Terrasse angekommen, lasse ich das so genannte >Haus am See< erst einmal wirken!
>Haus< trifft dieses Anwesen nicht einmal ansatzweise! Vor vielen Jahren muss es einmal eine Kirche gewesen sein. Eine sehr, sehr große Kirche, also nicht bloß eine Kapelle, die zweihundert Menschen auffasst und dahinter einen Umkleideraum beherbergt. Nein, das hier muss eine sehr alte, sehr wertvolle Kirche gewesen sein!
„...vor siebzig Jahren geflutet, seitdem gehört es unserer Familie.“ Hörte ich noch das Ende eines offensichtlich interessanten Vortrages, für meine staunenden Mutter.
„Was wurde geflutet?“ Hake ich nach, als ich in den Empfangsraum komme. Im Allgemeinen war der Aufbau, des Kirchenschiffs kaum verändert worden. Natürlich gibt es weder ein Weihwasserbecken noch einen Altar oder lange hölzerne Sitzbänke.
Das Innere der Kirche war völlig in einen Gemeinschaftsraum umgebaut worden. Im doppelflügligen Eingang konnte somit also auch kein Stau entstehen, auch nicht bei einer Ansammlung von solch einer großen Gruppe, wie unserer.
„Der Hinterhof der Kapelle. Bei der Bohrung eines neuen Brunnens, stieß man versehentlich auf eine Quelle. Das gesamte Dorf, bis auf diese Kapelle wurde vollständig geflutet. Einem meiner Vorfahren gehörte diese Kirche, wir haben sie lediglich aufgestockt und versucht von außen so zu lassen, wie sie schon immer gewesen ist.“ Erklärt Sabrina.
Tatsächlich führte am Ende des Kirchenschiffs eine gewundene, breite Treppe, hoch in den ersten Stock. Unglaublich, dass dieses Haus am See, Sabrina gehören soll! Wenn dann vielleicht Olive, oder Marie, die wirkten eher so, als würde ihnen aus familiärer Quelle, allerhand quatsch in den Schoß gestopft werden.
„Der Wahnsinn!“ Staune ich nicht schlecht. Wieso habe ich nicht so ein Glück?
Eine Hand berührte mich an den Schultern und ich blicke überrascht zu Calyle hoch, welcher mich endlich eingeholt zu haben schien. „Lass dich vom ersten Eindruck nicht täuschen. Das hier ist keine Idylle, sondern ein Irrenhaus.“
Ich schmunzle amüsiert zu ihm auf. Es war fast, als hätte er meine Gedanken gelesen! Als er sich an mir vorbei geschoben hatte, explodierte ein unsäglicher Schmerz an meinem Hinterkopf. „Au! Au! Au!“
„Oh, verdammt!“ Calyle lässt seinen eigenen Koffer fallen, wobei ich die Dielen deutlich quietschen hören konnte, und verrenkt sich seinen Arm ungut. „Beweg dich nicht, Haylee.“
„Aber es reißt so!“ Jammere ich, da ich mit Schmerz überhaupt nicht umgehen kann. Wie peinlich!
„Ich weiß, aber ich hänge fest.“
„Das spüre ich!“ Gebe ich giftig zurück.
„Bleib still.“
„Ich bin still!“
„Nein, bist du nicht. Hör auf dich im Kreis zu drehen.“
„Aber es tut total weh! Mach dich endlich los!“
Irgendwie schien Calyle mit seinen Ringen in meinem Zopf hängen geblieben zu sein. Meine Mutter kommt hilfsbereit ebenfalls zu uns geeilt und einfädelt uns beide, zu meinem großen Glück, ohne viel Haarverlust, wieder.
„Schon gut, ihr seit wieder frei.“
Ich reibe meinen Hinterkopf und Calyle zupft zwei einzelne Haare aus seinen Ringen. „Es tut mir wirklich leid. Habe ich dir sehr weh getan?“
Ich schüttle den Kopf, obwohl meine Haut beinahe zu explodieren schien. „Nein, aber du musst nicht so an mir hängen.“ Versuche ich zu scherzen. „Ich wäre dir auch so gefolgt.“
Calyle lächelte plötzlich ein aufrichtig, amüsiertes Lächeln. „Gut zu wissen.“
Fragend ziehe ich beide Brauen hoch, während er zur Treppe verschwindet. Was... Was hatte ich denn gesagt? Was war gut zu wissen? Hä?
„Alles wieder okay? Willst du ein Kühlpad?“ Erkundigt sich Marie besorgt, Calyle´s Mutter.
„Nein, aber vielen Dank. Ich bin einfach nur wehleidig.“
Sie lacht erheitert auf und legt einen Arm, um meine Taille. „Ach was. Ich weiß selbst wie weh es tut, wenn einem jemand an den Haaren zieht. Nicht wahr Olive!“ Die beiden Freundinnen werfen sich einen künstlichen, herausfordernden Blick zu.
„Also ich habe ehrlich keine Ahnung, was du meinst. Ich habe dich nie an den Haaren gezogen!“ Beschwor Olive alle anderen.
Marie zieht mich, ohne meinen Koffer, hinein in die gute Stube. „Ja, ja. Spiel du nur die Unschuldige! Aber ich weiß es noch ganz genau! Du hast mich mit siebzehn an den Haaren gezogen!“
„Ach das meinst du! Was kann ich dafür, wenn du dich in meinem Zipp verfängst. Du und dein Pudelkopf.“
„He!“ Die beiden geben sich einen freundschaftlichen Catfight, während sie in >alte Geschichten< abdriften. Auch schön... Trotzdem wüsste ich gerne mehr über dieses Gebäude!
Mein Blick fällt zu Katya, welche gerade irgendwelche Geheimnisse mit ihrem Liebsten tauschte. Die beiden wirkten in diesem Moment so vertraut, dass ich nicht wagte, ihrem Glück zu nahe zu kommen, in der Angst, der Blitz möge mich womöglich zu allem Überfluss auch noch treffen.
Olive, Odette, meine Mutter und Sabrina verschwinden schnatternd in der Küche, denen wollte ich unter keinen Umständen folgen. Calyle ist oben und Lucy schleppte eben ihren eigenen Koffer zur Treppe. Marie widmete sich dem angesammelten Staub auf einem von zwei Kaminen, gibt ein leises Kommentar dazu ab und schüttelt enttäuscht den Kopf. Okay, das sah am gefahrlosesten aus.
„Marie?“ Frage ich sanft, als ich an sie herantrete.
„Ah, Haylee, brauchst du etwas?“
„Ja, ähm. Kann... Kann ich irgendwie helfen? Oder soll ich irgendetwas tun? Ich fühle mich recht überflüssig im Moment.“ Alles schien sich irgendwie verstreut zu haben.
Marie legt erneut eine Hand an meinen Arm, so als sei es für sie notwendig, ständig jemanden zu berühren. Dabei bemerkte ich deutlich, wie schwach ihr Griff doch eigentlich ist. „Aber nicht doch. Wir erwachsenen kümmern uns schon um alles. Außerdem sind du und deine Mutter unsere Ehrengäste. Wir warten schon so lange, dass sie zu uns zurückkehrt! Wir haben sie unvorstellbar vermisst, du ahnst gar nicht wie sehr!“
Ich lächle höflich, doch bin nicht ganz sicher, was ich davon halten soll. „W-Wieso sind wir eigentlich den ganzen Sommer eingeladen? Nicht, dass ich nicht dankbar wäre, es ist... interessant. Aber ihr kennt uns doch eigentlich überhaupt nicht. Für euch müssen wir Fremde sein.“
Sie winkt ab. „Unsinn! Edna ist unsere Schwester, Liebes. Was dich praktisch zu unserer Nichte macht. Ich weiß ja, dass es für einen Teenager in deinem Alter überaus seltsam sein muss, doch sieh es als... einen Campingausflug an. Beim Camping trifft man doch auch allerhand Leute, nicht wahr?“
Camping... In einer verlassenen Kirche am Rande von einem untergegangenen Dorf? Klasse! Davon träumt doch jedes verdammte Mädchen... „Okay, ich werde mein bestes geben.“
„Schön, es freut mich das von dir zu hören. Und jetzt mach dich mit dem Rest deiner neuen Familie bekannt.“ Sie gibt mir einen sanften Schubs, zurück zu meinem Koffer, welchen ich stöhnend hebe und ebenfalls wie alle anderen, in den ersten Stock schleppe.

 

- - - – -

 

Olympia war nicht das glamouröse Vorstadtgirl, welches ich im Sinn gehabt hatte. Tatsächlich fiel sie mit ihrem schwarzen Lederoutfit total aus der Rolle. Wenn sie jetzt noch ein umgekehrtes Kreuz am Hals trägt... gut tut sie nicht!
„Hi, ich bin Olympia!“ Begrüßt sie mich höflich. Lucy befand sich im Badezimmer der Mädchen, und ja! Wir mussten uns zu viert ein Badezimmer teilen! Das konnte ja noch interessant werden.
Zudem war Olympia kein bisschen geschminkt, was natürlich auch an der Uhrzeit liegen konnte, immerhin ist es bereits nach Mitternacht!
Ihre müden Augen sehen von einem Girlyheft auf und sie streckt sie ausgiebig, während sie nach dem Radio langt. „Sorry, dass ich nicht hinunter gekommen bin, um dich zu begrüßen, aber Katya und Lucy waren unten, denen wollte ich nicht früher, als nötig begegnen. Du bist also Haylee?“
„Soweit ich weiß. Jap.“
Nur eines der Betten, das über Olympia war nicht überzogen, doch es lag bereits etwas darauf, was ich dafür benutzen konnte. Ich stöhnte erneut. Ich hasse es, Betten zu überziehen! Ich schlafe ein halbes Jahr, oder sogar länger in meinem Bettzeug, bloß, um es nicht zu häufig überziehen zu müssen. Wenn es soweit jedoch mal kam, bettelte ich so lange, bis es meine Mutter für mich tat.
Mama?
„Cool. Hast du dich schon mit den fantastischen Vier angefreundet, oder habe ich noch eine Chance, um zu punkten?“
Ich entringe mir ein widerwilliges Lächeln. Fantastischen vier? Der war gut. „Ich bin unparteiisch, solange bis mir jemand auf meinen nicht vorhandenen Sack geht. Spätestens dann ist es vorbei mit meinem netten Lächeln.“
Olympia lacht erheitert auf. „Perfekt! Ich weiß nicht, ob du Ryan und Lysander bereits getroffen hast? Sie vollenden mit mir das dynamisch, bösartige Trio. Wir sind die Erzfeinde der fantastischen vier.
„Nein, noch nicht getroffen. Aber es ist ja auch bereits spät.“
Olympia winkt ab. „Die beiden gehen nie vor drei Uhr schlafen und geistern stattdessen die ganze Zeit herum. Egal, morgen triffst du sie sicher beim Mittagessen.“
Okay, dann eben rann an den Speck... Äh, die Bettwäsche. „He, wenn du bei mir punkten willst, dann könntest du mir hier oben helfen?“ Frage ich nonchalant hinab in das untere Bett, woraufhin lautstarkes Schnarchen erklingt.
Kichernd bringe ich es hinter mich, als auch schon Lucy frisch geduscht aus dem Badezimmer kommt.
„Ah, das war herrlich! Haylee wenn du noch vor Katya dran kommen willst, solltest du dich beeilen. Sie braucht immer ewig in der Dusche!“ Warnt sie mich hilfsbereit. In einem flauschigen Schweinchenpyjama tapst sie zu dem gegenüberliegenden Bett und klettert, wie ich, hinauf. Olympia gönnt sie dabei nicht den geringsten Augenkontakt.
„Okay, ich bin ohnehin flott.“ Ich springe hinab, um rasch meine Badeutensilien heraus zu kramen.
„Beschlagnahme einfach irgendein Regal!“ Ruft Olympia mir noch hinterher, da habe ich auch bereits die Zimmertüre hinter mir geschlossen. Innerhalb weniger Minuten bin ich nackt unter der Dusche, eingeschäumt und putze meine Zähne. Nach einer kurzen weiteren Wäsche greife ich auch bereits nach den weichen Frotteehandtüchern und wickel mein nasses Haar darin ein. Da klopft es auch bereits an der Türe.
„Bist du bald fertig?“ Katya´s Stimme.
„Ich ziehe mich nur noch an.“ Hastig überprüfe ich mein nicht vorhandenes Aussehen im Spiegel, dann schlüpfe ich in meine alten Boxer, so wie einem ausgetragenen Fanshirt.
Als ich aus dem Bad komme, sehen mich alle verwirrt an. „Was ist?“ Einheitlich wurden die Schultern gezuckt. Das war ja mal seltsam. „Was?“ Frage ich an Olympia gewandt.
„N-Nichts. Nun ja, wir sind einfach... ein wenig anders als du.“ Irritiert blicke ich an meiner schmuddeligen Schlafkleidung hinab, dann betrachte ich die einheitlichen, teils rosa, teils roten, aufeinander eingestimmten Schlafanzüge.
Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe. „I-Ich hole mir noch etwas zu trinken. Wollt ihr auch etwas?“
Wieder wurden Köpfe geschüttelt, abgesehen der von Katya. „Ja, bring mir bitte etwas gekühltes Wasser mit. Ich nehme jetzt ein Bad, Mädels, Ciau!“ Mit wehendem Haar verschwindet sie im Badezimmer und ich verlasse den ersten Stock.
Oh Mann, die sind doch wirklich nicht normal! Und mit denen allen muss ich es jetzt die nächsten Monate aushalten?
Es ist bestimmt bereits eine halbe Stunde vergangen, doch meine Mutter saß noch immer mit ihren Mädels in der Küche. Sie tratschten leise miteinander, doch ich konnte kaum ein Wort verstehen. Nicht das ich es gewollt hätte. Stattdessen machte ich einen großen Bogen in dem nun recht dunkel gehaltenen Raum. Offenbar konnte man das Kirchenschiff teilweise beleuchten, je nach Bedarf. Entweder nur von Abschnitt zu Abschnitt, oder den gesamten Raum.
Ich selbst zielte auf eine kleine Sitzgruppe zu, die einen guten Blick hinaus in den Wald bot. In einiger Entfernung konnte ich sogar die Wellenbewegungen des Sees wahrnehmen, so wie zwei Gestalten, welche es sich auf dem Steg bequem gemacht hatten.
Der See war so groß, dass man einige Stunden benötigte, um ihn völlig zu umrunden. Es gab auch kleinere Boote, einige Bretter und Seile, von denen aus man hinein springen konnte und anderes Luftgetier, welches fest angebunden an verschiedenen Orten lagen.
Hin und wieder erhaschte ich sogar den Blick auf eine Fledermaus, die auf der Veranda vorbei zischte und ihre Beute jagte. Grillen zirpten, Bäume bewegten sich sanft im Wind, eine Seite wurde umgeschlagen... „Calyle?“ Frage ich in die Dunkelheit hinein, doch erhasche nicht mehr, als einen kleinen Lichtschimmer, als sich die Decke bewegte. Dort, keine zwei Meter von mir entfernt, saß Calyle unter einer Decke, mit einer Taschenlampe und seinem Buch. „Du bist echt ein komischer Kauz.“ Schmunzle ich.
„Wenn ich dich störe, setz dich wo anders hin. Ich bin zuerst hier gewesen.“
„Uh, es spricht. Interessant.“ Ich rutschte näher an seine Füße heran und hebe die Decke so weit an, dass ich ebenfalls Schemen ausmachen kann.
„Ha, ha. Sehr witzig.“ Giftet Calyle.
„Störe ich dich etwa beim Lesen?“
„Mehr oder weniger. Ist gerade keine spannende Stelle.“ Er schlägt es zu und schaltet die Taschenlampe aus. „Was tust du hier?“
Als er die Steppdecke vom Kopf zieht, kann ich dank des Halbmondes erkennen, dass sein Haar wild absteht und wie er versucht sie wieder glatt zu bekommen. Auch sein Blick wandert für einen Moment über mein Outfit, doch im Gegensatz zu den Mädels, sagte er nichts dazu.
„Vor den glorreichen Drei flüchten.“ Mist, jetzt fing ich auch schon so an, wie Olympia. „Ich meine Tick, Trick und Track. Die drei Enten dort oben.“
Calyle gibt einen erkennenden Laut von sich. „Dann geht es dir ja ähnlich wie mir. Ich suche ebenfalls Ruhe vor allen anderen.“ Ich wusste, dass dieser Kommentar eine Anspielung sein sollte, doch ich überging sie absichtlich.
„Aber in deinem Zimmer ist doch nur Tyrone im Moment, oder?“ Mein Blick schweift erneut hinaus zum See, wo die beiden Gestalten herum lümmelten. „Das sind doch Ryan und Lysander.“
„Ja, aber die werden auch bald zurück kommen. Und bis dahin hätte ich gerne mein Buch beendet!“ Er wackelt mit dem dicken Wälzer vor seinem Gesicht herum, was ich erneut als Anspielung auffasste.
„Ja, ja. Schon gut, ich lasse dich schon in Ruhe.“
„Danke.“ Murrt er und zieht die Decke wieder zurecht.
„Gute Nacht.“
„Mhm...“ schon war er unter der Decke verschwunden, völlig versunken in seiner eigenen Welt. Irgendwie erinnerte mich das ein wenig an meine Mutter. Außenseiter. Eigene Realität.
Kopfschüttelnd schlürfe ich auf die Küche zu, wo die fünf Erwachsenen augenblicklich still wurden. Erst als ich näher dran war, bemerkte ich auch die anderen drei Frauen, welche ich noch nicht kannte. „Guten Abend.“ Grüße ich sie alle vorsichtig. „Ich bin gleich weg, ich hole nur etwas zu trinken.“
Eine der drei, diejenige mit den flauschig gelockten, langen schwarzen Haar, hielt einen Stapel Spielkarten in ihrer Hand. Hin und wieder warf sie einen Blick darauf, doch welcher Art sie angehörten, konnte ich nicht sagen. Ich mag Kartenspiele ohnehin nicht wirklich.
Die kleinste von ihnen, diejenige welche im geschlossenen Raum eine Zigarette neben dem gekippten Fenster rauchte, zieht lediglich bei meinem Anblick eine Braue hoch. Die dritte schenkt mir zumindest ein höfliches Lächeln.
„Gefällt dir dein Zimmer, Haylee?“ Erkundigt sich meine Mom vorsichtig.
„Du meinst meine neue Wohngemeinschaft? Da hat es mein Abstellkämmerchen zuhause besser getroffen.“ Natürlich war mein Zimmer keine Abstellkammer, aber an manchen Tagen fühlte es sich so eng darin an, dass es genauso gut eines sein hätte können.
„Ach, du gewöhnst dich daran.“ Lacht Olive. „Die Mädels sind doch alle recht nett. Und im schlimmsten Fall kannst du dir ja ein Zimmer mit deiner Mutter teilen, nicht wahr Edna?“
Das Gesicht meiner Mutter hellte sich vor Begeisterung auf. „Oh, ja! Das wäre dann fast wie früher. Das Bett ist ohnehin riesig und ich nehme bloß Polstergröße ein.“ Alle Frauen lachten begeistert mit ihr mit, da sie es alle nachempfinden konnten.
„Ja, das ist wohl oder übel meine Schuld.“ Gestand Marie ein. „Ich habe es wohl ein wenig übertrieben, als ich die Betten gekauft habe.“ Ihre Wangen färben sich leicht rot.
„Na gut... Schlaft gut!“ Ich verabschiedete mich rasch und tapste wieder die Treppe hoch. Die Blicke von zehn Frauen waren mir dabei deutlich in meinem Rücken bewusst!

 

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Josephine schnippt ihre, bis zum Stumpf ausgerauchte Zigarette, aus dem gekippten Fenster, sobald Haylee außer Sicht- und Hörweite war. Dann nahm sie zwischen Olive und Odette am Tisch platz. „Wann hattest du vor es ihr zu sagen. Edna? Wolltest du sie für immer von uns fernhalten?“
Edna giftet die Frau zornig an. „Du weißt, ich hatte meine Gründe! Ich wollte nie zu diesem verflixten Clan gehören und meine Tochter in etwas hinein zwingen, wofür sie nichts kann!“
Olive streckt ihre Hand über den Tisch hinweg aus und tätschelt Edna´s Handrücken sanft. Wie damals, war sie auch noch heute die Stimme der Vernunft. „Schon gut, wir wissen ja alle, was du dafür durchgemacht hast. Und das beeindruckt jeden einzelnen von uns.“ Einheitlich wurde, zögerlich, oder heftig genickt.
„Ja, ich hätte niemals die Stärke gehabt, ihnen so lange zu trotzen! Ich bin ja so neidisch.“ Sabrina seufzt theatralisch, was alle am Tisch zum Kichern brachte.
„Du bist auf alles und jeden neidisch!“ Beklagt sich Marie freundschaftlich, wofür sie die Zunge heraus gestreckt bekam.
„Mädels! Ihr schweift vom Thema ab!“ Wirft Celiné ein, während sie am Küchentresen ihre Tarotkarten auflegt.
„Was sagen denn deine Karten, Celiné?“ Erkundigt sich Edna vorsichtig.
„Nichts ausschlaggebendes. Bloß Chaos, Verwirrung, Angst. Das was man von einer Teenagerin erwarten kann, wenn sie mit so einer Wahrheit konfrontiert wird.“
„Wann hast du eigentlich vor, ihr die Wahrheit zu sagen? Oder sollen sich unsere Kinder den ganzen Sommer über nur wegen ihr verstellen?“ Fragt Fiona etwas zickiger, als sie es gewollt hatte. Dabei dachte sie bloß an ihren Sohn Lysander, der sich immer so unglaublich freute, wenn er hierher kommen darf und wieder völlig er selbst sein. „Immerhin haben wir in Sabrina´s Haus am See nicht ohne Hintergedanken investiert. Du weißt, dass es der einzige Ort ist, an dem unsere Kinder sie selbst sein können!“
Edna seufzt tief und lehnt sich geschlagen am Küchenstuhl zurück. „Ich werde morgen mit ihr reden. Bisher hätte sie mir ja ohnehin nichts geglaubt. Sie denkt, wie alle anderen, dass ich psychisch instabil bin. Wie könnte sie mir da auch bloß ein Wort glauben schenken?“
Sabrina und Odette knuddelten Edna, da diese neben ihr saßen. „Ach, Süße. Jetzt wird sie dir glauben. Immerhin sind wir alle für euch beide da.“
„Wohl oder übel.“ Grunzt Josephine durch ihre rauchschwere Stimme. „Du weißt ja, dass sie es auch ohne dein Einmischen herausfinden wird. Und du weißt auch, dass sie das größte Sicherheitsrisiko ist. Von mir aus können wir sie auch einfach irgendwo verschwinden lassen.“ Unter dem Tisch wurde mehrfach nach der böse grinsenden Josephine getreten. „Ich mache doch nur einen Scherz, Mädels!“
Betroffen blickt Edna mit ihren blassbraunen Augen zu Boden. „Ich weiß, ich hätte es schon damals erledigen sollen, aber... als ich sie so im Arm hielt... Sie war bloß ein Baby und nicht böse! Wirklich nicht!“
„Pssst.“ Marie nimmt Edna´s andere Hand und sogar Celiné legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Ich weiß, sie waren alle bloß kleine, unschuldige Baby´s Edna. Niemand von uns hätte es von dir erwarten dürfen, wenn wir selbst es nicht einmal geschafft hätten.“
Edna nickt zusammen mit den anderen. „Danke, Celiné.“
„Schon gut. Aber jetzt sollten wir alle schlafen gehen. Immerhin ist morgen ein sehr, sehr langer Tag.“ Celiné greift an Edna vorbei und legt eine Karte auf. „Das Schicksalsrad.“ Erklärte sich für alle anwesenden Frauen von selbst. „Der Tod, ein Zeichen des Neubeginns, er steht auch für loslassen und die Besinnung.“ Edna griff sich erleichtert ans Herz. Für einen Moment hatte sie schon das Schlimmste befürchtet. „Und die Liebenden.“ Das überraschte jede anwesende Frau am meisten. „Ähm... Sie stehen für Fürsorge, Liebe und Treue. Vielleicht ist das auf dich bezogen, Edna. Dass eure Verbindung sie auf dem rechten Weg hält?“ Schlägt Celiné vor, doch hatte nicht wirklich das Gefühl, dass sie die Karten richtig deutete.
„Schon wieder deine Karten?“ Erklingt plötzlich eine matte Stimme. „Legst du schon wieder die Zukunft für alle?“ Natürlich glaubte Calyle kein bisschen an diese Art von Hokuspokus. Die Karten belächelnd, schnappt er sich eine Flasche aus dem Kühlschrank und läuft dann mit langen Schritten die Treppe zum Zimmer der Jungs hoch.
Celiné wechselt einen bedeutungsschweren Blick mit Marie. Marie jedoch zieht bloß fragend die roten Brauen hoch. „Was ist?“
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen sammelt Celiné ihre Karten wieder ein. „Nichts.“
Marie verzieht eine Schnute. „Das sagst du immer wenn du etwas weißt, was die anderen übersehen. Jetzt sag schon! Was ist es?“
Schulterzuckend umrundet Celiné den Küchentisch und stellt sich direkt neben den Kühlschrank. Dort mischt sie die Karten mit geschickten Fingern und legt erneut drei Karten. Vor Überraschung lacht Celiné laut auf.

 

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Nach nur wenigen Stunden war ich so ausgeschlafen, wie schon lange nicht mehr. Ich wälzte mich noch eine ganze Zeit lang im Bett herum, dachte nach, oder fantasierte von diesem Sommer, bevor der Ruf der Natur zu dringend wurde und ich doch aufstehen musste.
Ich kam gerade mal aus dem Badezimmer, als auch schon ein verschlafener, blonder Wuschelkopf an mir vorbei ins Bad tapste. „´rgen...“ Murrte sie und gähnte ausgiebig dabei.
„Guten morgen.“ Erwidere ich erheitert. Frisch eingekleidet in einer kurzen Jeanshose und einem karierten roten Hemd. Mein Haar ließ ich offen, da es ein paar Stunden nach dem Waschen immer perfekt fluffig saß. Trotzdem steckte ich einen Gummiring ein und tapste barfuß hinunter ins Erdgeschoss.
Auch wenn es erst acht Uhr morgens war und alle sehr spät ins Bett gekommen waren, herrschte hier reges Treiben. Draußen auf der Terrasse wurde für sechzehn Leute gedeckt, meine Mutter stand zusammen mit Marie und Sabrina in der Küche, aus welcher ein herrlicher Duft kam. Tyrone spielte mit zwei Jungs ein Kartenspiel, dem ich nicht viel Beachtung zollte und weit entfernt, am Rande des Waldes konnte ich unter den ersten Sonnenstrahlen des Tages Calyle mit einem neuen Buch ausmachen.
„Haylee! Komm her!“ Tyrone winkte mich zu sich, als er mich unschlüssig am Ende der Treppe stehen sah.
„Guten Morgen.“ Die beiden Jungs nicken mir zu.
„Das sind Ryan“ Tyrone deutet auf den Jungen mit den militärisch kurzen Haaren „und Lysander.“ Lysander wiederum trug einen ausgefallenen Haarschnitt mit auf blondiertem Haar. An jedem seiner Finger trug er Ringe mit unkenntlichen Mustern darauf, einige Armbänder, wie man es von Band´s kannte so wie etwas leichten Lidschatten. Letzteres wunderte mich nicht wirklich. Nicht nachdem was ich schon alles in der Stadt gesehen hatte.
Lysander, im Gegensatz zu Ryan grinste mich mit einem siegessicheren Lächeln an. „Hi, Haylee. Bezaubernde Beine übrigens, falls ich das anmerken darf.“ Sein Grinsen wurde noch gewinnender, als ich verwirrt an mir hinab sehe und rot werde.
Tyrone betrachtete meine Beine für einen Moment lediglich unbeteiligt, doch Ryan zog zumindest eine Braue hoch.
„D-Danke. Netter... Schmuck.“ Erwidere ich irritiert. Hastig wende ich mich wieder Tyrone zu. „Schon recht viel los, so früh am morgen.“ Bemerke ich mit einem Nicken zu den Mom´s, welche sich alle Mühe zu geben schienen.
„Das ist normal. Gib ihnen noch eine halbe Stunde, dann werden wir mit Essen überhäuft werden.“
Mein Blick trifft den meiner Mutter. Sie winkt mir mit mehligen Händen zu und ich nehme dies als Aufforderung, um von Lysander´s intensiven Blick loszukommen. „Entschuldigt mich.“ Ich eile zu meiner Mutter und bewundere, wie fit sie wirkt. Eigentlich hatte ich angenommen, nach der ersten Aufregung sei ihr Hoch verflogen, doch sie strahlte mich an, wie sieben Tage Sonnenschein.
„Na, meine Kleine. Wie hast du geschlafen?“
„Recht tief. Die anderen waren auch überhaupt nicht laut.“ Bis auf Lucy, welche lautstark geschnarcht hatte. He, wenigstens haben uns die wilden Tiere in Ruhe gelassen! „Und du? Wie war es im riesigen Bett? Schon Lust zu tauschen?“ Witzle ich, was meine Mutter dazu brachte, mit voller Energie zu lachen. Unglaublich! Vielleicht sollten wir öfters aus der Stadt raus?
„Nein, nein. Du bleib schön bei deinen Freundinnen. Habt ihr denn gestern noch etwas geplant? Wollt ihr euch die Umgebung ansehen?“
Ich machte einen Blick aus dem Fenster. Sah den See, die Wälder, den blauen Himmel. „Schön dort draußen. Ich habe alles gesehen eigentlich. Nicht unbedingt beeindruckender als der Großstadtdschungel.“ Meine Mutter wirft mir einen nachdenklichen Blick zu, wohingegen Olive ihren Senf dazu gab.
„Ach, gib dem See eine Chance. Er ist herrlich!“
„Danke, aber... ich bin nicht so der Wasserfan. Ich sonne mich später lieber.“ Irgendwo dort, wo es keine Insekten gab... im Wald... Verdammt, das würde ein endlos langer Sommer werden!
„Aber du hast doch deinen Bikini eingepackt, oder Schatz.“ Ich nicke widerwillig. „Es wäre schade, wenn du den ganzen Sommer nur wieder drinnen verbringen würdest. Ich weiß, du magst keine Insekten, aber hier sind ehrlich nicht so viele!“ Beschwor mich meine Mutter.
„Im Wald?“ Erkundige ich mich ungläubig. „Du willst mir wirklich einreden, dass es hier mitten in der Natur >kaum< Insekten gibt?“ Ja, klar!
Die Frau, welche ich gestern mit Karten in der Hand gesehen habe deutet mit einem Nicken hinaus zur Waldlichtung. „Calyle liegt jeden Sommer hier draußen irgendwo mit seinen Büchern herum. Er kann dir bestimmt ein Plätzchen nennen, an dem es wenige Insekten gibt.“
Ich öffnete den Mund, um der Fremden für diese Idee meinen Dank auszusprechen, als mir die Blicke auffielen, welche sich Marie, die Kartenfrau, meine Mutter und Olive an die Köpfe warfen. Irritiert über diesen stummen Austausch, welchem ich nicht folgen konnte, schloss ich den Mund wieder.
„Hier, ein kleines Frühstück.“ Plötzlich begann die Kartenfrau in den Regalen zu werken, schnappte sich ein Tablett, zwei Flaschen mit Orangensaft, einen Teller auf den sie Pfannkuchen häufte, so wie eine Flasche mit Ahornsirup. „Bring das zu Calyle, mit besten Grüßen von Celiné natürlich.“ Sie zwinkert mir verschwörerisch zu.
Ich nehme das alles irritiert an und wurde dann schon buchstäblich aus dem Raum geschoben. Hinter mir ging krachend die Schiebetüre zu und ich stand neben zwei fremden Frauen auf der Terrasse.
Ich lächle ihnen schüchtern zu. „Guten Morgen, Haylee.“ Grüßt mich diejenige, welche keine Zigarette in der Hand hielt.
„Ähm... Guten morgen.“
„Ich bin Josephine, Ryan´s Mutter und das ist Fiona, Lysander´s Mutter.“ Die Raucherin nickt mir lediglich zu und mustert mich auffällig. Was sie über mich denken wollte, mochte ich mir überhaupt nicht ausmalen!
„Nett euch kennen zu lernen.“ Ich mache mich langsam auf den Weg, barfuß, zu Calyle, wobei ich bei jeder Bewegung eines Insektes wie erstarrt stehen blieb. Verdammt sind das viele Bienen! Jetzt wünschte ich mir meine Turnschuhe her! Wieso bin ich bloß barfuß hinunter gekommen?
Nun, ja wer hätte schon ahnen können, von einer fremden Frau aus dem Haus geworfen zu werden? Und das auch noch mit süßem Zeug, was die Insekten anzog! „Igitt, geht weg von mir!“ Tänzelnd arbeitete ich mich zu Calyle vor, indem ich immer wieder haken schlug und zum Abschluss einen gewagten Sprung auf seine Decke machte, auf welcher er lag.
Erschrocken blickte er auf. „Guten Morgen! Und entschuldige, aber hier sind so viele Insekten!“ Jammere ich und gehe neben ihm in die Hocke. „Ich soll dir das mit Grüßen von Celiné bringen.“
Interessiert setzt sich Calyle auf und betrachtet das Essen, welches ich vor ihm abstelle. Ich selbst ging lediglich in die Hocke und angle mir bloß die zweite Flasche vom Tablett. „Danke, aber das ist ein bisschen viel für einen alleine. Möchtest du mitessen, Haylee?“
Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick auf den leckeren Pfannkuchenhaufen vor mir. „Zu gerne, ehrlich. Aber ich wette mit dir, dass darin Milch und Eier sein werden. Also danke, aber nein danke.“
„Ah!“ Bemerkt Calyle, während er die Falsche des Ahornsirups aufdrehte. „Stimmt, du bist ja Veganerin.“
„Mit Herz und Seele.“ Stimme ich zu. „Aber iss ruhig, mir ist es egal, wenn es andere tun. Ist ja bloß euer Gewissen, welches darunter leiden muss.“ Ziehe ich ihn auf, doch er ignoriert meine Stichelei einfach und beißt herzhaft in ein Stück. Mein Magen grummelte...
Anstatt meinem Hungergefühl nach zu gehen, ließ ich mich von einem Impuls leiten, der mich überraschte. Ich nahm neben Calyle platz und ließ meinen Blick einfach über die Ebene schweifen. Der See wurde erst teilweise beleuchtet, doch er sah jetzt bereits atemberaubend aus.
„Du kannst dich ruhig ein wenig herlegen. Zur Mittagszeit erträgst du die Sonne ohnehin nicht mehr.“
Ich blicke überrascht in seine hellblauen Augen. „Wirklich so schlimm?“
Calyle deutet auf sein eigenes Gesicht. „Für mich bestimmt schlimmer, als für dich, aber ja. Du wirst sehen, die ersten Tage werden alle wie Krebse herumlaufen.“
Ich schmunzle und betrachte das Farbenspiel seines Haares. Es war fein säuberlich, wie bereits gestern, als Zopf zur Seite gebündelt. In der Sonne verlor es jedoch seinen dunklen, braunroten Ton und wurde quasi zu Flammen!
Für einen Moment fasziniert, starrte ich ihn wohl etwas zu lange an, denn Calyle griff sich irritiert ins Haar. „Habe ich einen Käfer im Haar?“
Verlegen nicke ich. „Ja, aber er ist schon weg geflogen.“ Log ich und lege mich schnell auf den Rücken. Calyle hatte recht. Die Sonne kitzelte angenehm über jeden freiliegenden Zentimeter meiner Haut und erwärmte sie angenehm, anstatt darauf zu brennen, wie sie es normalerweise im Sommer tat. „Du hast recht. Das ist ziemlich entspannend.“ Gebe ich zu, verschränke meine Knöchel übereinander und lege meine Finger auf meinen Bauch.
Der Wind, welcher die Blätter der Bäume zum Rascheln brachten, die verschiedenen Stimmen der Waldtiere, so wie das Summen unterschiedlich großer Flügel, brachte mich in einen Zustand, den ich so noch nie empfunden hatte. „Eigentlich habe ich ja die Stadt für laut gehalten... Aber der Wald schläft wohl auch nie, was?“
„Nein, es herrscht hier ständig irgendein Tumult. Egal ob du dich im Haus, oder Außerhalb befindest.“
„Kein Wunder bei so vielen Leuten. Da muss es schwer sein, sich aus dem Weg zu gehen.“
Ich höre ein Buch rascheln, wie Calyle es zuschlägt und dann im Gras ablegt. „Dafür habe ich ja meine Bücher. Seit ich angefangen habe zu lesen, lassen mich die anderen in Ruhe.“
„Also ließt du überhaupt nicht, sondern versteckst dich bloß?“ Erkundige ich mich irritiert. Da gibt es doch bestimmt bessere Möglichkeiten.
„Angefangen habe ich tatsächlich, um mich zu verstecken... vor Olympia.“ Gab Calyle plötzlich zu.
Ich blinzle gegen die Sonne zu ihm auf und spüre, wie mein blödes Herz erneut einen fiesen Sprung in meiner Brust machte. Jetzt wirkte Calyle, als hätte ihm jemand den Kopf in Flammen gesteckt. Aber nicht auf eine fiese verkohlende und stinkende Art und Weise. Viel mehr sah es so aus, als hätte er einen... Heiligenschein. So dumm es auch eigentlich klang... Ich bin total dämlich! Wie kann ich so etwas bloß denken? „Ist sie echt so schlimm?“ Gestern hatte sie mich recht angenehm empfangen. Dank Katya und Lucy hatte ich ja eher eine böse Hexe erwartet.
„Nein, aber wir waren zusammen. Für... eine kurze Zeit.“
Ich gebe einen verstehenden Laut von mir. „Trotzdem gibt es nettere Methoden, um mit jemandem Schluss zu machen.“
Calyle stößt mich neckisch mit dem Fuß an. „Deshalb habe ich nicht zu Lesen begonnen!“
Ich grinse frech vor mich hin. „Es klang halt so, entschuldige. Weshalb hast du dann mit dem Lesen begonnen?“
„Ich hatte bereits vor Monaten mit ihr Schluss gemacht, doch da sie Jahrelang vorher auf mich gestanden ist, war es... etwas schwer sie wieder los zu werden. Einmal war sie der totale Engel, dann die ärgste Bitch, hat herum geheult... Je nach Laune. Ich wusste nie mit Bestimmtheit, auf welche Olympia ich dieses Mal treffen würde, daher... begann ich irgendwann einmal, mich hinter einem Buch zu verstecken, oder tat so, als sei ich so versunken, dass ich sie überhaupt nicht bemerke. Das hat ehrlich gesagt so gut geklappt, dass ich jeden Sommer hier ziemlich ungestört genießen kann.“
Kopfschüttelnd komme ich auf die Ellenbogen hoch. „Das ist zwar ziemlich Krank... aber eine interessante Technik. Das so etwas überhaupt klappt!“ Ich lache laut auf. „Unglaublich. Und seitdem bist du der totale Lesenarr?“
„Eine Leseratte, aber ja.“ Bessert Calyle mich aus und leckt sich etwas Sirup von der Oberlippe.
„Was ließt du denn so?“
„Since Fiction, russische Literatur,...“
„Russische Literatur? Wer ließt denn so etwas?“
„Ich.“ Erwidert Calyle amüsiert. „Ich mag russisch und so lernt man es schneller.“
Mein Blick schweift wieder über den See, welcher mir langsam etwas trüber vorkam, als zuvor. „Okay, ich frage ja schon nicht weiter nach, was noch?“
„Ich bin ein großer Fan von Stephan King, wenn dir das etwas sagt?“
Ich zucke unwissend mit den Schultern. „Nö, eigentlich nicht. Ich lese nicht viel.“
„Er schreibt in verschiedenen Genre, also tobt sich quer durch den Salat aus. Vielleicht könnte er dir auch einmal gefallen.“
Ich denke ernsthaft darüber nach. „Ich mag Geschichten, besonders Horror. Aber ich sehe sie lieber, als sie zu lesen.“
Calyle beißt sich nachdenklich auf die Unterlippe, woraufhin ich mich wieder zurück auf die Decke sinken lasse. „Aber du kannst mir ja mal etwas vorlesen, vielleicht finde ich ja doch Gefallen daran.“ Scherze ich.
Calyle´s Frage daraufhin klang so begeistert, dass ich schlecht nein sagen wollte. „Tatsächlich? Ich meine, du musst nicht, wenn es dich wirklich nicht interessiert. Ich weiß, es gibt wesentlich interessantere...“
„Nein, nein. Schon gut. Wie gesagt, ich liebe Geschichten, solange ich sie nicht selbst lesen muss.“ Ich öffne meine Augen, als etwas Kaltes über meine Beine streift und merke, dass Calyle längst nicht mehr so wie zuvor von der Sonne strahlte.
Ich sah gerade noch sein strahlendes Lächeln, als hätte ich ihm damit einen unvorstellbar großen Gefallen getan, als sich sein Blick innerhalb eines Sekundenbruchteils veränderte. „Bleib unten.“ Auch wenn Calyle´s Blick über die Umgebung schweifte, schien er das Zucken in meinem Körper bemerkt zu haben. Erneut berührt mich etwas Eisiges an meinen nackten Zehen und ich ziehe sie, einen schrillen Schrei ausstoßend, ein.
Calyle´s Hand landet ruckartig auf meiner Schulter. „Bleib ganz ruhig, Haylee.“
Anstatt auf ihn zu hören, setze ich mich auf und sehe mich verzweifelt um. Nebel, so dicht, dass man nicht einmal mehr das Haus erkennen konnte, zog so schnell wie eine Welle über uns hinweg. „Was ist das für Nebel?“ Eigentlich war es dafür doch viel zu warm!
Etwas, leises Geflüstertes, zuckte hinter mir vorbei und ich schrie erneut auf. Calyle fing mich gerade noch auf, bevor ich aufspringen und wegrennen konnte, drückte mich zu Boden und rollte sich schützend über mich. >etwas< sauste laut lachend über uns hinweg und gab dabei nicht ganz menschliche Laute von sich.
Zitternd klammerte ich mich an Calyle´s oranges Shirt. „Was ist das?“ Flüstere ich ängstlich.
Calyle blickt vom dichten Nebel, auf mich herab und unsere Blicke treffen sich. Erneut springt mein Herz so heftig durch meine Brust, dass es Calyle zweifellos mitbekommen haben musste. Statt irgendetwas zu sagen, blickt er einfach weiter auf mich herab, sein warmer Atem streichelt dabei sanft über mein Gesicht und sein Anblick lässt mich für einen Moment vergessen, dass mich eben eine geisterhafte Erscheinung erschreckt hatte.
Dieses Mal so nahe, dass ich zweifellos eine gesichtslose Gestalt im Nebel erkennen konnte, schwebte >es< seitlich an Calyle und mir vorbei. Panisch klammere ich mich noch fester an ihn. „Was war das, zum Teufel? Spielt uns hier jemand einen Streich?“
Calyle kniet nun schützend über mir, bereit jeden Moment aufzuspringen und gegen das anzutreten, was auch immer hier herumspukte. „Nein, das ist kein geschmackloser Scherz. Wenn ich sage >Lauf< dann tust du das auch, verstanden?“
„W-Was? Nein! Ich laufe bestimmt nicht durch diesen Nebel und lasse dich zurück!“
Calyle hockt nun bereits über mir und ich folge ihm, indem ich mich schnell aufsetze. „Haylee! Im Haus bist du sicher. Auf >Los< läufst du, klar!“
„Aber... Aber was ist mit dir?“
„Ich werde direkt hinter dir sein.“
Die Nebelschwaden kamen immer näher, wurden so dicht, dass es wie Watte wirkte. Da soll ich hindurch laufen? „Nein, ich...“
„Haylee!“ Calyle packt mein Kinn grob und sieht mir eindringlich in die Augen. „Lauf!“ Das ließ ich mir kein weiteres Mal sagen und renne, als sei der Teufel persönlich hinter mir her. Ständig fühle ich dabei >etwas< durch meine Haare streicheln, oder etwas neben meinem Ohr schreien. Einmal traurig schluchzend, dann laut und hysterisch, oder wie von sinnen. Es war einfach verrückt!
Plötzlich tauchte eine schreiende Gestalt einfach vor mir auf. Ich schreie ebenfalls vor Panik auf und bleibe schlitternd stehen. Calyle erreicht mich bloß einen Augenblick später, läuft in meinen Rücken und holt mit einem kurzen etwas nach der Kreatur aus. „Verschwindet!“ Schrie er das Schreckgespenst an, dann packte er meinen Arm und zieht mich neben sich her. „Einfach auf das Haus zu. Ich wehre sie ab!“
Ja, aber >was< währt er ab? Wovor laufen wir hier weg? Und was sind das für eisige Wesen, die so schrecklich schreien?
„Calyle!“ Ich schreie seinen Namen panisch hinein in den Nebel, als eines dieser >etwas< mit wütendem Gebrüll gegen ihn springt und ihn hinein zieht. „Calyle!“ Rufe ich erneut und drehe mich gegen jede Vernunft im Kreis, um ihn zu finden. Als ich mir sicher war, die Stelle wiedergefunden zu haben, an der es ihn zu Boden gerissen hatte, fühle ich etwas Glühendes an meinen Zehen.
Zischend gehe ich einen Schritt zurück und stolpere gegen einen am Boden liegenden Körper. „Ah! Calyle!“ Erleichtert gehe ich neben seinem bewusstlosen Körper zu Boden und rüttle ihn sanft. Der Boden war vollständig von einer dünnen Schicht Tau überzogen und roch seltsam süßlich... doch nicht auf eine angenehme Art und weise. „Calyle, wach sofort auf!“
Ein >etwas< streifte meinen Arm, ich schreie erneut auf und versuche, die Nebelgestalt wegzuscheuchen, doch sie ließ sich einfach nicht abwimmeln. Bevor ich jedoch einen besseren Blick auf das Wesen erhaschte, oder herausfinden konnte, was es nun mit uns vorhatte, hörte ich Olympias Stimme. „Duck dich, Haylee!“
Hastig bücke ich mich über Calyle, sodass dieses Mal ich über ihm liege und seinen Kopf, so wie meinen beschütze. Keine Sekunde zu früh, denn da sauste auch bereits etwas Langes über mich hinweg. Die Nebelkreatur kreischt ein letztes Mal und... verliert ihre Gestalt. Mit klopfendem Herzen lausche ich den Kampflauten. Hin und wieder sehe ich Haare durch die Nebelschwaden aufblitzen. Blond, schwarz und braun. Mehrere Körper schienen sich, um Calyle und mich herum zu bewegen, hieben immer wieder auf die >Etwas< ein, bis sie einen kleinen lichteren Ring, um uns gebildet hatten.
„Haylee, steh auf.“
Lysander bückt sich nach Calyle und zieht ihn grob hinter sich her. Ich folge den beiden auf den Schritt, während sich Lucy, Olympia, Tyrone, Ryan und Katya, fast tänzelnd, um uns herum bewegten.
Schnell kamen wir, als Gruppe an der Schiebetüre an. Olive riss sie auf, sobald sie uns erkannte, und schloss sie direkt hinter Olympias Körper wieder.
„Ist er schwer verletzt?“ Marie war zur Stelle, um nach ihrem Sohn zu sehen.
„Nein, hat sich bloß den Kopf beim Sturz gestoßen.“ Erwidert Lysander, als sprächen wir über einen blauen Fleck.
Ich selbst konnte nichts anderes tun, als mich ungläubig umzusehen. Lucy und Katya trugen noch immer ihren, aufeinander abgestimmten Pyjama, nur Olympia befand sich ungeniert in Unterwäsche. Die Jungs ließen fast einheitlich seltsame Lichtblitze in ihren Händen verschwinden, bevor ich sie ausmachen konnte, doch Olympia war zu beschäftigt sich um Calyle zu sorgen, als um die Tatsache, dass sie eine zwei Meter hohe und mehrere Meter lange Sense in ihrer Hand hielt! Katya lässt ein silbernes Schwert mit winzigen Flügeln daran verschwinden und Lucy sogar einen langen, gebogenen Bogen.
So schnell wie der Adrenalinschub gekommen war, verließ er meinen Körper und ließ mich wackelnd zurück. „Haylee?“ Die Stimme meiner Mutter erklang in einiger Entfernung, Kilometern oder so, dann war es so schwarz um mich herum, dass ich nicht einmal meinen eigenen Aufschlag bemerkte.

IV - Der verfluchte See

Geister! Es war das erste Wort, was mir in den Sinn kam. Ich habe echte Geister gesehen, nicht wahr? „Geister... D-Da waren Geister!“
Die Hand meiner Mutter streichelt sanft meine Wange. „Nein, nicht ganz. Es waren die Banshee´s des Sees. Du kennst sie vielleicht unter dem Namen, Sirenen.“
„Sirenen?“ Frage ich irritiert nach und setze mich in einem völlig fremden Bett auf. Da ich die Kleidung meiner Mutter im offenen Kleiderschrank, so wie ihren Koffer am Fußende erkannte, tippte ich auf das ihr zugeteilte Zimmer. „So etwas gibt es doch überhaupt nicht.“
„Doch, Schätzchen. Alles, von dem ich dir in den letzten Jahren erzählt habe. Es gibt sie.“
Ich will schon widersprechen, es auf ihre Halluzinationen und alles schieben, doch da sehe ich Katya, Olympia und Lucy im Zimmer stehen, auf der anderen Seite des Bettes. Jede von ihnen blickt mich besorgt an. „Oh nein...“ Panisch greife ich an meinen Kopf. „Ich bin doch nicht so wie du geworden, oder? Und habe mir das alles bloß eingebildet?“
Meine Mutter verzieht genervt das Gesicht. „Jetzt sei mal nicht so frech! Ich war nie verrückt, sondern habe einfach mehr, als normale Menschen gesehen.“
Zweifelnd blickte ich zu den Mädels, doch diese wirken kein bisschen betroffen vom Zustand meiner Mutter. Ob sie es bereits wussten?
„Haylee, deine Mutter hat recht. Du bist ein Nephilim, deshalb konntest du auch diese Nebelgestalten sehen.“ Olympias völlig emotionslos dahin geworfene Worte, brachten mich für einen Moment zum Lachen. Nephilim? Ja klar! Als ob es so etwas gäbe!
Als Katya ihr jedoch einen fiesen Seitenhieb versetzte und Lucy Olympia anfauchte, sie solle die Klappe halten, wurde mir bewusst, dass Olympia keineswegs einen Scherz gemacht hatte! Es war ihr aufrichtiger Ernst!
„N-Nein, ich kann doch kein Nephilim sein. Ich... Ich weiß zwar nicht genau wie das vonstatten gehen soll, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Mutter kein Engel ist! Nicht wahr, Mom?“
Sie schüttelt den Kopf. „Nein, bin ich nicht meine Kleine. Natürlich bin ich kein Engel. Aber dein Vater ist es gewesen.“
Mein Mund klappt auf und zu, während ich einen nach dem anderen verdutzt ansehe. „I-Ihr glaubt diesen Schwachsinn etwa auch noch?“ Meine Mutter hatte in den letzten Jahren wirklich viel Unsinn verbreitet, doch diese Aussage sprengte wirklich jede Skala! „Sagt mir gefälligst, dass ihr das nicht auch glaubt! I-Ihr seid doch nur ganz normale Mädchen. Etwas seltsam vielleicht, aber wer ist das nicht?“
Katya, wesentlich feinfühliger als Olympia nahm neben mir auf dem Bett platz und hielt ihre ausgestreckte Handfläche nach oben. „Du wirst es, so wie alle anderen nicht im Detail sehen können, aber das hier ist ein Engelsschwert.“ In ihrer Hand entstand so etwas wie ein Lichtblitz, welcher sich über einen Meter lang ausdehnte und dann eine gläserne Schneide annahm. „Jeder von uns besitzt eines. Es wird aus heiligem Feuer gemacht und auch du wirst deine Klinge bekommen, wenn du soweit bist. Eine Klinge, die nur ich sehen kann natürlich, da ich Michael´s Nachfahrin bin. Ich habe eben spezielle Fähigkeiten.“ Grinst sie und zwinkert mir verschwörerisch zu. „Jeder von uns hat so eine spezielle Gabe.“
Ich blicke erneut auf das gläserne Schwert in ihrer Hand, welches völlig klar vor mir dalag. Es besaß am Griff zwei kurze, feingeschwungene Flügel, welche ein elegantes >M< bildeten. Also sonderlich unsichtbar war es nun wirklich nicht. Sogar Lucy´s Bogen und Olympias meterlange Sense hatte ich ohne Probleme erkannt. Ich verstand nicht wirklich, worin das Problem lag, doch etwas in meinem Inneren ermahnte mich kein Wort darüber zu verlieren.
„A-Aber wenn ich es nicht sehen kann, wie willst du mir beweisen, dass du überhaupt ein Schwert in der Hand hältst? Außerdem woher hast du es eben gezogen? Ich sehe keinen Schwertgurt oder so etwas an dir!“
Katya kichert amüsiert, während Olympia genervt seufzte. „Du kannst sicher den lächerlich schwachen Lichtblitz sehen, der in ihrer Hand knistert.“ Ich zwang mich, zu nicken. „Das ist das Schwert. Bloß der große, mächtige Michael konnte die Schwerter der anderen Engel sehen, oder was auch immer sie trugen.“ So wie ihre Stimme verstellte, merkte ich, wie viel Olympia von alldem hielt. „Die Jungs tragen alle Waffen mit kurzen Klingen, oder Dolche. Ich habe eine Sense, Blondchen hier einen Bogen und nur Michael so wie Luzifer tragen mächtige Engelsschwerter. Das war auch der Grund, weshalb sie sich stets ebenbürtig gewesen sind.“
Ich deute verwirrt auf den Boden. „Luzifer, wie der gefallene in der Hölle? Teufel? Satan? Von so etwas redest du?“ Mein Blick zuckt zu meiner Mutter. Wie oft hatte sie wohl schon das Wort Dämon in den Mund genommen und ich hatte es, als alberne Spinnerei abgetan?
„Nicht unbedingt >Teufel<, das ist bloß lächerlicher Aberglaube.“ Ich werfe Katya einen vorwurfsvollen Blick zu, während sie ihr Schwert einfach verschwinden ließ. „Luzifer ist gefallen, da er sich gegen den Schutz der Menschen ausgesprochen hat. Während Engel, grob gesagt lediglich Kopien einer göttlichen Macht sind und als Wächter fungieren, sind wir Menschen das Kronjuwel der Schöpfung. Wie du bestimmt aus Naturwissenschaften weißt, entwickeln wir Menschen uns stets weiter. Unser Hirn ist viel komplexer und ausbaufähiger, als das eines jeden Lebewesens. Der so genannte >Gott< und damit spreche ich aus so gut wie jeder Religion, sah das Potenzial, welches in uns schlummert, mit dem Wissen, dass wir uns vom einfachen Höhlenmensch irgendwann so weit entwickelt haben würden, dass wir selbst zu gottähnlichen Wesen aufsteigen können. Das meine Süße, ist die Evolution gepaart mit einem Hauch von Religion.“
Wie lächerlich das alles klang! Eine Evolution zu einem höheren Wesen? Zu etwas Gottgleichem? Ich musste bloß daran denken, wie wir Menschen andere Lebewesen behandelten, schon zweifelte ich stark daran, dass wir jemals so weit kämen. Das einzige was wir zweifellos schaffen würden, ist die Tatsache, uns selbst auszurotten, anstatt über uns hinaus zu wachsen.
Ich fasste mir zischend an den Kopf, als ein Vorschlaghammer darauf traf. Bildlich gesprochen, versteht sich.
„Okay, Mädels. Lasst Haylee ein wenig alleine. Sie ist müde.“ Befahl meine Mutter plötzlich mit einer überraschend autoritären Stimme.
„W-Warte! Mama, wenn Katya sagt, ihr Erzeuger sei der Engel Michael... wer ist dann meiner?“
Betreten sahen sich die vier gegenseitig an, so als wolle niemand die Antwort freiwillig von sich geben. Aber das mussten sie überhaupt nicht mehr... „Luzifer...“

 

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„Hey, Mädels! Ich wollte euch nur bescheid geben, dass Calyle wieder wach ist. Sein Schädel brummt zwar fürchterlich, doch ihm geht es gut.“ Tyrone stand so unvermittelt im Eingang, dass wir alle einheitlich zusammen zuckten.
„Oh... Ich störe gerade, oder?“
Katya sprang auf, um auf ihren Freund zuzulaufen, schlingt ihre Arme um ihn und küsst ihn zärtlich. „Schon gut. Wir haben Haylee nur gerade gesagt, wer ihr Vater ist.“
Tyrone sah mich mitleidig an. „Entschuldige! Das wusste ich wirklich nicht.“
Ich winke ab. „Schon gut. Ähm... Was ist mit Calyle? Hat er eh keine Gehirnerschütterung, oder schlimmeres?“ Mit meiner Sorge wollte ich bloß von meinem eigenen riesigen Problem ablenken. Zumindest redete ich es mir ein. Seltsamerweise fand ich Calyle´s Kopfverletzung wesentlich schrecklicher, als einen bösen Engel zum Vater zu haben.
„Ne, nichts. Er ließt sogar schon wieder, also dürfte es ihm gut gehen.“
Olympia, welche sich eben mit einem hinterhältigen Grinsen aus dem Zimmer stehlen wollte, stöhnt genervt. „Verdammte Bücher. Kann er nicht einmal in seinem Leben etwas anderes tun?“ Beleidigt verschränkt sie ihre Arme vor dem Brustkorb und schien vor sich hin zu schmollen.
„Na wenn du nach ihm sehen möchtest, dann tu das. Hält dich niemand auf von hier zu verschwinden und jemand anderen auf die Nerven zu fallen.“ Motzt Lucy so zickig, wie ich es bisher noch nicht von ihr gehört hatte. „Haylee braucht ohnehin Ruhe von dir. Kusch! Kusch!“ Lucy schlug so schnell die Türe vor Olympias Nase zu, dass ich schwören konnte, sie hatte bloß knapp deren Nase verfehlt.
„Wir sollten aber auch gehen, Lucy. Haylee braucht auch von uns Ruhe, um ihre Gedanken zu sortieren.“ Bestimmt Katya und macht sich bloß teilweise von ihrem Freund los. „Na los.“
„Komm runter, wenn du weiterreden willst... oder bloß Gesellschaft.“ Ruft Lucy noch, bevor sie um die Ecke verschwindet und Tyrone die Zimmertüre schließt.
„Soll... Soll ich dich auch ein wenig alleine lassen?“ Bietet meine Mutter an, doch ich schnappe schnell nach ihrem Handgelenk und ziehe zu mir aufs Bett.
„Nein, bleib bitte.“
„Okay, ich bleibe so lange wie du willst. Keine Sorge.“ Verspricht sie und setzte sich neben mich, an das Bettgestell gelehnt.
„Es gibt sie also doch alle... Die von denen du schon seit Jahren immer wieder redest...“
Meine Mutter tätschelt sanft meine Hand. „Nicht, tu es nicht. Ich war dir nie böse deshalb. Im Grunde hast du dich doch stets gut um mich gekümmert.“
„Ich habe dich für verrückt gehalten und mit Pharmazeutika zugedröhnt, nur damit du Ruhe gibst!“ Erwidere ich und spüre einen dicken, fetten Kloß in meinem Hals. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? „W-Wenn ich dir bloß ein wenig geglaubt hätte... oder... oder...“ Mein Damm brach so plötzlich, dass es mich selbst überraschte.
Sanft tröstend zog meine Mutter mich an ihre Brust, streichelte mir über´s Haar und versicherte mir immer wieder, dass alles gut sei. Dass sie mir niemals böse gewesen ist, oder auch bloß eine Sekunde mit mir bereut hätte. Egal... von wem ich abstammen solle. Ich bin ihre Tochter. Ihr Kind, welches sie über alles liebte, egal was auch noch geschehen mag.

 

- - - - -

 

Gegen Mittag zwingt mich mein Hunger hinab ins Kirchenschiff. Meine Mutter war irgendwann gegangen, nachdem meine Tränen versiegt waren und wartete nun geduldig auf mich. Mit einem strahlenden Lächeln schließt sie mich in de Arme, noch bevor ich ganz die Treppe unten war.
„Mama!“ Meckere ich amüsiert. „Lass das, ich bin kein kleines Kind mehr.“ Eigentlich empfand ich es sogar als recht angenehm, dass sie mir so viel Liebe entgegenbrachte. Immerhin wird in den Horrorgeschichten Luzifers Kind zwar von allen geliebt, doch tötet zum Schluss jeden. Allen voran seine eigene Mutter!
„Hast du Hunger, Liebes?“ Begrüßt mich Olive und deutet auf das Backrohr. „In fünf Minuten ist alles fertig.“
„Danke.“ Erwidere ich etwas irritiert. Wenn doch alle wussten, oder zumindest ahnten, wer ich sein mag, weshalb sind sie dann so nett zu mir?
„Haylee, wie geht es dir?“ Erschrocken fahre ich herum, als Calyle unvermittelt hinter mir auftaucht. Am anderen Ende des Raumes sehe ich noch Olympia, mit einer Decke auf dem Schoß und ein Buch daneben liegen, welches bestimmt nicht sie gelesen hatte. Giftigere Blicke hatte ich wohl in meinem gesamten Leben noch nie kassiert!
Anstatt Rücksicht auf Olympias Gefühle und den womöglich darauffolgenden Gefahren zu nehmen, lasse ich mich von meinen Emotionen überfluten und tue etwas, das ich normalerweise nie getan habe. Ich umarmte Calyle. „Ein Glück, du lebst noch!“ Seufze ich erleichtert an seiner Schulter und drücke ihn ganz fest. Lachend erwidert Calyle meine Umarmung und streichelt mir dabei sanft über den Rücken. „Als dich dieses Ding weg gerissen hat... es sah schrecklich aus!“
„Autsch...“ Hastig ließ ich ihn wieder los. „Nicht so fest drücken, bitte. Ich habe einen riesigen Bluterguss am Rücken. Die blöde Kuh hat mich wirklich heftig erwischt.“
Ja, das hatte ich mit angesehen! „Aber sonst hast du nichts, oder? Nichts gebrochen, keine Übelkeit...“
„Und auch kein Schwindel!“ Beruhigt Calyle mich amüsiert. „Schon gut Haylee, wichtiger ist es, wie es dir geht. Es war dein erster Zusammenstoß mit dem übernatürlichen, oder?“
Verlegen trete ich etwas zurück. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, ihm um den Hals zu fallen? Ich Idiot! „Nein... Ja, klar. Es war mein erster Zusammenstoß. Und... tut mir leid wie ich mich verhalten habe. Ich muss wie eines dieser übertriebenen Blondchen aus den Filmen gewirkt haben.“ Vor Scham lege ich beide Hände vor mein Gesicht, damit er nicht sehen konnte, wie rot ich wurde. Verdammt wenn ich bloß daran dachte, wie oft ich panisch aufgeschrien habe, mochte ich nichts lieber, als im Erdboden zu versinken!
Calyle´s Finger ziehen meine Hände sanft fort von meinem Gesicht. „Haylee! Da gibt es nichts für was du dich schämen müsstest. Außerdem bist du schneller gelaufen, als ich es je bei einem dummen Blondchen in den schlechten Horrorfilmen gesehen hätte!“ Versichert er mir, was mich bloß noch verlegener machte.
„Noch schlimmer! Ich bin gerannt wie ein verängstigtes Häschen!“
Calyle lässt meine Hände wieder los. „Aber du bist schlussendlich geblieben, als die Sirene mich ausgenockt hat, nicht wahr? Ich habe schon von Lysander gehört, wie tapfer du mich vor einer versucht hast zu beschützen und das ganz ohne Waffe!“
Ich stoße erleichtert die Luft aus. Zum Glück. Das hatte ich ehrlich gesagt völlig verdrängt. „Stimmt, das war ausnahmsweise ganz schön mutig von...“
„Aber ich war es, die dich gerettet hat, nicht wahr, Haylee!“ Erklingt plötzlich Olympias Stimme und sie hakte sich schamlos bei Calyle ein.
„J-Ja.“ Gebe ich geschlagen zu.
„Du hättest mich mal sehen müssen! Ich bin über euch hinweg gefegt wie eine Kriegsgöttin!“ Beginnt sie ihren Lobgesang auf sich selbst. „Zum Glück war ja ich da, sonst hätten dir diese Biester noch das Trommelfell zerstört!“
Ich verdrehe die Augen. Blöde Ziege! „Das Trommelfell?“ Hinterfrage ich, anstatt mich über sie aufzuregen.
„Ja, Sirenen gehören zu der Familie der Banshee´s. Es gibt verschiedene Arten von ihnen. Manche von ihnen nutzen ihre Gabe um zu heilen, andere, um schaden zuzufügen, oder einfach nur, um normale Menschen in den Wahnsinn zu treiben.“ Erklärt Calyle hilfsbereit.
„Und die was uns angegriffen haben?“ Erkundige ich mich weiter.
„Das waren richtige Sirenen, wie du sie aus den Seefahrergeschichten kennst. Das sind Seelen, die von einer Naturkatastrophe verschüttet oder ertränkt wurden. Mit ihrem Geschrei wollen sie auf sich aufmerksam machen.“
„Das im See sind also die Opfer der Überschwemmung.“ Stelle ich verstehend fest.
„Ihre Geister, quasi. Aber ja.“
„Da fällt mir ein!“ Bemerkt Olympia und blickt Calyle irritiert an. „Wieso konnten sie euch überhaupt einkesseln? Sirenen sind doch total langsam und man sieht sie schon aus Kilometer Entfernung, wenn sie kommen.“
„Du meinst den Nebel, aus dem sie bestehen?“ Olympia nickt. „Nun ja, ich lag auf dem Boden und habe mich sonnen lassen. Ich habe also nichts mitbekommen, bevor sie mich am Bein berührt haben.“
Olympia wirft Calyle einen fragenden Blick zu. Er lügt so unverblümt, dass ich die Brauen hochzog. „Du weißt wie gefesselt ich vom Lesen bin. Ich habe sie einfach nicht bemerkt, wie Haylee.“
Das stimmte doch überhaupt nicht! Calyle hat nicht gelesen, ich weiß noch ganz genau, dass er es fortgelegt hatte, um mit mir zu reden! Wieso log er also Olympia an?
Anstatt ihn jedoch zur Rede zu stellen, ließ ich meine Aufmerksamkeit von Olive ablenken. „Suppe ist schon fertig, wer mag?“
Das ließ ich mir selbstverständlich kein zweites Mal sagen, genauso wenig wie mein Magen. Hastig beeilte ich mich, beim Aufdecken zu helfen, und nahm mir als Erstes eine Portion. Die Kartoffelsuppe war zwar noch viel zu heiß, um sie zu essen, doch das war mir im Moment egal. Ich pustete, was das Zeug hielt, und stürzte sie löffelweise hinunter.
Katya lachte amüsiert, als sie mir dabei zusah, wie ich mit einer Hand auf meine Zunge zu fächere. „Hättest du mal gewartet, wie alle anderen!“
„Ich habe hunger!“ Rechtfertige ich mich, was alle anderen am Tisch genauso amüsierte.
„Keine Sorge, du wirst schon nicht zu kurz kommen, Liebling.“ Beruhigt mich meine Mutter. „Wir haben extra für dich einen Gemüseauflauf gemacht und dabei auf jedes tierische Produkt verzichtet.“
Gerührt entschloss ich mich, doch etwas ruhiger zu essen, und genoss danach den Auflauf umso mehr, als meine Mutter aufgebracht darüber erzählte, dass sie das Rezept nur für mich rausgesucht hatten.
Nach einiger Zeit jedoch, bekam ich das Gefühl, dass sich alle mir gegenüber irgendwie seltsam verhielten. Natürlich abgesehen von Ryan und Lysander, die direkt nach dem Essen einen Abgang machten. Tyrone und Katya waren so sehr aufeinander fixiert, dass sie alles rund um einander völlig ausblendete. Der Rest jedoch, welcher übrig blieb, schwieg entweder, oder behandelte mich übertrieben höflich. Nur meine Mutter war die Einzige, die einfach nur glücklich und zufrieden wirkte.
Als das Thema vom Haus erneut aufkam, ergriff ich meine Chance, um mehr über das alles hier, Seraphim und Monster, herauszufinden. „Also... wie kamt ihr überhaupt darauf, die Kirche ausgerechnet hier zu beziehen? Direkt an einem verfluchten See? Mit lauter... verrückter Nebelfrauen?“
Sabrina schien regelrecht auf dieses Thema zu brennen. „Das liegt daran, dass der See vielleicht von all den Opfern verflucht sein mag, das Land ist heilig. Deshalb sind wir hier auch sicher und Dämonen können uns, im Gegensatz zu den Städten nicht belästigen.“
„D-Dämonen?“ Erkundige ich mich überrascht. „Ihr meint so schleimige Kreaturen... Oder wie in Constantine die Menschen in Besitz nehmen?“
Sabrina winkt, mich belächelnd, ab. „Dämonen sind lästig, ja. Und es gibt einige die richtigen Ärger verursachen. Aber nicht hier im Wald. Sie bevorzugen dichte Stadtgebiete, Krankenhäuser, Friedhöfe und so. Wie Banshee´s gibt es einige verschiedene Dämonenarten.“
„Sehr, sehr viele verschiedene!“ Erwidert Odette mit erhobenem Zeigefinger. „Ernsthaft, Sabrina, für was erforsche ich diese Monster überhaupt, wenn du mir ohnehin nicht zuhörst.“
Sabrina gab schnarchende Geräusche von sich.
Odette bewarf sie dafür mit einem Stück garen Brokkoli. „Blöde Kuh.“
Die beiden Frauen lächelten sich einen Moment an, dann erzählte Sabrina einfach weiter. „Jedenfalls, sind alle lichte Wesen, abgesehen von Geistern, die zu weder noch gehören, auf Gebieten wie Kirchen, Synagogen, Moscheen... einfach allem, das heilig ist, sicher. Normale Menschen können sie auch nicht sehen. Mütter, wie wir, die einen Nephilim vierzig Jahre ausgetragen haben wiederum, sind dazu in der Lage, wenn sie viel heilige Energie von ihrem Spross abbekommen.“
Ich spuckte Minikarotten zurück auf meinen Teller. „V-Vier... Vierzig?“
„Es ist bloß ein Bruchteil der Zeit, die ihr zur Verfügung habt, Haylee.“ Mischt sich Odette wieder ein. „Ich habe in unserem Labor, die Blutproben von allen analysiert. Abgesehen von deiner und der deiner Mutter versteht sich. Nach meinen Brechungen, die eigentlich immer sehr genau ausfallen, ist euer Zellverfall so langsam, dass ihr gut zweitausend Jahre leben könnt. Wir Nephilimmütter zwar nur knapp zweihundert, aber das ist ja auch schon mal was. Im Vergleich zu Normalsterblichen versteht sich.“
Unglaublich... Ich soll so lange leben können? „A-Aber was ist mit Engeln? Wenn wir schon so lange leben, dann...“
„Wenn du dich fragst, ob eure Väter noch leben, dann würde ich auf >Nein< tippen. Vor über zweitausend Jahren wurden Luzifer und einigen weiteren Engeln die Flügel genommen von Michael. Während einige wenige ihre Fehler einsahen und sie zurück bekamen, hat Michael´s Tat den Hass von Luzifers Anhänger geschürt. Man sagt, die Flügel des Erzengels Luzifer sollen so schwarz und unrein gewesen sein, dass alleine die Berührung einer seiner Feder dazu führte, dass das Land, welches es berührte, unfruchtbar wurde. Und jetzt stell dir das mit einem ganzen Flügel vor. Der erste, der fiel, öffnete die Pforte von Hölle zur Erde, durch welche bloß Geister wandern konnten. Das ist auch der Grund, weshalb es heute so viele Monster auf der Erde gibt.“
„Die Äpfel im Nachbargarten.“ Ergänzte Lucy. „Die bösartigen Kreaturen sehnten sich angeblich so sehr nach dem Licht, dass sie lernten unter Tags zu wandern, doch heilige Städten, oder gar die Klingen von Engeln, sind tödlich für sie.“
„Okay, schön für die Dämonen, aber weshalb ist Luzifer überhaupt gefallen? Nur weil er die Menschen nicht mochte?“
„Unter anderem. Die Geschichten unterscheiden sich an dieser Stelle sehr stark, doch in einem sind sich alle Berichte einig. Luzifer war eifersüchtig auf die Menschen, welche sogar etwas wie Liebe empfinden durften, sodass er sich weigerte ihnen den nötigen Respekt zu zollen und sie zu beschützen.“ Erklärt nun Odette wieder. „Wie du dir vorstellen kannst, sorgte das für einigen Tumult bei den Engeln. Manche schlossen sich Luzifer an, andere stellten sich ihm entgegen. Als es jedoch vor über fünfzig Jahren soweit kam, dass Luzifer zu alt wurde, um weiterhin seine Revolte anzuführen, schaffte er sich eine Lücke.“
Olive ergriff das Wort. „Der Engel Grigori war schon Jahrhunderte vor ihm auf die menschlichen Gelüste gekommen. Er paarte sich regelmäßig mit Menschen und erschafft damit abstruse Kreaturen. Lichte Wesen, die weder auf die Erde, noch in den Himmel gehören.“
„Also... zeugte er Nephilim?“
„Nein, er zeugte buchstäblich... Kreaturen. So wie man es aus den griechischen Mythologien kennt. Götter die sich mit Menschen gepaart haben und seltsame Wesen in die Welt brachten. Zentauren, Medusa, und so weiter.“
„Aber ich dachte ein Kind zwischen Engel und Mensch wird ein Nephilim?“ Ich war verwirrt.
„Nein, Engel haben kein Geschlecht, also können sie auch keine Kinder zeugen.“ Wirft Lucy ein.
„Das heißt, ein Michael kann auch eine Michaela gewesen sein, oder...“
„Ganz genau.“ Unterbricht mich Odette wieder. „Du weißt ja bestimmt noch, dass früher immer die Männer an der Macht gewesen sind. Die Proleten, die Anführer, die Egomanen vom Dienst.“
Schmunzelnd nicke ich. Jap, davon hatte ich bereits gehört.
„So war das natürlich auch bei den Geschichtsschreibern. Oder denjenigen eben, die sich die Bibel ausgedacht haben.“
„Odette!“ Empört sich Marie. „Die Bibel ist kein Märchenbuch, wie oft soll ich dir das noch sagen? Sei nicht immer so respektlos!“ Tadelte die rothaarige die blonde Wissenschaftlerin, welche daraufhin einfach die Augen verdrehte und genervt stöhnte.
„Entschuldige, was ich meine, ist das der Autor der Bibel?“ Schlug sie vor, woraufhin Marie widerwillig nickte. „Okay, der Autor der Bibel war natürlich ebenfalls der Meinung, dass solch mächtige Wesen bloß Männer sein können. Daher die ganzen Männernamen.“
Langsam fühlte ich mich wie in einer seltsamen Geschichtsstunde in, welcher sämtliche Religionen auf den Kopf gestellt wurden. „Ah, ich verstehe.“
„Gut, zurück zum Thema. Da Engel bekanntlich kein Geschlecht besitzen, können sie auch niemanden Schwängern. Auch Grigori nicht, aber das ist ein anderes Thema, auf das ich später zurück komme. Luzifer kam auf die Idee einen Teil seiner Kraft, seiner Engelsgabe und seiner Erinnerungen auf ein Menschenkind zu legen, um darin auf Ewig weiter zu leben. Selbst Engel wissen, dass Nephilim weit mächtiger sind, als alle anderen Geschöpfe und so gut wie unverwüstlich! Was gibt es also besseres, als ein menschliches Gefäß, dass er nach seinem Willen formen kann?“
Ich nicke verstehend. „Also ich muss zugeben, dass ich mich ziemlich unbeeinflusst fühle, dafür dass ich Luzifer´s... Abklatsch sein soll.“
Lucy zuckt mit den Schultern. „Sag das nicht uns. Niemand von uns wurde bisher von einem der acht großen Engel beeinflusst, obwohl wir zweifellos ihre Erben sind.“
„Acht?“ Noch so etwas das mir neu war.
Lucy deutet in die Runde. „Acht Mütter, acht Kinder von Engeln.“
„Ha!“ Okay, ich sah langsam ein Muster. „Katya ist die Einzige die bisher weiß, zu welchem der Engel sie gehört, da auf ihrem Schwert ein großes >M< ist. Zumindest sagt sie es, von uns kann es ja niemand sehen.“
Ja, das hatte ich auch gesehen. Aber wer wusste schon, wie viele Engel es mit >M< gab?
„Nun, ja es gibt ja bloß zwei bekannte Erzengel mit mächtigen Engelsschwertern.“ Erwidert Odette. „Michael und Luzifer.“
„Ah!“ Okay, langsam verstand ich die Logik der anderen und konnte sie nachempfinden. „Also muss theoretisch auf meinem ein riesiges >L< sein.“
„Nicht unbedingt.“ Mischt nun der stille Calyle mit. „Auf unseren Klingen befindet sich immerhin auch keine Initialen.“
„Oder auf meinem Bogen.“ Bemerkt Lucy.
„Nun, ja. Bei Lysander ist es recht offensichtlich, dass er ein Grigorisohn ist.“ Merkt Odette belustigt an.
„Warum?“ Frage ich neugierig nach. Langsam bekam ich das Gefühl, dass meine >warum< heute noch etliche Male erklingen würden.
„Die vier Engel, die die Revolution anführten, litten an der Krankheit der falschen Engelstugenden.“ Marie hob ihre Hand und zählte an vier Fingern ab. „Respektlosigkeit, Luzifer verweigerte den Menschen, den anderen Engeln, so wie Gott selbst seinen Respekt. Göttlichkeitswahn, Logos war der älteste unter allen Engeln und einer der mächtigsten, die jemals gelebt haben, er hielt sich selbst für einen Gott. Lust, wie gesagt, Grigori lebte in der Menschenwelt von Lust auf alles geprägt, was ihn süchtig machen konnte. Und Willensfreiheit.“
„Das ist doch etwas das wir alle haben, oder?“ Es klang irgendwie seltsam, dass Willensfreiheit bei Engeln, als >Böse< angesehen wurden.
Marie wackelte tadelnd mit einem Finger. „Engel wurden dafür geschaffen, um Gott zu Dienen und uns Menschen zu beschützen. Somit hat jeder Engel seinen platz im Leben, dem er folgen muss. Seine ganz persönliche Lebensaufgabe, doch Metatron, der Schreiber Gottes, rebellierte dagegen auf. Er wollte nicht sein ganzes Leben damit verbringen irgendetwas festzuhalten, was ihn selbst kein bisschen interessierte.“
Klang so, als wären Engel auch bloß Sklaven einer, buchstäblich, höheren Macht. Das stimmte mich etwas traurig und ich bekam Mitleid mit den gefallenen Engeln. Aber bloß ein kleines Bisschen!
„So weit so gut... aber woher wisst ihr das alle?“
Meine Mutter belächelt mich liebevoll. „Schätzchen, vierzig Jahre sind eine unglaublich lange Zeit, wenn man nichts tun kann.“
Ich verdrehe die Augen. „Also habt ihr all diese Informationen bloß aus... unklaren Quellen?“
Katya meldete sich wieder zu Wort, indem sie mit ihrer Gabel herum fuchtelte und hastig hinunter schluckte. „Also ich zu meinem Teil, habe hin und wieder Visionen. Michael schickt mir Ausschnitte aus seinem Leben, damit ich die Engel und ihre Taten besser verstehen kann.“
Ungläubig starre ich sie an. „Aber gerade eben hat es geheißen, dass es keinen Kontakt zu den Engeln gibt.“
Stolz deutet Katya auf sich selbst. „Nun, ja. Michael´s Tochter ist eben etwas besonderes.“ Ihr Blick wandert zu Tyrone, welcher sie seinerseits anhimmelte. „Und Gabriel gehört zu Michael. Deshalb sind wir auch füreinander bestimmt.“
Angeekelt verziehe ich das Gesicht. Okay, mit Engeln, Monstern und allem dazwischen kann ich leben. Aber vorherbestimmte Liebe? Die über den Engelstod hinaus ging? „Engel können doch überhaupt nicht lieben, oder?“
Calyle´s Stimme ertönt völlig ernst. „Das bedeutet aber nicht, dass sie sich nicht zueinander hingezogen fühlen können, oder?“
Ich fühlte, wie meine Wangen rot wurden, und wandte mich wieder dem fürchterlich interessanten Essen zu. „Also ich glaube nicht an so einen Quatsch.“
„Ganz meine Rede!“ Bemerkt Odette. „Liebe ist bloß eine chemische Reaktion...“
„Ach bitte! Odette, lass es und hör auf immer alles mies zu machen, nur weil du es nicht wissenschaftlich erklären kannst!“ Marie schien einige Nuancen dunkler geworden zu sein. Also passend zu ihrer Haarfarbe...
„Ich sage doch nur wie es ist. Wenn man versteht wie Gefühle funktionieren, dann kann man auch nicht so leicht von ihnen überwältigt werden und falsche Entscheidungen treffen!“
Ich fühlte einen unausgefochtenen Konflikt in der Luft. Marie schmiss ihre Gabel hin und stand auf. „Entschuldigt mich. Aber ich brauche etwas fische Luft!“
Calyle sprang neben mir auf und rief seine Mutter, doch sie war so schnell durch die Türe, dass sie ihn nicht einmal mehr bemerkte.
Betretenes Schweigen machte sich breit, woraufhin mir der Appetit verging, was jedoch nicht hieß, dass ich nichts mehr aß. Hunger hatte ich immerhin immer noch.
„He, Haylee.“ Begann Lucy in die dunkle Stimmung hinein. „Jetzt da du eine von uns bist, brauchst du auch ein eigenes Schwert und musst das Kämpfen lernen.“
Erschrocken ersticke ich beinahe an einem undefinierbaren Gemüsestück. „W-Wie bitte? Wozu das denn?“
„Weil es höllischen Spaß macht den Monstern in den Arsch zu treten.“ Grinst Tyrone breit, auf das Katya begeistert einstimmte.

V – Magische Schwerter & verschiedene Arten von Engeln

„O-Okay... und was mache ich jetzt damit?“
„Hinein schaufeln.“
„Worein?“
„Na da rein.“
Verzweifelt betrachtete ich den riesigen Kohlehaufen, so wie den Kübel in den das alles hinein sollte. „Und dann?“
„Dann wirfst du etwas Zeitungspapier hinein, zündest es an und wenn alles richtig Glüht, kannst du die Glasflaschen in den Behälter werfen.“
Mein Blick wandert von der Schmiede, zum Weinglasbehälter und zurück zur Kohle. „Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert!“ Beklage ich mich bei Tyrone, der mein ganzes Gemecker bloß überaus lustig empfand.
„Mach dir keinen Kopf, da mussten wir alle durch. Odette hat Jahre gebraucht, bis sie heraus hatte, wie es funktioniert! Du lernst also aus unseren Fehlschlägen und stehst nicht erst mal tagelang hier unten!“
Mein Blick zuckt sehnsüchtig zu der steilen Treppe, welche im Wald hier hinunter geführt hatte. Eigentlich hatten wir einen fürchterlich umständlichen Weg genommen. Gut vierhundert Meter weit sind wir in den Wald gewandert, waren dort einen Schacht hinab gestiegen und alles wieder retour getrabt! Jetzt standen wir unter dem Kirchenschiff und ich musste lernen, meine eigene Klinge zu schmieden.
„Ich lass dich jetzt alleine. Du wirst bestimmt ein paar Stunden brauchen, also sehen wir uns zum Abendessen. Wir lassen das Licht an!“
Stöhnend lehne ich mich auf die viel zu schwere Kohleschaufel und blicke dem Glücklichen sehnsüchtig hinterher. Er konnte den Nachmittag genießen, während ich hier unten alleine mit meinen wirbelnden Gedanken festsaß.
Stunden vergingen, in denen ich versuchte die Glut heiß genug zu bekommen. Heiß wurde es ja... unerträglich heiß, sodass ich bald völlig durchgeschwitzt und voller Ruß war! Ich legte immer wieder nach, betätigte den Blasebalg, in dem ich auf ihm wie eine Verrückte herum sprang und schaffte es gerade mal so, das Glas zum Schmelzen zu bringen! Glas, verdammt! Glas hatte einen weit tieferen Schmelzpunkt, als Metall und ich mühte mich ab, als würde ich eine Lok betreiben.
Wieso tat ich das denn überhaupt? Bloß, um eine coole Klinge zu haben, wie Katya? Nein, es reizte mich ehrlich gesagt kein bisschen, auf irgendein Wesen, egal welcher Herkunft, damit einzustechen!
Außerdem in was sollte ich es füllen? Viel wusste ich ja nicht über das Schmieden, aber es musste doch eine Form geben, in die ich die heiße Flüssigkeit gieße!
Während das Glas vor sich hin blubberte, suchte ich den recht leeren Raum ab. Ich stieß zwar dabei auf eine versteckte Türe, doch diese war ihrerseits so fest verschlossen, dass nicht einmal ein Schweißgerät etwas geholfen hätte.
Missmutig beiße ich auf meine Unterlippe und überlege was zu tun war. Sollte ich zurücklaufen, um Rat einzuholen? Immerhin hatte mich Tyrone praktisch ohne Hintergrundwissen hier zurückgelassen!
Ich stöhne genervt und betrachte die blubbernde Glasmasse. Ein Schwert aus Glas, was? Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass es besonders effektiv sei.
Suchend umrunde ich nach mehreren Minuten die Schmelze, in der Hoffnung in irgendeiner dunklen Ecke etwas zu finden, dass mir weiterhalf. Das einzige was ich jedoch fand, war, dass sich das Feuer überhaupt nicht sonderlich heiß anfühlte.
Also, ja das Feuer schon und es war auch unerträglich heiß in diesem geschlossenen Raum. Gerade mal der Abzug half ein wenig gegen Erstickungsgefahr. Aber das Glas selbst...
Nachdenklich folgte ich einem Instinkt, der mir sagte, dass ich mehr Glas benötigen würde. Ich warf die weißen Flaschen, mitsamt den Etiketten einfach hinein, und wartete darauf, dass auch diese schmolzen.
Ich wartete...
Wartete...
Und langweilte mich fürchterlich! Mann, Schmieden ist kein Beruf, den ich jemals ausüben würde!
Gerade als ich es aufgeben wollte, fühlte ich ein nervöses Zucken in meiner Hand. Die Flammen, welche bisher rot und gelb glühend, um die Füllform herum geleckt hatten, schienen immer heller und heller zu werden, bis sie ein blasses weis angenommen hatte. Dieses weis waberte in ein Gold und wieder zurück in weis.
„Heiliges Feuer!“ Erkenne ich und staune nicht schlecht. So etwas habe ich noch nie gesehen! Es brannte viel heißer, als bisher und leckte so ausgiebig über die Schmelzform, dass innerhalb einer Minute alles davon verschluckt war. Immer höher und höher bedeckten die einzelnen Flammenzungen das dunkle Material, welchem diese Temperaturen nicht anhaben konnten, und rekelten sich bis hinauf, über den Rand hinaus.
Instinktiv machte ich einige Schritte zurück, doch die Flammen leckten nicht nach dem kühlen Abgrund, sondern dem flüssigen Glas. Augenblicklich stürzte das gesamte Flammengerüst in sich zusammen und verschlang jeden Tropfen, bis nichts mehr davon übrig blieb.
Entgeistert starre ich die goldweisen Flammenzungen an.
>Greif zu.< ertönt es in meinem Kopf, eine leise Stimme, so unscheinbar, dass ich sie kaum wahrnehmen konnte, doch wusste irgendwie, dass sie existiert.
Verwirrt folgte ich dem Befehl und tat es einfach. Ich griff, ohne viel nachzudenken, in die alles verschlingenden goldweisen Flammen und ertaste etwas, dass sich hart anfühlte. Hart, heiß und perfekt in meiner Hand lag.
Mit hochgezogenen Brauen und schweißnassem Gesicht, ziehe ich das Schwert aus den verflüssigten Kohlen. Einen Meter, fast zwei Meter lang. Meine Augen werden ganz groß.
Plötzlich, ohne recht zu wissen, wie ich das geschafft hatte, hielt ich eine glühende, doch bereits durchscheinend werdende Klinge in meiner Hand, die mehr als doppelt so lang war, wie mein Arm.
„Der Hammer!“ Begeistert betrachte ich das gläserne Schwert. Der Griff war milchig und besaß weiche Muster, welche das Material rutschfester machte. Zudem breitete sich über meinen Handrücken eine kleine Spirale aus, welche ähnlich wie an Katya´s Schwert ein sanftes >M< bildete.
Ich blinzelte überrascht. Zwei Schwerter des Michael´s? Im Gegensatz zu Katya´s Schwert, trug meines keine Flügel, sondern in einer goldenen Farbe, zog sich das >M< zu beiden Seiten des Griffes hinweg, war zwar innen leicht gerundet, doch nach außen hin messerscharf. Interessant. Nicht nur, dass es eine gläserne Doppelklinge besaß, nein es war sogar rund, um den Griff herum, hochgefährlich!
Zur größten Überraschung jedoch, war es so leicht, als würde ich einen Zauberstab führen und keine massive Waffe, die Lebewesen den Kopf mühelos abtrennte.
Moment... woher wusste ich das denn?
Blinzelnd versuche ich, erneut die Quelle der Stimme von vorhin auszumachen, doch sie schwieg. Als nichts weiter geschah, kippte ich die beiden Wassereimer über das Feuer, welches zischend ausging. Bis morgen würde es vollständig abgekühlt sein, doch bis dahin würde ich mich selbst in einer eiskalten Wanne aufweichen!
Mit einem megacoolen Schwert! Kaum zu glauben! Ich besitze ein echtes Schwert!
Ein seltsames Hochgefühl machte sich in mir breit, als ich mich auf den langen Rückweg machte. Tyrone hatte sogar den massiven Stahldeckel offengelassen, welchen ich nun von außen wieder fest zudrehte.
Als ich an der Kirche ankam, war es bereits etwas dunkel. Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden, doch ein paar rote und orange Strahlen machten sich noch bemerkbar.
Sobald man mich bemerkte, war die Hölle los! Lucy schoss begeistert plappernd auf mich zu. Tyrone lobte mich, dass ich es schneller geschafft hätte, als jeder andere vor ihnen und Katya bestaunte begeistert mein Schwert.
Leider... sagte sie absolut nichts über das seltsam große >M<, welches den Griff zierte. Noch verstand ich nicht richtig, weshalb sie nichts dazu sagte. Vielleicht wollte sie es ja später unter vier Augen mit mir besprechen, doch vorerst belehrte ich alle anwesenden, die grillten, über die Haltung und Tötung von Schweinen und Hühnern.
Calyle verging der Appetit und er blieb bei gegrillten Maiskolben, worauf ich ehrlich gesagt sehr stolz war. Katya winkte lediglich ab. Die Erwachsenen verdrehten die Augen und Lucy würgte an manchen Stellen immer wieder mal.
Lysander baggerte mich einmal mehr an, woraufhin ich hastig in den ersten Stock hoch flüchtete, um zu duschen.
Als ich wieder hinaus kam, stand bereits Olympia neben der Badezimmertüre. „Wie hast du es gemacht?“
Verdutzt hielt ich darin inne, meine Haare trocken zu rubbeln. „Was denn?“ Automatisch drifteten meine Gedanken zu Calyle, wie so oft an diesem Tag, doch ich schüttelte sie hastig ab.
„Das mit dem Schwert. Ich habe drei verdammte Tage dort unten gestanden!“ Beklagt sich Olympia und blickt mich zornig an.
Ich selbst zucke lediglich mit den Schultern. „Ich habe... lediglich alles heiß gemacht und den Behälter bis oben hin angefüllt. Mehr habe ich ehrlich nicht getan!“
„Unsinn, du hast etwas gehört, nicht wahr?“
Wie schon vorhin bei Katya, sagte mir etwas, ich solle nicht darauf eingehen. „Hör mal. Es war ein heißer und anstrengender Tag, Olympia. Also egal was du mir unterstellen willst... mach das bitte morgen!“
Verlegen biss sie sich auf die Lippe. „Stimmt, du hast heute erst etwas von den Nephilim erfahren und so weiter... tut mir leid. Ich bin eben etwas...“
„Neugierig?“ Helfe ich ihr aus und wir beide lächeln uns einen Moment an. „Schon gut. Ich habe ebenfalls Millionen Fragen, die ich gerne stellen würde.“
Ein wenig betreten, lässt sich Olympia auf ihr Bett fallen und betrachtet dabei eingehend den weichen Teppich zwischen ihren schwarz lackierten Zehen. „Wenn du mal persönlich mit jemanden sprechen willst... also nicht mit der gesamten Gruppe, dann kannst du dich gerne an mich wenden. Also... wenn du Bock hast und so.“
Ist das etwa die altbekannte weise Fahne? Es klang zumindest so. „Danke, das ist nett von dir.“
„Jap...“
„Okay...“
Betreten sehen wir beide im Zimmer herum. Irgendwie war es plötzlich komisch zwischen uns. Hatte sie mich eben nicht noch angezickt? „Willst du noch etwas bestimmtes, oder... kann ich mich jetzt umziehen? Ich würde nämlich gerne noch etwas essen.“ Na gut, das klang schon wieder nach einem Rauswurf. Aber wen interessiert es schon?
„Nope, ich bin weg.“
Bevor Olympia jedoch aus dem Zimmer huschen konnte, hielt sie inne, als ob sie noch etwas sagen wollte. Als sie es jedoch nicht tat, übernahm ich den Part spontan. „Olympia?“ Sie dreht sich um und sieht mich fragend an. „Du hast recht. Ich habe etwas gehört. Aber es war lediglich ein Flüstern, dass mir sagte, ich solle in die Flammen greifen.“
Ihre Augen wurden mit einem Mal ganz groß. „Bei mir... war es ähnlich.“ Gibt sie dann zu und huscht fort.
Seufzend ziehe ich etwas Kurzes an und eine Weste darüber, falls es kühl werden sollte. Zumindest war es letzte Nacht, als wir ankamen, ziemlich kühl gewesen. Wieder unten sah ich zu aller erst Olympia neben Calyle. Sie lag in einem Liegestuhl, mit Kopfhörern in den Ohren, während er völlig gebannt von einem Buch war.
Katya saß einmal mehr auf dem Schoß ihres Freundes, was mich erneut an die Geschichte von Michael und Gabriel denken ließ. Ob Engel überhaupt Seelen besaßen? Man sagt ja, dass sie keine Gefühle hätten, dass sie rein praktisch dachten und lediglich auf das Wort ihres Gottes. Wie also kam es dann, dass Tyrone und Katya eine Verbindung teilten, welche von Michael und Gabriel ausging?
Das alles sprach nicht gerade dafür, dass Engel so unparteiisch und praktisch denkend waren, wie man ihnen nachsagte.
Lucy spielte Schach gegen Lysander. Ryan saß daneben und betrachtete das Spiel eingehend, während Celiné, die Kartenfrau den beiden Spielenden immer wieder Tipps gab. Offenbar lernten die drei es erst.
Meine Mutter saß alleine, am Rand der Gruppe und betrachtete die Weite des Sees. Olive und Marie amüsierten sich am Grill, während Sandra und Odette, mit der Mutter von Ryan Gemüse schnippelten, oder Saucen kreierten.
Die Raucherin war die Einzige, welche mich bemerkte, da sie ihren Blick bisher bloß gelangweilt hatte schweifen lassen. Ich nicke ihr kurz zu, sie erwiderte das nicken, dann blickte sie weiter umher, als ginge sie das alles hier nichts an.
„Haylee!“ Katya bemerkte mich nun doch, als ich den Absatz hinab stieg, und winkte mich zu sich und Tyrone. „Na schon nervös, wegen morgen?“ Fragt sie schmunzelnd.
„Warum? Was steht an? Muss ich etwa schon wieder stundenlang am Herd stehen?“
Tyrone und sie lachten amüsiert. „Nein, natürlich nicht. Aber morgen lernst du zu kämpfen, wie wir. Du bist immerhin ein Nephilim, es liegt dir also im Blut.“
„Einen ehrenvollen Kampf gewinnt man, indem man ihn vermeidet und stattdessen mit Worten siegt... oder so ähnlich war das.“ Rezitiere ich halbherzig. Es war einfach zu lange her, seit ich diesen Spruch in der Schule gelernt hatte.
„Als Nephilim brauchst du nicht viel von taktischer Kriegsführung.“ Erwidert Tyrone. „Du bist immerhin so gut wie unverwüstlich und deine Klinge zerschneidet jedes Material. Das Einzige, was du vermeiden solltest, sind Kameras und dass Menschen dich sehen.“
Das erinnerte mich daran, dass auch sie die Schule besuchten und überhaupt nicht hier am Land lebten! „Ach ja, ihr lebt ja auch wo anders. Geht zur Schule und alles.“
„Ryan und ich nicht mehr. Ich bin Profi Baseballer.“
Ich runzle die Stirn. „He, das ist doch schummeln, oder?“ Werfe ich amüsiert ein. „Ihr schummelt ja, dank eurer Herkunft!“
Tyrone hob einen Finger, als würde er jemanden nachahmen. „Wir sind außergewöhnlich begabt.“ Er zwinkert verschwörerisch. „Dass wir Nephilim sind, kann uns ja keiner nachweisen!“
Auch wahr...
„Ganz genau! Tyrone ist einfach ein Naturtalent.“ Sie korrigierte sich. „>Mein< Naturtalent!“ Sanft haucht sie ihm einen Kuss auf die Wange, was ihn leicht rot werden ließ.
„Und was ist mit dir Katya? Was machst du, wenn du nicht gerade hier... rumhängst?“
„Ich bin seine Managerin. Also eigentlich studiere ich noch, aber in einem Jahr habe ich bereits meinen Abschluss.“
„Zwei Jahre früher, als alle anderen!“ Ergänzt Tyrone stolz.
„Und die anderen? Was machen die?“
„Lucy eifert ihrer Mutter nach. Im Moment wird sie Ärztin, aber ich denke, sie wird sich ebenfalls auf Neurowissenschaften spezialisieren. Lysander lernt Koch und Kellner, während Calyle gleich mehrere Studienfächer belegt hat. Er ist immer total belegt mit all seinen Kursen. Geologie, Naturwissenschaften, Mathematik, Grammatik, Geschichte und etliches mehr. Aber was Olympia macht, weiß ich nicht so genau. Ich glaube sie arbeitet im Geschäft ihrer Mutter oder so.“ Letztere tat Katya völlig gelangweilt ab. Die beiden schienen beinahe wie Hund und Katz zu sein.
Trotzdem interessierte mich einmal mehr Calyle´s Geschichte wesentlich mehr. „Moment, wie kann man so viele Fächer belegen?“
„Sieh nicht uns an. Marie ist eine Erbenserbin und...“
„Was ist eine Erbe... Erbenerbin? Was?“
Katya schmunzelt erheitert und lehnt sich etwas vor, um nicht so laut sprechen zu müssen. „Ihr Mann war der Erbe eines sehr reichen Mannes. Eines, Milliarden schweren, Mannes! Der hatte es selbst von dessen Vater vererbt bekommen, daher ist es streng genommen gar nicht ihr Geld, sondern dass ihres Mannes. Er starb vor einigen Jahren dement, daher hat sie es geerbt.“
Ich kneife verwirrt die Augen zusammen. „Das verstehe ich nicht. Ist es nicht auffällig, wenn jemand... keine Ahnung, vierzig Jahre verheiratet ist, aber die Ehefrau einfach nicht älter wird?“
„Nein, denn Marie hat es klug gemacht. Sie hat sich scheiden lassen und ihn drei Jahre später, als sie ihn in ein anderes Altersheim versetzt hatten, erneut geheiratet. Da war es einfach ein alter, seniler Knacker, mit einer jungen Ehefrau an seiner Seite. Als er starb, sind sie zu uns in die Straße gezogen, damit wir alle möglichst nahe beieinander sind.“
Ich verstand langsam. Trotzdem klang das alles ein wenig... waghalsig! „Wer lebt denn nun aller in eurer Straße?“
„Meine Mutter Olive, Odette, Sabrina und Marie leben in derselben Straße. Tyrone und ich sind gemeinsam fortgezogen, in eine eigene Wohnung, als er Profisportler wurde. Ryan wohnt bei uns in der Nähe, aber nicht im selben Viertel. Seine Mutter Josephine lebt im selben Wohnblock wie Fiona und ihr Sohn Lysander.“ Für einen Moment dachte Katya nach, wen sie noch vergessen haben könnte.
„Olympia lebt mit ihrer Mutter Celiné in einer Kleinstadt.“ Fügt Tyrone hinzu. „Es ist gar nicht mal weit von hier, bloß eine Stunde.“
„Genau! Lucy lebt noch zuhause, genauso wie Calyle. So, jetzt haben wir aber alle, oder?“
Tyrone ging im Kopf noch mal alle durch, ich selbst überlegte ebenfalls, ob jemand vergessen wurde, doch im Großen und Ganzen, hatte ich einen ziemlich genauen Überblick bekommen. „Klingt ziemlich weitläufig. Wie habt ihr euch eigentlich alle kennen gelernt? Also... unsere Mütter meine ich.“
„Nun ja, Olive, Odette, Marie, Sabrina und deine Mutter Edna waren immer schon sehr gut befreundet. Sie gingen damals zur selben Schule. Josephine, Fiona und Celiné lernten sie erst in den achtzigern kennen. Anscheinend machte sie ein befreundeter Pfarrer miteinander bekannt, der unseren Eltern bei der Recherche geholfen hat.“
„Genau, denn einige unserer Mütter hatten noch Erinnerungsfetzen daran, was in ihren Leib gegeben wurde.“ Tyrone wirkt nachdenklich bei seinen Worten. „Der Rest wunderte sich einfach nur, als der Embryo einfach nicht größer wurde und die Jahre sich dahin zogen.“
Katya deutet auf Odette. „Besonders Odette war, wie besessen von alldem. Es hat ihren gesamten Glauben an die Wissenschaft über den Haufen geworfen!“
„Kann ich mir gut vorstellen. Ich hatte bei der Schmiede ebenfalls jede Menge Zeit gehabt, um über das eine oder andere nachzudenken.“ Erwidere ich und lasse mich nun endlich auf einen der Stühle nieder.
„Und macht dir etwas besonders zu schaffen?“ Katya streckt ihre Hand nach meiner aus und drückt diese sanft. „Wenn du über irgendetwas sprechen möchtest, kannst du das jederzeit. Wir sind alle für dich da, das weißt du doch?“
Ich denke erneut an meine Fähigkeit, alle Waffen sehen zu können. Na gut, ich muss auch eingestehen, dass ich mir anfänglich schwergetan hatte, Calyle´s Klingen zu erkennen, als das, was sie waren. Aber andererseits war ich auch in Panik und auf der Flucht vor Nebelschwaden gewesen! Das konnte man mir also kaum vorwerfen. Alles andere danach, Olympias Sense zum Beispiel, hatte ich sofort erkannt. Genauso wie den Bogen schlussendlich im Haus, oder Katya´s Schwert.
Erneut klingelte etwas mahnend in meinem Kopf, dass es fürchterlich schlecht wäre, es jetzt anzusprechen. War das etwa der Einfluss, vor den man mich gewarnt hatte? Luzifer´s Art, mich daran zu hindern, etwas von seinen eigenen Gaben ans Licht zu bringen?
Ein kalter Schauer lief mir bei diesem Gedanken über den Körper und ich ziehe die Beine an. „Nichts das nicht bis morgen warten kann. Heute wäre es einfach nur schön, wenn ich mehr über das frühere Leben meiner Mutter wüsste.“
Verstehend lächelt Katya mich an, dann steht sie auf und drückt mich freundschaftlich. „Keine Sorge, Süße. Es wird leichter, versprochen!“ Ich drücke sie meinerseits, erleichtert dass sie mich so herzlich annahmen, obwohl sie mich nicht kannten und mein Erbe doch eigentlich gegen mich sprach!
„Du bist unsere Schwester ab nun. Egal was dein Erbe über dich aussagen mag!“ Schwor sie. „Wir sind hier alle so etwas wie Brüder und Schwester, immerhin verbindet uns alle etwas unglaubliches. Etwas unglaubliches, dass nur uns gehört, dass uns stark und unabhängig macht!“ Sie sieht mir fest in die Augen und lächelt mich dabei stolz an. „Egal ob wir an das göttliche Glauben, oder es auf eine Genmutation schieben.“ Ich lache auf, bei diesem Gedanken. „Wir gehören alle zusammen. Wir sind eine große Familie. Nicht immer glücklich, aber das ist egal. So ist nun mal das Leben, nicht wahr?“
Ich nicke eifrig, zu Tränen gerührt. „Das ist schön zu hören, danke Katya.“ Katya´s Stimme hatte etwas, dass mich tief berührte. Eine Art Autorität, wie die einer großen Schwester, die uns alle zusammenhielt. Aber nicht bloß uns Nephilim, sondern auch unsere Mütter. Man sah ihnen an, dass sie nicht alle eine Einstellung teilten, oder einen Lebensstandard. Trotzdem sind sie alle zusammen hier. Nur für uns. Ihren über alles geliebten Kinder!
Dieser Gedanke war einfach unglaublich! Wie stark so ein Schicksal, oder eine Geschichte völlig unterschiedliche Menschen vereinen konnte!
„He, willst du etwas wirklich cooles sehen?“ Fragt Tyrone plötzlich und grinst hinterlistig.
„Ist es dafür nicht noch etwas zu früh?“ Fragt Katya, doch schien von dem unausgesprochenen Gedanken nicht abgeneigt zu sein.
„Quatsch. Sie muss es ja noch nicht nachmachen. Aber wir können sie >damit< zumindest auf den Geschmack bringen!“
„Womit denn?“ Frage ich neugierig geworden. Langsam steckten sie mich tatsächlich mit ihrer Euphorie an.
Katya nickt ihrem Freund zu. „Wie du dir vorstellen kannst, erfahren wir die Dinge nicht mittels einer Bedienungsanleitung, sondern müssen es selbst herausfinden.“
Ich nicke zustimmend. „Schon klar.“
„Also, diese Sache haben wir letztes Jahr herausgefunden.“
„Nein, das ist schon länger her!“ Wirft Tyrone ein.
Sie lächelt ihm verliebt zu. „Ja okay. Wir beide haben es zufällig schon etwas früher herausgefunden, da es zwischen uns eben... diese spezielle Verbindung gibt. Da ist es einfach leichter.“ Katya verdreht die Augen, doch wird ganz rot. „Jedenfalls haben es die anderen ebenfalls letztes Jahr gemeistert. Wir nennen es den >Engelsmodus<.“
„Und es ist das coolste überhaupt!“ Wirft Tyrone begeistert ein.
Katya wird wieder ernster. „Mehr oder weniger. Es ist vielmehr ein Zustand, den du bloß mit jemandem eingehen solltest, dem du wirklich vertraust, denn es macht dich nicht nur stärker, sondern gibt dir die Fähigkeit in deinen Partner praktisch hinein zu sehen. Wir kennen uns hier alle bereits recht gut, daher vertrauen wir uns bis zu einem gewissen Grad. Zudem... bleibt das, was du in diesem Zustand am anderen sieht, bloß zwischen euch beiden. Niemand stellt dir Fragen darüber, noch darfst du von dir aus darüber tratschen. Also was du gesehen hast, meine ich.“
Ich gebe einen verstehenden Laut von mir. „Schön und gut, es klingt tatsächlich aufregend, aber was genau macht man, um in diesen >Zustand< zu kommen?“
„Steh auf, Schatz.“ Katya zieht ihren Freund mit sich auf die Beine und stellen sich etwas abseits hin. Beide stellen sich nahe gegenüber von einander hin, packen sich jeweils am linken Unterarm und projizieren mit ihren rechten, ihre Waffen.
Tyrone besaß eine Art Buschmesser. Die Klinge war bloß einschneidig, doch genauso durchsichtig wie die von Katya´s und meinem Schwerter. Der Griff milchig, doch es unterschied sich am Griff deutlich. Anstatt einer Rundung, oder einer geraden Fläche, besaß es dort eine ebenso kleine Klinge und war dementsprechend auch an dieser Stelle tödlich.
Beide sahen sich fest in die Augen und irgendetwas geschah. Ich konnte nicht wirklich definieren, was es war, doch die Veränderung war deutlich zu spüren. Eine ungekannte Kraft, ging von beiden aus und brachte deren Haar in Bewegung, obwohl es doch recht windstill hier auf der Terrasse war. Im Nächsten Moment schien die Kraft nach außen hin zu explodieren, sodass ich meine Augen für einen Augenblick schließen musste. Sobald ich sie wieder geöffnet hatte, staunte ich nicht schlecht. Beide waren in eine Art goldenes Licht getaucht, das von ihnen selbst ausging. Wie eine Einheit bewegten sie sich im Kreis, schwangen ihre Waffen, umrundeten einander und lachten wie zwei Irre. Zumindest in meinen Augen. Ein unfassbares Hochgefühl packte alle beide, sie sprangen übereinander hinweg, drehten sich und fanden sich in den Armen des jeweils anderen wieder. Dann küssten sie sich, was ich jedoch schon wieder ekelhaft empfand und sah hastig weg.
Ich persönlich hatte bisher nur mit einem Typen geknutscht... Und das hatte nicht mal annähernd dieselbe Intensität gehabt, wie sie zweifellos zwischen Katya und Tyrone existierte.
Sobald das Leuchten aufhörte, blickten beide in meine Richtung. „Es ist das beste in einem Kampf! Es dauert zwar etwas, bis man den Bogen heraußen hat, doch wenn du erst einmal dieses Stadium des Kampfes erreicht hast, ist es einfach... unbeschreiblich.“
„Dann wirst du quasi zu einem wahren Berserker!“ Stimmt Tyrone mit ein.
„Und der Haken!“ Erinnerte Olympia die beiden plötzlich.
Ich blicke verwirrt zwischen ihr und dem Paar herum. „Was für ein Haken?“
„Nun, ja. Wie gesagt, du siehst praktisch in deinen Partner hinein. Du >weißt< wie sein Charakter ist, was er denkt und fühlt. Und... Du kannst praktisch keine Geheimnisse vor dieser Person haben, mit der du diese Bindung eingehst. Zwischen Tyrone und mir ist es selbstverständlich ein wenig anders. Wir gehören zusammen, dass wissen wir mit Bestimmtheit, seit wir in den Engelsmodus gekommen sind. Zwischen Freunden ist es ein wenig anders, versteht sich.“
Tyrone packt Katya an der Taille und zieht sie wieder an sich. „Trotzdem ist es immer wieder schön zu fühlen, was du für mich empfindest.“ Olympia und ich verdrehten gleichzeitig die Augen und sehen weg.
„Ist ja widerlich dieses herum geknutsche!“ Angeekelt springt sie vom Liegestuhl auf und geht einfach weg. Ich tue es ihr gleich und als ich an Calyle vorbei gehe, habe ich das Gefühl, dass überhaupt nicht mehr auf das Buch konzentriert ist, sondern mich direkt ansieht. Durch den Schatten, welches das Buch wirft, kann ich es selbstverständlich nicht mit Sicherheit sagen, doch alleine der Gedanke daran, bringt mein Herz dazu, nervös zu hüpfen. Harch... Gerade das fehlte mir noch!
Leicht missgestimmt nehme ich neben Lucy platz, welche bereits aß und fülle nachdenklich meinen Teller. Wie konnte es sein, dass mich Calyle so eiskalt erwischte? Eigentlich ist er doch überhaupt nicht mein Typ. Adam! Ja, Adam ist mein Typ! Sportlich, attraktiv, klug, witzig, einfühlsam, dunkelhaarig, ein richtiger Softy eben, mit einem Badboy Aussehen! Auf so jemanden stehe ich doch.
Wenn ich jedoch meine Gefühle für Adam, mit dem Vergleiche, was ich zwischen Katya und Tyrone beobachtet hatte, dann fühlte ich mich... seltsam leer. Was es zwischen mir und Adam gegeben hat, muss doch auch Liebe gewesen sein, nicht wahr? Anders konnte ich es mir einfach nicht erklären.
Ja, okay ich hatte Schluss gemacht, weil ich mich mit anderen Jungs auch austauschen hatte wollen und nicht für immer mit meinem ersten festhängen. Aber Jemma... Die süße, brave Jemma hatte meine Pläne völlig über Board geworfen. Sie hatte sich zuerst in mein Herz gestohlen, als meine beste Freundin und dann in meinen Ex hilflos verknallt!
Schlussendlich hatte es mich nicht einmal mehr eifersüchtig gemacht, sie beide zusammen zu sehen. Ich hatte ihn ja sogar bei ihren Beziehungsproblemen geholfen! Aber was ich wirklich gefühlt hatte... war Einsamkeit gewesen. Immerhin habe ich ihr den einzigen Jungen in die Arme gespielt, in den ich mich je verliebt gehabt hatte.
Nach dem Essen vertrieb ich mein Trübsal, indem ich mich mit dem Abwasch ablenkte. Zwar sagten die Mom´s, dass ich nicht zu helfen brauchte, doch ich bestand darauf. Mit meinem letzten Energieschub des Tages schleppe ich mich hinauf ins Zimmer und schlafe beinahe augenblicklich ein.

 

- - - - -

 

Wenn ich schon dachte, der erste Tag hier, sei aufregend gewesen, toppte es der zweite bei weitem. Nicht nur, dass mir Katya beibrachte, wie ich mein Schwert auf einen Gedanken hin beschwor, musste ich das den ganzen Tag wiederholen, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Am späten Nachmittag attackierten mich alle abwechselnd, mit irgendeiner Waffe, >um mir einen Reflex einzuprägen,< wie sie es nannten! Jeder von ihnen rief in einer Notsituation automatisch seine Waffe hervor. Sie legten mir nahe, es mir ebenfalls anzueignen, denn in der Stadt würde ich ab jetzt häufiger solchen Kreaturen begegnen.
„Abgesehen von Dämonen gibt es nämlich noch etwas, vor dem du dich in Acht nehmen solltest!“ Erklärte Lucy gerade.
„Nein, sie sollte sich viel eher vor ihnen fürchten! Alleine kommt niemand von uns, gegen einen von ihnen an!“ Erwidert Ryan eindringlich.
Lucy verdreht die Augen. „Halt die Klappe Ryan, du machst ihr bloß Angst mit deinen Schauermärchen!“
Ryan hebt sein Hemd an, um uns eine tiefe und lange Narbe zu zeigen, welche sich quer um seine Taille wand. „Das sollte sie auch! Hast du vergessen, dass diese Freaks mich ausweiden wollten?“
Verlegen wendet Lucy ihren Blick ab. „Natürlich nicht. Wie könnte ich das auch je vergessen? Hast >du< etwa schon vergessen, dass >ich< dich gefunden habe?“ Die beiden lieferten sich einen kurzen Starrkampf, welchen ich mit Absicht unterbrach.
„Wer sind sie?“
„>Was< sind sie.“ Korrigiert Lucy.
„Wie auch immer. Jetzt erzähl schon!“ Dränge ich sie nervös.
„Wir nennen sie die Throne.“ Beginnt Ryan mit einer unterschwelligen Mahnung in der Stimme.
„Klingt ja sehr Mysteriös. Aber >was< sind sie?“ Hake ich weiter nach. Ob mir der Begriff irgendetwas sagen sollte? Tat er jedenfalls nicht.
„Wir sind uns nicht ganz sicher >was< sie sind. Sie sind auf jeden Fall, irgendeine Art von Engeln, aber sie besitzen keine Flügel.“
„Ja, genau. Sie haben nämlich eine goldene Aura, dadurch unterscheiden sie sich, wie wir, von den Dämonen. Dämonen haben nämlich eine dunkle Aura, oder riechen streng.“
„Die Throne...“ Übernahm wieder Ryan. „hingegen haben anscheinend keine richtige Gestalt. Sie sind lediglich lichte Wesen, die wahllos Kontrolle über einen Menschen übernehmen.“
„Du kannst sie jedoch jederzeit an ihren leeren Augen erkennen. Sie sind... einfach nur weiß, so als würden sie die Pupillen einfach hochdrehen, damit man bloß noch das Augenweiß sieht.“
Ich gebe einen angewiderten Laut von mir. „So etwas habe ich schon mal gesehen. Ist echt ekelhaft!“
„Was einen Throne?“ Fragt Ryan überrascht nach.
„Nein, dass jemand seine Augen so weit hochdreht, dass man bloß noch das weise sieht.“
Er stöhnt genervt. Lucy hingegen fand es witzig, dass ich ihm offensichtlich auf die Nerven fiel. „Jedenfalls, auf was ich hinaus wollte ist, dass du rennst, sobald du sie siehst. Sie sind ausgesprochen gefährlich und meistens auch nicht alleine. Bleib in der Öffentlichkeit, denn da können sie dich nicht angreifen, ohne sich selbst zu enttarnen.“
„Aber...“ Warf Lucy ein, um mich hastig zu beruhigen. „Es gibt auch Engelswesen, die du sehr häufig sehen wirst. Wir nennen sie Schutzengel, doch eigentlich heißen sie Cherubim.“
Ich grunzte amüsiert. „Wie bitte?“
„Sie haben Flügel, tragen Kutten, aber du wirst nie ihr Gesicht sehen, da sie keines besitzen.“ Erklärt nun wieder Ryan. „Sie stehen meist am Rande des Geschehens herum. Wenn sich mehrere auf einem Flecke befinden, dann deshalb, weil gleich etwas geschehen wird, dem sie versuchen entgegen zu wirken. Sie mischen sich nicht ein, was gut ist. Sie sind also völlig unparteiisch und verschwinden, sobald du dich ihnen näherst.“
„Aber sie löschen das Gedächtnis von Menschen, wenn sie etwas gesehen haben, was sie nicht hätten sehen sollen! Also von einzelnen...“
Okay ich verstand. Wenn ich Mist baute, kamen Schutzengel, um mir den Arsch zu retten, damit wir nicht alle aufflogen. Wenn ich besonderen Mist baute... erwischten mich Throne und machten mich kalt. Was für tolle Aussichten.
„He...“ Begann Ryan plötzlich und stößt Lucy mit dem Ellenbogen an. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du letztes Jahr dort zu suchen gehabt hast!“
Sie giftete ihn zickig an. „Ich war zufällig in der Nähe und haben deine mädchenhaften Hilfeschreie gehört.“
Er funkelte sie genauso giftig an, wie sie ihn überheblich. „Blöde Zicke.“
„Arrogantes Arschloch!“ Gab sie zischend zurück.
Hm... da hatte wohl noch jemand so seine Probleme. Die konnten sie aber mal ruhig behalten. „Okay... kann ich jetzt die Sendung weiter sehen?“ Frage ich. Bis vor einigen Minuten hatte ich mir einen tollen Film angesehen. Als ich Lucy von irgendwelchen Gefahren hatte sprechen hören und sie ohne nachzudenken darauf ansprach, mischte Ryan mit und so kam eines zum andern. Mittlerweile wollte ich einfach nur noch in Ruhe meine Sendung sehen.
„Du hast doch damit angefangen.“ Meckert Ryan nun mich an.
„Ja solange ihr mir noch etwas erzählt habt, von dem ich nichts wusste, fand ich unsere Konversation auch noch interessant. Jetzt sucht euch gefälligst ein Zimmer und lasst mich in Ruhe mit euren Problemen.“ Das galt Ehre Ryan, da er mich unbegründet einfach anging.
Lucy hingegen, gab einen Würgelaut von sich. „Ist ja widerlich! Ich hole mir da lieber eine Nacktschnecke ins Bett, als den da.“
Die beiden erhoben sich, während sie einander Beleidigungen an den Kopf warfen. „Bei deinem hässlichen Gesicht, würde die vor Schreck glatt an einem Herzinfarkt sterben.“
Ha! Den fand ich wirklich gut gekontert! Lucy blickte Ryan einen Moment empört hinterher, dann stampfte sie hoch in das obere Stockwerk.
Als ich mich jedoch wieder dem Bildschirm zuwandte, warf sich ein weiterer Körper neben mich auf die Couch. „Hi, Süße. Was sehen wir uns denn an?“
„Illuminati.“ Erwiderte ich, genervt von Lysander´s Anwesenheit.
„Uh, wenn du Angst bekommst, kannst du dich ja an mich kuscheln.“
Ich deutete auf den Bildschirm. „Und wenn er dir zu hoch ist, kannst du deine billigen Baggersprüche packen und...“ Ich deutete nach draußen. „...irgendwo dort hinten entsorgen.“
Lysander lacht laut und begeistert auf. „Ach, Haylee. Gib mir zumindest eine Chance, dich zu beeindrucken.“
Ich wende meinen Blick wieder ab. „Bin nicht im mindestens Beeindruckt, Lysander.“
„Ja, weil ich mir das Beste auch stets zum Schluss aufspare. Also wie wäre es mit einem Spaziergang am See entlang?“
Ich deute erneut auf den Bildschirm. „Tu mir den Gefallen und Nerv doch Olympia, ja? Ich will wirklich gerne diesen Film sehen!“ Dank Lucy und Ryan hatte ich ohnehin bereits einen Teil verpasst.
„Ich könnte dir das Ende verraten?“ Bot Calyle an und lehnte sich neben mir über die Rückbank.
Hastig halte ich mir beide Ohren zu und singe laut „La! La! La!“ Calyle kichert belustigt. „Ich kann dich nicht hören! La! La! La!“
„War nur ein Angebot. Ich habe nämlich das Buch oben. Und habe es bereits durch.“
„Wieso lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe den Film sehen?“ Schlage ich nun sehr deutlich vor. Gegen Calyle´s Anwesenheit hatte ich ja absolut nichts. Aber irgendwie nervte Lysander mich fürchterlich!
„Was meinst du, Calyle? Was muss ich tun, um Haylee zu beeindrucken?“
„Haylee in Ruhe lassen!“ Werfe ich, scheinbar ungehört ein.
„Das musst du schon selbst herausfinden, Kumpel. Ich bin auch kein Hellseher.“ Dabei deutet er auf Celiné. „Aber du könntest sie fragen.“
Lysander rieb sich einen Moment nachdenklich das Kinn. „Eigentlich keine dumme Idee. Ich komme gleich wieder.“
„Lass dir Zeit! Eine Stunde... Oder zwei Monate!“ Den letzten Teil murmelte ich bloß noch, sodass es Calyle hören konnte, der daraufhin leise lacht.
„Lysander ist ein netter Kerl. Du bist ganz schön kalt zu ihm.“
Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. „Ich weiß eben, welche Typ Kerl mich absolut nicht interessiert.“ Dabei nicke ich in Richtung von Lysander, der eben ganz aufgeregt mit Olympias Mutter tuschelte.
„Woher willst du wissen, welcher Typ Kerl er ist, wenn du ihm keine Chance gibst ihn besser kennen zu lernen?“
Ich drehe mich zur Seite, sodass wir uns nun in die Augen sehen konnten. „Ich bin jetzt zwei Tage hier, Calyle. Und Lysander habe ich an einem Stück nur Baggern gesehen. Er flirtet sogar mit Katya, obwohl es da sehr offensichtlich ist, dass er keine Chance hat.“
Calyle zuckt seinerseits gleichgültig mit den Schultern. „Vielleicht ist es einfach seine Art, als Single. Wenn er in festen Händen wäre, würde er sich bestimmt zurücknehmen.“
Ich verdrehe die Augen. „Ich will keinen Freund, den ich erst formen muss. Entweder ich mag ihn wie er ist, oder es passt von Anfang an überhaupt nicht. Wieso soll ich mir die Mühe machen jemanden zu verändern, wenn ich ihn doch so mögen sollte, wie er ist?“
„Manche Mädchen mögen so etwas. Sie sehen es... als Herausforderung an.“ Dabei musste ich augenblicklich an Olympia denken, die am laufenden Band versuchte Calyle´s Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder ihm das Lesen auszureden. Mein Herz klopfte augenblicklich wieder schneller, als ich daran dachte, dass er gestern noch das Buch zur Seite gelegt hatte, für mich!
Ich wende den Blick verlegen ab. „Ich mag eben keine Spielchen. Das ist auch schon alles.“
„Wie war denn dein letzter Freund?“ Mit dieser Frage erwischte Calyle mich eiskalt.
„Wesentlich netter als deine Ex!“ Erwidere ich daher etwas grob. Wieso fragte er mich das überhaupt? Das ging ihn doch überhaupt nichts an!
„Entschuldige, dass ich gefragt habe. Dann lasse ich dich eben mal weitersehen.“
Kaum war Calyle außer Hörweite, stöhne ich genervt über mich selbst. Da ich ohnehin den halben Film verpasst hatte und nicht mal wusste, worum es ging, schaltete ich aus und streckte mich über die Couch aus. Ich bin doch ein Idiot! Weshalb bin ich ihn beim Thema >Adam< bloß so angegangen? Er hat doch lediglich eine normale Frage gestellt. Er wollte mich weder aufziehen, noch auf irgendeine Weise gemein sein. Oder? Das hoffte ich zumindest.
Calyle machte mich auf irgendeine Art verrückt, dass ich am liebsten verzweifeln würde. In einem Moment genoss ich noch eine gewisse Zweisamkeit mit ihm, da griffen uns auch schon Monster an. Dann habe ich die Chance, eine Vertrauensbasis mit ihm aufzubauen, und was tat ich? Zicke ihn an.
In dem Moment fühlte ich mich wie Lucy und musste die Stirn runzeln. Ob sie auch in Ryan verknallt war und sich deshalb so irrational verhielt? Nein, bei denen beiden schien es einfache Feindschaft zu sein. Bekannterweise konnte man sich einfach nicht mit jedem verstehen. Und bei so viel Harmonie wie zwischen dem Großteil der Erwachsenen herrschte, war es vorhersehbar, dass sich die nächste Generation teilweise an die Kehle wollte.
Das Abendprogramm schritt weiter fort. Ich amüsierte mich eine Weile mit Tyrone und Katya, doch diese wollten gegen Mitternacht einen romantischen Spaziergang machen. Natürlich schloss ich mich dort keineswegs an.
Da ich so ziemlich die letzte wach war, kümmerte ich mich, um die Beleuchtung. Ich schaltete im Erdgeschoss alles aus, blendete das Küchenlicht auf ein Minimum herunter, sodass das Paar noch zurückfinden würde, dann machte ich mich auf den Weg zur Terrasse. Während ich die Ordnung der Stühle in Ordnung brachte, bemerkte ich einen Schatten in einer Ecke sitzen, mit dem Rücken zu mir.
Mit klopfendem Herzen überlege ich, ob ich nicht einfach hingehen sollte und mich bei ihm entschuldigen? Andererseits hatten wir ja nicht wirklich gestritten. Und wer konnte schon sagen, ob er es mir übel nahm? Vielleicht hatte ich das ganze Gespräch einfach bloß zu sehr überdacht? Mich in etwas hineingesteigert, was ihn überhaupt nicht berührte? So etwas taten wir Mädchen doch üblicherweise, richtig?
Und Jungs waren doch bei weitem nicht so! Sie denken nicht sonderlich viel über Gespräche und Gefühlsdinge nach, wie wir Mädchen. Ich räume fertig zusammen und sammle die Matten ein, während ich über mein weiteres Vorgehen nachdenke.
Da musste wohl ein Eisbrecher her, sonst würde ich morgen keine Ahnung haben, wie ich ihm gegenübertreten soll.
Ich biss mir auf die Lippe und schaltete einfach mal das Terrassenlicht aus. „He!“ Kam es augenblicklich von Calyle und er sah sich verärgert nach der Quelle um. Als er mich erkannte, schien er wieder ruhiger zu werden.
„Es ist bereits nach Mitternacht. Wenn du hier sitzen bleibst, ruinierst du nur deine Augen.“
Calyle zuckt gleichgültig mit den Schultern, als ich das Licht wieder für ihn einschaltete. „Bisher hat von uns noch niemand eine Brille gebraucht. Ich denke also nicht, dass... Oh, du hast einen Scherz gemacht.“ Stöhnend lehnte er sich an das Fensterglas und strich sich verlegen durch das Haar.
Ich komme langsam auf ihn zu. „Der war schlecht, ich weiß.“ Gebe ich zu und schmunzle über seine Verlegenheit. So sah er sogar noch süßer aus!
„Nein, ich war nur noch mit meinen Gedanken im Buch. Du hast mich an einer spannenden Stelle unterbrochen.“
Ich lache gespielt überheblich. „Meine Rache ist vollendet! Ihr habt mich nicht meinen Film sehen lassen, also muss ich mich Revanchieren.“
Calyle lacht und rutscht etwas zur Seite, um mir Platz auf der Decke zu machen. Ohne zu zögern, nehme ich die Einladung an. „Dann bin ich ja mal gespannt, wie deine Rachepläne für Ryan, Lucy und Lysander aussehen.“
Ich grinse frech. „Lysander werde ich zur Strafe weiterhin die kalte Schulter zeigen. Aber Lucy und Ryan verschonen. Da war ich ja ohnehin selbst schuld. Was stelle ich auch so dumme Fragen, wenn ich weiß, dass die Antworten ewig dauern?“
Er reicht mir einige Polster, damit ich es mir neben ihm gemütlich machen konnte. „Stimmt. Schande über jeden Unwissenden.“
„He!“ Mit einem der Polster schlage ich ihm halbherzig gegen die Brust. „Seit wann bist du denn so gemein?“ Frage ich schäkernd.
„Vielleicht ist das >meine< persönliche Rache?“
„Oho? Deine Rache also? Wofür denn?“ Frage ich interessiert nach.
„Dafür angezickt worden zu sein!“ Erinnert er mich, was mir die Röte ins Gesicht steigen ließ. Weshalb frage ich auch so dämlich?
„Ich weiß... Und es tut mir auch verdammt ehrlich leid. Du hast mir bloß eine normale Frage gestellt und ich habe... etwas überempfindlich reagiert. Das gebe ich zu.“
Calyle lehnt sich interessiert vor. „Und verrätst du mir in welches Fettnäpfchen ich hier geraten bin?“
„Nun ja... Das zwischen meinem Ex und mir war ja eigentlich ganz... schön. Wir waren einige Jahre zusammen, nur dann kam ich auf die Glorreiche Idee, dass ich noch jung bin, mich ausprobieren möchte...“
Calyle gibt einen verstehenden Laut von sich. „Ah! Und das ist natürlich nach hinten los gegangen, nicht wahr?“
„Mehr oder weniger... ja. Ein Mädchen wechselte an unsere Schule. Jemma. Sie wurde meine beste Freundin, ist total lieb, schüchtern und hat sich total in meinen Ex verknallt.“
Calyle zieht zischend die Luft ein. „Oh je!“
„Nein, nein. Es war gar nicht so schlimm. Eigentlich sind die beiden ja total süß zusammen. Sie passen perfekt zueinander... finde ich halt. Ich habe sie auch zusammen gebracht, aber mittlerweile... Nun ja... Ich hatte einfach schon lange keinen Freund mehr und... das kratzt halt an gewissen Nerven.“ Ich verdrehe genervt über mich selbst die Augen. „Jedenfalls hatte ich die letzten Monate das Gefühl... ihn wieder für mich haben zu wollen. Aber ich hatte zu viel Angst Jemma zu verlieren. Sie ist immerhin... so verdammt nett!“
Daraufhin lacht Calyle amüsiert. „Die nettesten sind meistens die größten Arschlöcher. Da solltest du vorsichtig sein.“
Ich kichere meinerseits. „Vermutlich... Jedenfalls habe ich keinen Schritt auf ihn zu gemacht. So arschig bin ich dann doch wieder nicht.“
Calyle reibt sich gespielt nachdenklich das Kinn. „Ach und ich dachte schon, dass sich Luzifer´s Tochter alles nimmt was sie haben will, so ähnlich wie er selbst.“
Dafür streckte ich ihm die Zunge heraus. Okay, ja ich hatte oft darüber nachgedacht mich wieder an Adam ran zu machen. Trotzdem musste ich auch zugeben, dass ich in den letzten beiden Tagen keine Sekunde an ihn gedacht hatte!
„Idiot. Dann sag mal wer dich gezeugt hat. Welcher großer Engel ist dein Vater?“
„Angeblich Raphael. Aber ich bin mir da selbst nicht so sicher. Im Grunde ist es mir auch egal.“
„Und Lucy´s?“
„Uriel.“
„Klingt nach einer... taffen Bande die uns da gezeugt hat.“
Schnaufend lehnte sich Calyle wieder zurück an die Glaswand und stützte seinen Arm auf einem Knie ab. „Hast du auch schon einmal so eine Verbindung ausprobiert?“ Meine Neugierde drängte mich, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen... Machte ich mich damit lächerlich?
„Ich habe es mit so ziemlich jedem versucht. Da ich alle schon mein ganzes Leben lang kenne, hat es recht gut funktioniert... Nun ja, bis auf Olympia. Mit ihr war es recht angespannt.“
„Wegen eurer Trennung? Wie lang ist das her?“
„Drei Jahre. Wir waren aber auch bloß einen Sommer zusammen. Und mir war es bei weitem nicht so ernst wie ihr.“
„War sie etwa deine erste Freundin?“ Hake ich nach, doch kam mir im selben Moment dumm vor. „Entschuldige... das war vermutlich zu privat! Du musst...“
„Nein, schon gut. Ich war davor mit ein paar zusammen. Mit einer war es mir ernst, doch die hat mich fünf mal betrogen. Daher war... Olympia mehr ein schwacher Moment, als sonst etwas. Das fand ich gemein ihr gegenüber.“
Oh, jetzt kannte ich die näheren Umstände und hatte sogar noch mehr Mitleid mit ihr. Besonders jedoch mit Calyle. Wie konnte man so einen netten Jungen überhaupt betrügen?
Mein Blick trifft zufällig auf das Buch, neben Carlyle´s Schatten. „He! Ich dachte du hättest es bereits durch?“ Ohne darüber nachzudenken, greife ich über ihn hinweg und nehme das Buch in die Hand.
Calyle folgte meiner Bewegungen, während er vor sich hin schmunzelte. „Ist schon etwas länger her. Es war eines meiner ersten. Du hast mich eben auf den Geschmack gebracht, es erneut zu lesen.“
Berührt sehe ich zu Calyle auf und erwidere seinen forschenden Blick, mit einem aufrichtigen Lächeln. „Okay, jetzt bin ich trotzdem neugierig. Erzähl mir was geschieht.“ Ich drehe es um und lesen den kurzen Buchrückentext durch.
„Ließ es selbst, wenn du es herausfinden möchtest.“
„Ich lese nicht!“ Erwidere ich amüsiert. „Das habe ich dir gestern schon gesagt.“
„Wie willst du dann herausfinden, was darin geschieht?“
Mit dem liebsten Blick, den ich drauf hatte, zumindest hoffte ich, dass er süß wirkte, blinzelte ich zu Calyle hoch und wedelte mit dem Buch vor mir herum. „Indem ich den nettesten Typen auf der ganzen weiten Welt, so lange nerve, bis er mir etwas erzählt?“
Erheitert über meine Worte, lacht Calyle laut auf. „Das war ein mieser Versuch. Probier es noch einmal.“
Ich denke einen Moment darüber nach, wie ich meine Worte noch besser verpacken könnte. „Bitte, bitte, lieber, ehrenwerter Calyle...“ Er begann noch lauter zu lachen. „hättest du die Güte, mir die Ehre zu erweisen... mir zu erzählen, um was es in dem Buch geht?“
Er lehnt sich vor, um mir das Buch wieder aus der Hand zu nehmen. „Das klang schon wesentlich besser. Ich bin geneigt dir ein wenig zu erzählen...“
„Na gut, was muss ich tun, damit du es mir erzählst?“ Komme ich ihm entgegen. Offensichtlich halfen >nur< einschmeichelnde Worte nichts.
Kurz dachte er angestrengt darüber nach, doch schien sich bereits etwas ausgesucht zu haben. „Na gut. Ich erzähle es dir, aber dafür musst du mit mir in den Engelsmodus gehen. Wann ist völlig egal. Irgendwann diesen Sommer auf jeden Fall.“
Ich strecke meine Hand aus und schüttle seine, um den packt zu schließen. „Okay, abgemacht.“
Bevor ich sie jedoch wieder zurückziehen konnte, hielt Calyle meine Hand fest. Ich sehe ihn irritiert an. „Bist du dir sicher, dass du es tun willst? Ich meine... immerhin lässt du mich dann in dich sehen.“
Ich fühle, wie mir die Röte in die Wangen kriecht. Stimmt, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Ob Calyle dann auch meine aufkeimenden Gefühle für ihn sehen würde können?
Mein Blick gleitet zu seiner Hand, welche meine noch immer hielt. Spielte es denn eine Rolle, ob er es wusste, oder nicht? Noch war ich mir selbst überhaupt nicht sicher, was und vor allem >ob< ich überhaupt etwas für ihn empfinde! Wie könnte ich auch?
Als ich wieder auf, in seine hellblauen Augen, blicke, hüpft mein Herz vor Nervosität im Dreieck. „Ja... Ich bin mir sicher.“
Calyle lächelt erleichtert, dann lässt er meine Hand los, was ich zutiefst bereute. Verdammte Gefühle!
„Na, dann mach es dir schon einmal bequem.“
„Was?“
„Du willst es nicht lesen, also werde ich es dir vorlesen.“
Ich deute auf den >Wälzer<. „Aber das dauert doch ewig bis wir das durch haben.“ Beklage ich mich enttäuscht, so hintergangen worden zu sein.
„Wir haben ja auch noch einen ganzen Sommer vor uns, oder?“
Etwas beleidigt, doch mich auch freuend auf die Zeit die ich dadurch mit ihm verbringen konnte, lasse ich mich neben ihn auf die Kissen sinken. „Du bist der gemeinste Kerl auf der Welt, weißt du das!“
Calyle schlägt mit einem stolzen Lächeln das Buch auf der ersten Seite auf. „Das hätte ich dir auch vorher sagen können.“
Ich boxte ihn halbherzig mit einer Hand, während ich meinen Blick, hoch zu den Sternen wandern ließ, welche man unfassbar gut erkennen konnte. Fernab von Städten, Dörfern und massenhaft künstlichem Licht, schien der gesamte Nachthimmel viel heller zu sein, als gewöhnlich.
Calyle begann zu lesen und ich lauschte seiner angenehmen Stimme eine gefühlte Ewigkeit. Es war so herrlich und entspannend, dass ich überhaupt nicht bemerkte, wie ich einschlief. In meinen Träumen redete Calyle ohne Unterlass, doch was er sagte, verstand ich nicht. Das war auch nicht wichtig, denn er verbrachte Zeit mit mir alleine! Nur er und ich, alleine auf einer Terrasse, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Sein Haar geriet in Flammen, als die Morgensonne sie berührten und seine Finger streichelten sanft über die Haut an meinen Händen. Es war so romantisch! Nur er und ich...
Und Katya? „Haylee? Wach auf!“
Sie rüttelte mich sanft an der Schulter und belächelte mich amüsiert. „Na, bist du hier eingeschlafen?“
Ich nicke schlaftrunken. „Scheint... so.“
„Na komm. Ich bringe dich ins Bett.“ Katya hilft mir auf die wackeligen Beine und zu dritt gehen wir hoch in den ersten Stock. Tyrone geht ein Stück weiter, zum Zimmer der Jungs. Ich kippe, ohne mich umzuziehen, ins Bett und schlaffe augenblicklich ein. Leider träumte ich nicht den schönen Traum mit Calyle weiter. Trotzdem fühlte sich meine Haut, dort wo er mich im Traum berührt hatte, angenehm warm an und prickelte. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich erneut ein.

VI - Verziehen, Vermisst, Verloren...

Mein Erwachen jedoch, endete in einem Horrorszenario. Nicht bloß, dass meine Hand beim Liegen, blöderweise eingeschlafen war, nein es war ein schriller Schrei, welcher mich weckte. Danach folgte ein kurzes Poltern und zwang mich die Augen zu öffnen. Anblinzelnd, gegen die ersten Sonnenstrahlen des Tages, versuchte ich die verschwommenen Umrisse zu erkennen. Mir gegenüber saß Lucy aufrecht im Bett. Ihr wirres Haar, stand, wie jeden Morgen, wild ab und hing ihr sogar ins Gesicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ja sagen, es sei ein Wischmop... Zum Glück für mein weiteres Überleben, wusste ich es jedoch besser!
Weiter unten sah die Sache schon anders aus. Katya lag nicht mehr in ihrem Bett und sogar die Decke war mitten, auf dem lachsfarbenen Teppich, fallen gelassen worden, welcher sich durch das gesamte Zimmer zog. Ich tippte daher mal ganz gekonnt auf eine Spinne, oder anderes Krabbelgetier und dass sich Katya in diesem Moment zweifellos bei ihrem Freund befinden musste, um dort Trost vor dem morgendlichen Schock zu suchen!
Stöhnend lasse ich meinen Kopf wieder auf die Polster sinken und kehrte dem lächerlichen Geschehen meinen Rücken zu. Vor allem jedoch, um meine eigene Paranoia, davon zu überzeugen, dass sich bei mir keine Spinnenarmee hinter dem Rücken gesammelt hatte. Erleichtert durchatmend, schloss ich wieder meine Augen... für eine einzige Sekunde! Ein schriller Schrei, der mir sämtliche Härchen auf den Armen zu Berge stehen ließ, brachte mich dazu, genauso aufrecht zu sitzen, wie Lucy. Kurz warfen wir uns einen irritierten Blick zu, da keiner von uns beiden wusste, was los war, dann war Lucy mit einer solchen Geschwindigkeit aus dem Bett, das ich kaum hinterherkam. Unter mir hörte ich Olympia etwas in einer anderen Sprache fluchen, dann war sie ebenfalls aus dem Zimmer, noch bevor ich einen Fuß auf eine Sprosse setzen konnte.
War ich tatsächlich so langsam, oder lag es an deren bereits ausgefeilten Engelsfähigkeiten, dass sie so schnell bewegten? Darüber würde ich mir wohl später den Kopf zerbrechen. Ich schloss meine Weste enger um mich, da mich ein seltsam kaltes Gefühl packte. Es glitt meinen gesamten Körper hinab, so, als sei ich eben durch eine Klimaanlage gegangen. Zwar sehe ich mich einen Moment nach einem Belüftungssystem um, doch wusste, dass es das hier am Gang nicht gab.
Kopfschüttelnd reibe ich mir den Schlaf aus den Augen und komme bei der Treppe an. Seltsamerweise gab es dort einen überraschenden Andrang. Alle Leute, die sich hier befanden, im Haus am See, standen darauf und drohten, diese bald zum Einbrechen zu bringen. Die Treppe knarrte ohnehin fürchterlich, wenn man daran hinauf, oder hinunter ging. Ich mochte mir überhaupt nicht vorstellen, was bei so viel Gewicht mit ihr geschah... Nun, ja zumindest war das Gewicht von unten bis nach oben aufgeteilt!
Calyle stand ganz oben an der Treppe, mit dem Hintern in der Höhe, was ich überaus faszinierend fand, doch sein Blick war über das Geländer, auf irgendetwas anderes konzentriert. Zum Glück sah er mein begeistertes Starren auf seinen knackigen Hintern nicht!
„Was ist denn da unten los?“ Im Erdgeschoss erklang im selben Moment Olive´s Stimme, wie sie irgendetwas über Polizei sagte. „Warum denn die Polizei?“
Calyle lief hastig auf mich zu und packte mich an den Schultern. „Haylee, bleib bitte hier oben.“
Ich runzle irritiert die Stirn. „Warum?“
„Bleib einfach. I-Ich bleibe auch mit dir hier oben, okay?“
Was sollte das denn? „O-Okay... Von mir aus. Aber sag mir erst, was dort unten los ist. Wer hat so geschrien?“ Ein Blick über die Treppe, sagte mir, dass es erst kurz nach sechs Uhr morgens war! Na toll! Von wegen >früher Vogel< und so ein Mist.
„Nichts.“ Log Calyle so schlecht, dass ich es ihm unter keinen Umständen abgekauft hätte.
„Na wenn es >nichts< ist, dann kann ich es mir ja auch ansehen gehen.“
Calyle wurde sichtbar panischer. „Nein, Haylee! Du kannst dort jetzt wirklich nicht hinunter gehen. Das >willst< du einfach nicht sehen.“
Langsam wurde ich zornig und nervös. Eine schlechte Kombination! „Calyle! Lass mich sofort los und sag mir, was dort unten ist, dass ich nicht sehen >möchte<!“
Calyle wirft einen hilfesuchenden Blick zurück zu den anderen. Ryan deutete ihm irgendetwas, dass ich nicht sehen kann und Calyle nickte. Also wirklich! Langsam reichte es mir!
„Calyle, lass mich auf der Stelle los, oder ich werde ungemütlich!“ Eigentlich wollte ich ja überhaupt nicht gemein zu ihm sein, aber die Panik in meiner Brust, machte es fast unmöglich auf irgendetwas Logisches zu hören. Calyle wollte mich nicht hinunter lassen! Mich! Und alle anderen durften es sehen? Was auch immer >es< sei?
„Nein, vertrau... Haylee, vertraust du mir?“
Unsere Blicke treffen sich, bei dieser überaus heiklen Frage und ich stutze. Ob ich Calyle vertraute? Ich kenne ihn doch überhaupt nicht! Trotz allem entglitt mir ein überraschtes... „Ja!“
Auf seinem kalkweißen Gesicht entstand für einen Moment, ein kleines Lächeln und seine Augen hellten sich vor Freude auf. In diesem Augenblick sah er so... atemberaubend aus, dass mir einfach danach war, ihn zu küssen. Zu meinem Bedauern war da immer noch der eisige Griff in meinem Brustkorb! „Sehr gut, denn du musst mir einfach vertrauen, wenn ich dir sage, du willst das dort unten nicht sehen, okay?“
Ich fühlte mich in diesem Moment wie ein Roboter. Einerseits zog es mich schrecklich zu Calyle hin und ich hatte das Bedürfnis ihm diesen Wunsch zu erfüllen... aber das ließ die schlechte Vorahnung nicht zu. „Nur wenn du mir sagst, was dort unten los ist.“
„Zuerst sollten wir uns aber wirklich setzen.“ Bestimmt Calyle und will mich weiter zurückdrängen. Ich lasse es jedoch nicht zu.
„Calyle, das ist doch lächerlich. Sag es mir einfach!“
Ein tiefer Seufzer entschlüpft ihm, bevor er zögerlich antwortet. „E-Es geht, um deine Mutter, Haylee.“
Plötzlich war es meinem Herzen zu viel, im Dreieck zu springen, und es setzte für eine endlos lange Sekunde aus... „W-Was?“ Frage ich und dränge etwas stärker gegen Calyle. „Nein, meiner Mutter geht es doch gut. Sie hat selbst gesagt, dass es ihr besser geht!“ Entgegne ich aufgeregt.
„Ich weiß. Ihr ging es ja auch hervorragend.“
Ich hatte meine Hände gegen seine Schultern gestemmt, doch Calyle gab keinen Zentimeter nach. „Was meinst du dann? Sie braucht doch überhaupt keine Medikamente mehr! Sie ist völlig normal! Das weißt du doch!“
„Natürlich weiß ich das! E-Es ist auch nicht ihre Psyche, die uns Sorgen bereitet.“
Wortfetzen drangen von unten zu uns hinauf, genauso wie jede Menge Schniefen.
>Verschwunden<
>Blut<
>Einbruch<
>Kaputt geschlagen<
>Umgeworfen<
Mein gesamter Körper erstarrte. „M-Ma... Mama? Was ist mit meiner Mutter? Wo ist sie?“ Fahre ich aus der Haut und will wieder hinunter, um mir alles anzusehen. Wieso war dort Blut? Und welcher Einbruch? Wovon sprach Olive da?
„Haylee! Haylee, beruhige dich! Wir werden alles in Ordnung bringen, hörst du?“
„Nein! Gar nichts wird in Ordnung! Ihr ging es gut! Ihr ging es so gut, Calyle! So fit habe ich sie noch nie in meinem gesamten Leben gesehen!“
Anstatt sich weiterhin gegen mich zu lehnen, um mich davon abzuhalten zur Treppe zurückzulaufen, packte Calyle mich plötzlich an den Schultern und der Taille, und drückte mich ganz fest gegen seine Brust. „Ich weiß, Haylee... Ich weiß, alles wird gut, ja! Ich verspreche dir, dass wir alles aufklären werden!“
So gefangen, unfähig mich weiter auf die Treppe vorzuarbeiten, klammere ich meine Finger an seinen schwarzen Schlafpullover und versenke mein Gesicht an seinem Hals. „Wir müssen sie finden, Calyle! Wir müssen!“
„Natürlich!“ Schwört er und wiegt mich sanft im Arm, während ich Rotz und Wasser heulte. Ich zerbrach praktisch an dem Gedanken, dass es meiner Mutter doch eigentlich gut gehen sollte! Dass sie den Sommer ihres Leben haben sollte und nicht... Was war bloß mit ihr geschehen? Was ging dort unten nur vor sich?
„Komm, du solltest zurück ins Bett. Unten kümmern sich die anderen um alles.“
„Aber was ist mit meiner Mutter? Ist sie irgendwo dort?“
Er schüttelt den Kopf. „Nein, sie ist nicht dort. Bestimmt... ist sie in den Wald geflohen und wartet dort auf uns. Die Polizei wird sie bestimmt gleich finden und alles wird wieder gut, ja?“
Ich nicke. „Sie werden sie finden!“ Stimme ich, mit weit weniger Überzeugung in der Stimme zu, als Calyle sie besaß.
„Alles wird sich aufklären.“ Wiederholt er und legt seine Stirn an meine. „Ich werde auch bei dir bleiben, wenn du das möchtest?“
Ich nicke heftig und ziehe ekelhaft auf. Einerseits wollte ich nicht, dass mich Calyle so verweint sah, andererseits... es war ein wenig tröstlich, zu wissen, er würde sich stets an meiner Seite befinden.
Erschrocken stoße ich mich etwas von ihm ab. „Oh verdammt! Ich rotze dich total voll! Entschuldige bitte!“ Ich wische mich in den Ärmeln meiner Weste ab, doch Calyle ließ mich trotz des groben Stoßes nicht los.
Stattdessen lächelt er mich vorsichtig an. „Ist doch egal.“ Dann sieht er an sich herab und lässt mich doch los. „Hier.“ Erstaunt sehe ich mit offenem Mund dabei zu, wie er sich den Pullover einfach über den Kopf zieht. Sein offenes Haar knistert dabei leise und stellt sich wild auf, während er ihn mir über den Kopf zog.
Mit zittrigen Gliedern stecke ich meine Hände in die Ärmel und werde sofort in eine tröstende Umrundung gezogen. Alles daran roch nach Calyle. Sogar so intensiv, dass mir für einen Moment ganz schwindelig wurde.
Dann stand er in Jogginghose vor mir und richtet nachsichtig mein verwuscheltes Haar. „So, jetzt kannst du dich hinein wischen, soviel du willst.“
Unglaublich gerührt von seiner Geste, lasse ich mich erneut in seine Umarmung fallen. Dieses Mal fand ich es etwas seltsamer, da er ja nichts mehr trug. Andererseits wollte ich in diesem Moment nicht wirklich über Calyle´s halbnackten Körper nachdenken, auch wenn er unglaublich heiß aussah!
Nein, meine Gedanken tosten um das einzig wichtige... Meine Mutter! Wo mag sie sein? Wie ging es ihr?
„Calyle!“ Olympia´s hysterische Stimme überschlug sich beinahe, bei seinem Anblick. „Warum bist du nackt?“ Zischt sie etwas leiser, da sich mehrere Köpfe scheinbar nach ihr umgedreht hatten.
„Nicht jetzt, Olympia!“ Gibt Calyle bissig zurück. Ich wollte schon von ihm zurücktreten, um kein falsches Bild zu erzeugen, auch wenn ich darauf im Moment relativ wenig gab! Trotzdem wollte ich mich nicht auch noch mit einer eifersüchtigen Tussi herumschlagen, aber Calyle hielt mich zu stark fest.
„Ganz genau, nicht jetzt! Wenn du dich schon weiter an Haylee heranmachen willst, dann bitte mach das, wenn ihre Mutter nicht gerade vermisst wird!“ Zickt sie ihn erbost an.
Ich schniefe erneut los und wimmere leise, als sie den vermutlichen Zustand meiner Mutter ansprach.
„Oh verdammt...“ Flucht Olympia daraufhin. „Ich wollte nicht...“
„Olympia, verpiss dich gefälligst! Du machst es nicht gerade besser!“ So zornig hatte ich Calyle bisher noch nicht erlebt, doch ich verstand ihn. Ich selbst wollte sie ebenfalls anschreien, dass meine Mutter nicht vermisst wurde. Bestimmt lag sie noch in ihrem Bett und hatte dank Schlaftabletten nichts von alldem mitbekommen! Es musste doch eine einfachere Erklärung geben, als... das Schlimmste anzunehmen!
„Komm, Haylee. Du musst zurück ins Bett. Du musst dir das alles nicht anhören.“
Etwas nachdrücklicher dieses Mal, schiebt Calyle mich ins Zimmer von uns Mädchen zurück, während er Olympia mächtig giftige Blicke zuwirft. Die würde sich bestimmt noch einmal etwas anhören können... Doch darüber wollte ich mir ebenfalls keine Gedanken machen. Weder über meine Gefühle für Calyle, noch über die Eifersucht von Olympia. Besonders diese beiden Dinge nicht!
„Sollten wir nicht nach ihr suchen, Calyle? Wir müssen doch irgendetwas tun, oder?“
„Das wird die Polizei, Haylee. Wir tun überhaupt nichts, bis die da sind, sonst verschlechtern wir ihre Möglichkeiten, deine Mutter zu finden!“
Das klang logisch, aber überzeugte mich immer noch nicht. „A-Aber wenn sie irgendwo dort draußen, schwer verletzt herumliegt? Oder sie von einem Tier angefallen wird?“
„Das wird sie nicht! Hör auf jetzt damit, helfen zu wollen und lass dir endlich einmal helfen, Haylee!“ Entgegnet Calyle etwas genervt, während er mit einem Fuß die Zimmertüre zutritt. „Welches ist deines?“ Ich deutete auf das, aus welchem keine Decke heraus hing. „Dann hoch mit dir.“ Etwas sanfter schiebt Calyle mich auf das Stockbett zu, ohne seine Hand von meinem Rücken zu nehmen, bis ich endlich hinauf stieg. Selbst dann, blieb er ganz nahe neben mir stehen, wartete geduldig, bis ich mit angezogenen Beinen oben saß und kletterte dann selbst herauf.
Forschend sehe ich ihn an. Sehe nicht den halbnackten, heißen Calyle, sondern den einfühlsamen Freund, welcher im Moment auf mich achtete. „Danke, Calyle!“
Er reicht mir ein Päckchen Taschentücher, die er vom Tisch geklaut hatte und reichte sie mir. „Dafür brauchst du mir wirklich nicht zu danken, Haylee. Es ist selbstverständlich, dass ich für dich da bin!“ Er sah mir dabei so ernst in die Augen, dass mir das Herz weich wurde. Ich konnte kaum glauben, wie lieb er sich um mich kümmerte und das, obwohl ich ein weinendes Mädchen bin, dass er gerade einmal zwei Tage kannte...
Zwei Tage... Ich begann erneut zu schluchzen! Ich hatte lediglich zwei Tage mit meiner Mutter gehabt! Nur zwei mickrig kurze Tage, an denen es ihr gut gegangen war. Zwei Tage, innerhalb von achtzehn Jahren! Das war so verdammt ungerecht! Weshalb passierte uns das? Wer tat uns bloß so etwas Schreckliches an? Wer zum Teufel, war so schrecklich?
„Sch...Sch...“ Calyle zieht mich wieder an sich und deckt uns beide sogar zu, während er sich an die kalte Wand hinter uns lehnte. „Sie wird gefunden werden, Haylee... Wir werden sie finden!“
Noch nie in meinem gesamten Leben hatte ich mich jemals so sehr nach meiner Mama gesehnt, wie in diesem Augenblick!

 

- - - - -

 

Nach dem Tumult im Erdgeschoss zu schließen, traf die Polizei zwanzig Minuten später ein, da sie Probleme damit hatten, diesen Ort zu finden. Der Suchtrupp machte sich augenblicklich auf den Weg in den Wald, was Calyle und ich durch das Fenster hinter dem Tisch beobachten konnten. Es gab sogar Spürhunde, während die Spurensicherung, laut Katya unten alles untersuchte. Zwei Polizistinnen gingen die Befragungen durch und es dauerte über eine Stunde, bis sie zu Calyle und mir vordrangen. Bis dahin lag ich mit dem Kopf auf seinem Schoß, Tyrone hatte ihm ein T-Shirt gebracht, so wie das Buch Illuminati, welches er mir nun weiterhin vorlas. Hin und wieder schniefte ich, doch großteils, versuchte ich es zuzulassen, dass Calyle mich ablenkte.
Als eine brünette junge Polizistin, mit einem strengen Gesichtsausdruck schlussendlich eintrat, schossen mir augenblicklich wieder Tränen hoch, da sie mich daran erinnerte, weshalb sie sich überhaupt hier befand.
„Hi, ich bin Anna Kopazki. Nennt mich aber einfach nur Anna. Darf ich einen Augenblick mit euch einzeln sprechen?“
Ich wollte schon zustimmen, doch Calyle legte beschützend eine Hand auf meinen Arm. „Sie können uns auch gleich gemeinsam verhören. Wir haben ohnehin ähnliche Aussagen.“
Hatten wir?
„Haben Sie also? Weshalb das denn?“
„Weil wir den gestrigen Abend zusammen auf der Terrasse verbracht haben.“ Klärt Calyle die Polizistin auf, während ich mich aufsetzte und mühsam die Erinnerung abrief.
„Na gut, trotzdem hätte ich noch einige persönliche Fragen an dich Haylee, was die Tabletten im Zimmer deiner Mutter angeht, zum Beispiel.“ Sie tauscht einen vorsichtigen Blick mit mir, als ob sie überprüfen wollte, dass ich auch wirklich freisprechen würde vor Calyle. Aber wie vorhin schon gesagt... Ja, ich vertraue Calyle.
„Fragen Sie ruhig. Aber sollten Sie nicht mithelfen beim Suchen?“ Meine Stimme klang schwach und gebrechlich... Fast wie die einer sterbenden...
„Natürlich schließe ich mich dem Suchtrupp ebenfalls gleich an. Ihre Familienmitglieder haben sich bereits auf die Suche gemacht. Ihr seid die letzten, wenn ihr wollt könnt ihr euch dann auch daran beteiligen?“ Schlug sie vor, doch zog sich einen Stuhl heran, als würde das noch eine ganze Weile dauern.
Ich nickte, doch erneut war es Calyle, welcher statt meiner sprach. „Nein, Haylee bleibt im Haus.“ Verwirrt sehe ich ihn an. Wie kam er darauf, für mich zu sprechen. „Und ich werde bei dir bleiben, die ganze Zeit. Ich will nicht dass dir auch irgendetwas passiert!“
Verlegen sehe ich weg, doch nicke. „V-Vielleicht ist es ja ganz gut... Wenn sie... Wenn sie nach Hause kommt, muss ja jemand da sein, oder?“
Aufmunternd lächelt Calyle mich an. „Genau. Sobald sie da ist, wirst du die Erste sein, die es erfährt!“ Er reckte seinen Kopf und lehnte sich vor, als wolle er mir einen Kuss auf die Stirn geben, doch stattdessen zieht er mich an seine Schulter, um mich kurz, tröstend zu drücken. „Ich werde die ganze Zeit auf dich aufpassen!“ Schwört er, als sei es seine einzige Aufgabe im Leben... Wie kann jemand bloß so lieb sein? Besonders wenn man sich noch überhaupt nicht kannte?
Ein Räuspern unterbrach unseren seltsam intimen Moment und ließ mich erschrocken zusammenzucken. „Darf ich jetzt mit der Befragung beginnen?“
Ich nicke hastig und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. „Natürlich.“ Je schneller sie es hinter sich brachte, umso eher würde sie beim Suchen helfen!
„Gut, du bist also Haylee Blackbird? Die Tochter von Edna Blackbird, dem... der Vermissten?“
„Ja.“
„Würdest du mir deinen Vornamen Buchstabieren?“
„H.A.Y.L.E.E.“
„Und Sie sind demnach Calyle?“
„Genau.“
Auch ihn bat sie, seinen Namen zu buchstabieren, woraufhin sie die Brauen hochzog.
„Ist etwas?“ Frage ich neugierig nach. Hatte sie anhand unserer Namen etwa schon etwas Merkwürdiges gefunden?
„Es wundert mich bloß etwas. Jeder von Ihnen hat mir seine Namen buchstabiert. Katya. Lucy. Haylee. Olympia. Ryan. Lysander. Calyle und Tyrone. Ist euch allen bewusst, dass ihr eine Namensähnlichkeit besitzt?“
„Das >Y<, ja.“ Antwortet Calyle, während ich noch nach einem Zusammenhang suchte. „Unsere Mütter lernten uns durch eine Kirche kennen. Meine Mutter Marie...“ So erklärte er kurz den Zusammenhang der acht Mütter und wie sie enge >Freunde< wurden. „Wir kamen alle etwa zur gleichen Zeit zur Welt, daher entschieden sie, dass wir abgesehen vom Geburtsmonat, dem März, auch etwas anderes, offensichtlicheres gemeinsam haben sollten.“
„Tatsächlich, wir werden alle mit >Y< geschrieben?“ Frage ich überrascht nach.
„Ja, ist dir das noch überhaupt nicht aufgefallen?“ Calyle grinst amüsiert.
„Also hat eure Verbindung hier, oder die eurer Mütter, nichts mit... einer kleinen Religionsgemeinschaft zu tun, oder so?“
Ich verziehe das Gesicht. „Nein, meine... Mutter... und ich sind dieses Jahr das erste Mal hier.“
„Weshalb?“ Fragt die Polizistin wie aus der Pistole geschossen.
„W-Weiß ich nicht so genau. Ich glaube es lag an... an den Wahnvorstellungen und dem Verfolgungswahn meiner... Mutter...“ Noch nie in meinem Leben war es mir so schwergefallen, über sie zu sprechen. Besonders nicht vor der Polizei! Das war natürlich bereits häufiger vorgekommen, dank einiger Zwischenfälle...
„Sie hatte also psychische Probleme. Hat sie jemals die Orientierung verloren, oder gar vergessen wer sie ist und wo sie zuhause ist?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, sie war bloß etwas träge von den vielen Medikamenten. Aber abgesehen von den Dingen, die sie glaubte zu sehen... hat sie sich völlig >normal< verhalten. Es waren wirklich immer bloß Halluzinationen und ein leichter Verfolgungswahn. Mehr nie!“
„Was ist mit den Medikamenten gegen Aggressionen und Angstzustände?“
„Das war für die schlimmeren Tage, wenn sie sich... einbildete... Dämonen in... Fußgängern gesehen zu haben...“ Ach du meine Güte! Ist das schwer! Ich fühlte mich wie der letzte Dreck, während ich das alles wiederholte, was ich früher für eine psychische Störung gehalten hatte. Nein, was wir alle für eine gestörte Wahrnehmung gehalten hatten!
„Also kann es sein, dass deine Mutter vielleicht... mit ihren wilden Anschuldigungen jemanden so sehr aufgeregt hatte, dass er ihr etwas antun wollte?“
Es gab ein paar Beschwerden, doch nichts davon war auch bloß ansatzweise aggressiver Natur. „Nein. Die meisten hatten einfach... Mitleid mit ihr. Der Rest war genervt... von dem was sie... von sich gab.“ Calyle streichelt sanft meine Schulter und reicht mir ein weiteres Taschentuch, mit welchem ich meine Tränen trocknete.
„Ich verstehe. Und wie war dein Verhältnis zu deiner Mutter? Ich nehme an, es gab... gewisse Spannungen, die auch zu privaten Problemen führten?“
Schniefend versuche ich nach den richtigen Worten zu suchen. Aber das war so verdammt schwer! Was sagte man über eine Frau, die von jedem auf der Welt falsch verstanden worden war... aber doch immer richtig gelegen hatte? „Es... Es hat mich schon zu einer Außenseiterin gemacht.“ Gebe ich zu.
„Ist... deine Mutter auch der Grund für deine Suspendierung von der Uni gewesen?“
Ich schrecke ertappt zusammen, während Calyle mich entsetzt ansah. „Du wurdest suspendiert?“
„Kurzschlussreaktion.“ Gebe ich schlicht von mir, was natürlich überhaupt nichts beantwortete. „I-Ich hatte Probleme, ja... Und das Viertel in dem wir leben, ist recht... informativ. Die meisten kennen einander und somit... wird viel getratscht. Besonders über meine Mutter. D-Das Wochenende, bevor ich suspendiert wurde... da hatte sie einen heftigen Zusammenbruch und hat in einem Geschäft einiges... herumgeworfen. Vor allem Alkoholflaschen!“
„Das hat sich bestimmt schnell in der Schule herumgesprochen.“
Ich verdrehte genervt die Augen. Wie lächerlich mir das Verhalten der Schüler plötzlich vorkam! Wieso konnte es mir damals nicht schon so egal gewesen sein? „Der Bruder von meinem Ex hat es anscheinend... weitererzählt und... das führte zu einigem... Spott.“
Calyle wischt die Strähnen zur Seite, welche ich in mein Gesicht hatte rutschen lassen. Ich wollte nicht, dass er das hörte... Den tiefsten Punkt in meinem Leben. Damals hatte auch ich eine Kurzschlussreaktion gehabt. Habe mich von meiner Frustration der Jahre leiten lassen und alles an einer Person ausgelassen! Verdammt bin ich da dämlich gewesen!
Seltsam nur, dass es mir jetzt peinlich war, doch zu dieser Zeit so etwas von egal. Genauso gut hätte mir etwas hinunter fallen können, oder in China ein Reissack umfallen! Jetzt vor Calyle allerdings... änderte dies alles.
„Das hat dich wütend werden lassen?“
„Ein... Mädchen, mit dem ich schon seit der Grundschule immer wieder aneinander geraten bin, hat mich zur falschen Zeit erwischt und... meine gesamte Frustration über mein Leben... abbekommen.“
„Laut dem Bericht ihrer Direktorin, hast du deiner Schulkollegin die Nase gebrochen. Sie musste zweimal operieren müssen!“
Ich lachte willkürlich laut auf. „Als ob das ihren hässlichen Zinken besser machen würde! Vermutlich war die zweite OP nur dazu da, damit sie etwas hübscher wird und jetzt kann sie es mir dann danken, im neuen Schuljahr.“ Ich schniefe wie verrückt, während ich diese gehässigen Worte ausspreche. „Diese blöde Kuh hat mich jahrelang fertig gemacht. Alles was sie gegen meine Mutter hatten finden können, ließ sie an mir aus. Ihre Langeweile, ihren Ärger... Immer war ich ihr verdammter Stressball oder so etwas. Und dann wundern sich die Lehrer, wenn ich einmal zurückschlage? Buchstäblich? Ernsthaft! Ich mache alles für meine Mutter! Ich erinnerte sie an ihre Medikamente, an ihre Arzttermine, holte auch ihre Rezepte und kümmerte mich, um sie, wenn sie wieder einen >Anfall< gehabt hatte! Ich... Ich... Verdammt noch mal, ja ich habe auch meine Witze über meine Mutter gerissen. Aber ich liebe sie! Ich wollte nie, dass andere sich über sie lustig machen und Gemeines über sie verbreiten. Sie ist so lieb! So unglaublich lieb!
Ich deute auf das Zimmer. „Sie hat mich sogar mit hierher genommen!“ Brause ich auf. „Und ja, ich hasse es! Ich würde viel lieber den Sommer mit meinen besten Freunden in der Stadt verbringen. Abhängen, ausgehen... Aber nein, ich sitze hier inmitten all dieser nervigen Insekten herum. Und Leuten die ich nicht mal kenne!“ Calyle wirkte neben mir etwas geknickt, doch darauf wollte ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Ich musste meinem jahrelangen Ärger einfach Luft machen. „Aber was ich in diesen >zwei<!“ Ich betonte die Zahl extra. „Lediglich in diesen zwei Tagen über meine Mutter gelernt habe, ist einfach... unbezahlbar. Sie war so normal, wie noch nie! Sie hat sich mit jedem normal unterhalten, keine bösen Monster gesehen, oder sich verfolgt gefühlt. Sie hat... sie hat sogar vegan für mich gekocht, Calyle... Das hat sie noch nie gemacht! Vegan gekocht... Sie... hat das für mich getan, weil sie es endlich wahrgenommen hat. Sie hat mich wahrgenommen...“ Schluchzend lande ich erneut in Calyle´s Armen.
Während ich am Schmerz beinahe ersticke, stellt die Polizistin noch einige Fragen an Calyle. Besonders bezüglich seines Alibis für heute Nacht. Ich bestätigte seine Aussage, dass wir bis drei Uhr zirka auf der Terrasse verbracht hatten, doch als ich eingeschlafen sei, hatte er mir eine Decke bringen wollen, damit ich nicht friere. Als er jedoch zurückkam, war ich bereits in mein Zimmer gegangen, woraufhin ich Katya und Tyrone erwähnte.
„Danke. Und entschuldigt die vielen Fragen, aber... sie sind nun einmal notwendig.“
Danach waren Calyle und ich wieder alleine. Ich lehnte abweisend an der Wand, während er mit einer Klopapierrolle aus dem Bad kam. Die Mädchen tauchten auch direkt daraufhin im Zimmer auf. Sie zogen sich bloß rasch um, sie versprachen mir, alles zu tun, um meine Mom zu finden, dann eilten sie auch schon los.
Calyle zauberte mir ein Vollkorn-Sandwich, woran ich jedoch bloß halbherzig knabberte.
„Haylee... Es tut mir leid, ich hätte aus dem Zimmer gehen sollen.“
Lethargisch sehe ich auf. „Warum?“
„Wegen der Suspension. Ich weiß, du wolltest nicht, dass es jemand von uns weiß. Aber... du musst auch verstehen, dass wir dich für diese einfache Tatsache nicht verurteilen. Und... ehrlich gesagt finde ich es bewundernswert das du Jahre darauf gewartet hast, um dieser dummen Gans ins Gesicht zu schlagen.“
Nun muss ich doch ein wenig lächeln, was offenbar bloß Calyle schaffte. Ich fühle mich so elend, dass ich am liebsten auf der Stelle sterben würde... doch Calyle schaffte es, mich zumindest zum Lächeln zu bringen.
„Danke Calyle... Du bist einfach unglaublich.“ Es rutschte mir so plötzlich und ernst aus dem Mund, dass die Worte nicht ihren Zweck verfehlten. Sie offenbarten ein Stück meiner Gefühle für ihn...
Calyle´s Augen wurden für einen Moment ganz groß, dann wendet er verlegen das Gesicht ab. Hach... wie dumm ich doch bin! Wieso sage ich das überhaupt? „Magst du noch etwas... essen oder trinken?“
Natürlich kann er mir keinen Korb geben, wenn es gerade, um das Leben meiner Mutter ging... Ich verdrehe über mich selbst die Augen. „Nein, danke. Ich bringe ohnehin nichts hinunter.“
Ich schiebe ihm geknickt den Teller über die Matratze zu, dann kuschel ich mich, zu einem Embryo zusammen gerollt, hin. Die Decke, welche unter mir lag, störte jedoch ein wenig, daher muss ich mich wieder aufsetzen und ziehe sie unter mir hervor. Bevor ich mich jedoch wieder hinlegen kann, packt Calyle mich am Unterarm. „Warte... Leg dich wieder hierhin.“ Er klopft auffordernd auf seine Oberschenkel.
Gut, ja... es tat irgendwie weh. Aus Versehen hatte ich mir eben einen Korb geholt, meine Mutter ist auf mysteriöse Weise verschwunden und ausgerechnet der Typ, der mich mehr berührte, als ich es gerne hätte, bietet mir seine Nähe und Beistand an!
Ich lege mich auf seinen Schoß und höre, wie er das Buch erneut aufschlägt, um weiterzulesen. Bevor er jedoch dazu kam, unterbrach ich ihn. „Calyle... Was denkst du, ist passiert?“
Das Buch schlug leise wieder zu. Ich hatte ihm den Rücken zugekehrt, sodass ich in die Richtung seinen Zehenspitzen sehe, und mein Haar verdeckte den Großteil meines Gesichtes. Ich wollte einfach nicht, dass er meine Scham bemerkte. „Darüber kann ich ehrlich nichts sagen. Unten... sieht es aus, als wäre jemand eingebrochen. Die Glastüre ist aufgebrochen und einige Möbel umgekippt und... wir haben... Blut gesehen. Edna ist die Einzige, die sich nirgendwo hier in der Nähe befunden hat. Also... Wir können nur ahnen was tatsächlich geschehen ist. Vielleicht hat sie ihren Angreifer verletzt und ist schnell in den Wald, um sich zu verstecken.“
„Wieso hat sie uns denn nicht geweckt? Oder weshalb hat niemand das Glas brechen gehört?“
Calyle zuckt spürbar mit den Schultern. „Nun ja... Ehrlich gesagt, habe ich mir... echt schwer getan aufzustehen, als ich den Schrei hörte.“
Ich nicke zustimmend. „Mir ging es genauso. Ich habe es erst beim zweiten geschafft.“
„Es gab zwei?“ Fragte Calyle überrascht.
„Ja, der erste hat mich aus dem Schlaf gerissen. Lucy saß verwirrt und aufrecht im Bett und Katya sah ich nur noch bei der Türe hinaus laufen. Keine zehn Sekunden später, erklang der zweite Schrei.“
„Ha!“ Stößt Calyle hervor. „Na, ja. Das Jungenzimmer liegt auch etwas weiter hinten. Vermutlich haben wir es deshalb erst beim zweiten Mal gehört.“ Stimmt, daran hatte ich überhaupt nicht gedacht...
„Und was ist mit dem Glas?“
„Es scheint herausgeschnitten worden zu sein.“
„Also ein Profieinbrecher?“
„Etwas ungewöhnlich in dieser Gegend, aber ja... kann sein.“ Bemerkt Calyle, nicht sehr überzeugend. Etwas klingelte erneut in meinem Kopf. Hach, wie ich diese blöden Vorahnungen langsam hasste!
„Hm...“ Gebe ich lediglich von mir und gähne herzhaft. Damit war dieses Thema ebenfalls abgeschlossen und ich schloss etwas meine Augen. Mysteriös das alles. Warum sollte man ausgerechnet meiner liebenswürdigen Mutter etwas antun wollen? War sie etwa tatsächlich bloß zur falschen Zeit, am falschen Ort gewesen?
„Haylee...“ Begann Calyle plötzlich seinerseits.
„Ja?“
„Du weißt hoffentlich, dass niemand von uns deiner Mutter je etwas angetan hätte?“ Irritiert drehe ich mich um, sodass ich auf dem Rücken lag und sah ihn erstaunt an.
„Natürlich habe ich keine Sekunde daran gedacht!“
Etwas verlegen zuckte er mit den Schultern. „Okay... Ich dachte nur, ich sage dir das. Immerhin magst du es ja hier nicht und da nahm ich eben an, dass du die Schuld vielleicht bei uns suchen magst. I-Ich weiß wirklich nicht wie du dich im Moment fühlst, dass will ich keinesfalls behaupten, aber... wenn es meine Mutter wäre... würde ich vermutlich jeden für den Schuldigen halten... also...“ Er sieht mich hoffnungslos an. Offenbar dachte er schon, ich würde ihm jetzt dafür den Kopf abreißen, doch stattdessen setzte ich mich auf und lehnte mich neben ihn an die Wand. Schulter an Schulter saß ich nun neben ihm und betrachtete das gegenüberliegende Bett.
„E-Es ist nicht so, dass ich es hier hasse... oder euch hasse. Meine Mom hat mich bloß, ohne darüber zu sprechen, einfach mit hierher gezerrt. Ich kenne buchstäblich niemanden von euch. Aber alle kennen einander und haben eine lange Vergangenheit gemeinsam. Das ist... einfach ein wenig...“
„Einsam?“ Schlägt er vor, wobei ich lieber >frustrierend< oder >nervig< gebraucht hätte.
„So ähnlich, ja...“ Erwidere ich. „Aber ich halte keinen von euch für Killer, ehrlich.“ Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Calyle gibt einen seltsam, erstickten Laut von sich. „Haylee... Du kratzt bisher bloß an der Oberfläche, bei den Dingen, zu denen wir fähig sind. Nicht umsonst sind Engel die Krieger Gottes. Wie wir dir schon gesagt haben... In uns steckt ein erhebliches Stück unserer Väter... Falls man sie so nennen kann.“ Nein, vermutlich konnte man das nicht tun. Trotzdem verstand ich, worauf Calyle hinaus wollte.
„Aber trotzdem sind das unsere Mom´s! Wenn wir schon diese Kräfte besitzen, dann doch wohl, um sie zu beschützen, nicht wahr?“
Calyle blickt mir entschlossen in die Augen. „Genau. Wir würden niemals etwas böses an sie heran lassen!“ Sie sind alles, was wir haben!

VII – Von dunklen Tagen und lichten Sekunden...

Irgendwann nach Mittag hielt ich es in meinem Zimmer nicht mehr aus. Während ich mich umzog, sah Calyle unten nach, ob die Luft rein sei. Was genau ich mir darunter vorstellen durfte, wollte ich mir nicht einmal ausmalen, trotzdem war ich froh über seine Fürsorge.
Als ich unten ankam, brachen gerade Lysander, Katya und Tyrone aus dem Gebüsch und schienen sich fürchterlich wegen irgendetwas zu streiten. Dann brach Katya plötzlich in Tränen aus, Tyrone musste sie trösten und selbst Lysander tätschelte leicht ihre Schulter.
„Was ist denn los?“ Frage ich Calyle, der das Spektakel von der Terrasse aus beobachtet hatte.
„Keine Ahnung.“ Als Lysander endlich näher kam, nickte Calyle ihm zu. „He, was ist mit Katya? Ist etwas passiert?“
„Habt ihr etwas gefunden?“ Frage ich nach und klammere mich mit einer Hand, ängstlich an Calyle´s Arm. Bitte... Mehr Tiefschläge ertrug ich einfach heute einfach nicht mehr!
„Nein, das ist es ja. Wir suchen schon seit Stunden, aber können nichts finden, außer unsere eigenen Fußspuren. Ryan... hat eine blöde Aussage gemacht, da hat sie ihm eine gescheuert.“
Calyle stöhnt sichtlich genervt. „Es wundert mich, dass es überhaupt so lange gedauert hat. Normalerweise geraten sie schneller aneinander.“
So ungern ich sie auch beim Herumalbern störte, musste ich einfach das Thema zurück auf meine Mutter lenken. „Also habt ihr nichts gefunden?“
Lysander, der sein halblanges, gefärbtes Haar heute einmal nicht gestylt trug, sondern einfach bloß hinten zu einem losen Zopf gebunden, schüttelt betroffen den Kopf. „Nein, tut mir leid, Haylee. A-Aber in meinen Augen bedeutet das bloß, dass sie ein gutes Versteck gefunden hat und in Sicherheit ist! Edna wartet ganz bestimmt nur darauf, dass wir sie finden.“
So lieb Lysander´s hoffnungsvollen Worte auch gemeint waren... Ein Blick zum See reichte, um mir wieder die Tränen in die Augen zu treiben. Etwas entfernt von unserem Steg, waren gerade Taucher damit beschäftigt, den Grund abzusuchen... Das gab mir erneut den Rest.
Himmel noch eins! Wie konnten die bloß annehmen, jemand hätte meine Mutter in den verfluchten See geworfen?
„Haylee! Nicht weinen! Komm schon, sie müssen einfach jede Möglichkeit ausschließen!“ Tröstend zieht mich Calyle in eine Umarmung, in der ich sein frisches T-Shirt ebenfalls nass machte. Na toll... Kein Wunder, dass mich kein Kerl attraktiv fand, wenn ich stets etwas Ekelhaftes tat.
„Hier, Taschentücher.“ Lysander drückte sie Calyle in die Hand, dann flüchtete er so schnell, wie bei Katya. Offenbar ertrug er Geheul nicht wirklich.
„Ach, Haylee...“ Seufzt Calyle, während er meinen Hinterkopf mit einer Hand streichelte. „Es tut mir so leid... Ich hätte dich nicht hinunter lassen sollen.“
Ich schüttle leicht den Kopf an seiner Schulter. „Nein, ich muss raus. Ich... Ich kann nicht nur dort oben in meinem Bett sitzen und warten, als ginge mich das alles überhaupt nichts an!“ Entgegne ich und versuche verzweifelt meine Tränen zu stoppen.
„Unsinn! Es geht dich selbstverständlich etwas an, Haylee! Immerhin ist es deine Mutter! Und gerade deshalb müssen wir dich in Sicherheit wissen! Deine Mutter würde nicht wollen, dass dir irgendetwas geschieht! Das würde sie nicht ertragen. Dafür liebt sie dich viel zu sehr, ja?“ Er hatte mein Gesicht zwischen seine Hände genommen und wischte die Tränen mit seinen Daumen fort. „Hast du mich gehört?“ Ich nicke stockend. „Der Gedanke an dich wird sie so lange stärken, bis sie gefunden wird, oder wieder hierher kommen kann! Das versichere ich dir.“
Ich ließ zu, dass Calyle´s positives Denken mich erreichte und genoss es, als er seine Stirn gegen meine senkt. „Danke... Calyle...“ Schniefe ich und schließe meine Augen. Seine Nähe tat so gut... Sie war beinahe wie Balsam für mein brechendes Herz.
Jäh wurden wir unterbrochen, als Katya neben uns erschien. Sie sah wie eh und je, wunderschön aus. Ihr langes Haar, hing ihr offen über die olivfarbene Weste. Zwar waren ihre Augen etwas vom Weinen gerötet, doch selbst das erlaubte es ihr nicht, an Eleganz abzunehmen. Auf ihrem Kopf trug sie eine Anglermütze, um sich vor der Sonne zu schützen, und ihre langen Beine steckten in einer, ebenfalls olivfarbenen Jogginghose. Offenbar hatte sie sich heute völlig dem Wald angepasst und auf Kettchen verzichtet. Dafür jedoch trug sie einen tiefen Ausschnitt, welchen ich schon beinahe als empört empfand. Aber wer war ich schon, der darüber urteilen durfte? „Haylee!“ Stürmisch fiel sie mir, um den Hals, sodass Calyle, gezwungenermaßen, zurückweichen musste, sehr zu meinem Missfallen! „Es ist so schrecklich! Ich wünschte ich könnte sie für dich Gesund und Munter einfach herzaubern!“ Schnieft sie, woraufhin auch ich wieder weinen muss.
Ich bin doch echt ein Arsch! Eben ärgere ich mich noch, weil sie so hübsch ist, und das an einem so schrecklichen Tag, dabei hat Katya ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Suche nach meiner Mutter konzentriert. Dankbar umarme ich sie meinerseits fester. „Danke, dass du auch mit suchst, Katya.“ Schniefe ich in ihr Haar und sie beginnt mich sanft hin und her zu wiegen.
„Natürlich! Ich würde doch alles für euch tun! Deine Mutter war wie eine Schwester für meine Mom und meine Tanten. Das heißt, du bist auch meine Schwester. So wie alle anderen hier. Ich wünschte nur, ich könnte viel mehr tun. Scheiß Engelsgene! Sie machen uns so mächtig... aber trotzdem...“
Wir liegen uns weinend in den Armen. Katya kann überhaupt nicht mehr aufhören, den Engeln leise Vorwürfe zu machen, bis Tyrone sie auffordert endlich mit in die Küche zu kommen. In diesem Moment löse ich mich auch bloß sehr schwer von Katya. Es war fast so, als würde man mir Jemma, meine beste Freundin wegnehmen, die immer für mich da gewesen ist. Doch... Jemma ist nicht hier. Sie war es nicht, die mich tröstete und die verdammten Engel verfluchte, oder Dämonen und Geister! Nein, es war Katya, die halb daran zerbrach, mir nicht helfen zu können, so wie Calyle. Nur, dass Letzterer es etwas... männlicher hinnahm.
Als Tyrone uns endlich voneinander gelöst hatte, um sich um seine aufgelöste Freundin zu kümmern, nimmt Calyle mich wieder in den Arm, was sich noch viel besser anfühlte. Calyle drehte sich sogar so, dass ich nicht mehr zu den Tauchern sehen konnte, sondern bloß noch in den Wald hinein, hinauf zum Himmel, oder zur Küche, wo Katya bloß kleine Schlucke Wasser zu sich nahm, während Tyrone durchgehend ihre Tränen trocknete.
Jetzt erst verstand ich, wie verbunden hier alle waren. Wie nahe sie sich überhaupt standen, und wie sie miteinander litten. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Mit dieser Intensität an Nähe, konnte ich doch unmöglich mithalten, oder? Wie sollte ich hier, ohne Mutter bloß hinein passen?
Mama... Was tat ich bloß ohne sie? Was würde aus mir werden?
Calyle hatte stützend einen Arm, um meine Taille und eine, um meine Schultern geschlungen. Ich stand mit dem Rücken an ihn gelehnt da und fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis meine Mutter einfach aus dem Wald stolperte? Würde sie aufgelöst sein? Erleichtert?
Da! Es raschelte erneut! Für einen Augenblick hielt ich die Luft an und stellte mir einfach vor, dass sie es sei! Unverletzt. In Sicherheit. Zurück nach Hause kam!
Stattdessen war es Olive und Marie, welche recht erledigt aus dem Wald traten. Ich stieß enttäuscht die Luft aus.
„Haylee, ist es für dich in Ordnung, wenn ich dich einen Moment alleine lasse? Ich würde gern...“ Er deutete mit einem Nicken zu seiner Mutter.
Die Tränen in die Ärmel von Calyle´s Pullover wischend, nicke ich. „J-Ja klar. Natürlich, geh nur.“
„Ich bin auch in einer Minute wieder da.“ Schwor er und wischt im Vorbeigehen noch eine vergessene Träne fort. Leicht verlegen sehe ich Calyle hinterher, wie er zu seiner Mutter joggt, die ihn gegen seinen Willen in eine herzhafte Umarmung schloss. Auch ihr Haar war einmal nicht gelockt und hüpfte adrett um ihre blasse, zierliche Gestalt, sondern hing traurig, einfach über ihre Schultern hinab.
Kurz redet Calyle mit ihr, während Olive zu mir auf die Terrasse kommt. „Hallo, Schätzchen. Na, wie geht es dir?“
Als wäre meine Mutter einfach... fort? „Es geht.“ Lüge ich und das sah sie mir auch zweifellos an.
„Komm, ich mache uns einen warmen Eintopf. So wie ihn deine Mutter früher gemocht hat. Willst du mir dabei helfen?“
Ich nicke eifrig und folge ihr in die Küche, wo Tyrone gerade dabei war ein Sandwich fertig zu belegen. „Esst nicht zu viel. Wir machen jetzt einen Eintopf. Nach Edna´s Art.“
Aufmunternd lächelt Olive mir zu, bevor sie mir kleinere Anweisungen gibt, wie zu Schneiden und zu schälen. Das ist alles, was wir tun. Katya und Tyrone gehen mit dieser kleinen Stärkung weiter suchen, während Calyle zu uns in die Küche stolpert. Ohne zu zögern, nimmt auch er ein Messer in die Hand und beginnt zu schneiden, was ich bereits geschält habe.
„Na, Kinder. Das riecht aber schon gut. Was wird das?“ Olive hatte Calyle und mich alleine gelassen, um sich etwas zu waschen und zweifellos ein wenig zu weinen... In der Zwischenzeit rührte ich um und Calyle lehnte neben mir, an der Theke. Den vorübergehenden Abwasch hatte er bereits in den Geschirrspüler gestapelt, und behauptete, er würde mir lieber dabei zusehen, als noch etwas zu schneiden. Was ich jedoch recht gut nachempfinden konnte. Ich besaß bereits zwei Pflaster... an einem Finger!
„Edna´s Eintopf, aus ihrer Kindheit. Olive hat ihn gemacht, wir rühren lediglich.“ Erklärt Calyle untertreibend.
„Zu zweit? Mit einem Löffel?“ Fragt Celiné etwas überrascht.
„Nein, wir haben vorher beim schneiden geholfen. Ich rühre um und Calyle ist bereits mit dem Geschirrspüler fertig, er wartet bloß, dass er fertig wird.“
„Und ich sehe dir derweilen zu. Das machst du übrigens hervorragend. Tolle Technik.“
Leicht amüsiert, von seinem Versuch mich zum Lachen zu bringen, schenke ich ihm ein schwaches, verlegenes Lächeln. „Ha. Ha.“ Erwidere ich und bekam dafür ein herrliches Lächeln geschenkt.
Ob ich meine Mom wohl jemals wieder lächeln sehen werde... Fit wie in den letzten Tagen? Scherzend und kochend? Sofort verschwindet mein Lächeln wieder und ich sehe wieder in den großen Kochtopf.
„Ach, Liebes. Wenn du in die Suppe weinst, versalzt du sie noch.“ Sanft schob Celiné mich zur Seite und drückte Calyle den Kochlöffel stattdessen in die Hand. „Komm, ich heitere dich ein wenig auf. Setz dich. Setz dich!“ Fordert sie mich auf und schiebt mich zum Esstisch.
Etwas verwirrt, doch dankbar dafür endlich sitzen zu können, lasse ich mich auf einen Stuhl fallen. Celiné nimmt den neben mir und zückt ihre Karten, welche sie in der Innentasche ihrer Regenjacke mit sich geführt hatte. „Trägst du immer diese Karten mit dir herum?“
„Natürlich. Man weiß nie, wann sie einem etwas interessantes zu berichten haben.“
„Aber Karten reden nicht... oder können in die Zukunft sehen.“ Bemerke ich, etwas traurig darüber, dass so etwas tatsächlich nicht möglich war. Was würde ich dafür geben, um meine Mom zu finden... Bloß ein winziger Hinweis!
„Natürlich tun sie das nicht. Aber ich nehme Energien wahr. Das konnte ich schon, als kleines Kind, und in den Jahren lernte ich, diese Energien über die Karten wiederzugeben.“
„Blödsinn.“ Meckert Calyle im Hintergrund. Da waren wir offensichtlich einer Meinung!
„Klappe auf den billigen Plätzen!“ Gibt Celiné unberührt zurück und drückt mir ihre Karten in die Hand. „Misch sie.“
Hilfesuchend wende ich mich an Calyle, doch der zuckt bloß mit den Schultern. „Bring es einfach hinter dich, dann gibt sie Ruhe. Karten zu legen, ist so etwas wie ihr Hobby.“
„Es ist mein Beruf, Calyle!“ Celiné schien viel mehr erheitert über Calyle´s Ungläubigkeit zu sein, anstatt verletzt, was ich interessant fand. Daher mischte ich die Karten. In meinen Gedanken rief ich dabei die letzten Tage auf. Ich erinnerte mich so fest, wie nur möglich an meine lächelnde Mutter. Rufe mir ihre gute Laune auf. Wünsche mir so fest wie nur möglich, dass es ihr gut geht, und reiche dann Celiné die Karten wieder zurück.
„Du weißt hoffentlich, dass ich die Energien bloß von den anwesenden Personen bestimmen kann? Auch, wenn du dir wünschen solltest, dass die Karten dir etwas über deine Mutter sagen... so werden sie bloß über dich sprechen.“
„Ach, ich dachte du seist das Medium, und nicht deine Karten.“ Spottet Calyle wieder.
„Ich bin kein Medium, Calyle!“ Widerspricht Celiné, als täte sie dies nicht zum Ersten mal. „Medien kommunizieren mit den zurück gebliebenen Geistern, hier auf der Erde. Ich jedoch bin dazu fähig Energien wahrzunehmen. Die Energien von Menschen! Mit Geistern habe ich nichts am Hut. Die sind auf einer anderen Daseinsebene.“ Sie tat es völlig gleichgültig ab und ich fragte mich langsam, wer hier den Knacks gehabt haben mag. Meine Mutter, oder Celiné?
„Na gut, dann legen wir mal los.“ Celiné zieht drei Karten von meinem Stapel und legt sie direkt vor mir hin. „Dreh einen nach dem anderen um. Der Erste ist die Gegenwart.“
Ich halte in der Bewegung inne und sehe sie überrascht an. „Die Gegenwart? Fängt man nicht in der Vergangenheit an?“
Celiné runzelt die Stirn. „Weshalb solltest du denn wissen wollen, was in der Vergangenheit geschehen ist? Das hast du doch selbst erlebt, daher ist so etwas völlig unnötig.“
Ich gebe einen verstehenden Laut von mir. Das klang überraschend einleuchtend. Ich drehe die erste Karte, zu meiner Linken um.
>Der Bube<.
„Aha...“ Gibt Celiné etwas irritiert von sich. „Deine Energie hat sich in der Tat radikal geändert.“
Calyle gibt einen genervten Ton von sich. „Ist das ein Wunder? Haylee geht es nicht gut.“
Celiné winkte ihm einfach, dass er still sein solle, und deutete auf die nächste Karte. „Sie zeigt die Zukunft, dreh sie um.“
Ich fragte mich, was nach der Zukunft wohl kommen möge und drehte, wie gefordert, die mittlere Karte um.
>Die Stäbe<.
„Wirklich seltsam... sehr mysteriös. Jetzt die letzte.“
Wirklich? Sie speiste mich erneut ohne eine Antwort ab? Die Augen verdrehend, griff ich nach der Letzten, welche mich jedoch zusammenzucken ließ.
>Der Gehängte<
„W-Was bedeutet das?“
Celiné nimmt die Karte in ihre Hand, während Calyle zu mir kommt und eine Hand auf meine Schulter legt. Auch ohne ihn anzusehen, spüre ich den vorwurfsvollen Blick, welcher von ihm ausging. „Hm...“ Macht sie und runzelt nachdenklich ihre Stirn.
„Was bedeutet das, Celiné?“ Erkundigt sich nun Calyle nachdrücklicher, was sie aufsehen ließ.
„Sie ist Haylee´s neues Schicksal.“ Dabei dreht sie die Karte in meine Richtung und blickt mich ernst an. „Bisher war die Liebenden dein Schicksal. Zumindest bei meiner letzten Legung. Jetzt hat jemand dein Leben beeinflusst, sodass sich dein Schicksal umgeschrieben hat.“ Sie deutet auf die erste Karte. Der Bube. „Du wirst einen mächtigen Kampf bestreiten müssen. Entweder in dir, oder... gegen jemanden sehr üblen.“ Celiné brauchte überhaupt nicht auf die Stäbe zu zeigen, um mir zu verdeutlichen, auf welche Karte sie sich hierbei bezog. „Und dein Schicksal wird es sein, diese Ungerechtigkeit aufzuklären. Das Böse offen zu legen, oder daran zu zerbrechen. Damit hätte sich auch dein Schicksal mit den Liebenden erledigt, Mäuschen.“
Ich fühlte, wie sich mein Körper plötzlich ganz kalt anfühlte. Jemand hatte mein Schicksal verändert? Jemand hatte es bewusst zerstört, mich fortgejagt von meinem Happy End und stattdessen einen Krieg daraus gemacht... Eine Vorahnung sagte mir, dass ich Celiné das alles glauben durfte. Die Skeptikerin in mir, schloss sich jedoch Calyle´s Worten an. „Also wirklich. Du machst nichts, außer das offensichtliche Ansprechen. Jemand hat versucht Haylee´s Mutter etwas anzutun, natürlich hat sie das traumatisiert. Und anstatt eine schöne Zeit, mit ihrer Familie, steht sie große Ängste aus und legt alles daran, ihre Mutter zu finden. Das ist doch weit mehr als offensichtlich. Haylee, bitte sag mir, dass du das nicht glaubst! Das ist doch bloß Lächerlich.“
Ich blicke auf in Calyle´s auffordernden Blick. Er ging also davon aus, dass ich ihm in diesem Detail zustimme. So unlogisch klang seine Behauptung jedoch auch nicht! Sie klang wesentlich plausibler als eine nette Geschichte, bestehend aus Kartencharakteren.
Statt eine Antwort zu geben, seufze ich bloß und stehe auf. „I-Ich glaube nicht, dass ich das im Moment beantworten kann...“
„Warte, lass es mich noch einmal probieren.“ Celiné legt die Karten zurück auf den Stapel und reicht ihn mir erneut. „Nur noch einmal. Mische ihn, für mich, bitte!“
Kurz wechsle ich einen Blick mit Calyle, doch ich wollte nicht so abweisend dem hier gegenüber sein, wie er. Nicht, dass ich großartig an das Karten legen glaube... oder gar an Wahrsager! Nein, das selbstverständlich nicht. Aber ich gab zu, dass es einen gewissen Reiz ausübte.
Calyle verdreht, sichtbar genervt, die Augen und geht weiter den Eintopf umrühren. Ich mische derweilen die Karten und lege sie dann wieder vor Celiné. Sie deckt wie beim ersten Mal, wieder drei Karten auf, legt jedoch darunter noch zwei. „Ich weiß, vorher waren es bloß drei, aber da nahm ich auch noch an, dass dein Schicksal immer noch dasselbe sei.“
„Doch es hat sich verändert.“ Bemerke ich, woraufhin sie zustimmend nickte und die erste aufdeckte.
>Der Bube<
Die zweite Karte ließ mich schon die Brauen hochziehen.
>Die Stäbe<
Wie machte sie das bloß? Die Chance alle drei Karten, im zweiten Durchgang exakt gleich zu ziehen... ich konnte nicht ausrechnen, wie hoch diese Wahrscheinlichkeit war, doch viel zu hoch, für meinen Geschmack.
>Der Gehängte<
„Das sind... dieselben Karten?“ Frage ich verblüfft.
„Ganz genau. Eine wahre Kartenlegerin, die auch die Affinität zu menschlichen Energien hat und sie nicht bloß vortäuscht, wird stets dieselben Karten für denselben Menschen ziehen.“ Erklärt Celine und wendet dabei die vierte Karte um.
>Der Turm<
Gefolgt von einer Karte, die ich bereits kannte...
>Die Liebenden<
„Das ist das schlechteste... so wie das Beste, was dir dein Schicksal verspricht.“ Sie deutet auf den Buben. „Wenn du ihn nicht besiegst...“ Ihr Finger gleitet zum Turm. „Wird er für dich Zwang und Zusammenbruch bedeuten. Wenn du aber dein Schicksal positiv abänderst, kannst du doch noch dein Happy End bekommen.“ Sie deutet auf die Liebenden. Eine Karte, welche mein Herz höher springen ließ.
„Wenn ich also meine Mutter nicht finde, oder vor dem bösen >Buben< rette, wird meine Welt zusammen brechen?“
„Das ist genauso offensichtlich gewesen!“ Murrt Calyle im Hintergrund.
„Nein, die Liebenden...“ Sie deutet auf die besagte Karte. „...stehen eins zu eins für das, was du darin erkennst. Auch auf dich wartet eine solche Liebe, wie Katya und Tyrone sie gefunden haben. Für die beiden sah ich nämlich ebenfalls stets dasselbe Schicksal. Damals begriff ich es noch nicht... Aber seit die beiden ihr Band zueinander entdeckt haben, ist es doch recht offensichtlich zu erkennen gewesen.“
Mein Herz sprang im Dreieck. Eine Liebe, wie die zwischen Tyrone und Katya? So etwas wünschte sich doch jedes Mädchen, oder nicht? Ob es bedeutete, dass ich meinen perfekten Adam zurückbekam? Oder ging es darin, um meine neuen Gefühle, für Calyle? Nachdenklich stützte ich den Arm auf. Vielleicht sollte Calyle bloß meine Sommerliebe sein, die mir verdeutlichte, wie wichtig mir Adam sein würde?
„Da denkst du noch groß darüber nach?“ Celiné lachte laut auf und ich wechselte einen irritierten Blick mit Calyle, welcher ebenso wenig verstand, wie ich.
Kopfschüttelnd sammelte die Kartenlegerin ihre Karten ein und steckte sie zurück in ihre innere Tasche der Regenjacke.
Nachdem sie beim Kühlschrank gewesen war und sich eine Flasche kühles Wasser gesichert hatte, verschwand sie hinaus auf die Terrasse. Ich ging derweilen zurück an Calyle´s Seite. „Woher soll ich denn bitte wissen, für wen ich bestimmt sein soll?“ Murre ich möglichst leise und verschränke leicht beleidigt meine Arme vor dem Brustkorb.
„Möchtest du?“
Ich war so vertieft in diesen seltsamen Gedanken, dass irgendwo da draußen mein Seelengefährte wartete, dass ich Calyle´s Frage völlig falsch verstand und rot anlief. „W-Was?“
„Kosten? Ich finde, sie ist lecker geworden. Überraschend würzig sogar.“
Ach der Eintopf! Ich reibe mir frustriert über die Nase. „Nein... Ich wünschte viel eher, meine Mom wäre hier. Dann wäre mein Schicksal wenigstens wieder ein Happy End.“
„Also, um ehrlich zu sein, fände ich es traurig, wenn mein Leben in einem Happy End enden würde.“
Ich mustere Calyle überrascht. „Warum denn?“
„Na wenn mein Leben dann endet, wenn ich meine große Liebe finde... ich weiß ja nicht. Das klingt total unbefriedigend.“
Ich verstand, worauf er hinaus wollte. „Oder du verbringst den Rest deines Lebens an der Seite deiner großen Liebe, mit der Zeit deines Lebens. Das klingt doch viel besser, oder?“
Calyle lächelte mich mit funkelnden Augen an. „So etwas finden aber auch bloß Romantiker erfüllend.“ Daraufhin bläst er sanft auf den Kochlöffel, bis es kühl genug war, dass ich kosten konnte. Auffordernd hielt er mir den Kochlöffel vor die Lippen. Neugierig geworden, nehme ich mir einen kleinen Teil davon, um mir nicht die Zunge zu verbrennen, und staunte nicht schlecht.
„Mh! Ausgezeichnet! Du solltest Profikochtopfrührer werden.“ Neckte ich Calyle, so wie er mich zuvor.
„Ich habe eben von der Besten gelernt.“ Scherzt er zurück, woraufhin ein Würgelaut erklang. „Oh bitte!“ Lucy lässt ihren Rucksack oder vielmehr den ihrer Mutter, auf den Boden, neben der Glastüre fallen. „Ihr seid ja beinahe schon so ekelhaft wie Kathyrone!“
Ich werde rot, während Calyle bloß verwirrt die Brauen hochzieht. „Wie wer?“
„Katya und Tyrone. Ich nenne sie hinter ihrem Rücken Kathyrone. Namensfusion?“ Hilft Lucy weiter nach, während Calyle weiterhin auf der Leitung stand. Als er endlich verstand, was sie meinte, wurde auch er rot.
„So ist es nicht! Ich versuche bloß Haylee aufzuheitern.“ Rechtfertigt er sich.
„Oh ja, klar. Und danach ist dir die liebenswürdige Haylee so unendlich dankbar, dass sich glatt in dich verliebt.“ Mit zwei Händen verscheuchte sie Calyle. „Jetzt ist es aber genug mit euren Hormonen. Zieh ab und mach etwas nützliches. Ich kümmere mich ab jetzt um Haylee. In solchen Moment braucht ein Mädchen seine Freundin. Keinen sexbesessenen Kerl!“
Calyle sieht Lucy unheimlich wütend an. „Du weißt, ich würde so etwas niemals ausnutzen! Besonders, an einem Tag wie diesem, würde ich nicht an so etwas auch bloß denken! Das ist einfach nur widerlich!“
Da konnte ich Calyle bloß beipflichten. Lucy jedoch grinste hinterhältig. „Hör auf dich vor der Arbeit zu drücken, Calyle! Du hast in den letzten Jahren mehr Krimis gelesen, als wir alle gemeinsam überhaupt kennen. Nutz dein Wissen und hilf Haylee indem du das tust, was du besser kannst, als trösten. Darin bist du ohnehin eine Niete.“
Calyle schien es nicht einmal in Erwägung zu ziehen, mich alleine zu lassen. „Vergiss es. Ich habe Haylee versprochen auf sie aufzupassen!“
„Haylee ist kein Baby mehr. Außerdem sind eh wir da. Katya! Komm her!“
Katya war gerade erst die Treppe hinab gestiegen, als Lucy sie zu sich rief. Sofort stellte diese sich neben Lucy, als undurchdringbare Barriere zwischen Calyle und mir.
„Egal, um was es geht, ich stehe auf Lucy´s Seite.“ Bemerkte Katya auf meinen fragenden Blick hin.
„Es gibt überhaupt keine Seiten.“ Außerdem wollte ich niemand lieber als Calyle auf meiner Seite wissen... wenn es denn welche gäbe.
„Unsinn! Ich habe ganz genau gesehen, dass Calyle Haylee angebaggert hat. Und du stimmst mir doch zu, dass das der möglichst schmierigste Moment ist, um sich an die arme Haylee heranzumachen, nicht wahr?“
„Calyle!“ Empört sich Katya.
„So war das doch überhaupt nicht!“ Rufe ich, ungehört im Hintergrund aus.
„So kenne ich dich doch überhaupt nicht. Was soll das denn?“
„I-Ich habe Haylee überhaupt nicht angebaggert! Ich habe den ganzen Tag versucht sie zu trösten und abzulenken! Mehr habe ich überhaupt nicht getan!“
„Das kann ich bezeugen!“ Werfe ich erneut ein... mal wieder unbeachtet!
„Jetzt wo du es sagst... Du hattest vorhin schon die ganze Zeit deine Hände an Haylee, als Tyrone und ich aus dem Wald gekommen sind. Was denkst du dir eigentlich dabei?“
Calyle wurde buchstäblich rot wie eine Tomate. „Wenn dann, seid ihr hier die Geschmacklosen! Ich käme nicht einmal auf den Gedanken Haylee anzubaggern, während sie ihre Mutter vermisst. So etwas ist mir nicht einmal ansatzweise in den Sinn gekommen! In keiner einzigen Sekunde!“
Lucy griff sich entsetzt auf den Brustkorb. „Du bist aber gemein!“ Augenblicklich nahm sie mich in den Arm und drückte mich fest. „Auch Mädchen die verweint sind, sind sehr attraktiv! Wie kannst du es wagen, sie dermaßen zu beleidigen?“
Auch Katya schüttelte enttäuscht über Calyle den Kopf. „Du bist widerlich. Ich kenne dich überhaupt nicht mehr! Los, hopp hopp und tu etwas, was Nerds eben so tun!“ Dann wendet sie sich mir zu und kann kaum noch ein Grinsen verstecken. Ich verdrehe genervt die Augen.
„Ihr seid echt gemein.“ Bemerke ich erkennend, was hier vor sich ging.
Lucy gluckste amüsiert in mein Haar. „Oh Mann, habt ihr sein Gesicht gesehen?“
Calyle stöhnte genervt. „Blöde Mädchen! Welcher Sadist hat euch bloß erschaffen.“ Damit stampft er hinaus, auf die Terrasse, und mähte dabei beinahe Odette um, die zwei silberne Koffer mit sich herum trug.
„Er hat sich den ganzen Tag total lieb um mich gekümmert und ihr verarscht ihn? Mit solchen Freunden braucht man echt keine Feinde mehr.“ Ich schüttle amüsiert den Kopf.
„He, es hat dich auf jeden Fall zum Lachen gebracht und dich total abgelenkt. Gib es zu!“ Forderte Lucy amüsiert.
Katya schnuppert währenddessen am Eintopf und schaltet den Herd aus. „Entschuldige, aber wir bekommen so selten die Gelegenheit, Calyle mal so richtig auf den Arm zu nehmen. Das mussten wir ausnutzen. Oh, und danke Lucy, für den Wink. Das wollte ich mir echt nicht entgehen lassen.“ Beide Mädchen kicherten, als ich die Teller aus dem Schrank holte, für uns drei.
„Ich weiß, das Timing war total schlecht... aber trotzdem aufgelegt, nicht wahr? Tut mir ehrlich leid, Haylee.“
Ja, das Timing, um Calyle zu ärgern, war tatsächlich sehr mies gewählt. „He, wenigstens hat es mich einige Augenblicke lang, völlig abgelenkt. Und Calyle´s Gesichtsausdruck war tatsächlich... amüsant.“
Die beiden kicherten erneut, sogar noch, bis Odette und Olive an den Tisch zu uns stießen.
Während ich jedoch an der Seite der beiden Mom´s aß... vermisste ich plötzlich wieder meine so unglaublich, dass ich kaum die Tränen zurückhalten konnte. Alle gaben sich wirklich Mühe. Meine Gefühlswelt war heute ein pures auf und ab, dank den Leuten um mich herum. Calyle´s Aufmunterungsversuche und sein Trost. Katya´s und Lucy´s gemeinem Scherz. Und sogar Celiné´s Kartenlegung, gaben mir jede Menge Stoff, worüber ich nachzudenken hatte. Ablenkungen, die für den Moment guttaten, doch der Schmerz, welcher immer augenblicklich darauf folgte, war einfach... unbeschreiblich.
Gegen Abend brachen die Taucher ihre Suche erfolglos ab, worüber ich mehr als nur erleichtert war. Die Polizei sah noch ein paarmal nach uns. Stellt teilweise weitere Fragen, doch ich saß lediglich am Balkon und wartete. Wenn ich nicht gerade in ein völlig belangloses Gespräch von irgendjemanden verwickelt wurde, dann suchte ich mit meinem Blick, die Landschaft ab.
Mehrmals wurde ich sogar aufgefordert, ins Bett zu gehen, jedoch weigerte ich mich stur. Oben im Zimmer, würde ich nicht sehen, wenn meine Mom heimkam. Dort oben, wäre ich nicht die Erste, die sie erleichtert in die Arme schloss.
Aber hier unten... hier auf der Terrasse, da würde ich sie sehen. Das Licht würde für sie an bleiben, damit sie nach Hause, zu mir, finden konnte!
Natürlich ließ es Calyle, als er aus dem Wald zurückkam, sich nicht nehmen, mir weiter aus dem Buch vorzulesen. Ich holte uns lediglich Decken und Polster, mit denen wir es uns auf den Liegen bequem machten und so wartete ich schlussendlich. Ich wartete und weinte zwischendurch. Hin und wieder schniefte ich bloß vor mich hin, bis Calyle eine Hand auf meinen Fuß legte, um meine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Er hatte bereits seit einiger Zeit das Lesen aufgegeben und sich hingelegt, um zu schlafen. Scheinbar jedoch, hielt mein Heulen ihn davon ab. Oder lag es an der Aufregung?
„Die Sonne geht gleich auf. Willst du dich sicher nicht noch ein paar Stunden oben hinlegen?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich warte hier auf sie... bis sie nach Hause kommt...“

 

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Härter könnte dieser Morgen kaum sein. Nicht bloß, dass Haylee bereits seit einem Tag kein Wort mehr gesprochen hatte und sich von Calyle nicht einmal mehr ein schwaches Lächeln abringen ließ... Nun hatte einer der Erwachsenen auch noch die Aufgabe, ihr beizubringen, dass Edna überhaupt nicht mehr nach Hause kommen würde.
Calyle sah vom Polizisten, welcher eben die Nachricht überbrachte, hinaus zum See, an welchem Haylee stand und einfach bloß geistesabwesend ins Wasser starrte. Fast seit drei Tagen hatte sie das Haus lediglich betreten, um sich zu waschen oder etwas zu essen. Sonst hatte sie wache gestanden und auf ihre Mutter gewartet.
Olive, die sonst so stark war, brach in hysterisches Weinen aus. Katya hatte selbst Mühe, die Tränen zurückzuhalten, doch tröstete ihre Mutter, so gut wie es eben ging. Odette und Sandra lagen sich, trotz ihrer steten Neckereien in den Armen und heulten sich die Augen aus. Tyrone und Lucy blickten sich gegenseitig hilflos an, während sie versuchten auch ihre Eltern Trost zu spenden.
Celiné, welche mit Edna eigentlich auch recht gut klar gekommen war, tröstete Marie, Calyle´s Mutter, während Ryan mit seiner Mutter Fiona, sich dazu entschied, bei der Identifikation dabei zu sein. Alle anderen ertrugen es im Moment. Abgesehen von Lysander und Josephine, versteht sich. Die beiden waren noch nie sonderlich gut darin gewesen, ihre waren Gefühle zu zeigen.
Zwar hatte Calyle bisher nicht viel mit Edna zu tun gehabt, doch seine Mutter Marie hatte stets liebevoll über diese Frau gesprochen. Ja fast andächtig. Marie war immer die Jüngste in der Runde gewesen, von den acht Frauen und hatte dabei zur starken Edna aufgesehen, als sei diese ihre große Schwester.
Edna´s plötzliches Verschwinden schien Marie etwas härter gemacht zu haben... zielstrebiger und Konsequenter. So kannte Calyle seine Mutter eigentlich auch. Sie war sparsam, aber lebte trotz allem gerne im Luxus. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte und es sich nahm.
Jetzt jedoch stand Calyle in einem unvorstellbarem Zwiespalt. Eigentlich sollte er seine Mutter trösten, oder mitfahren, Edna Identifizieren. Stattdessen zog es ihn mit Tränen in den Augen zu Haylee.
Es war noch früh am Morgen. Gerade einmal halb sieben... In der Nacht zuvor hatte es geregnet, weshalb Haylee nun mit einer Decke um die Schultern der Sonne zusah, wie diese über den See zog. Als sie Calyle´s Spiegelung im Wasser entdeckte, drehte sie sich zu ihm um. Augenblicklich wollte diese nichts lieber, als Calyle in den Arm zu nehmen, sobald sie seine Tränen erkannte, doch dazu war sie nicht fähig. Sie wusste sofort, was diese Tränen zu bedeuten hatten, und das ließ ihre gesamte Welt zusammen brechen.
„Nein!“ Stieß sie abweisend hervor und ging einen Schritt zurück. „Nein... Sie ist nicht...“ Sagte sie erneut und stemmte sich gegen Calyle, als dieser auf sie zukommen wollte. „Nein, Calyle! Sie kann nicht... Sie würde mich doch nie alleine lassen! Nie!“
Die Trauer nahm ihr jede Stärke, welche sie noch aufbringen konnte und sie fiel einfach vor Calyle auf die Knie. Unfähig noch etwas anderes zu sehen oder zu denken, als an ihre Mutter. Ihre geliebte Mutter, welche ihr mehrmals täglich den letzten Nerv geraubt hatte! Ihre Mutter, welche lachte. Ihr jeden verdammten Abend Spaghetti machte, bevor sie zur Arbeit ging...
Jetzt schaffte es Calyle, Haylee in den Arm zu nehmen. Er hockte sich vor sie und weinte stumm die Tränen, zu denen Haylee vor Schock nicht mehr fähig war. Sie erbebte, zitterte... Dann weinte auch sie. Ein lauter, verzweifelter Schrei drang über den See, ließ Vögel erschrocken auffliegen und für einen Moment bildeten sich beide ein, dass sogar die Insekten ihr Tun einstellten. Für eine ganz spezielle Trauerminute...
„Calyle... ich kann nicht... Ich kann nicht ohne sie...“
„Schon gut... Ich regle das.“ Schwor er, aber nicht nur ihr, sondern auch sich selbst. „Wir kümmern uns um dich. Wir sind deine Familie und für dich da.“ Versprach er und küsste sie flüchtig aufs Haar, knapp über ihrem Ohr. „Wir werden dich niemals alleine lassen. Wir sind alle eine Familie. Wir gehören zusammen.“
Dankbar für seine stockenden Worte kann Haylee nichts weiter als nicken. In ihrem Hals steckte ein dicker Kloß, ihre Brust droht zu zerspringen und ihre Welt zerbrach direkt vor ihr und Calyle in Millionen Splitter...
Etwas später am Abend, hatten sich Lucy, Haylee und Katya in Edna´s Zimmer eingeschlossen. Haylee wollte ihrer Mutter nahe sein und die beiden Mädchen sie nicht alleine lassen. Das hatte Calyle einsehen müssen und stimmte dem bloß deshalb zu, da sie nicht alleine sein würde. Die Mädchen passten auf sie auf.
Er selbst saß unten am Esstisch zwischen acht aufgelösten Müttern und drei Jungs, welche sich völlig fehl am Platz fühlten. Natürlich Olympia nicht zu vergessen, welche recht beleidigt wirkte. Was für ein Glück, in Calyle´s Augen.
„Ich würde vorschlagen, dass Haylee bei uns wohnen wird. Also... wenn sie das denn will.“ Sagte Marie als Erstes, denn aus genau diesem Grund war diese Sitzung einberufen worden. Sie wollten keinesfalls über Haylee´s Kopf hinweg entscheiden, doch ihr zumindest ihre Optionen aufzählen. Für sie alle, war Haylee deren Nichte, auch wenn sie sie noch nicht lange kannten.
„Das geht nicht.“ Erwidert Odette. „Du hast einen Sohn im Haus. Genauso wie Fiona und Josephine.“
„He!“ Beklagte sich Calyle etwas überrumpelt. „Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“
Celiné wirft Calyle einen vielsagenden Blick zu, woraufhin auch der einsah, dass er hierbei kein Mitspracherecht hatte, sondern bloß hier sitzen sollte und zuhören.
„Ich bin bloß an den Wochenenden daheim.“ Erwidert Ryan. „Von mir aus, kann sie mein Zimmer haben, dann schlafe ich eben auf der Couch. Kein Ding.“ Kam er den Müttern entgegen.
„Ich habe ebenfalls ein freies Zimmer. Katya wohnt schon so lange bei Tyrone und die beiden kommen lediglich zu den Feiertagen.“
„Ditto.“ Erwidert Sandra, welche Tyrone´s Mutter war.
„Ich würde ihre Miete übernehmen, so lange bis sie einen Job hat, wenn sie denn in ihrer kleinen Wohnung bleiben will, bis zum Ende ihres Studiums.“ Fügt Odette hinzu. „Oder es gleich für sie kaufen, ich sammle ohnehin gerne Immobilien.“
„Nein, ich glaube das würde sie nicht wollen.“ Bemerkt Fiona, welche sich eigentlich stets ruhig im Hintergrund aufhielt, mit einer leisen Stimme. Alle drehten sich überrascht zu ihr um, da sie bloß selten ein Wort verlor. „Haylee scheint mir ein stolzes und eigenständiges Mädchen zu sein. Sie ist aber auch temperamentvoll und wird weiterhin Führung brauchen. Edna konnte ja dank ihres dauerhaften Zustandes nicht wirklich an Haylee´s Temperament appellieren. Ich denke, dass sollte einer von uns ändern, solange es noch geht, sonst könnte sie noch auf der Straße landen. Ich weiß wie schnell so etwas geht. Die Hälfte meiner Patienten haben psychische Knicks, wegen mangelnder Erziehung.“
Calyle verdrehte die Augen. „Ich finde Mama´s Vorschlag am Besten. Haylee kennt mich und sie vertraut mir. Und Mama, du hast Edna immer so sehr respektiert. Du würdest dir ewig Vorwürfe machen, wenn du sie nicht aufnehmen würdest.“
Sie lächelte ihm dankbar zu. „Ich weiß... Ich bin verflucht starrköpfig... Aber leider haben die Damen recht. Du bist ein Junge und ich sehe selbst, dass dir viel an ihr liegt... Daher muss ich auf euch beide aufpassen.“
Calyle fühlte, wie die Röte in seine Wangen stieg. „Mom! Sie ist eine Freundin, eine... eine Schwester. Nicht mehr!“
Celiné schüttelte den Kopf. „Nein, Lucy ist deine Schwester und Katya. Ja sogar Olympia, wenn sie nicht gerade wieder versucht ihren Kopf durchzusetzen.“ Besagte wandte anteillos ihren Kopf ab. „Ich habe eure Karten gelegt, Calyle und sie sind gleich.“
„He, war das nicht bei...“ Begann Tyrone überrascht, doch wurde augenblicklich unterbrochen.
„Klappe, Sohn!“
Celiné warf Sabrina einen dankbaren Blick zu. „Nein, wenn dann kommen Olive, Fiona, Sabrina oder Odette, mit ihrer Mietidee in Frage.“
„E-Es ist wirklich nicht so!“ Schwor Calyle, doch fühlte sich dabei eher, wie ein quengelndes Kind, dem man eine Lüge in die Schuhe schieben wollte, als ein junger Mann, der bloß dachte, die Wahrheit zu sprechen. „Mom!“
„Keine Widerrede, Calyle.“
„Aber wir hätten doch die Garage. Die hast du doch ausgebaut, wegen deinem Zuchtgarten und darüber ist jetzt ein freier Raum. Damit wäre sie nicht im Haus, hätte immer noch ihren persönlichen Freiraum und... und...“ Calyle suchte nach weiteren Argumenten, doch sah ein, dass sich alle anderen bloß noch eigennützig anhören würden... „Verdammt.“ Er raufte sich das Haar. Celiné hatte recht, so ungern er es auch zugab. Besonders an einem so schrecklichen Tag, wie diesem.
„Schon gut.“ Marie streichelte sanft die Schulter ihres Sohnes. „Mach dir selbst keinen Stress, Großer. Ihr habt noch genügend Zeit, um euch kennen zu lernen.“
„Du darfst eben nur nicht... du weißt schon. Das Engelsding mit ihr machen, sonst ist es praktisch unmöglich euch voneinander fernzuhalten. Was rede ich da? Es ist buchstäblich unmöglich!“ Wirt Tyrone ein.
„Danke, nicht hilfreich!“ Meckert Calyle zurück, während dieser sich wie der größte Idiot vorkam.
„Okay, zurück zu Edna. Wir wissen jetzt, dass wir Möglichkeiten haben, Haylee auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen. Aber was ist mit unserer Freundin?“ Wirft Olive in den Raum. „Wie gehen wir jetzt mit alldem um? Ernsthaft... Ihr glaubt doch nicht der Polizei von wegen >verunglückter Raub< und dieser ganze Unsinn, oder?“
Olympia mischte ausnahmsweise wieder mit. „Dämonen und Geister können wir ausschließen. Vielleicht war es ja ein Throne?“
„Ne, die lassen Menschen in Ruhe. Sogar Nephilimmütter sind denen egal. Die Interessieren sich einzig an Mischlingen.“ Erwidert Tyrone überzeugt. „Außerdem hätten Katya und ich ja eine Aura wahrgenommen. Wir sind als letztes gekommen und haben Haylee mit hinein genommen, als sie draußen schlief. Kurz danach muss das mit Edna dann geschehen sein.“ Spätestens... Marie musste etwas bemerkt haben, trotz ihres Schocks, wegen all des Blutes.
„Ich muss euch gestehen... Ich glaube nicht das es ein Einbruch gewesen ist.“ Odette stand auf und warf ihren Stuhl dabei mit voller Absicht um, woraufhin dieser ein lautes Geräusch von sich gab. „Das hätten wir gehört, oder? Okay, vielleicht nicht das erste umgefallene Möbelstück. Aber erinnert euch wie viel umgeworfen worden war. Die Couch dort, einige Bilder, durch die Gegend geworfene Bücher! Ihr glaubt doch nicht, dass wir alle das verschlafen haben?“
„Haylee hat etwas von zwei Schreien gesagt.“ Wirft Calyle plötzlich in den Raum.
„Das ist wahr.“ Stimmt Olympia widerwillig mit ein. „Unser Zimmer liegt am Nächsten zur Treppe und unsere Türe ist, wie die der Jungs, immer offen, wenn wir schlafen. Ihr alle anderen, habt eure Zimmertüren zu gehabt und ich schwöre euch, da waren zwei Schreie. Zuerst der von Marie, als sie das Chaos sah. Dann noch mal von Katya, die im Gegensatz zu allen anderen, durch den ersten Schrei geweckt worden ist.“
„Ich habe nur Katyas gehört.“ Bemerkten die meisten.
Während die anderen nun über den Tathergang philosophierten, ergriff Tyrone die Chance und rutschte näher an Calyle heran. „He, wenn du über diese... ganze Sache mit dem Band quatschen willst. Ich kann dir einige Bedenken nehmen?“
Calyle, welcher bisher auf den Tathergang fixiert gewesen war, runzelt erst einmal die Stirn. Damit wollte er sich wirklich im Moment nicht beschäftigen. „I-Ich weiß ehrlich noch nicht was ich davon halten soll, Ty. Und außerdem spielt es doch ohnehin keine Rolle. Haylee hat derzeit größere Sorgen und ich... bin ohnehin kein Fan von diesem >für immer und ewig< Zeug.“
Tyrone grinst Calyle wissend an. „Oh, Mann! Du wirst es lieben, glaube mir.“
Ryan und Lysander, die es sich natürlich nicht hatten nehmen lassen zu lauschen, geben Würgelaute von sich. „Bitte nicht du auch noch! Tyrone und Katya sind ja schon schlimm genug, aber noch so ein kitschiges Paar, ertrage ich ehrlich nicht!“
„Außerdem wäre es schade. Haylee ist echt heiß... ´tschuldigun!“ Calyle hatte Lysander einen vernichtenden Blick zugeworfen und eine Faust geballt, ohne es zu merken. Als sich Lysander entschuldigte, griff sich Calyle an die Stirn.
„Verdammter Mist... Das ist doch lächerlich! Ich... Ich bin doch überhaupt nicht in sie verliebt oder so etwas.“
„Soll das ein Witz sein?“ Fragt Lysander etwas überrascht. „Katya und Lucy mussten dich vorhin praktisch aus dem Zimmer werfen, damit du nicht bei Haylee schläfst!“
„Ja weil ich angst habe, dass sie sich aus Trauer und Furcht irgendetwas antun könnte!“ Rechtfertigt sich Calyle.
„Du nutzt jede Gelegenheit, um sie zu berühren, oder in den Arm zu nehmen.“ Wirft Ryan nun ein. „Und deine ganze Aufmerksamkeit ist auf sie fixiert, anstatt deiner Bücher.“
„Stimmt, wann hast du das letzte Mal ein Buch angefangen? Und ließt du ihr immer noch dieses komische Illomaten-Ding vor?“
„Illuminati.“ Knurrt Calyle, doch er musste zugeben, dass die Jungs recht hatten. Haylee´s Weinen störte ihn nicht, sondern brachte ihn selbst dazu. Ihr trostloser Blick, brach ihm das Herz, er hatte ständig das Bedürfnis bei ihr sein zu wollen und konnte sich nicht einmal mehr auf ein Buch in Ruhe konzentrieren. Sonst brachte ihn absolut nichts davon ab. „A-Außerdem... sind es besondere Umstände! Jemand hat Edna ermordet! Eine unserer Mom´s!“ Fügte er hinzu, was alle Jungs wieder nachdenklich stimmte. Egal was er argumentierte... Sie hatten ja doch recht. Calyle hatte es total erwischt und das jagte ihm eine Höllenangst ein. „Bei dir und Katya hat es doch auch über ein Jahrzehnt gedauert!“ Kommt es plötzlich von Calyle.
Tyrone schmunzelte. „Sie ist auch, als meine Schwester in derselben Straße aufgewachsen. In seine eigene Schwester verknallt man sich nicht.“
Calyle seufzte. „Also war es nur das Band, was euch zueinander gezwungen hat? Klingt nicht nach der großen Liebe und diesen Kitsch.“
Sein Lächeln wurde noch breiter. „Kumpel... Natürlich fand ich Katya heiß! Hast du sie dir einmal angesehen?“ Calyle verzog das Gesicht. Nein, denn für ihn war Katya, genauso wie Lucy eine Schwester. „Viele in der Schule sagten mir dauernd, wie glücklich ich mich schätzen konnte, mit einem Modell so vertraut zu sein und ständig wollten sie uns verkuppeln. Wir fanden es jedoch komisch. Und... ich gebe zu, wir haben uns einmal, als wir betrunken gewesen sind, geküsst. Aber dadurch, dass wir alle als Geschwister erzogen worden sind... Ich meine, ja. Klar wäre es irgendwann so weit gekommen und wir... wären älter geworden, hätten es gemerkt. Doch da hat Katya zufällig den Engelsmodus entdeckt, während des Trainings. Da war unsere Schonfrist vorbei.“
„Ihr wart so gut wie unzertrennlich, schon vor dem ganzen Engelsband.“ Bemerkt Lysander amüsiert. „Ich hatte bis dahin mit Ryan um zwanzig gewettet gehabt, dass ihr bereits heimlich ein Paar seid.“
„Die besten angelegten zwanziger in meinem Leben.“ Grinst Ryan frech und auch Calyle grinste mit ihnen. Ja, Katya und Tyrone waren immer enger befreundet gewesen, als alle anderen. Auch er kannte die beiden seit dem Sandkasten und wusste, dass sie einander stets bevorzugt haben. Buchstäbliche beste Freunde, auch wenn niemand daran geglaubt hatte, dass dies bloß bei Freundschaft bleiben würde.
„Also... kann ich es tatsächlich vor mich hin schieben?“ Fragte Calyle hoffnungsvoll.
„Du musst sogar!“ Zischt Tyrone. „Was denkst du, wie viele Schicksalsschläge ein Mädchen verkraften kann?“
„Vielleicht spendet es ihr ja Trost?“ Wirft Lysander ein.
„Unsinn.“ Beharrt Tyrone. „Gerade eben verliert sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben und dann erfährt sie, dass sie für die restlichen zweitausend Jahre ihres Lebens, an jemand fast Fremden gebunden ist? Wie gut kennst du Mädchen überhaupt?“
Lysander grinst breit. „Nur anatomisch... oder besser?“
Darauf erwiderte keiner der Jungs irgendetwas, woraufhin ihnen die eingekehrte Stille auffiel. Betroffen wandten sich alle vier Jungs, den acht Frauen, so wie einer wütenden Olympia zu.
„Seid ihr es dann mit dem Mädchenklatsch, oder soll ich euch einen Tee aufsetzen?“ Knurrt Olympia übertrieben feindselig.
Calyle verstand, dass die meiste Wut, welche sie im Moment ausstrahlte, eigentlich ihm galt. Dabei konnte er doch weder etwas an Olympia´s Gefühle für ihn, noch weniger für sein seltsames Band. Innerlich verfluchte er Celiné und dessen Karten!
„Entschuldigt.“ Murmelten die Jungs einheitlich und meinten es ernst. Sie wussten, sie waren zu weit gegangen und schämten sich. Dafür gaben sie sich im weiteren Gespräch besonders viel Mühe, da es sich, um das anstehende Begräbnis handelte.
Den Termin hatte Sabrina bereits ausgemacht für kommenden Freitag. Also bloß noch drei Tage bis dahin. Es würde in ihrer Straße, an der Kirche stattfinden, dort wo die Geschichte der acht Frauen einst begonnen hatte. Wen sie jedoch einladen sollten... wussten sie leider nicht. Edna hatte ein Leben ohne sie geführt, um ihre eigene Tochter zu schützen, in der Angst ihre Erstgeborene sei tatsächlich bösartig. Was sich natürlich als völliger Quatsch für alle herausgestellt hatte. Nur wer gehörte genau zu Edna´s und Haylee´s Leben? Das musste das arme Mädchen am nächsten Tag selbst entscheiden.
Sie gab ein paar Adressen an, leitete Informationen weiter und die Frauen erledigten den Rest. Zudem zeigten sie alle, Haylee ihre Alternativen auf, und dass sie bis zum sommerende Zeit hätte, sich endgültig zu entscheiden. Jeder würde ihre Entscheidung verstehen und unterstützen, das versicherte man ihr, ohne zu zögern.
Haylee konnte kaum glauben, wie lieb alle waren. Dass sie sich so gut und großzügig um sie kümmerten, brachte sie augenblicklich wieder zum Weinen, wobei es ihr fehlte, dass dieses Mal nicht Calyle angelaufen kam, um sie zu trösten. Stattdessen sprang Katya hastig ein, als hätte sie so etwas bereits geahnt. Natürlich hatte Tyrone ihr bereits im Vertrauen, von dem Gespräch erzählt. Auch dass Celiné Calyle´s und Haylee´s Verbindung gelegt hatte.

 

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Ich fühlte mich fürchterlich deplatziert... Einen Tag vor der Beerdigungszeremonie meiner Mom, waren wir zurück in die Stadt gefahren. Danach weiter zur seltsamsten Straße, welche mir jemals unter gekommen war. Ich teilte mir ein Zimmer in Olive´s Haus, mit Lucy und Olympia, was ziemlich eng wurde. Der Rest der Gruppe wurde über Nacht in den anderen Häusern untergebracht, sodass niemand einen langen Anreiseweg auf sich nehme, musste.
Ich hatte seit einem Tag nicht mehr geweint, was ich ehrlich als Rekord ansah! Zudem hatte sich Lucy, alle mühe mit meinem Haar gegeben, so wie die aller anderen. Jetzt sahen wir aus, als würden wir alle auf eine, recht traurige, Feier gehen... Ein Kleid hatte ich mir von Olympia borgen müssen, da diese dieselbe Größe wie ich besaß. Alles von Katya war mir zu eng und die Sachen von Lucy an den Ärmeln zu kurz.
Nun stand ich neben Olympia vor dem Spiegel des Hausflures und wir musterten uns beide selbst darin. „Tut mir leid.“ Kam es plötzlich kleinlaut von der sonst so aufmüpfigen Ziege.
„Was denn genau?“ Hake ich nach, doch konnte mir selbst kein Lächeln abringen. Heute war einfach kein Tag, um zu lächeln. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn es begann in Strömen zu regnen! Passend wäre es zumindest, denn dann würde man unterere Tränen nicht bemerken... Zu meinem großen Bedauern jedoch, schien die Sonne, ohne Rücksicht auf den heutigen Tag gnadenlos auf uns herab. Wenigstens würde es in der Kirche schön kühl sein.
„Dass ich die letzte Woche nicht für dich da gewesen bin. Es hat mich... einfach wahnsinnig gemacht, dich mit Calyle zu sehen, verstehst du? Ich habe... irgendwie überreagiert.“
Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. „Bist du mir sehr böse, wenn wir... am besten über irgendetwas anderes sprechen? Im Moment... habe ich für Gefühle einfach keine Kraft.“
Mitleidig nickt Olympia und legt für einen Moment einen Arm um meine Schultern, um mich halbherzig zu drücken. „Ja... klar... Tut mir leid, das war dumm.“
Ich winke ab und begebe mich hinunter in den ersten Stock. Dort trafen wir auf Lucy und Olive, welche beide jeweils zwei Taschentuchpackungen einsteckten. Ich tat es ihnen gleich, doch überlegte, ob ich nicht noch mehr brauchen würde?
„Kommt, Mädels. Es wird langsam Zeit.“ Im selben Moment ertönte ein kurzes, aufforderndes Klingeln. Offenbar läutete Marie bereits alle aus ihren Häusern.
Als wir auf die brütend heiße Straße traten, wünschte ich, es wäre alles schon vorbei. Nicht bloß aufgrund der Hitze, sondern vor allem, da ich mich gerne in einem Bett verkrochen hätte, anstatt alle diese mitleidigen Blicke ertragen zu müssen.
Nun, ja... alle bis auf einen. Von all den Leuten war es Calyle, welcher mich mit einem viel mehr erstaunten Blick musterte. Sein Blick glitt für einen Moment über mich hinweg, dann widmete er sich hastig wieder dem Gespräch zu, welches Lysander scheinbar ohne ihn weitergeführt hatte.
Das war es? Mehr bekam ich nicht? Ich fühlte mich seltsam enttäuscht, obwohl ich dachte, dass ich für mehr, als Trauer heute keinen Platz haben würde! Ich wünschte mir so sehr, dass Calyle einfach hinüber kam und mich in den Arm nahm, dass ich überhaupt nicht mitbekam, als letzte noch am Haus zu stehen, während der Rest aufbrach.
Alle sahen so fantastisch aus in ihren schwarzen Anzügen und Kleidern... Trauervoll, doch mit Stil. Das hatte etwas von dem skurrilsten Catwalk aller Zeiten!
Wir gingen bloß ein paar Minuten, in einem recht langsamen Tempo, bis wir auf die Kirche trafen. Davor versammelten wir uns und tratschten, während Marie und Olive drinnen alles überprüften.
Als die beiden jedoch wieder heraus kamen, sahen sie nicht mehr ganz so stilvoll aus, wie zu Beginn. Ihre Augen waren wieder von Tränen gerötet worden und ihre Gesichter voller, grausamer Trauer.
„Mom?“ Fragte Calyle und schloss sie in die Arme, als sie schniefte. Katya lief ebenfalls zu ihrer Mutter, zusammen mit Tyrone, während Lucy zu mir kam, um meine Hand sanft zu drücken.
„Heute musst du nicht stark sein, ja?“
Ich nicke bloß, in der Angst, wenn ich meinen Mund öffne, würden auch mir die Tränen zu früh entweichen.
Um Punkt zehn Uhr, begann die Glocke zu schlagen, und wir wurden aufgefordert, die Kapelle zu betreten. Kaum hatte ich den ersten Schritt gemacht, klammerte ich mich fester an Lucy´s Hand, da ich den Kampf endgültig verlor. Stumm liefen Tränen über meine Wangen, während mein Blick entsetzt am edlen, weisen Sarg hängen blieb. Es war das erste Mal, dass ich einen sah, doch er war wunderschön. Weis, wie die Schwingen von Engelsflügel und der Rahmen war Gold... wie die Verzierung an meinem Schwert! Egal wer auch immer diesen Sarg ausgesucht hatte, besaß unverschämtes Glück.
In einer Reihe, welche die Mütter anführten, gefolgt von mir und den anderen Nephilim, gingen wir den langen, roten Teppich entlang, bis wir vorne an dem Sarg ankamen. Einer nach dem anderen nahm einen kleinen Stab, welcher im Wasser gelegen hatte, weihte damit den Sarg und bekreuzigte sich. Da meine Mutter mich niemals religiös erzogen hatte, oder gar jemals in eine Messe gezerrt, erwies ich ihr die Ehre und weihte ihren Sarg nicht. Stattdessen blieb ich einen respektvollen Moment davor stehen, hauchte einen Kuss auf meine Fingerspitzen und berührte dann sanft den glänzenden Sarg damit. „Ich vermisse dich...“ Schniefend nahm ich meinen Platz in der ersten Reihe, der linken Seite ein, da mich Olive zu sich winkte. Sofort zog sie mich in eine tränenreiche Umarmung, bis ich noch ein weiteres Paar Hände an meinen Schultern fühlte.
Ich drehe mich zu Lucy um, doch stattdessen sitzt dort Calyle. Auch seine Augen sind gerötet und er hat bereits ein Taschentuch für mich bereit. Sanft trocknet er die nachkommenden Tränen und legt einen Arm, hinter mir, um meine Schultern. Dankbar, dass er nun endlich da ist, verzeihe ich ihm augenblicklich die vergangenen Tage. Seitdem er mir gesagt hat, was mit meiner Mutter geschehen ist, hat er drei Tage lang keinen Kontakt mehr zu mir gesucht. Der Grund war mir unklar geblieben, doch ich habe einfach im Moment keinen Nerv, um darüber zu sinnieren. Stattdessen danke ich ihm stumm, dass er jetzt da ist.
Ich fühle tröstend seine Lippen an meiner Schläfe, während ich mir Mühe gebe, mich zusammen zu reißen und nicht bereits vor der Zeremonie zu einem aufgelösten Frack zu werden. „Da-Darf...“ Calyle räuspert sich leise, ehe er weiter flüsert. „...ich dir trotz des heutigen Tages sagen, wie schön du aussiehst in einem Kleid?“
Ohne einen Mucks von mir zu geben, nicke ich lediglich, positiv überrascht über diese Worte. Ich kuschle mich an seine Schulter und lenke mich vom bevorstehenden Geschehen ab, indem ich durch seinen, zur Seite gelegten Zopf, streichle. „I-Ich finde... es...“ Ähm... wo sind bloß all diese verdammten Worte, wenn man sie einmal benötigt? „...faszinierend, wie sich dein Haar und deine Augen mit den dunklen Farben stechen.“ Calyle lässt seine Hand über meine Schulter, höher in meinen freigelegten Nacken gleiten. „Es sieht aus, als würdest du richtig strahlen...“ Ein wahrer Feuerengel...
„Eigentlich... wenn ein Junge einem Mädchen ein Kompliment macht... sagt es danke.“ Schmunzelte Calyle an meinem Scheitel. Ich werde schlagartig vor Verlegenheit rot. „Aber deines war irgendwie viel besser als meines.“
Ich schmunzle leicht. Mein erstes Lächeln seit... Tagen!
Calyle legt meine freie Hand, welche auf meinem Schoß liegt, in seine und hält sie sanft. Über die gesamte Zeit über, während der Pfarrer eintritt und seine Predigt hält, redet Calyle sanft auf mich ein. Niemand drängt mich, bei einem Gebet mitzumachen oder gar aufzustehen, wenn es Zeit dafür wurde. Auch Calyle beteiligt sich nicht, sondern hält mich weiterhin im Arm, bis die Zeremonie uns hinaus und nach hinten zum Friedhof führt. Dafür müssen wir einmal um die Kirche herum gehen.
Draußen jedoch, werde ich leise angezischt. Und noch einmal...
Verwirrt sehe ich mich nach der Quelle um und erkenne zwei sehr vertraute Gesichter. „Adam! Jemma!“ Ich mache mich entschuldigend von Calyle los, solange der Pfarrer zu einem dämlichen Gesang anstimmt, den ich nicht kenne, oder gar verstehen möchte und laufe hastig zu den beiden nach hinten. Stürmisch fallen wir uns in die Arme. Jemma und ich weinen, Adam umarmt mich kurz und spricht mir sein Mitgefühl aus.
„Es tut mir so, so, so leid! Ich wünschte auch, ich wäre bei dir gewesen, um dich zu trösten!“ Beteuert Jemma völlig verweint. „Hast du... Hast du denn einen Ort an dem du bleiben kannst? Ich habe mit Mama geredet, dass du den Sommer bei uns verbringen kannst. Wir sind für dich da!“ Mit Letzterem bezieht sie sich auf Adam und sich selbst.
Ich nicke nach vorne. „Schon gut. Danke, dass ist lieb, aber die Familie meiner Mutter wird für mich sorgen.“
Jemma drückt mich ganz fest. „Ach, dieser schreckliche Einbruch! Ich wünsche diesem Schwein nur das schlimmste an den Hals!“ Ich stimme ihr herzlich zu.
„W-Wo warst du denn überhaupt die ganze Zeit? Wir haben nur deine Notiz unter dem Türleger gefunden, dass du den Sommer gezwungen bist, bei wildfremden zu verbringen!“ Adam scheint sich ernsthaft Sorgen um mich zu machen, was mich rührte.
„Bei ihnen. Wir waren bisher bei einem Haus am...“ Ich stocke, denn es kommt wieder Bewegung in die Gruppe. „Ich glaube es geht weiter, ich muss wieder nach vorne.“ Ich drücke beide erneut, entschuldige mich und schlängle mich unauffällig wieder nach vorne, wo Calyle mich bereits erwartete.
„Deine Freunde?“
Ich nicke. „Meine besten!“ Immerhin waren sie stundenlang mit dem Bus oder einem Zug hierher gefahren! In meinen Augen gibt es keine besseren!
Schniefend lächelt Calyle mich schwach an, dann wurde es Zeit, den Sarg hinab zu lassen. Irgendwie ist es ja schade, um diesen wunderschönen Sarg... Andererseits weiß ich nun, dass meine Mutter zumindest in den Farben meiner selbst geschmiedeten Klinge schlafen würde.
Mein Körper fand von selbst, den von Calyle und so standen wir zusammen, vor dem schrecklichsten Teil meines Lebens. Ich muss nun endgültig abschied nehmen.
„Geh vor, ich bin sofort wieder bei dir.“ Sanft schiebt er mich vor, als ich an der Reihe bin, eine weise Rose auf den Sarg zu werfen. Ich schicke dieser Rose, mit all meinen guten Wünschen für meine Mom, einen Kuss mit... dann lasse ich sie schweren Herzens fallen.
Calyle wischt sich hastig einige Tränen fort, dann ist er an der Reihe. Er gibt meiner Mutter eine kurze Denkminute, dann läuft er zu mir und nimmt mich in den Arm. „Du hast es geschafft, Haylee. Das hast du hervorragend gemacht... Du warst so stark!“ Calyle redet sanft auf mich ein, während ihm selbst die Tränen ununterbrochen laufen, doch nicht so stark wie mir.
Auf einem kleinen Versammlungsplatz umarmen wir uns alle nacheinander noch ein weiteres Mal. Sogar Lysander umarme ich, da er selbst fürchterlich geknickt aussah, so als würde er jeden Moment in sich zusammenfallen. Ryan ist der sichtlich wein festeste von uns allen, doch dafür hat er Mühe seine Mutter Fiona zu trösten.
Danach folgen noch die Beileidsbekundungen von lauter Fremden. Jemma und Adam umarme ich in dieser Runde ein weiteres Mal ganz fest und danke ihnen von ganzem Herzen, das sie gekommen sind.
Endlich endet die schreckliche Zeremonie. Eigentlich ist sie ja ganz nett gewesen. Auch der Pfarrer, welcher meine Mom noch nie in seinem Leben gesehen hat, verliert ein paar liebe und private Worte über sie.
Nach dem Ritus, wird auch zu einem Schmaus im Garten von Marie eingeladen, da sie den geräumigsten von allen besitzt. Dort gibt es einige Häppchen, Kaffee und Wasser. So wie jede Menge Sonnenschirme. Jemma und Adam begleiten mich dorthin, während wir ein wenig über die erste Woche des Sommers sprechen.
Die beiden wissen einfach, wie sie mich ablenken können! Jemma flüstert mir sogar zu, dass sie mir Glück für meine neue Beziehung wünscht, woraufhin ich sie bloß verwirrt anstarre.
Natürlich meinte sie Calyle und mich, was ich als Quatsch abtue. Wir sind definitiv kein Paar und was meine Gefühle für ihn angehen... war dies kompliziert. Besonders jetzt, dass Adam neben mir steht. Der sexy, dunkelhaarige Adam mit seinen niedlichen Grübchen und... seiner noch viel liebenswürdigeren festen Freundin...
Was mich jedoch wundert, ist die Tatsache, dass ich finde, dass Adam etwas fehlt. Ja, er war ein Traumjunge, dem man nur hinterher schmachten kann und bewundern... aber ihm fehlt etwas... Etwas, dass ich nicht definieren kann. Seine dunklen Augen strahlen nicht und sein Haar hat mich noch nie wirklich fasziniert... Ob ich eine Art Fetisch entwickle? Das wäre ja seltsam!
„Willst du ihn uns nicht einmal vorstellen, bevor er dir noch ein Loch in den Rücken starrt?“ Fragt Jemma plötzlich und ich sehe mich fragend um. Als mein Blick auf den von Calyle trifft, nickt er mir sanft lächelnd zu, als sei unser Blickkontakt bloßer Zufall. Schmunzelnd winke ich ihn zu uns, was er sich kein zweites Mal sagen lässt.
Schnell schlängelt er sich durch die Menge. Seinen dunklen Blazer hat er längst, wie die meisten anderen, ausgezogen und läuft nun in einem weisen, kurzärmeligen Hemd herum.
„Brauchst du etwas?“ Fragt er, kaum dass er sich in Hörweite befindet.
„Nein, ich will dir bloß meine besten Freunde vorstellen. Calyle, das sind Adam und Jemma.“
Mit einem höflichen Lächeln schütteln die drei sich die Hände. „Hi, schön euch kennen zu lernen. Haylee hat mir schon ein wenig von euch erzählt!“
Ach... habe ich das? Oh verdammt, meine Geschichte von meiner besten Freundin und dem Typ auf den ich immer noch stehe! Ich bin doch ein Idiot!
„Ach, tatsächlich?“ Fragt Adam begeistert.
„Natürlich! Wie könnte ich meine besten Freunde auch verschweigen?“ Hoffentlich macht Calyle keine Anspielungen...
Nein, das tat er nicht. Stattdessen legt er wieder einen Arm um meine Taille. „Ja, sie hat mir die tolle Geschichte erzählt, wie sie euch verkuppelt hat. Echt süß.“
Jemma und Adam scheinen sich erst jetzt wieder darauf zu besinnen, dass sie ein Paar sind, und lächeln sich gegenseitig verlegen an.
„Ja... Nun, ja. Irgendwie schon. Sonst hätte Adam mich ja ohnehin nie bemerkt.“ Kichert Jemma.
„Unsinn! Ich habe dich nur nicht gesehen, weil du ständig wie ein scheues Mäuschen abgetaucht bist, sobald ich in der Nähe gewesen bin!“ Zieht er sie liebevoll auf, woraufhin sich in mir ein Würgelaut anstaute.
„Haylee!“ Katya war so dreist, Calyle doch einfach von mir fort zuschieben und sich zwischen ihn und mich zu stellen. „Hier, koste mal diese Miniküchlein! Die sind super lecker! Hi, ich bin Katya.“ Stellt sie sich selbst vor und bringt Adam mit ihrem Lächeln dazu, dass ihm der Mund vor Staunen offen stehen bleibt.
Oh je... Arme Jemma!
„Jemma und das ist... Adam?“
Adam räuspert sich nervös. „Hi, ja... ich bin Jem... Äh, Adam! Adam wollte ich sagen.“ Er nimmt ihre ausgestreckte Hand und schüttelte diese, für meinen Geschmack, etwas zu lange.
Katya jedoch, welche dieses Starren gewohnt zu sein schien, übergeht es gekonnt. „Oh mein Gott! Tatsächlich? Ihr seid Jem und Adam?“ Fragt sie überrascht. „Ihr seid doch aus Haylee´s Viertel und seit den ganzen Weg bis hierher gekommen?“ Katya ist zu Tränen gerührt, als sie das begreift. „Solche Freunde wünsche ich mir auch!“ Seufzt sie.
„Reiche ich denn nicht?“ Kam es von Tyrone, welcher sich daraufhin ebenfalls vorstellt. Es vergingen keine fünf Minuten, da habe ich meine Freunde nicht mehr für mich alleine, sondern wir stehen zu zehnt, als Gruppe, zusammen. Lysander versteht sich auf Anhieb mit Adam... so lange bis dieser Jemma offen anbaggert, welche das natürlich kein bisschen begriff.
Die Augen verdrehend, rette ich Lysander, indem ich ihn in ein Gespräch verwickle. Lange bleiben meine Freunde jedoch nicht, da sie mit dem letzten Nachtzug zurückfahren müssen. Olive war so frei, die beiden zum Bahnhof zu bringen, damit diese noch etwas länger bleiben können, mir zuliebe.
Der Schmaus endet, mit den letzten Sonnenstrahlen. Dann ziehen wir uns alle um und fahren in einer, recht schweigsamen, Kolonne zurück zum Haus am See. Dieses Mal fahre ich bei Ryan und Lysander mit. Den Rücksitz muss ich mir jedoch mit dem turtelnden Paar teilen, was ebenfalls zum Kotzen war!
Wieder zurück beim Haus am See, fühle ich mich seltsamerweise... wie zuhause! Es ist, als käme ich genau dort an, wo ich hingehörte. Auch, wenn hier das schrecklichste Geschehen war... ich fühle mich geborgen, wie in den Armen einer großen, glücklichen Familie. In der Wohnung, in welcher ich bisher gelebt habe, durfte ich mich nie so fühlen. Es war eher ein Ort, an den ich gehen muss, um mich meinem Schicksal zu ergeben. Nein, meine Entscheidung war heute beim Schmaus längst gefallen! Zurück in die Wohnung kann ich unmöglich. Das... Das würde ich einfach nicht schaffen! Nicht jetzt. Andererseits will ich das Heim, welches meine Mutter für uns geschaffen hat, auch nicht aufgeben müssen. Doch was mache ich dort ganz alleine? Es erscheint mir so... unmöglich... dortzubleiben, ganz für mich.

VIII – Das Band einer Familie

Der Friede kehrt langsam wieder im Haus am See ein. Ich beginne mich wohler zu fühlen und bemerke, dass auch ich nun ein ganz besonderes Band, mit allen hier teile. Vielleicht habe ich nicht dieselbe lange Vorgeschichte mit allen, aber ich weiß nun, dass uns die Trauer um einen ganz besonderen Menschen verbindet.
„Na gut, denkst du, du kannst es?“
Lucy und ich stehen uns mitten im Garten gegenüber. Wir halten gegenseitig den Unterarm, des jeweils anderen und blicken uns fest in die Augen. Wir nicken gleichzeitig.
„Gut, dann lass dich nun ganz auf das Gefühl ein, welches du mit Lucy verbindest.“ Erklärt Katya, in einem völlig ruhigen Tonfall. „Lass es dich durchströmen, wie ein sanft fließender Bach. Hast du das Gefühl?“
Ich nicke, doch Lucy muss sich erst ein wenig mehr darauf konzentrieren, bevor sie ebenfalls nickt. „Keine Scheu. Ihr seid Schwestern. Wie auch wahre Geschwister, verbindet euch nicht bloß Nähe, sondern auch Eifersucht, gemeinsame Erinnerungen, Freude!“ Wir lächeln uns verlegen an.
Ja, das stimmt. Lucy und mich verbindet überraschend viel, selbst wenn ich bisher nicht wirklich darüber habe nachdenken können. Sie ist unheimlich klug, wie ihre Mutter, was ich bewundere, doch auch wesentlich einfühlsamer. Sie macht tolle Witze, hat Calyle einmal auf den Arm direkt vor mir genommen, mich getröstet... sie war einfach für mich da gewesen. Selbst auf der Fahrt an meinem ersten Tag hierher, hat sie sich die größte Mühe gemacht, mich für sie alle zu begeistern. Lucy war wahrlich eine Freundin für mich geworden!
Plötzlich ist es einfach da! Der Funke... Ich fühle es in den Fingern, wie es zwischen uns hoch fährt. Das Gefühl von wahrer Stärke, etwas dass uns durch unser Blut verbindet, schießt in meinen Körper und wirbelt dabei einige kleine Blätter vom Boden auf.
Dieses Mal sehe ich die goldene Energie nicht, so wie ich sie bei Tyrone und Katya gesehen habe, doch ich fühle sie, weil sie von mir aus geht. Von Lucy und mir! Es ist unsere gemeinsame Energie! Etwas dass zwischen uns hin und her schießt, um bei jedem Durchgang ein wenig stärker zu werden, damit wir beide unser größtes Potential ausschöpfen können!
Von einem Moment auf den anderen, schlagen Lucy´s sanften braunen Augen, in etwas Gottgleiches um. Ihre Iriden leuchten Golden auf, ihr Schatten wirft etwas, dass mich ein wenig an Flügel erinnert und ich... >sehe< sie! Ich sehe Lucy vor mir. Fühle bei jedem Impuls ihren Drang besser zu werden. Stärker, um es allen recht machen zu können. Ihren Willen in die riesigen Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, es Ryan recht zu machen, weil er ihr heimlich viel zu viel bedeutet, mehr als sie es eigentlich will und... Eifersucht. Eifersucht auf mich, weil ich mich nicht erst beweisen muss. Eifersucht, weil Katya derzeit ihre ohnehin mangelnde Aufmerksamkeit, eher auf mich lenkt, anstatt auf sie, ihre beste Freundin seit Kindheitstagen!
Ich erkenne, dass auch sie meine Gefühle ganz einfach ließt. Sie lächelt mich sanft an und ich weiß, dass sie meine Gefühle für sich gefunden hat. Meine Bewunderung für sie, meine aufrichtige Zuneigung und natürlich auch die tiefe Schlucht in meinem Herzen, welche der Tod meiner Mutter erschaffen hat!
Wir heben leicht vom Boden ab und lassen einander los. Als Einheit wissen wir, was der andere vor hat, gleichen uns aufeinander ab und bewegen uns in einem solch synchronen Tanz umeinander, als seien wir ein und dieselbe Person. Ich lasse mein Schwert erscheinen, schlage damit in dem Moment auf sie ein, als sie ihren Bogen, als Schild einsetzen kann und wir lachen.
Im Eifer eines ganz neuen Drängens tänzeln wir umeinander herum, Lucy blockt jeden meiner Schläge, da sie sie kommen sieht, springt meterhoch in die Lüfte, überschlägt sich und kracht mit einer solchen Wucht auf mich ein, dass ich zurück taumle.
Ich frage mich, wie wir wohl in diesem Moment auf Menschen wirken müssen? Verhindert die natürliche Ungläubigkeit eines Menschen, dass er sehen kann, was wir sind, oder wie schnell wir uns bewegen? Immerhin können sie Dämonen auch nicht sehen, selbst wenn diese direkt neben ihnen vorbei huschen, oder über deren Köpfe springen.
Lucy beantwortet diese innere Frage, ohne dass ich sie darum gebeten habe, oder sie es will. Ja, Menschen würden in diesem Moment bloß zwei Mädchen, mit unsichtbaren Waffen aufeinander losgehen sehen und bestimmt nicht meterhoch springen. Der natürliche Glanz, welchen Gott auf die Menschen gelegt hat, verhinderte es, dass diese das alles sehen können, da sie nicht >wissen< sondern wahrlich >glauben< sollen! Der Glaube war immerhin etwas ganz Besonderes...
„Stopp.“ Katya pfeift laut, damit wir es auch wirklich mitbekommen und... der Zauber endet. Überrascht vom plötzlichen Ende des Engelsmodus, taumle ich ein paar Schritte zurück und fühle mich glatt mehrere Tonnen schwer.
Lucy wirkt bei weitem nicht so sehr aus dem Atem gekommen, wie ich es bin. „Das war so cool!“ Grinst Lucy und fällt mir um den Hals, sodass ich nun doch auf dem Po lande und Lucy lachend über mich kugelt.
Ich lache mit ihr. „So genial! Ich... Ich habe mich so stark gefühlt! Es war... Unglaublich! Ich habe wirklich deine Gedanken gehört und... und das alles!“
Lucy grinst mich breit an. „Ditto!“ Ihr Blick gleitet in Richtung Calyle, woraufhin ich rot wurde. Oh Mann... Als sie mich wieder ansah, zwinkert sie bloß und zieht mich auf die Beine. Warum fühlen sie sich plötzlich so wackelig an? Stöhnend reibe ich sie.
„Keine Sorge, das vergeht. Du musst einfach trainieren, um deinen Körper fit zu bekommen.“ Erklärt Katya. „Es ging uns ebenfalls so... Nun ja, bis auf Ryan und Tyrone, die ohnehin trainiert waren.“ Sie verdreht genervt die Augen. „Egal. Und seid ihr euch näher gekommen?“
Lucy und ich nicken. „Und wie!“ Dann umarmt mich Lucy erneut, als könne sie es überhaupt nicht fassen, was ich über sie denke. Interessant... Jetzt weiß ich wenigstens, dass ich unter keinen Umständen mit Calyle diese Verbindung eingehen darf, sonst kann das ganz schön peinlich enden!
Er sitzt einmal wieder am Waldrand und ließt im Schatten ein Buch. Welches es war, weiß ich nicht, doch ich habe das dringende Bedürfnis es herauszufinden... Moment, seit wann bin ich denn so neugierig?
„Ich werde besser mal eiskalt duschen gehen.“ Keuche ich und wische mir den Schweiß von der Stirn. „Das war ja, als hätte ich das schlimmste Training meines Lebens hinter mir!“ Und Hunger! Ich bekam ganz plötzlich riesigen Hunger!
„Komm, zuerst müssen wir etwas essen, bevor wir umkippen.“ Bereitwillig folge ich Lucy, ächzend und stöhnend, zurück in die Küche, wo uns bereits süße Sandwiches erwarten.
„Hunger!“ Jammere ich.
„Das ist leider immer so. Unser Körper verbrennt in diesem Engelsmodus total viel Energie. Du brauchst danach immer viel Zucker!“ Sie stürzt eine Cola hinunter und ich schließe mich widerwillig an. Eigentlich mag ich dieses Getränk überhaupt nicht, da sich extrem viel Zucker darin befindet, aber irgendwie komme ich in diesem Moment einfach nicht darum herum.
Genüsslich beiße ich in das Marmelade-, Erdnusscremesandwich und stöhnte genussvoll. So lecker!
„Leider halten wir diesen Modus nicht so lange durch. Aber ich habe das Gefühl, dass es durch Training immer länger wird. Tyrone und Katya können es bisher schon zehn Minuten lang durchhalten. Alle anderen bloß drei oder vier...“ Murrt sie und verzieht das Gesicht.
Bei Katya´s Namen sehe ich auf. „Ähm... Lucy, magst du über... das Reden, was dich bedrückt?“ Schlage ich direkt vor.
Lucy lächelt verlegen. „Nein, das Thema ist vom Tisch. Danke...“
„Gut das ich helfen konnte.“ Grinse ich zurück und verdrücke glatt ein zweites Sandwich. Danach gehe ich schnell duschen, während sich Lucy die Abkühlung lieber im verfluchten See holt.
Etwas sorgloser geworden, in den letzten Tagen, komme ich auch im Bikini, so wie einem Handtuch herunter. Meine Mutter hätte es bestimmt so gewollt... sage ich mir und ziehe eine Liege in die Sonne. Ich kann ihr zwar nicht den Gefallen tun, und ins Wasser hüpfen, mit den anderen... noch nicht! Aber ich denke ganz fest an sie und ihre Aufforderung, meinen Bikini zumindest einmal anzuziehen.
Die Erinnerung an sie, lässt mein Herz schmerzhaft verkrampfen. Es tut noch immer so unendlich weh, zu wissen, dass ich sie niemals wieder sehen werde! All das Blut... wie ich erfahren habe, welches man im Erdgeschoss gefunden hat, war ihres gewesen. Jemand hat versucht ihr die Kehle durchzuschneiden... hatte dabei jedoch >bloß< die Stimmbänder verletzt.
Natürlich würde mir diese Details niemand von sich aus erzählen, doch einmal habe ich Lucy, Odette und Sabrina darüber sprechen gehört, spät abends.
Irgendwie schien es jedoch meine Mutter geschafft zu haben, zu fliegen. Siebzehn Kilometer weiter, wurde sie dann an einer Straße angefahren und ins Krankenhaus gebracht, wo sie an ihren inneren Verletzungen, als eine Jane Doe verstarb.
Deshalb hat es wohl auch so lange gedauert, bis man sie gefunden hat... Dabei, hätten die Ärzte schneller gearbeitet, hätte man meine Mutter wesentlich schneller finden können! Ich hätte mich in den letzten Stunden ihres Lebens, noch zu ihr setzen können, mit ihr reden... mich verabschieden!
Hastig vertreibe ich diese traurigen Gedanken und mache es mir im Liegestuhl bequem. Es bringt ja ohnehin nichts, darüber nachzudenken. Ich muss weiterleben. Das bin ich ihr nach ihrem lebenslangen Leiden schuldig, wenn ich sie schon nicht habe beschützen können!
Gegen Abend, sobald sich alle drinnen befinden und ihren Beschäftigungen nachgehen, mache ich noch einen kurzen Spaziergang zum See. Gehüllt in ein langes Shirt, gehe ich nicht weiter, als mit den Zehen hinein und versuche zu verstehen, was es wohl mit den verfluchten Seelen darin auf sich hat? Der See ist verflucht und die Sirenen greifen uns an, doch nicht jeden Tag. Eigentlich ist es bisher bloß ein einziges Mal vorgekommen und hat mich beinahe zu Tode erschreckt!
Trotz allem kann man hier bedenkenlos Baden und es sich gut gehen lassen. Seltsame Wesen... Solange sie sich nämlich nicht, als Nebel formatierten, sind sie völlig gefahrlos, ja noch nicht einmal irgendwie zu erkennen!
„Na, Lust noch eine Runde zu schwimmen?“ Fragt Lysander unvermittelt, mit einem frechen Lächeln auf den Lippen.
„Nein, ich schwimme für gewöhnlich nicht in dreckigen Pfützen. Ich bevorzuge das sichere Land.“
„Dann verpasst du aber etwas!“ Er zwinkert anzüglich und geht dann, mit dem stets recht stummen Ryan einfach weiter.
Lucy steht also auf Ryan? Eine recht ungewöhnliche Verbindung, wenn man mich fragt. Wenn dann hätte ich eher angenommen, dass es die intelligente Lucy eher zu jemanden wie Calyle hinzieht. Stattdessen bevorzugt sie den ruhigen Profisportler, mit vielen Muskeln. Ich muss zugeben, dass Ryan tatsächlich eine sexy Figur hermachte, ähnlich wie Tyrone. Beide waren groß durchtrainiert und auf ihre Weisen irgendwie ein wenig unerreichbar. Insofern man nicht gerade auf engelsgleiche Weise miteinander verwandt war.
Calyle und Lysander waren hingegen wieder völlig anders als diese beiden. Na gut, die beiden waren auch nicht unbedingt hagere Kleinwüchsige, sondern von der Größe völlig durchschnittlich. Auch war Lysander nicht so muskelbetont, sonder viel eher ästhetisch recht... interessant. Natürlich nicht für meinen Geschmack, aber Lysander ist eher der Typ Mensch, der sich mit Schmuck und interessanter Kleidung zur Schau stellt. Oder mit einer sehr auffälligen Frisur!
Calyle hingegen punktet mit Natürlichkeit und einem schnellen Verstand. Er war kein Nerd, nicht nach meinem Ermessen, aber er fiel zwischen den vier Jungs, meiner Meinung nach, am meisten auf. Nicht bloß durch seine außergewöhnliche Haarfarbe, sondern viel mehr durch seine Standartkleidung. Jeans und Hemden, sah ich am häufigsten an ihm. Selten mal eine kurze Hose, bloß einmal gestern, als er ins Wasser gegangen ist. Sein nasses Haar hatte dabei in der Sonne geleuchtet, wie Feuer, welches über das Wasser züngelte.
Stöhnend verdrehe ich die Augen über mich selbst und hockte mich an den Kiesstrand. Nacheinander werfe ich einzelne Steine hinein und grüble über mich und meine dummen Gefühle. Ich bin doch echt bekloppt, oder? Statt traurig an meine Mom zu denken oder über die Engel zu sinnieren, fantasiere ich lieber von Calyle...
Schritte neben mir, lassen mich so sehr erschrecken, dass ich beinahe aus der Haut fahre und einen unterdrückten Schrei losließ!
„Oh... Entschuldige, ich wollte dich wirklich nicht erschrecken!“ Calyle deutet auf den meterlangen Kiesstrand neben mir. „Darf ich?“
Rot werdend lasse ich meinen Blick lieber wieder auf den mondbeschienen See wandern. „Ja klar. Ist ja genug Platz.“ Versuche ich zu scherzen.
Calyle strickt seine Hose hoch, so weit es in einer engen Jeans nun mal ging und setzt sich neben mich. Direkt neben mich! Mein Herz beginnt in kleine Jubelsprünge auszubrechen. „Du hast heute den Engelsmodus mit Lucy erreicht, habe ich... gehört?“
Ich war mir nicht ganz sicher, ob es eine Frage, oder Feststellung sein soll, doch ich antworte einfach einmal darauf. „Ja! Es war einfach unglaublich! Hast du es auch schon mit irgendjemanden geschafft?“
„Ja, mit den Jungs.“ Erzählt Calyle. „Versuch es bloß nie mit Lysander... glaube mir, in diesem Kopf willst du nicht stecken!“
Ich kichere. „Würde mir nicht einmal im Traum einfallen!“ Stimme ich Calyle bereitwillig zu. Alleine die Vorstellung, was ich darin finden könnte... Igitt, igitt!
„Ähm... eigentlich bin ich aus einem Grund hierher gekommen.“
Ich mustere sein Profil. „Okay, schieß los.“
„Weißt du noch, den Deal den wir gemacht haben?“
„Du >erzählst< mir was im Film passiert, dafür gehe ich irgendwann einmal in den Engelsmodus mit dir? Klar, wie könnte ich vergessen, dass du mich über den Tisch gezogen hast!“
Calyle lacht verlegen auf. „Ja, das war richtig gemein von mir, nicht?“
Ich stoße ihn sanft mit der Schulter an. „Passt schon. Eigentlich gefällt es mir überraschend gut, wenn mir jemand vorließt. Ich wusste überhaupt nicht, dass Bücher so spannend sein können.“ Bisher habe ich es bei keinem Buch über die fünfte Seite hinaus geschafft, da mich entweder stets etwas abgelenkt hatte, oder meine Augen müde geworden waren. Letzteres geschah bloß abends...
„Wirklich?“ Fragt Calyle, positiv überrascht, nach. „Ich hätte eher angenommen, dass es dich nervt, oder so... Weil du ja nicht gerne ließt.“
„Nein, überhaupt nicht! Also, ja, ich mag das lesen tatsächlich nicht gerne. Aber wenn es mir jemand vorließt, ist es fast so, als würde ich mir einen Film ansehen. Wenn ich die Augen schließe, kann ich praktisch jede Szene sehen und wie die Charaktere kämpfen, fliehen... es ist so...“
„...mitreißend?“
„Genau!“ Stimme ich zu. „Fast wie, wenn ich einen Film sehe, nur viel... intensiver!“
Calyle stößt mich nun seinerseits mit der Schulter an. „Willkommen in der Lesebranche. So geht es allen, die es lieben zu lesen. Wir... können uns während des Lesens richtig in die Situationen hinein versetzen und empfinden alles original mit.“
Wow! So habe ich das ehrlich gesagt, noch nie wahrgenommen... „Tja, dann musst du mir ab jetzt wohl oder übel, jedes Buch vorlesen, dass ich interessant finde.“
Calyle lächelt mich mit strahlenden Augen an. „Du weißt, dass dafür die Hörbücher da sind?“
Ich gebe einen erkennenden Laut von mir. „Ach, ja stimmt. Da hast du ja noch einmal Glück gehabt.“
Seufzend sehe ich wieder hinaus auf den dunklen See und genieße die Wärme, welche neben mir, von Calyle ausgeht. Ich mag seine Nähe so sehr... es lässt mich beinahe alles vergessen. Aber bloß fast!
„Hier, ich habe es dir bestellt.“ Calyle reicht mir eine CD-Hülle, welche er neben sich liegen gehabt hat, ohne dass ich es bemerkt habe. „Damit kannst du es dir jederzeit anhören und wir müssen uns nicht erst zusammen reden, um Zeit dafür zu finden.“
Mit großen Augen betrachte ich das Geschenk. Es war tatsächlich ein Hörspiel von Illuminati...
„Drinnen auf einem der Regale findest du sicher einen unserer alten Walkman´s. Die funktionieren...“ Überrascht von meiner plötzlichen Umarmung, legt Calyle einen Arm unsicher um mich. Sanft streicht er über mein Shirt, bis ich mich wieder von ihm losmache. „Also so ein großes Ding war das auch nicht.“ Bemerkt er verlegen.
Ich schniefe, während mir zwei einzelne Tränen hinab laufen, bevor ich sie davon abhalten kann. „Entschuldige, ich weiß... Es ist zwar total Lächerlich, aber irgendwie... hat mich einfach diese Geschichte über den Verlust meiner Mom hinweg getröstet. Bestimmt hätte es jedes andere auch sein können, aber... Es hat mich dank dir von Zeit zur Zeit von meiner Trauer abgelenkt... Deshalb... Danke, Calyle! Du weißt überhaupt nicht, wie viel mir das bedeutet!“
Ich kann nicht sagen, was er wohl in diesem Moment über mich denkt. Ob er es einfach bloß lächerlich findet, oder gerührt von meinen Gefühlen ist... Auf jeden Fall springt er hastig auf und räusperte sich. „D-Dann... viel Spaß noch damit. Ich... Auf mich wartet ein anderes... neues Buch, ich... Gute Nacht...“
Bevor ich etwas darauf erwidern kann, oder ihn fragen, was los sei, joggt Calyle praktisch zurück ins Haus und ich sehe ihm einfach bloß, vor den Kopf gestoßen zu. Was sollte das denn?

 

- - - - -

 

Mit einem Fuß, verärgert auf den Holzboden tippend, betrachtete sie den hochroten Kopf von Calyle, wie dieser einfach an ihr vorbei hastete, ohne sie überhaupt zu beachten. Heimlich hatte sie die beiden am Strand beobachtet. Olympia verstand nicht, wie die beiden sich so nahe sein konnten, obwohl sie einander doch überhaupt nicht kannten. Und Haylee hatte die letzten fast zwei Wochen, ohnehin nichts getan, außer herum zu heulen! Wie konnte man so etwas bloß attraktiv finden? Olympia fand Haylee noch nicht einmal besonders hübsch. Haylee gab sich keine Mühe, hübsch auszusehen! Dabei bemühte sich Olympia stets attraktiv auf Calyle zu wirken. Lag es tatsächlich bloß an dieser verdammten Verbindung? Olympia wollte das einfach nicht glauben. Liebe entstand doch nicht von einer Minute, auf die andere, einfach bloß so. So etwas dauerte, musste sich entwickeln und festigen...
Ein seltsames Ziehen in ihrem Brustkorb, warnte sie vor, dass etwas Ungemütliches sich in der Nähe befand. Hastig sah sie sich um, ob sie auch niemand bemerkte, dann lief sie hastig um das Haus herum, vor zum Parkplatz. Ungläubig starrte sie das Wesen an, welches genügend Abstand zu allen Nephilim hielt, um nicht bemerkt zu werden, aber doch nahe genug, dass zumindest Olympias unwilliges Band zu ihm, reagierte.
„Was suchst du hier? Verschwinde, bevor du abfackelst!“
Die schwarze, schattenhafte Kreatur, trat aus der Dunkelheit hervor und nahm dabei menschliche Gestalt an. Eine Gestalt, welche er vor vielen hunderten von Jahren einmal besessen haben musste, als er selbst noch ein Mensch gewesen war. „Begrüßt man so seine große Liebe?“ Er zwinkerte ihr frech zu.
Olympia gab einen Würgelaut von sich, wie immer, wenn er so etwas sagte. „Komm nicht näher, Luphriam! Du weißt dass du sonst direkt in die Hölle zurück geschickt wirst!“ Die Worte kamen ihr bloß widerwillig über die Zunge. Es waren Worte, die nicht ihr gehörten, sondern einer Seele, die schon seit langer Zeit vergangen war.
„Ich liebe dein Temperament, aber jetzt zu einer völlig anderen Sache.“ Luphriam schoss durch den Schatten so schnell auf sie zu, dass Olympia erschrocken die Luft anhielt, als ihr Herz für einen schmerzhaften Moment aussetzte.
Als Luphriam nicht, wie eigentlich gedacht, direkt vor ihr in Flammen aufging, bekam sie ganz große Augen. „D-Du... Du stehst auf heiligem Boden!“
So sanft, wie man es für einen Dämonenfürsten kaum möglich halten konnte, strich er eine Strähne ihres dunklen Haars zurück. „Und was sagt dir dass, meine Liebste?“
Olympia schlägt angewidert seine Hand fort. „Fass mich nicht an! Sag mir lieber was du getan hast! Wieso kannst du heiligen Grund betreten?“
Luphriam zieht witternd die Luft ein. „Euer Grund ist nicht länger Heilig, meine Schöne. Und deshalb komme ich auch, um dich zu warnen. Dort unten...“ Er deutete auf den Boden zu seinen Füßen. „...verbreiten sich Gerüchte höllisch schnell. Ich will dich nur in Sicherheit wissen, deshalb bin ich hier.“
Hinter Olympia´s Augen ratterte es hektisch. Was hatte sie verpasst? Wie konnte es sein, dass ein kirchlicher, heiliger Grund plötzlich... „Er wurde entweiht!“ Kommt ihr plötzlich in den Sinn und sie muss einige Schritte von Luphriam´s aufdringlichen Nähe fortmachen, um sich konzentrieren zu können. „Aber... Aber Edna wurde doch überhaupt nicht hier ermordet! Der Boden kann also nicht entweiht worden sein!“
Sie wollte sich nach Luphriam umdrehen, um ihn mit Vorwürfen zu konfrontieren, doch er stand nicht mehr dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Stattdessen legte er einen starken Arm, von hinten um ihren Körper. „Tja, jetzt wo wir ein Zimmer für uns haben...“
Sie stößt ihn von sich. „Hör auf damit! Ich bin nicht Raphael´s Wiedergeburt! Mein Vater war Metatron! Einer der bösen Engel!“
Luphriam zog einen sexy Schmollmund, welcher Olympia nervös machte. „Ach, Baby. Wir wissen beide, dass du zu gutmütig bist, um dem Bösen anzugehören.“
Olympias Magen verzog sich angewidert, aber gleichzeitig auch angezogen von dieser, aus der Hölle stammenden Kreatur!
Sie hatte ihn letztes Jahr kennen gelernt. Damals hatte sie gegen ihn und einige seiner Anhänger gekämpft und kaum eine Chance gehabt, als sie ihn endlich alleine erwischte. Auf den Dächern einer großen Stadt hatte sie gegen ihn gekämpft, im Engelsmodus, zusammen mit Lysander und Ryan. Seite an Seite waren sie auf den Dämon losgegangen, doch wurden durch seine Armee voneinander getrennt.
Gerade, als Luphriam zum tödlichen Stoß ansetzen wollte, um ihr das Leben mit einer der seltenen Dämonenklingen zu stehlen... hörte er auf. Er brachte es einfach, nicht über sich ihr auch bloß einen Kratzer beizufügen, und nahm stattdessen, eine recht verwirrte, menschliche Gestalt an.
In diesem Moment hatte er so schön ausgesehen, dass sie es sogar zugelassen hatte, dass er sie küsste! Ausgerechnet sie! Olympia, welche ein besonders feines Gespür für widerliche Dämonen besaß, dank ihres Vaters. Das Böse fühlte sich vom Bösen angezogen, hatte sie damals gedacht. Nur deshalb hatte sie seinen Kuss so lange erwidert! Weil ein Stück ihrer Seele, ein Stück welches ihr die nötigen Nephilimkräfte schenkte, ebenso böse war, wie diese Kreatur, welche sie unglaublich sanft im Arm gehalten hatte, sodass für einen Moment sogar die Erde stillgestanden war.
Noch immer fühlte sie das Kribbeln auf ihren Lippen, wenn er sie berührte, doch danach hatte sie es kein weiteres Mal zugelassen, dass er sie so unvorbereitet erwischte!
Kein Monster durfte sie je wieder küssen! Besonders kein ekelhafter und bösartiger Dämonenfürst, wie er! Mit einem wutentbrannten Schrei beschwört sie ihre Sense und ließ sie unbarmherzig auf ihn niederfahren. Bevor die alles durchschneidende Klinge jedoch seine Kleidung auch bloß anritzte, löste sie sich wieder auf und verschonte den Dämon! „Ich hasse dich! Ich habe absolut nichts mit dir zu tun! Und ich nehme es dir übel, dass du überhaupt hier aufgetaucht bist! Verschwinde, du...“ Die Türe flog auf und eine verwirrte Josephine, stand plötzlich im Rahmen. Vom jüngsten Dämonenfürsten fehlte jede Spur.
„Was ist? Warum schreist du hier so herum?“ Fragt Lysander´s Mutter mit einer rauen Stimme.
Für einen Moment blickt Olympia auf ihre zittrigen Hände. Egal wie viel Wut sie auch auf diesen widerlichen Dämon hatte... es brachte ihr nichts, denn er hatte wohl oder übel die Wahrheit gesprochen! Dieses Land war entweiht worden. Jemand war auf heiligen Boden getötet worden, auf grausame Weise, dem Leben entrissen, anstatt eines natürlichen Todes.
Frustriert, denn das brachte Luphriam jedes Mal über sie, Frust und Zorn, schlug sie auf die Steinwand ein, was ihr jedoch mehr schadete, als der Wand. „Scheiße verdammte! Wir haben ein riesiges Problem!“

IX – Entweihter Boden

„Ein Dämon? Ernsthaft?“ Fragen Katya und Olive wie aus einem Mund.
Selbst ich stehe bloß da, als hätte man mir einen Ziegelstein an den Kopf geworfen und stünde seitdem auf Autopilot, mit offenen Mund! Ein Dämon ist hier gewesen, um sich davon zu überzeugen, dass es wahr sei?
Das Kirchenschiff ist entweiht worden... Jemand ist hier getötet worden, was ein ganz neues Licht auf den Tod meiner Mutter wirft! Moment... nein, das geht doch überhaupt nicht! „A-Aber das kann doch überhaupt nicht sein. Wenn meine Mutter hier von einem Menschen getötet worden wäre und dann siebzehn Kilometer durch den Wald geschleppt... wie kann es sein, dass sie noch fast zwei Tage im Krankenhaus im Koma gelegen hat? Lebend!“
Olympia wirft die Hände in die Luft. „Was bin ich? Eine Hellseherin? Ich habe keine Ahnung, wie es abgelaufen ist! Aber ich schwöre euch! Da war eben ein niederer Dämon und ist durch die Barriere, direkt auf mich zu gelaufen! Ich habe aus einem Reflex heraus, gerade noch rechtzeitig meine Sense beschwören können, bevor er mich erreicht hat!“
Es hatte also eine Barriere gegeben? Eine Barriere, die angeblich alles dämonische sofort in Flammen aufgehen lässt, sobald diese versuchen, die Grenze zu übertreten. Unfassbar! Plötzlich sehe ich das >Haus am See< mit ganz neuen Augen!
Auch wenn der Turm oben längst zugemauert ist und keine Glocke mehr darin hängt, scheint es nach all den Jahrzehnten doch tatsächlich noch als Kirche geheiligt gewesen zu sein! Wie funktioniert so etwas überhaupt?
„Können... Können wir sie nicht einfach wieder neu weihen?“
„Oh, ja klar. Geh einfach zum Papst und bitte ihn, weil du ein Nephilim bist.“ Spottete Olympia.
Marie erklärt es mir, mit einem mahnenden Blick auf Olympia gerichtet, etwas netter. „Nur der oberste heilige dieser Erde kann einen Ort weihen. Oder mehrere Priester, die alle vom Papst vorher persönlich geweiht worden sind. Dann ja. Aber heutzutage ist es nicht mehr möglich, einen Papst um so etwas zu bitten. Besonders... da es sich ja, wie man auch sieht, nicht mehr um eine Kirche handelt.“
Sabrina übernimmt die nächste aufkommende Frage, ehe ich sie überhaupt stellen kann. „Nachdem wir beschlossen diese Kirche, als unsere Zentrale zu nutzen, baten wir den damaligen Papst, dass er die Kirche weihe. Ich muss aber zugeben, dass wir vor fünfzig Jahren, auch noch einen besseren Draht dorthin gehabt haben. Hätten wir geahnt, dass... es jemals jemand schaffen könnte, diesen Ort hier zu entweihen... hätten wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausgeruht.“
Ich zog überrascht die Brauen hoch. „D-Der Papst ist hier gewesen? Ernsthaft?“
Sandra lächelte verlegen. „Es war mein Urgroßvater. Der ist aber schon vor... puh... ich weiß gar nicht mehr... Ich glaube er war damals bloß zwei oder drei Jahre im Amt, bevor er aufgrund eines schwachen Herzens, von uns ging.“
„Du bist mit einem Papst verwandt gewesen?“ Sabrina schmunzelt verlegen, offensichtlich war ihr dieser Teil ihrer Vergangenheit peinlich.
„Ist doch egal.“ Mischt Lysander mit. „Wichtiger ist, herauszufinden, wie wir diesen Ort wieder heiligen können. Hier draußen können uns die Dämonen nach Lust und Laune anfallen. Hier sind keine Menschen...“ Er korrigiert sich. „Also... keine die nicht aufgrund ihrer Erblinie eingeweiht wären!“
Olive und Odette liefern sich einen Moment lang, ein Wettstarren. „Tu es ja nicht!“ Mahnt die ältere der beiden.
„Olive, du weißt, dass es die logische Erklärung ist.“
„So etwas kannst du niemandem von uns unterstellen!“ Faucht Olive praktisch zurück.
Alle vierzehn Blicke waren verwirrt auf die beiden gerichtet.
Lucy war es schlussendlich, welche die Worte aussprach... die niemand glauben wollte. „Es... Es ist nur möglich, wenn... wenn es einer von... uns gewesen ist.“
Ich bin diejenige, welche sich aufgrund des Schmerzes bei diesem Gedanken, als Erste von ihrem Schock erholt. „>Was< kann nur einer von uns gewesen sein?“ Erkundige ich mich mahnend.
Lucy sieht mich entschuldigend an. „Nur... ein Nephilim wäre in der nötigen Zeitspanne dazu in der Lage gewesen, deine Mutter siebzehn Kilometer weiter, auf eine Straße zu bringen und zurück zu kommen, um einige... Möbel umzulegen.“
Mir bleibt der Mund offen stehen. Jemand... Jemand von hier soll... Mir wurde für einen Moment so schwindelig, dass sich sogar mein Magen rebellisch verdrehte. Das... kann einfach nicht wahr sein!
Da es nun heraußen ist, übernimmt Odette wieder die Erklärung. „Es ist für einen Nephilim, genauso wie für einen Engel möglich, diesen Ort hier zu betreten, Edna schnell genug verschwinden zu lassen und... entschuldige Haylee, für diese veranschaulichen Worte, sie vor ein Auto zu werfen, sodass es aussieht, als sei sie davor gelaufen und dadurch gestorben. Der... Fahrer, oder einer der Beifahrer, reanimiert Edna, da sie denken, sie sei aufgrund des Zusammenstoßes gestorben und... Nun ja, die moderne Medizin übernimmt den Rest.“
Okay, das war einfach zu viel! Ich renne schnell zum Waschbecken und übergebe mich. Woher kommt bloß dieses verdammte Hochgefühl? Etwas in mir schrie regelrecht, dass wir uns auf der richtigen Spur befinden! Das widerte mich buchstäblich an!
„Haylee...“ Calyle ist an meine Seite getreten und streicht nun mein Haar zurück, während ich mein Gesicht hastig wasche. Ausnahmsweise ist es mir nicht peinlich, dass ich eben gekotzt habe, direkt vor Calyle! Viel zu sehr bin ich mit dem Gedanken beschäftigt, dass jemand von >uns<, von denen, die sich für meine Brüder und Schwester hielten, meine Mutter getötet haben könnte.
„Es tut mir wirklich, aus tiefstem Herzen Leid, Haylee dass ich dieses Thema überhaupt aufbringe.“ Beschwört Odette mich. „Aber es muss sein.“
Ich nicke lediglich, da mir ein Kloß die Stimme genommen hat. Oder die ekelhaft ätzende Magensäure?
„Mama, du wusstest von diesem Verdacht?“ Fragt Katya ihre Mutter entsetzt.
Olive nickt. „Odette ist an uns herangetreten, als sie ein Zeitfenster für alles berechnet hat. Es tut mir leid, doch wir wissen, dass Throne Menschen, auch wenn sie Nephilimmütter sind, nichts antun. Cherubim mischen sich nicht ein. Geistern ist es nicht möglich einzugreifen und alles was dämonisch ist, kann diesen Ort hier nicht betreten. Wenn du mir also keinen Menschen zeigst, der sich wie ein Nephilim teleportieren kann... dann bleibt ohnehin bloß noch eine Rasse übrig.“
„Wir können uns teleportieren?“ Rutscht es mir ungläubig heraus. Wie cool ist das denn?
„Das wollte ich dir eigentlich morgen erzählen.“ Gesteht Katya. Immer schön einen Schritt nach dem anderen. Na zum Glück!
„Okay... interessant. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass einer von uns meine Mom umgebracht haben soll, dafür müsste man... doch ein Monster sein!“
Betretene Stille kehrt ein, während Olympia, Ryan, Lysander und ich einen erkennenden Blick austauschen.
„Ihr denkt, wir waren das?“ Fragt Lysander und blick alle anderen entsetzt an.
„Ich würde meiner Mom niemals etwas antun!“ Schloss ich mich ebenso empört an.
„Glaubt doch was ihr wollt, Loser.“ Schloss Olympia und sprang von ihrem Stuhl auf, um sich etwas von den anderen zu entfernen.
Wie können sie uns bloß so etwas unterstellen?
„Also ich glaube keine Sekunde lang daran, dass es jemand von uns gewesen ist!“ Empört sich Lucy, wofür ich sehr dankbar bin. „Wir sind doch eine Familie. Niemand von uns würde einer unserer Mütter etwas antun! Habe ich nicht recht?“
Wir nickten einheitlich. Das würden wir tatsächlich nicht. Geschweige denn, dass ich zu einen Mord wohl kaum in der Lage bin.
„Von jemanden der jemanden die Nase gebrochen hat, braucht es immer noch ein ordentliches Stück, um zu einem Mörder zu werden!“ Empöre ich mich, woraufhin Calyle zustimmend, eine Hand auf meine Schulter legt.
„Du hast jemanden die Nase gebrochen?“ Grinst Ryan plötzlich und wirkt überraschend erheitert über diesen Gedanken.
„Ein mal...“ Gestehe ich kleinlaut. „Aber auch nur weil diese bescheuerte Kuh mich schon seit der Grundschule wegen meiner Mom auf dem Kiker hatte!“ Irgendwann muss einem doch der Geduldsfaden reißen!
„Cool.“ Grinsen Lysander und Ryan, so als würden sie mich plötzlich in einem ganz anderen Licht sehen. Der Abend wurde ja immer gruseliger!
„Tut mir leid... Aber ich stehe ehrlich gesagt auf Odette´s Seite.“ Dieses Kommentar kam so unerwartet, dass nicht bloß ich Katya entsetzt anstarre. „I-Ich will wirklich niemanden von euch vieren irgendetwas unterstellen! Ganz ehrlich! Aber... es ist schon ein sehr merkwürdiger Zufall. Luzifer´s Tochter taucht auf, die Sirenen greifen am nächsten Tag an, obwohl sie bloß alle paar Monate irgendetwas versuchen. Dann stirbt ein Mensch auf grausame Weise hier und entweiht unseren Grund! Das ist... Es tut mir wirklich sehr leid, aber... diese ganzen Indizien machen mir schon ein wenig Angst, Mom!“
Tyrone greift über den langen Tisch hinweg und drückt die Hand seiner Freundin. Selbst Olive wirkt plötzlich etwas bedrückt. Glaubt... Steht sie etwa jetzt nicht mehr auf unserer Seite? „Ich weiß Schatz... Ich sehe es so wie du, das weißt du.“
Sie nickt ihm dankbar zu, da er sie unterstützt.
„A-Aber... Das ist meine Mutter, über die wir hier sprechen!“ Empöre ich mich. „I-Ich würde doch nicht...“ Hilfesuchend blicke ich zu Calyle welcher meinen Blick fest erwidert.
„Ich bin einer der Letzten, die glauben würde, dass du etwas damit zu tun hast. Keine Sorge, ich stehe hinter dir!“ Schwor er und nahm sogar meine Hand in die seine.
Olympia stieß genervt die Luft aus. „Du bist ja auch voreingenommen!“ Brummt sie vorwurfsvoll.
Celiné ruft ihre Tochter zur Ruhe. „Olympia! Reiß dich zusammen, mit deiner unnötigen Eifersucht bringst du nicht unbedingt besseres Licht auf dich. Meinst du nicht?“
Olympia verschränkt beleidigt die Arme vor dem Brustkorb. „Ja, schon gut.“ Nach >gut< klang das jedoch ganz und gar nicht.
„Entschuldige Haylee, das klang total falsch!“ Korrigierte sich Katya. „Ich sage ja gar nicht, dass einer von euch vieren Edna getötet hat. Ich kenne euch mittlerweile alle so gut... Dazu wäre doch keiner von euch im Stande!“
„Und was sagst du dann?“ Erkundigt sich Josephine, sichtlich verärgert.
„Nun ja, in uns allen Steckt doch ein Stück eines Engels. Sie haben uns unsere Kräfte gegeben, uns als Nephilim in unseren Müttern eingepflanzt, mit einem kleinen Stück von sich selbst. Zumindest nehmen wir das an! Also was spricht dagegen, dass sie nicht langsam lernen, wie man unsere Körper übernimmt? Vielleicht können sie ja... interagieren mit unseren Körpern, ohne dass wir überhaupt etwas wahrnehmen? Immerhin sprechen wir hier von Engeln! Wer weiß, was wir noch alles können, ohne dass wir es bisher herausgefunden haben?“
Ich stoße erleichtert die Luft aus.
„Du meinst also, sie flüstern uns nicht bloß etwas ein... sondern können uns vielleicht sogar kontrollieren?“ Erkundigt sich nun Ryan, dem dieses Detail am wenigsten zu behagen scheint, von uns allen.
Katya zuckt ratlos mit den Schultern. „Vielleicht ist das ja etwas neues, das erst jetzt auftritt, weil wir alle zusammen sind? Ich habe ja selbst keine Ahnung, sonder gebe... nur Gedanken und Ideen wieder.“ Rechtfertigt sie sich nervös. „Es tut mir leid, ich weiß, ich hätte nichts sagen sollen!“
„Nein, schon gut, Frau Michaelstochter. Es ist ja dein gutes Recht, uns alle als Mörder zu beschuldigen, immerhin stammen wir ja von gefallenen Engeln ab! Wir haben es Begriffen, Miss Heiligenschein!“ braust Olympia auf.
„Olympia!“ Gibt Tyrone zornig zurück. „Reiß dich gefälligst zusammen. Katya meint es ja nicht böse, oder glaubt dass es einer von uns gewesen ist. Aber es gibt viel mehr Erklärungen, als bloß diese eine! Wir sollten wirklich für alle Optionen offen sein, findet ihr nicht?“
„Also ich bin nicht dafür offen, mich als Mörder abstempeln zu lassen!“ Murrt Lysander abweisend.
Odette scheint zu merken, dass sie einen Fehler damit gemacht hat, dieses Thema überhaupt anzusprechen. „Na gut Kinder, jetzt reicht es aber. Lasst uns an diesem Punkt die Zusammenkunft auflösen. Ich würde vorschlagen, dass sich jeder einzelne von uns Gedanken darüber macht, was passiert sein kann. Und was viel wichtiger ist, dass wir gemeinsam herausfinden, wie es geschehen ist, damit es nie wieder passiert. Marie, Sabrina! Ihr denkt euch etwas, wegen dem Schutz aus, ja? Wenn heute schon ein Dämon angegriffen hat, wird es nicht lange dauern, bis die nächsten kommen.“
Alleine die Erwähnung der Dämonen reicht aus, um die anderen Nephilim wieder zur Zusammenarbeit zu zwingen. Niemand verliert mehr ein Wort über irgendwelche Verdächtigungen und es werden Freiwillige ausgewählt, welche heute Nacht patrouillieren gehen würden. Ryan und Olympia werden den hinteren Teil des Hauses übernehmen. Katya und Tyrone den vorderen, danach würde gegen Mitternacht gewechselt werden. Also noch zwei Stunden, bis ich an die Reihe komme.
Die Gruppe löst sich auf...

 

- - - - -

 

Im Bett schaffe ich es keine Sekunde lang, an irgendetwas anderes zu denken, als an das Schicksal meiner Mom! Wer wäre bloß so grausam und würde sie ermorden? Wir sind doch alle... auch, wenn ich es bloß ungern zugab, noch Kinder! Machte das Zusammentreffen von uns acht uns etwa wehrloser, unseren Erzeugern gegenüber? Das klang einfach alles so... bei den Haaren herbeigezogen!
Klar, in Ermangelung einer besseren Idee, bleibt natürlich bloß die Möglichkeit, dass die Gefahr in uns lauert. Bisher vielleicht bloß unterschwellig, doch angeblich soll sie stärker werden? Ich will überhaupt nicht daran denken, dass meine Hände, unwissentlich meine eigene Mutter umgebracht haben könnten! Das war... einfach zu schrecklich!
„Haylee...“ Olympia hat sich ins Zimmer geschlichen und rüttelt jetzt an meiner Hand. Katya tut dasselbe auf Lucy´s Seite. „...ihr seid jetzt dran.“
„Wir lösen euch in vier Stunden ab.“ Verspricht Katya und zieht sich bereits um. Lucy und ich haben beschlossen nicht in den Pyjama zu schlüpfen, da wir ohnehin bald wieder aufstehen müssen. So schlüpfe ich im Erdgeschoss lediglich in meine Treter und gehe hinaus auf den Parkplatz, vor der Kapelle. Calyle wirft mir ein kurzes, verschlafenes Lächeln zu, dann sieht er sich wieder um, indem er kleinere Ruden macht. Ich beobachte ihn ein wenig dabei, um zu verstehen, wie so eine >Wache< abläuft, doch wundere mich auch ein wenig.
„Woher wisst ihr überhaupt so gut darüber bescheid, wie man ein Gebäude bewacht?“ Frage ich Calyle nach zwei Runden.
„Ich habe es recherchiert. Bloß für den Fall...“
Ich gebe einen verstehenden Laut von mir und laufe weiter. Mein Blick wandert dabei gründlich über den dunklen Parkplatz. Wir bleiben die ganze Zeit in Bewegung, doch nach einer Stunde wird mir bereits so langweilig, dass die Müdigkeit den Rest erledigt. Ich schlafe beinahe im Gehen ein...
„Das ist das langweiligste, was ich jemals getan habe!“ Motze ich und gähne anschließend ausgiebig.
„Was würdest du denn lieber tun?“ Erkundigt sich Calyle gerade, als sich unsere Wege erneut kreuzen.
„Schlafen!“ Erwidere ich das offensichtlichste.
„Nein, ich meine genau jetzt. Wenn du nicht müde wärst und dich hier mit uns, unter völlig normalen Leuten befinden würdest, ohne Dämon oder den anderen Kram?“
Wenn meine Mutter also noch leben würde... „Wahrscheinlich... ein ganz anderes Leben führen.“
„Wie meinst du das?“ Calyle bleibt an einem Fleck stehen und riskiert sogar einen Blick unter die Autos. Bloß zur Sicherheit, oder da es ihm bereits zu langweilig geworden war, stets nur die Schatten der Bäume zu betrachten.
„Nun, ja. Wenn es keine Engel und Dämonen gebe... oder wir zumindest nichts mit ihnen zu tun hätten, dann wäre meine Mutter wohl nie vierzig Jahre mit mir Schwanger gewesen. Sie wäre nie psychisch labil geworden und wir hätten uns alle wohl nie kennen gelernt... Okay, du Katya, Tyrone, Lucy und ich vermutlich schon, da unsere Mom´s ja bereits zuvor beste Freundinnen gewesen sind. Aber wir wären alle vier in einer ganz anderen Zeitspanne aufgewachsen. Sogar kurz nach dem Weltkrieg. Könntest du dir das vorstellen?“
Calyle gibt einen missmutigen Ton von sich. „Das will ich ehrlich gesagt gar nicht. Außerdem weißt du, dass ich es nicht so genau gemeint habe! Ich rede vom heutigen Tag. Du wärst nicht Müde und wir würden auch nicht von Dämonen bedroht werden. Was würdest du jetzt in diesem Moment, genau hier machen?“
Calyle anbaggern? Es war zumindest der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss. Calyle... Ich kann überhaupt nicht mehr mitzählen, wie häufig am Tag sein Name durch meinen Kopf schießt. „D-Deine CD hören vermutlich.“
„Wirklich? Also ich würde ja lieber ausgehen wollen.“
Ich lache ungläubig auf. „Was? Du willst ausgehen? Das würde ich... von so gut wie jedem anderen hier, abgesehen von Lucy, erwarten. Aber bestimmt nicht von dir.“
„Warum?“ Fragt Calyle und nimmt seine Route wieder auf. Als wir uns erneut passieren, blicken wir uns für einen Moment in die Augen. Er scheint seine Frage ziemlich ernst zu nehmen, was mich ein wenig erschreckt.
Ich gebe ja zu, ich kenne Calyle noch nicht besonders lange. Trotzdem bilde ich mir ein, ihn bereits ein wenig einschätzen zu können. „Entschuldige, wenn ich falsch liege, aber ich denke, dass du dich in großen Mengen unwohl fühlen würdest. Dass... es dir an Beschäftigungstherapie fehlen würde.“
Calyle grinst über den Parkplatz, frech zu mir hinüber. „Wer sagt denn, dass ich mich unter die Leute wagen würde? Vielleicht meine ich ja, dass ich lieber mit einem hübschen Mädchen alleine ausgehen würde?“
Ich fühle wie ich rot werde und bin ausgesprochen froh darüber, dass es so dunkel hier ist und wir die Außenbeleuchtung auf Manuel umgestellt haben, um nicht gleich im Rampenlicht zu stehen. Oh Mann, was habe ich mir bloß dabei gedacht? Natürlich kann sich Calyle vorstellen, mit einem Mädchen zu treffen und eine nette Nacht zu verbringen. Er ist ja auch ein Junge. Ich würde auch viel lieber ausgehen...
„Du hast recht... ich hätte auch lieber Adam und Jemma hier. Das würde es etwas einfacher für mich machen, weil ich jemanden hätte, den ich auch wirklich kenne.“
Besonders nach dieser verfluchten Offenbarung von vorhin, wünsche ich mir meine vertrauensvollen Freunde hierher. Diejenigen, die ohne zu Zögern felsenfest hinter mir stehen würden.
„Adam ist ja dein Ex... Wäre es für dich wirklich in Ordnung, wenn er mit seiner Freundin hier wäre? Die ganz Zeit über? Und du müsstest mit gespaltenen Gefühlen ihnen gegenüber dabei zusehen?“
Adam... der gutaussehende und süßeste Kerl, den ich jemals getroffen habe. Jemma, der reinste schüchterne Engel... Die beiden zusammen zu sehen, hatte erst vor ein paar Monaten angefangen weh zu tun. Ich sehne mich in die Zeit zurück, in der mich Adam noch so angesehen hat, wie er nun sie ansah. Mich berührt, anstatt ihrer. Mich küsst... Nein, bei letzterem schob sich ein anderes Gesicht vor mich. Es war nicht mehr länger Adam, nach dessen vertrauten Nähe ich mich sehne.
„Haylee!“ Auf Calyle´s Warnruf hin, wirbele ich herum und sehe noch einen dunklen Schatten über ihn hinweg sausen, während der zweite gegen Calyle´s gezückte Klinge prallt.
Dann steht auch schon aus heiterem Himmel, ein echter Dämon vor mir. Der Erste, welchen ich jemals in meinem Leben gesehen habe! Erst jetzt wird mir bewusst... dass wenn ich doch ein Nephilim bin, sie doch schon längst einmal hätte in der Stadt sehen müssen, wenn alle gleich aussahen! Und auch noch so groß sind!
Die Kreatur hat etwas annähernd menschliches an sich. Sie steht gekrümmt da, war so dünn wie ein Skelett, doch mit Haut überzogen. Auf seinem Kopf befinden sich keine Haare, nirgendwo auf seinem Körper befindet sich etwas, dass ihn auch nur annähernd als menschentypisch ausgezeichnet hätte, doch sein Gesicht, besaß wie meines, die wichtigsten Funktionen. Eine leicht eingefallene Nase, die jedoch an seiner Stirn klebte. Eines seiner dunklen Augen, sitzt an seinem Kinn, das andere an der Stelle, wo seine rechte Wange sein sollte. Sein Maul jedoch, war das zentralste an dieser Kreatur. Es sitzt mitten in seinem Gesicht und ist geprägt von zugespitzten langen Zähnen, welche es durch Ermangelung an Lippen, nicht verstecken kann.
Mit einem seltsam prüfenden Blick, sieht es mich an, entscheidet anscheinend, dass ich genießbar sei und stürzt sich dann auf mich.
Mehr erschrocken über die plötzliche Attacke, als geschickt, reiße ich die Waffe hoch, welche sich plötzlich in meiner Hand befindet und blocke die Kreatur ab, indem ich ihr versehentlich den Arm abhacke! Kreischend sprang das Wesen vor mir zurück und faucht mich empört an. „Oh verdammt!“ Stoße ich hervor. Ich habe... eine andere Lebensform verletzt! Ich habe jemandem den Arm abgehackt! E-Einfach so!
„Haylee!“ Carlyle hat bereits seinen Angreifer erledigt und geht nun auf die Kreatur los, welche nun offensichtlich darüber nachdenkt, wie es mich am besten erreicht, ohne noch einen weiteren unersetzbaren Körperteil zu verlieren. Bevor die Kreatur es jedoch bemerkt, hat Calyle bereits eine seiner gebogenen Zwillingsklingen geworfen und die Kreatur löst sich, genauso wie sein Arm zuvor, in Asche auf.
Vor Schreck über diesen Anblick lasse ich glatt mein Schwert fallen. „D-Das... Das...“ Stammle ich ungläubig und deute auf die sich bereits auflösende Asche.
„Das war ein Dämon, ja.“ Beendet Calyle den Satz für mich. „Halte die Augen offen, die kommen nie nur zu zweit. Sie sind zwar dumm und vorsichtig, aber in einer großen Gruppe, sehr gefährlich!“
Ich nicke und bücke mich nach meinem Schwert. Gruppe... Viele Dämonen... „I-Ich glaube ich kann das nicht, Calyle! Das war... Das war zu viel. Einfach so... so...“ Unwissend wie ich beschreiben soll, was ich empfand, deutete ich auf den verschwundenen Haufen.
„Haylee...“ Calyle war gerade dabei gewesen, auf seinen Posten zurückzukehren, doch stellt sich nun direkt vor mich. „Haylee, sieh mich an. Du musst, um dein Leben kämpfen, ja?“ Ich sehe Carlyle mit großen Augen an. „Das sind hirnlose Kreaturen, die nur daran denken, wie saftig und süß wir schmecken, klar? Und wenn sie mit uns beiden fertig sind, setzten sie sich auf unsere gebrochenen und trauernden Mütter. Sie werden sich Monate oder sogar Jahre von deren Trauer ernähren, bis diese einfach daran eingehen und zu seelenlosen Monstern wie sie selbst werden. Verstehst du das?“
Unsere Mom´s... Beschützen... „Ja!“ Erwidere ich mit einer etwas festeren Stimme. Das verstehe ich tatsächlich. Ich will nämlich nicht, dass einer von ihnen, egal wer, denselben Verlust durchmachen muss, wie ich ihn erlebt habe! Diese fürchterlich schmerzhafte Erfahrung wünsche ich absolut niemanden auf dieser Welt, egal wie verabscheuungswürdig diese auch sei.
„Ja?“ Hakt Calyle nach, überrascht über meine plötzliche Entschlossenheit.
Ich nicke erneut und geniesse dabei, das Gefühl seiner Hand an meiner Wange. „Ja! I-Ich werde mich jetzt zusammenreißen! Versprochen, Calyle. Du musst dir keine Sorgen, um mich machen.“
Etwas raschelt im Gebüsch, hinter Calyle, doch er wirft lediglich einen kurzen, prüfenden Blick dorthin zurück. „Tja, wenn das bloß so einfach wäre!“
Mein Herz hüpfte bei diesen Worten, aufgeregt in meinem Brustkorb herum. Calyle macht sich Sorgen um mich... was bedeutet, er denkt stets an mich? Oder bilde ich mir das nur ein? Meint er es etwa anders herum, dass ich einfach hilfsbedürftig sei?
Leider bleibt mir kein weiterer Moment, denn da greifen mich zwei Schatten aus unterschiedlichen Richtungen an. Ich weiche dem einen erschrocken aus, wodurch es gegen eine der Stützsäuler des Vordaches über dem Eingang kracht, den zweiten erwische ich bloß durch Glück an der Seite, was ihn jedoch aufgebracht fauchen lässt und scheinbar nach Hilfe rufen.
„Calyle! Das werden immer mehr!“ Beklage ich mich, als noch drei weitere Schatten sich aus dem Schatten der Bäume lösen.
„Dann töte sie endlich, Haylee! Du kannst das, ich weiß... Arg!“ Wutentbrannt stürmt er auf einen los, während ich den Dämon, welcher gegen die Säule gekracht war, auf Distanz halte. „Du kannst das, Haylee! Vertrau mir!“
Ich oder die Mom´s meiner Freunde?
Ich oder Calyle...
Überraschend entsetzt über diesen Gedanken, stoße ich einen wütenden Schrei aus, fühle wie etwas an meinen Fingerspitzen knistert und lasse diese Angst einfach los... Noch während die Angst sich in Wut verwandelt, fühle ich mich kräftiger. Mutiger, sogar ein wenig! Ich hole aus und mache eine unschöne Drehung, welche mich lediglich durch pures Glück nicht auf den Boden befördert. Ein plötzlicher Lichtstrahl löst sich aus der Spitze des Schwertes und wird zu einer tödlichen Verlängerung meiner Klinge. In der nähren Umgebung von zehn Meter, ging alles, das nicht Engelsursprung in sich trug, in einer kurzen Stichflamme auf und verpufft zu Asche.
Taumelnd halte ich mich an der leicht eingedellten Säule fest. „Ups... Das war aber heftig.“ Stelle ich unfreiwillig fest. Das sollte ich auf keinen Fall häufiger tun, als unbedingt notwendig. Oder liegt es etwa an meiner mangelnden Kondition?
„Haylee? Was war das? Das sah mega cool aus!“ Begeistert läuft Calyle auf mich zu und stützt mich mit einer Hand, damit ich nicht umkippe. „Geht´s noch?“
Ich schüttle dieses Mal den Kopf. „Mir ist so schwindlig. Ich glaube... das sollte ich nicht noch einmal machen.“
Calyle lächelt mich erleichtert an. „Schon gut. Ich pfeife die anderen aus ihren Betten.“
A-Aber dann würde Olympia mit ihm arbeiten! „Nein! Nein, es geht schon! Ich habe dir ja gesagt, dass ich das schaffe. Und das bedeutet auch...“ Ich stoße mich von der Säule ab und sehe gerade noch, wie etwas, wesentlich größeres, direkt auf Calyle´s ungeschützten Rücken zurennt, auf etwas mehr als sechs Beinen! „Calyle!“ Ehe ich weiß, was ich tute, schubse ich Calyle hart von mir fort. Er taumelt, stolpert über eine Beetbegrenzung und purzelt unsanft in einen der Zierbüsche hinein. Zum Glück geschieht ihm nicht schlimmeres!
Ich selbst werde von dem Vieh brutal gerammt. Es schlingt einen seiner, mit Krallen besetzten Arme um mich und schleift mich mehrere Meter weit, neben sich her. Schreiend, da die Krallen tief in meiner Seite sitzen und sich Kieselsteine in meine Arme bohren, rufe ich erneut nach meinem Schwert. Wie ich den Dämon treffe, bemerke ich überhaupt nicht, doch im nächsten Moment geht er in Asche, direkt über mir auf und ich huste, da der Staub meine Lungen reizt.
„Haylee! Haylee, oh nein!“ Calyle ragt über mir auf. Hinter ihm geht die Außenbeleuchtung an, als jemand laut pfeift und beleuchtet sein rotes Haar so intensiv, dass ich für einen Moment denke, ein Engel selbst sei über mir erschienen. Ob Engel überhaupt feuerrotes Haar besitzen?
Was für ein absurder Gedanke...
„Es sieht übler aus, als dass es ist. Hör zu, ich trage dich jetzt hinein, ja? Das wird etwas weh tun.“
„Wir sind da, was braucht ihr?“ Tyrone? Oh nein!
„N-Nein... Ich kann das... Ah!“
Calyle hebt mich, trotz meines fast lautlosen Protests, einfach auf seine Arme und trägt mich hinein, in das Wohnzimmer.
„Was ist passiert?“ Fragt Sabrina und lotst meinen Engel zum Esstisch.
„Irgend so ein Berserker hat sie erwischt. Keine Ahnung, was es gewesen ist. Es ist aber bloß eine Fleischwunde. Kümmert euch um sie, ja?“ Calyle´s Stimme klingt so voller Hilfslosigkeit, dass es mir die Kehle zuschnürt. Oder liegt es einfach bloß am Schmerz, welcher in meiner Seite explodierte, während er mich ablegte?
„Nicht! Ca-Calyle! Bitte...“
„Schon gut. Du hast dich hervorragend geschlagen, mach dir keine Sorgen. Wir regeln jetzt den Rest, ja!“
Ich schüttle erneut den Kopf. „Nein! Lass... Lass mich nicht alleine.“
Mit einem mitfühlenden Blick, sieht Calyle auf mich herab und streicht sanft mein Haar zurück. „Ich bin bloß vor der Türe. Das ist nicht weit.“
Ich packe seine Hand. „I-Ich will nicht, dass dir auch etwas geschieht!“ Tränen sammeln sich, gegen meinen ausdrücklichen Willen, in meinen Augenwinkeln.
Seufzend sieht Calyle von oben auf mich herab. Mir kam es vor, als würde er das die halbe Nacht machen wollen... einfach nur dastehen und mich liebevoll ansehen. Was die Mütter um mich herum taten, war mir ziemlich egal, abgesehen davon, dass sie in diesem Moment überhaupt nicht für mich existieren. Das wichtigste ist, dass Calyle nichts geschieht! Niemals!
Calyle´s Blick scheint mit einem Mal noch intensiver zu werden. Sein Gesicht, so nahe an meinem, dass ich seinen Atem auf meiner Haut fühle, bringt meinen Puls zum Summen und treibt mein Herz zu Höchstleistungen an. Für einen flüchtigen Augenblick, fühle ich noch etwas an meinen Lippen... Einen Daumen, welcher eben noch meine Wange gestreichelt hat, dann erwischt mich ein missgelaunter Blick eiskalt. Der besondere Moment, den ich mir eingebildet habe, ist vorbei.
„Ach, verdammt! Das ist einfach alles meine Schuld. Ich wollte mich doch nicht ablenken lassen, trotzdem ist es geschehen. Das wird nie wieder vorkommen.“ Mit diesen mysteriösen Worten, welche für mich absolut keinen Sinn ergeben, dreht er sich um und stampfte davon. Mein feuerroter Engel.. Er verlässt mich mit einer Grimasse der Entschlossenheit, welche mir einen weiteren Stich zufügt. Etwas sagte mir... dass Calyle mir eben viel mehr, als bloß einen Korb verpasst hat.
Und daran alleine, habe ich schuld!
Ab diesen Punkt der Empfindungen, den Gedanken an den Verlust meiner Mutter, so wie Calyle´s Ablehnung, bringen mein Herz dazu, noch wesentlich höllischer zu schmerzen, als die drei oberflächlichen Wunden, an meiner Seite.

X – Schmachten erlaubt, küssen unerwünscht!

Olympia war bewusst, dass sie einen schönen, wohlgeformten Körper besaß. Das hatte man ihr bereits, seid sie in die Pubertät gekommen ist, immer wieder gesagt. Modezeitschriften bewiesen das sogar ziemlich deutlich. Und eben mit diesem Körper versuchte, sie bereits seit Jahren das zu bekommen, was sie haben wollte.
Calyle! Leider war dieser bloß in einem sehr schwachen Moment auf ihre Avancen eingegangen, das hatte Olympia bereits kapiert. Trotzdem mangelte es ihr selten an Versuchen, ihn doch noch einmal zu verführen. Besonders in seinem jetzigen Zustand, in welchem er hin und her gerissen zu sein schien, von seinen Gefühlen.
In einem Nachtkleid, welches man kaum, als ein solches bezeichnen durfte, stand sie umgeben von gut ein Dutzend Dämonen, mitten am Parkplatz. Lucy sicherte die Rückseite, während alle anderen vorne kämpften.
Alle, abgesehen von Haylee, welche bereits nach fünf jämmerlichen Sekunden aufgegeben hatte. Olympia war dermaßen von sich überzeugt, dass ihr bewusst war, sie würde niemals so schnell aufgeben. Olympia wusste immer, was sie wollte und legte alles daran, es sich zu nehmen.
„Calyle?“ Sie ging neben ihm in die Hocke, während er seinen dröhnenden Schädel hielt. Dass ihr beim nach vorne beugen, beinahe die Brüste aus dem knappen Kleid ploppten, war ihr dabei bloß recht. „Bist du schwer verletzt?“
Er schüttelte den Kopf und bedachte Olympia nicht einmal eines Blickes. „Nein, bloß eine blöde Platzwunde.“ Mit diesen Worten sprang er wieder auf die Beine und kämpfte weiter, wie ein Berserker.
Olympia hatte ihn in den letzten Jahren schon sehr häufig kämpfen gesehen. Es war... einfach ein atemberaubender Anblick für sie. Muskeln, die sonst nie betont wurden, traten bei seinem athletischen Kampfstil mehr als deutlich hervor. Zu gerne würde sie wieder einmal in diese Schultern beißen, während er sich auf sie stürzte.
Damals war er wie ein Ertrinkender gewesen. Hatte sich bei ihr geholt, was er eben brauchte, sich revanchiert und dann einfach fallen gelassen. Damals hatte sie sich wie ein Stück Treibholz gefühlt. Da im richtigen Moment, umsorgt und dankbar angenommen. Doch sobald er wieder festes Land unter seinen Füßen spürte, hatte Calyle sie einfach fallen gelassen. Zwar auf eine sehr nette weiße, wie sie zugeben musste... trotzdem hatte es höllisch wehgetan.
Sie hasste sich im Grunde selbst dafür, dass sie sich überhaupt hatte benutzen lassen. Viel lieber würde sie ihm immer noch heimlich hinterher schmachten, so wie früher. Unerwiderte Gefühle, über Jahre hinweg, war das eine... Jedoch wenn man schon einmal herrlich zartbittere Schokolade gekostet hatte, war man nicht mit einem Bissen, sein restliches Leben lang befriedigt.
Zähneknirschend warf sich Olympia auf die nächstbesten Gegner. Sie kämpfte stets mit einer solchen Kraft, dass es aussah, als würde sie aus purem Hass agieren. Stattdessen ließ sie an den Dämonen ihren aufgestauten Frust auf, bis sie zu müde war, um noch irgendetwas anderes zu empfinden, als pure Leere.
Heute jedoch, kam Olympia nicht so weit. Keuchend, da sich alle Gegner nun auf die anderen fünf Nephilim aufgeteilt hatten, machte sie eine kurze Pause. Schweiß lief ihr bereits aus allen Poren und ihre Lungenflügel protestierten bei jedem Atemzug. Erneut flackerte die Gestalt auf, welche sie am meisten hier hasste. Eine Kreatur, der sie all ihr Leid zuschreiben wollte, doch... sie wusste es besser.
Ungesehen lief sie auf den Dämonenfürsten zu, welcher ihre Gefühle in ein Wirrwarr aus unklaren Empfindungen trieb. Ein Fürst, von dem sie keine Ahnung noch hatte, was sie wirklich halten solle.
Wenn man es engstirnig mochte, dann ist er ein Dämon und hatte absolut nichts hier oben auf der Erde verloren, so wie alle anderen. Aber Olympia war alles andere als engstirnig. Ihre Mutter hatte ihr gelernt, dass es nicht bloß die Lichte und die dunkle Seite gab. Alles geschah, aus einem Grund, ein Großteil war vorherbestimmt. Doch ob man diese Bestimmungen auch erfüllen konnte, lag an der Person selbst, welche sie betraf.
„Luphriam?“ Flüsterte sie in die Wälder hinein, nachdem sie sich so weit vom Parkplatz entfernt hatte, dass niemand sie hören würde, wenn sie in normaler Lautstärke sprach. Ob das so klug war, alleine mit einem Dämonenfürsten, konnte sie jetzt noch nicht einschätzen.
„Hier, meine Schöne.“ Fingerspitzen strichen sanft, über ihren unteren Rücken, woraufhin sie sich umdrehte, um sich Luphriam entgegenzustellen. Stattdessen starrte sie lediglich einen Baum an.
„Lass deine blöden Spielchen! Sag mir lieber, wie wir deine blöden Vettern wieder loswerden!“
In einer besitzergreifenden Geste, welche Olympia deutlich gegen den Strich ging, umfasste Luphriam ihren Körper. Von hinten presste er seinen eigenen Körper, an ihren, legte eine Hand direkt über ihren Venushügel und den zweiten Unterarm, unter ihre Brüste. „Luphriam! Lass mich sofort los!“ Empörte sie sich, doch er war um ein Vielfaches stärker als sie selbst. Ein klassischer Dämonenfürst eben.
Statt auf ihre Bitte einzugehen oder zu widersprechen, leckte er sinnlich über Olympias Nacken und gab dabei ein wohliges Knurren von sich, welches durch ihren Körper vibrierte. Keuchend klammerte sie sich mit ihren halblangen Nägeln an seinen Unterarm und genoss unwillig, das Gefühl seiner warmen Zunge, an ihrem Nacken, wie sie in kleinen Kreisen weiter nach vorne glitt, unter ihr Ohr tauchte und dann ihre Ohrmuschel außen entlang fuhr. Einmal mehr verfluchte sie sich dafür, dass ihre Haare zu einem Zopf gebunden hatte, denn dann könnte er dies jetzt nicht so einfach mit ihr machen.
„H-Hör auf! Sofort!“ Sie konnte jetzt unter keinen Umständen schwach werden! Nicht solange ihre Familie in Gefahr war.
„Nur wenn du mir die restliche Nacht zugestehst, mein Engel.“
W-Was? Nein, das würde Olympia sich unter keinen Umständen gefallen lassen! Nicht von einem solch widerwärtigen Geschöpf wie ihn! „Bestimmt nicht! Das wäre ekelhaft!“
Luphriam lachte in ihrem Nacken, was Olympia einen Schauder über den Rücken jagte. „Was, du lässt lieber deine Familie dort drüben sterben, anstatt mir ein paar Stunden deiner kostbaren Zeit zu opfern? Ich schwöre dir auch, dass es dir sehr, sehr gut gefallen wird.“ Das glaubte sie ihm wohl oder übel auch!
„Luphriam! Ich schwöre dir! Wenn das deine verfluchten Dämonen sind, die meine Freunde angreifen, dann pfeife sie auf der Stelle zurück, oder...“ Olympia gab einen erschrockenen Laut von sich, als sich etwas ungewöhnlich Hartes, an ihre Pobacken drängte. Jetzt wollte sie bloß noch dringender fort von diesem ekelerregenden Wesen! Weshalb war sie überhaupt seiner Aufforderung gefolgt? Olympia wusste doch bloß zu gut, dass Luphriam niemals das tat, was sie von ihm verlangte. Allem voran einfach zu sterben!
„Na, na... Keine Panik. Ich habe dem Engel, den ihr Raphael nennt unglaubliche Stunden beschert, obwohl Engel doch bekanntlich nichts empfinden. Was denkst du, was ich dir und deinem sensiblen, menschlichen Körper wohl alles beibringen könnte? Dinge... von denen du nicht einmal geträumt hast!“ Erneut glitt seine Zunge über ihren Hals, wurde stets länger, bis sie plötzlich in den Spalt, zwischen ihre Brüste schlüpfen konnte.
Angeekelt schlug sie das unnatürlich lange Teil fort. „Du bist absolut widerlich! Als ob ich auch bloß irgendetwas angenehm finden könnte, was du tust! Du bist ein Dämon! Du bist schon längst tot, also genauer gesagt bloß eine Leiche ohne richtigen Körper!“
Ein Knurren, das längst nicht mehr wohlig klang, brodelte über den bewaldeten Boden. Ohne das sich Olympia großartig hätte währen können, drehte Luphriam sie herum, packte ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie so intensiv, dass Olympia doch glatt vergaß, wer sie war oder wo sie sich befand. Die Zunge, welche noch ekelerregend lang, zwischen ihren Brüsten verschwunden war, umspielte nun neckisch ihrem Mund, seine Hände glitten besitzergreifend über ihren weichen Körper und etwas Raues drückte sich nun gegen Olympias Rücken.
Ein Kuss, der ihr das Hören und Sehen stahl! Ein warmer Körper, der dem Anblick eines Gottes gleichen musste und ein Geschmack auf ihrer Zunge... In diesem Moment bildete sich Olympia ein, bloß von diesem Augenblick, den Rest ihres Leben verbringen zu können!
Doch die Realität erschien viel zu schnell wieder vor ihr, als Luphriam unvermittelt von ihr abließ und den Kuss beendete. Enttäuscht dass er sie einfach stehen ließ, starrte sie ihn einfach bloß an.
„War das etwa nicht echt, Olympia? Hast du da eben etwa keinen Körper an deinem Gespürt, mich geschmeckt und habe nicht ich, eine reale Gestalt, deinen Körper zum beben gebracht?“
Olympia wurde über und über Rot im Gesicht. „Jetzt übertreibst du aber! Ich hatte schon bessere Küsse!“ Nein hatte sie nicht gehabt... aber das brauchte Luphriam unter keinen Umständen zu erfahren.
Amüsiert gluckste dieser. „Wenn es dich interessiert, ich habe meine Untertanen zurückgepfiffen. Deine Familie ist in Sicherheit.“
Abweisend verschränkte Olympia die Arme vor dem Brustkorb, um sich nicht sehnsüchtig an die Lippen zu fassen. „D-Danke.“ Das Wort kam bloß widerwillig über ihre Zunge, doch das war sie ihm zumindest schuldig.
„Olympia...“ Sanft zeichnete der Dämonenfürst ihren Kieferknochen nach, während er ihr sehnsüchtig in die Augen blickte. „Du quälst mich, weißt du das? Zwar bist du hier... und ich könnte dich meiner ganz einfach gefügig machen. Aber irgendwie finde ich daran keinen Reiz. Es wäre... nicht dasselbe.“ Er biss sich erregt in die Unterlippe. „Ich will dich freiwillig, mein Engel. So wie früher.“
Erschüttert erneut für Raphael gehalten zu werden, stolpert sie einige Schritte zurück. „Ich bin nicht Raphael! Ich bin Olympia! Ein Nephilim und die Tochter des Metatron! Wie oft muss ich dir das noch sagen?“
Wieder jemand, der nicht sie wollte. Selbst ein Dämon sehnte sich nur nach dem, was er in ihr sehen wollte, nicht nach der Person, welche sie doch offensichtlich war! Genauso wie Calyle. Nur eben wesentlich älter und... toter. Waren den Männern alle gleich? Egal welcher Spezies sie entspringen mochten?
Sie wandte sich ab. „Ich hätte nie gedacht dass... sogar Dämonenfürsten so lächerlich schwach sind, wie die Deppen, welche sie anführen.“ Es klang vielleicht nicht besonders hart, doch Olympia wusste, dass sie Luphriam bloß in seinem Stolz verletzten konnte, denn etwas anderes besaßen Dämonen überhaupt nicht. Es war das Letzte, ansatzweise menschliche, was ihnen geblieben war. „Es ist fast schon traurig zu sehen, wie leicht du zu manipulieren bist.“
Hinter ihr vernahm sie lediglich ein sehr, sehr ärgerliches Knurren, doch ertrug sie seine Nähe nicht mehr. Ihr Herz schmerzte, ihr Körper brannte. Was Luphriam jedes Mal ihrem Körper antat, glich einer Folter, welche keine äußerlichen Spuren hinterließ.
Weshalb mussten auch alle stets auf ihren Gefühlen herumtrampeln? Ihr vorschreiben, wer sie zu sein hatte? Und sie sogar ausnutzen?
„Olympia, wo warst du?“ Lucy sprang aufgeregt um sie herum. „Geht es dir gut?“
Olympia winkte ab. „Ja, ja. Ich habe nur eines der Monster in den Wald verflogt und mich ein wenig verlaufen. Ist hier alles in Ordnung?“
Sie nickte aufgeregt. „Ja, niemandem ist etwas ernsthaftes passiert.“
„Sehr gut. Lysander!“ Sie winkte ihn zu sich. „Kommst du mit? Ich will eine Runde patrouillieren. Nur zur Sicherheit.“
Lysander zog lediglich eine Braue hoch.
„Ich komme auch mi-...“
„Nein, ihr bildet hier die innere Front. Komm jetzt.“ Olympia packte Lysander am Arm und zog ihn einfach mit sich.
Stöhnend beklagte sich Lysander. „Aber ich bin total müde! Ich will nicht wie ein Idiot durch die Wälder laufen, wo uns jederzeit irgendetwas anspringen könnte.“
Olympia verdrehte ihre Augen genervt. „Ich ja auch nicht, du Idiot!“
„Oh...“ Lysander stand noch einen weiteren Moment auf der Leitung, dann schien er endlich zu begreifen, was sie tatsächlich wollte. „Was, jetzt?“
„Die sind doch alle weg.“ Entgegnete Olympia. „Außerdem geht bald die Sonne auf und irgendwo hin müssen die ja verschwinden, nicht wahr?“
Überzeugt zuckte Lysander mit seinen Schultern. „Ach, könnte perverser sein. Na gut.“
Olympia belächelte innerlich, Lysander´s ständig aktiven Sexualtrieb. Es war so, als könnte absolut nichts ihn abturnen, insofern man nicht mit irgendwelchen Gefühlen kam, welche über Freundschaft oder Familie hinaus gingen.
Leider entfachten Lysander´s Küsse und Berührungen bei weitem nicht dasselbe, was Luphriam in ihr losgetreten hatte. Trotzdem half ihr die Gewissheit, dass sich der Dämonenfürst noch immer in der Nähe befand. Sie fühlte, wie er sie beobachtete. Neidisch und voller Zorn darauf, dass Olympia Lysander das gab, was sie Luphriam vehement verweigerte.
In diesem Moment, wollte Olympia nichts lieber, als jemanden genauso wehzutun, wie alle ihr weh taten. Natürlich nicht Lysander. Er war wie ein Bruder... mit einigen Vorzügen, die sie gerne von Zeit zur Zeit in Anspruch nahm. Jemanden auf den sie sich verlassen konnte, der treu an ihrer Seite stand, weil er sie auf eine familiäre Weise so mochte, wie sie war. Oder es zumindest hinnahm.
Wenn das bloß bei Calyle oder Luphriam genauso einfach wäre... Für Calyle schlug ihr Herz, aber ihren Körper entfachte Luphriam mit bloß einer Berührung.
Das traurigste jedoch an dem was sie im Moment tat, war die Tatsache, dass ihre Wut auf Luphriam, der verhasste Gedanke daran, dass er sie nicht so sah, wie sie tatsächlich war und ihm dafür genauso wehtun wollte, wie er ihr damit wehtat, tourte sie fast genauso an, wie Luphriam´s Berührung vorhin.
Kaum hatte sie ihr Höschen ausgezogen, saß sie auch schon auf Lysander´s Hüfte, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt und versank völlig in der Vorstellung, wie Luphriam sie dort in einem der Schatten beobachtete. Wie er schäumte vor Wut und es sie auch bestimmt beim nächsten Treffen fühlen lassen würde.
Stöhnend klammerte sich Olympia an Lysander´s Schultern, fragte sich, wie weit sie wohl gehen konnte, bis der Dämonenfürst einsprang, oder ob er einfach abziehen würde, da die Sonne langsam zum Vorschein kam?
„Ja... Genau da! Fester!“ Olympia bog ihren Rücken vollständig durch. Das Feuer, geschürt aus Wut und Frustration, überwältigte sie beinahe, sodass sie sich an Lysander richtig festklammern musste, um nicht den Halt zwischen Realität und ihren Gefühlen zu verlieren.
Als Olympia halbwegs wieder bei Besinnung war, schob Lysander sie von seinen Hüften. „Dreh dich um.“ Kaum stützte sie sich am Baum, mit ihren Händen ab, war Lysander schon wieder in ihr, massierte ihre schmerzenden Brüste und küsste ihren Nacken, auf der anderen Seite, wo Luphriam sie nicht abgelenkt hatte. Mit einer seltsamen Genugtuung, entdeckte sie die dunklen Augen, ihres Dämonenfürsten irgendwo, gut versteckt zwischen den Schatten einiger halbhoher Büsche. Er funkelte so hasserfüllt, dass Olympia keine Zweifel daran hatte, dass er Lysander zu gerne entzweireißen würde, um dessen Platz einzunehmen.
Begeistert lachte Olympia auf. Froh darüber, dass man ihr nicht bloß Schmerzen zufügte, sondern dass sie es auch anderen antun konnte. „Hör nicht auf!“ Forderte sie von Lysander, welcher ohnehin nicht daran dachte. Olympia konnte nicht aufhören, dem Dämonenfürsten dabei in die Augen zu sehen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sich in diesem Moment selbst viel eher als Dämon bezeichnen, als die Kreatur, welche im Schatten lebt.
Luphriam blieb bis zum Ende. Er sah voller Hass dabei zu, wie Olympia diesen wilden Ritt genoss. Sie wusste, dass er eingreifen würde, wenn er es könnte, doch die Sonne hinderte ihn daran. Noch lange lag sein Plätzchen im Schatten, doch sobald Lysander sich zurückzog und laut gähnend streckte, musste auch dieser sich auflösen und Schutz suchen für den Tag.
Selbstzufrieden lächelte Olympia vor sich hin. „Danke!“ Sie schlang beide Arme um Lysander und küsste ihn ausgiebig. „Das habe ich echt gebraucht.“
Lysander lächelte seinerseits selbstzufrieden. „Immer wieder gerne zu Diensten. Obwohl ich echt nicht verstehe, was dich bei dem Kampf so angetournt hat.“
Olympia winkte ab, während sie ihr Höschen suchte... Wo war es hin? „Es war nicht direkt der Kampf.“ Gab sie zu. „Eigentlich vielmehr die Tatsache, dass ich mich nicht auspowern konnte dabei. Normalerweise sind die Kämpfe heftiger.“
Am Boden konnte sie es nirgendwo auffinden...
„Was suchst du denn?“
„Mein Höschen. Wo habe ich es hingeworfen?“
Lysander half beim Suchen, doch auch er konnte es nicht entdecken. „Denkst du ein Tier könnte es für den Nestbau geklaut haben?“ Überlegte er laut, doch bezweifelte dies, mindestens so sehr wie Olympia.
Olympia zog einen Schmollmund, als ihr bewusst wurde, dass Luphriam es geklaut haben musste! Dieser Mistkerl! „Na dann wird das ein ziemlich teures Nest.“ Murrte sie und trat den Rückzug an.
Eigentlich hatte sie sich nicht anmerken lassen wollen, was sie die letzte Stunde getrieben hatte, doch das war ohnehin überflüssig. Ihre Mutter Celiné bedachte Olympia mit einem vorwurfsvollen Blick, während Lysander sich beim verwirrten Ryan abklatschen ließ. Dieser hatte offensichtlich keine Ahnung, worum es ging und sah auch bloß widerwillig von seinem Sportteil auf. Als er jedoch einen Blick auf das leicht durchscheinende Nachthemd von Olympia warf, war es auch ihm klar und er verdrehte lediglich die Augen.
Nachdem sie sich umgezogen und geduscht hatte, traf Olympia auf Haylee. Diese verzog zwar schmerzhaft das Gesicht und hielt ihre Seite, als sie die Treppe schwerlich hochstieg, doch gab keinen Mucks von sich.
Olympia hatte die Wunde zwar nicht gesehen, doch für einen Nephilim würde sie bis zum Ende des Tages hin verheilt sein. Leider schien es eine blöde Stelle zu sein, denn wenn immer Haylee sich irgendwie drehte, oder streckte, zog das durchtrennte Fleisch an ihrer Seite.
Für einen Moment fand Olympia es seltsam, dass Calyle überhaupt nicht an der Seite seiner geliebten Haylee herum tänzelte, doch als Olympia ihn erblickte, saß dieser draußen auf der Terrasse und war völlig in eines seiner doofen Bücher versunken. Das alleine war für sie Erklärung genug.
Oder auch nicht... Auf Kollisionskurs steuerte Olympia Calyle´s Ecke an. „Haylee ist die Treppe hinunter gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.“
Panisch fuhr Calyle hoch, sodass sein Buch völlig unbeachtet zuklappte, doch sobald er Haylee an der Treppe erblickte, änderte sich sein entsetzter Gesichtsausdruck in einen widerwilligen.
„Wusste ich es doch! Du weichst ihr aus, warum?“
Mit einem wütenden Blick auf Olympia bückte sich Calyle nach seinem zugeschlagenen Buch. „Was interessiert es dich?“
Olympia trat selbstbewusst auf Calyle zu und quittierte seinen zornigen Blick, mit einem arroganten. „Stell dir mal vor, selbst ich besitze so etwas ähnliches wie ein Herz. Und so wie dein armes Frauchen leidet, hätte ich eher erwartet, dass du hinter ihr her dackelst, um ihr jede Beschwerlichkeit abzunehmen.“
Calyle wich keinen Schritt vor Olympia´s aggressiven Auftreten zurück. „Das habe ich bloß getan, weil sie getrauert hat. An diese Art von Verletzungen wird sie sich gewöhnen müssen, wie wir alle anderen auch.“
Olympia bleckte in einem herausfordernden Lächeln, ihre Zähne. „Ach, ich dachte du würdest sie ab jetzt bemuttern und verstecken, so wie es ihre tote Mutter bisher getan hat. Immerhin darf man der Brut von Luzifer ja nicht zu viel zumuten, nicht wahr? Sonst wird sie ja doch noch böse und der gesamte Kreislauf beginnt von vorne.“
Calyle zog eine Braue hoch. „Der Kreislauf hat bereits begonnen, Olympia. Auch wenn du scheinbar die Einzige bist, die es nicht sehen kann.“ Calyle verschränkte die Arme vor dem Brustkorb. „Außerdem hat Haylee ein Trauma erlitten. Wäre sie tatsächlich so bösartig, wie ihr Vater... würden sich einige von uns bereits hüten müssen vor ihrem Zorn.“
Olympia sah ja viel in Haylee. Besonders Negatives! Das war nun einmal Olympia´s Art, vertraue niemandem und hinterfrage alles. Aber dank der Erziehung, welche sie bei der begabten Celiné, ihrer Mutter genießen hatte dürfen, rühmte sie sich doch ein wenig damit, eine ganz besondere Menschenkenntnis zu besitzen. „Stille Wasser sind tief, Calyle. Oder weshalb denkst du, konnte Luzifer so lange seinen eigenen Vater täuschen, bevor man ihm die Flügel nahm?“
„Du behauptest also, dass sie uns lediglich täuscht? Dass sie mit uns spielt, bis ihr irgendetwas besonders gemeines einfällt?“
Olympia lehnte sich noch ein Stück vor, sodass ihr Gesicht nun direkt vor dem, von Calyle war. „Luzifer wurde wie jeder andere Engel mit weißen Flügeln geboren, Calyle. Als sie jedoch fielen... wurden sie schwarz und öffneten das Höllentor. Haylee ist eine Woche hier und... schon wurde unser heiliger Zufluchtsort entweiht. Ich weiß ja, dass du nicht an das Schicksal glaubst, mein lieber Bruder. Also weshalb dann an Zufälle?“
Darauf erwiderte Calyle nichts mehr. Er wusste überhaupt nicht, was er selbst darüber denken sollte. Versuchte jemand Haylee alle Schuld zuzuschieben und sie als das ultimativ Böse hinzustellen? Oder spielte sie tatsächlich ein Spiel mit zwei Gesichtern. Vielleicht war sie ja doch nicht mehr, als eine besonders gute Schauspielerin? Immerhin muss Luzifer doch auch irgendwie so viele, strenggläubige Engel auf seine Seite gezogen haben, sodass sie sogar mit ihm gefallen sind.
Ein zweischneidiges Spiel... Haylee war einfach so einfühlsam und aufrichtig, dass er es sich nicht vorstellen konnte, dermaßen hinters Licht geführt worden zu sein. Eine Soziopathin würde doch niemals seine Bestimmung sein. Zumindest hoffte er das inständig.
„Olympia, wenn du nur gekommen bist, weil du eifersüchtig und verbittert bist, dann lass es bitte an jemandem aus, den es auch interessiert. Und deine wilden Theorien schmeiß in den Mist, dort wo sie auch hingehören. Ich habe besseres zu tun.“
Olympia lachte laut auf und wandte sich ab. „Keine Sorge, Calyle. Vor mir hast du ganz bestimmt nichts mehr zu befürchten, denn seit gestern habe ich verstanden... dass ich nicht mehr, als ein Trostpflaster für jeden bin.“ Sie blieb kurz stehen und blickte hoch zum wolkenlosen, traumhaft blauen Himmel. Zweitausend Jahre... So lange würde sie nun unter diesen Gefühlen leiden müssen. Zumindest gab es mehr als reichlich Dämonen, an denen sie ihren Frust auslassen konnte. „Hach, was soll´s. Als begeisterte Kämpferin, habe ich ohnehin besseres zu tun.“
„Olympia, ich habe dich doch nie...“
Olympia unterbrach Calyle, indem sie eine Hand hob. „Doch, hast du, Calyle. Lüg mich nicht an. Das habe ich wirklich nicht verdient.“
Calyle schwieg. Er hatte sie vielleicht als Trostpflaster benutzt, doch niemals, als ein solches gesehen. „Pia, du bist meine Schwester. Und dafür liebe ich dich, wie alle anderen. Das weißt du. Das wusstest du immer.“
Wieder zornig, fuhr Olympia herum und stupste mit dem Finger, gegen Calyle´s Brust. „Nein, du liebst uns alle nicht gleich. Und das weiß ich, weil ich in dir lese, wie in einem offenen Buch.“ Blöder Vergleich... „Und hör auf, diesen verdammten Spitznamen zu verwenden. Du weißt ich hasse das.“
„Schon gut. Reg dich ab.“ Er hob ergebend beide Hände. „Wieso bist du heute überhaupt so zornig? Schlafmangel?“ Giftete Calyle zurück. Bei Olympia wusste er wirklich nie, wo genau er überhaupt stand. Aus ihr schlau zu werden, war ebenfalls nicht seine Stärke.
„Blöde Arschlöcher sind eher mein Problem.“ Mit diesen Worten rauschte sie ab und ließ Calyle aufgewühlt zurück. Nun war auch er sauer geworden. Wie konnte Olympia bloß ihre üble Laune an ihm auslassen?

 

- - - - -

 

Beim Abendessen helfe ich lediglich bedingt mit. Ehrlich gesagt, habe ich bereits fürchterliche Angst, vor dem Sonnenuntergang. Konnte man sich das vorstellen? Ich fühle mich wie ein kleines Kind, welches noch Angst vor der Dunkelheit hat. Nicht gerade förderlich für mein Selbstwertgefühl.
„Schmerzt es noch immer so sehr?“ Ich habe mir anscheinend bereits mehrfach zischend an die Seite gefasst, in welcher das Ungetüm seine Krallen versengt hatte. Widerwillig löste ich meinen Blick von Calyle, welcher bisher jede Seite umschlägt, als wäre sie schuld am Leid der gesamten Welt und konzentriere mich auf Marie, welche mich angesprochen hat.
„Ja, und es blutet noch ein wenig. Ich dachte, es soll bis heute Abend verheilt sein?“ Erkundige ich mich verzweifelt. Alle sprechen stets von den vielen tollen Vorteilen, ein Nephilim zu sein. Bisher habe ich allerdings nie etwas von den besonderen Heilfähigkeiten mitbekommen.
„Eigentlich schon. Soll ich Odette für dich holen?“
Ich winke ab. „Nein, danke Marie. Das ist lieb von dir, aber das halte ich schon durch. Allerdings bezweifle ich, dass ich heute mitkämpfen kann. Es tut schon weh, wenn ich bloß den Arm anheben... an einen Kampf will ich nicht einmal denken!“ Alleine der Gedanke daran, lässt mich an die Wunde fassen.
„Das verstehe ich. Aber bevor du schlafen gehst, lass es noch einmal von Odette ansehen. Nur zur Sicherheit, ja!“
Ich nicke, dann werde ich auch bereits zum Händewaschen hochgeschickt. Das Bad der Mädchen ist allerdings von Katya besetzt. Sie nimmt gerade ein Bad und aus Erfahrung weiß ich, dass das länger dauert... besonders da ich Tyrone unten überhaupt nicht gesehen habe... Kopfschüttelnd verlasse ich das Zimmer wieder und sehe mich nach einer Alternative um. Ich könnte wieder hinunter und mir in der Küche die Hände waschen... weshalb ich das eigentlich nicht sofort getan habe, weiß ich auch nicht.
Mein Blick fällt auf die Treppe... Ehrlich gesagt, habe ich absolut keine Lust, sie wieder hinab zu steigen. Hinauf war das eine... aber hinunter! Hinunter tat höllisch weh! Okay, dann bleibt mir ohnehin bloß noch ein einziges freies Zimmer, mit einem zugänglichen Bad. Das Zimmer meiner Mutter.
Zögerlich lege ich meine Hand auf den Knauf der Türe. Er war silbern und die Türe selbst, aus einem sehr dunklen Massivholz. Würde man versuchen, es aufzubrechen, würde dies bestimmt einige Minuten in Anspruch nehmen. Jetzt jedoch, lässt sich die Türe mühelos öffnen. Bisher habe ich keinen Fuß mehr hier hinein gesetzt. Noch immer lag alles genauso da, wie es meine Mom zurückgelassen hat.
Das Bett war noch ungemacht, jemand hatte ihre Schlapfen neben das Bett gestellt, eine alte grüne Jacke, hing über der Lehne eines Bürostuhls und die Türe zum Bad ist einen Spalt geöffnet.
Mit einem, von Erinnerungen getränkten Lächeln auf den Lippen, betrete ich das Badezimmer und genieße für den Augenblick, einfach nur das nostalgische Gefühl, welches mich befällt. Man roch hier sogar noch ihr Shampoo, so wie das Parfum, welches sie nur abends, aus Gewohnheit, auftrug. Wann immer sie zur Arbeit gegangen war, hatte sie es aufgetragen. Jeden Abend, selbst nachdem sie an einem freien Tag geduscht hat...
„Haylee?“
Erschrocken lasse ich das Parfümfläschchen fallen und drehe mich ertappt herum. „Odette! Hast du mich erschreckt.“ Hastig wische ich drei Tränen fort und versuche es mit einem höflichen Lächeln. „W-Was gibt es denn?“
Verständnisvoll sieht sich Odette selbst im Raum meiner Mutter um. Sie hat hier nicht viel Zeit verbracht... bloß zwei Tage! Trotzdem fühlt man hier immer noch ihre Anwesenheit. „Ich war seit... diesem Tag nicht mehr hier drinnen.“ Gibt sie zu.
„Ich konnte mich auch nicht überwinden.“ Gestehe ich ebenfalls ein, während ich überlege, wie ich am besten an das Fläschchen herankomme, ohne vor Schmerzen loszuheulen.
„Willst du... eigentlich die Sachen mitnehmen, nach den Sommerferien? Oder sollen wir sie hier irgendwo verstauen?“
Mühsam gehe ich mit durchgestrecktem Rücken in die Hocke und angle mit dem linken Arm, nach dem Fläschchen. „Das... Ah! Das habe ich mir noch nicht überlegt.“
„Warte, ich helfe dir hoch.“ Dankbar ergreife ich Odette´s Hand und lasse mich von ihr hochziehen. „Seltsam, eigentlich sollte es längst abgeheilt sein. Oder zumindest mit einer Kruste bedeckt...“ Sie zieht ein Stück mein Shirt hoch. „Oh je, es hat ja sogar geblutet! Setz dich mal.“ Sie schiebt mich zum Bett, während ich weiterhin das Parfümfläschchen in meinen Fingern halte.
„Danke. Ja, es tut auch verdammt weh! Ich dachte so etwas heilt schnell?“
„Du hattest ja bestimmt in deiner Kindheit öfters Wunden. Wie ist es denn da gewesen?“ Odette wuselt zum Kleiderschrank und zieht dort einen kleinen orangen Koffer heraus.
„Ganz normal. Ich bin über Schotter gerattert. Meine Mutter hat es ausgewaschen, hat Steinchen entfernt, eine Salbe drauf getan und dann ein Pflaster. In wenigen Wochen war nichts mehr davon zu sehen. Wie bei jedem anderen Kind auch.“
Odette denkt angestrengt nach, während sie zum Bett zurückkommt, ehe sie schimpfend, mit einem Knie unsanft dagegen stößt. „Mist, wer hat denn das blöde Bett hierher gestellt?“ Flucht sie leise. „Egal. Also, was ich bisher beobachtet habe, scheint es etwas zu dauern, bis sich deine Kräfte einstellen. Deine Engelsgene reagieren instinktiv auf die der anderen. Shirt wieder hoch!“
Ich ziehe zischend den rechten Arm, aus dem Ärmel und lasse es über meiner Schulter hängen. „Ja, aber so langsam? Das mit dem Schwert beschwören und so, hatte ich ja schnell heraußen. Sogar die Verbindung zu Lucy hat spitze funktioniert. Aber meine Ausdauer und meine Heilungsfähigkeiten, lassen stark zu Wünschen übrig.“
„Hast du denn bereits das Teleportieren versucht?“ Odette wickelt den alten Verband ab und tupft die Wunde geübt, mit einem Desinfektionsmittel ab.
„Nein, Katya hat es mir zwar angeboten, aber ich habe mit diesen blöden Schmerzen einfach keine Lust auf irgendetwas. Ich bin nur froh, wenn ich einfach bloß ruhig dasitze... und nichts wehtut.“
Die Wunde unter meinen Rippen ist stark gerötet. An den oberflächlicheren Enden befindet sich bereits eine dünne, schützende Kruste, doch dort, wo mich die Bestie festgehalten hat und die Klauen besonders tief ins Fleisch eingedrungen waren, spüre ich mehr Schmerzen, als gut für mich war.
„Okay, ich sehe schon. Es liegt überhaupt nicht an deinen Heilfähigkeiten, die scheinen bereits sehr ausgeprägt zu sein.“ An einer weniger empfindlichen Stelle kratzt Odette etwas von der Wundkruste ab und findet rosa Haut darunter vor. „Da muss noch etwas drinnen stecken, was deine Regenerationsfähigkeit beeinträchtigt. Das müssen wir uns leider etwas genauer ansehen.“
Ich stöhne frustriert. „Sollten meine Engelsgene nicht auch gegen Verunreinigungen der Wunde helfen?“
„Nicht, wenn sich noch, zum Beispiel, ein Stück Kralle von einem Dämon darin befindet.“
Ich gebe einen angewiderten Laut von mir. „Ist ja ekelhaft!“ Da steckt ein Stück Dämon in mir! Wie widerlich!
„Odette?“ Calyle erschien im Eingang. „Was machst du denn... Oh, hi Halyee!“
Für einen Moment erwidere ich Calyle´s Blick, doch entschied, dass er keine Erwiderung verdient hat. Seit letzten Abend war ich fürchterlich sauer auf ihn. Oder vielmehr... maßlos enttäuscht. Nicht, dass ich nach meiner spektakulären Rettung irgendeine Art an Dankbarkeit von Calyle erwarten würde! Selbstverständlich nicht! Aber so abweisend, wie er sich mir gegenüber verhält... es tat einfach fürchterlich weh. Fast mehr, als meine Wunde... „Ah!“ Ich schreie auf, als Odette mit einer Pinzette versucht das Gewebe auseinander zu drücken. Okay, nein, meine Wunde tat definitiv mehr weh, als das, was Calyle abzog.
„Scheiße, das sieht übel aus. Was ist mit Haylee´s Heilfähigkeit?“
Odette wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Offensichtlich hat sie nicht damit gerechnet, mir dermaßen wehzutun.
„Mit meinen Heilfähigkeiten ist alles in Ordnung.“ Motze ich, mehr dem Schmerz unterliegend, Calyle an. „Da steckt nur anscheinend noch etwas drinnen.“
„Oh...“ Calyle blickt sich betroffen im Zimmer um, scheinbar wollte er meinen Blick nicht einmal mehr erwidern. Sehr nett!
Ich sah wieder an mir hinab, zu der Wunde, welche Odette noch viel vorsichtiger, als zuvor, nun mustert, und verstehe plötzlich, weshalb Calyle mich nicht ansieht. „Oh, verdammt!“ Hastig ziehe ich mein Shirt wieder über den BH und ärgere mich fürchterlich über mich selbst.
„Schon gut, ich habe nichts gesehen.“ Schwor Calyle hastig.
Grummelnd sehe ich in die Ferne. „Mir doch egal.“ Ja, gut. Das eben, war wirklich zickig von mir.
„Calyle, bleib kurz bei Haylee. Ich muss die betäubende Creme suchen gehen.“ Odette verschwindet hastig aus dem Raum und lässt mich mit Calyle alleine.
Nach einem kurzen Moment des betroffenen Schweigens öffnet Calyle erneut den Mund. „I-Ich habe wirklich nichts gesehen. Ehrlich!“
Ich zucke mit der linken Schulter. „Und ich will mich nicht wiederholen. Es ist ja bloß ein BH, wen interessiert das schon.“ Ihn offensichtlich an aller wenigsten.
Neben mir bewegt sich das Bett, als sich Calyle darauf sinken lässt. „Bist du böse auf mich... oder bloß gereizt, wie Olympia? Die ist mich am Nachmittag auch total unbegründet angestiegen.“
„Gereizt.“ Lüge ich halbherzig. „Ich habe einfach schmerzen, das ist alles.“
„Und deshalb müsst ihr es beide an mir auslassen? Sehr nett, danke!“ Nun klingt auch Calyle gereizt.
„Bitte, immer wieder gerne.“ Fauche ich zickig zurück. Mann, ich will ehrlich nicht so klingen! Aber ich bin fürchterlich erschöpft, meine Wunde schmerzt höllisch und ich fühle mich... verdammt einsam, verflucht noch einmal! Besonders jetzt, an diesem speziellen Ort, mit dem Fläschchen meiner Mutter in meiner Hand.
„Ernsthaft, was ist los? Sonst bist du doch auch nicht so...“
„...Zickig?“ Werfe ich ein. „Danke, das ist wirklich sehr charmant, Calyle.“
„...reizbar!“ Besserte Calyle mich aus. „Ich wollte >reizbar< sagen. Aber ja, zickig trifft es auch recht gut. Weshalb gehst du mich plötzlich so an?“
Ich zucke erneut mit einer Schulter. „Frag eines deiner Bücher. Bestimmt findest du da Tonnen an Seiten voller Zeug, was dich Mädchen besser verstehen lässt.“
Calyle erwidert meinen vorwurfsvollen Blick, ohne zu blinzeln. „Danke ich verzichte, denn ich habe wesentlich besseres mit meinem Leben anzufangen, als mich auf solch langweilige Lektüre einzulassen.“
Lang-... Langweilige Lektüre? Wütender, als jemals zuvor, wende ich meinen Blick stur ab. „Verschwinde und lass mich alleine Calyle. Ich bin kein kleines Baby mehr, dass man ständig Sitten muss.“
„Oh, das ist ja einmal etwas neues.“ Giftet er übertrieben zurück. „Bisher hatte ich nicht wirklich das Gefühl, dass ich dich länger, als eine Minute aus den Augen lassen darf, ohne dass du dir Ärger einfängst.“
„Wie bitte? Spiel dich mal nicht, als großer Bruder auf, klar? Immerhin bin ich es gestern Nacht gewesen, die dich gerettet hat!“
„Ja, aber auch nur, weil du mal wieder meine völlige Aufmerksamkeit gebraucht hast.“
Ich knirsche mit den Zähnen. Jetzt geht er aber wirklich zu weit, dieser Egoist! Was fiel Calyle überhaupt ein, so mit mir zu sprechen? „Ich brauche überhaupt nichts von dir, also Maße dir nicht an zu denken, dass ich ein weinerliches, schwaches Mädchen bin!“
Calyle hatte seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen gepresst. „Ganz bestimmt nicht!“ Stimmt er mir plötzlich zu, was mich völlig aus dem Konzept bringt.
Wie bitte? Ich überdenke, was ich gesagt habe, doch... ja, es hatte so geklungen, als hätte er mir zugestimmt, dass ich weder weinerlich sei, noch schwach.
„Denkst du wirklich, ich wüsste nicht, was für ein beeindruckendes und faszinierendes Mädchen du bist? Und wie stark? Weshalb denkst du, dass du mir dermaßen auf den Keks gehst?“
Keks? Oh, Mann, Calyle macht mich fertig. Hat... hat er mich eben als beeindruckend und faszinierend bezeichnet? „W-Was?“
Ich habe das Wort noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da lehnt sich Calyle unvermittelt vor und bettet seine Lippen, zu einem intensiven Kuss, auf meine. Sämtliches Verständnis, weicht unausweichlich aus meinem Kopf und hinterlässt nichts, außer wohlige Wärme. Von meinem Mund breitet sie sich knisternd über meinen gesamten Körper aus. Nicht einmal die Schmerzen von meiner Wunde bemerke ich mehr, sondern fühle einfach bloß noch Calyles Lippen auf den meinem.
Nach einem kurzen Moment werden meine Wange brennend heiß, da Calyle seine Handfläche an sie legt und sanft seine Lippen auf den meinen bewegt. Zwar habe ich in den Jahren, abgesehen von Adam, bereits hin und wieder jemanden geküsst, doch bei Calyle war es so, als sei es der erste Kuss in meinem gesamten Leben! Heiß und leidenschaftlich presst er seine Lippen auf meine, umspielt sie bloß kurz mit seiner Zunge und schon habe ich seinen herrlichen Geschmack in meiner Mundhöhle. Seufzend lasse ich mich in diesen Kuss fallen, erinnere mich daran, dass ich ja eigentlich bereits erfahren im Küssen bin und erwidere seine Zärtlichkeit bloß zu gerne...
Warte nein! Hastig weiche ich zurück und hole vor Zorn auch noch mit meiner Hand aus, um Calyle eine saftige Ohrfeige zu verpassen. „Spinnst du?“ Schreie ich ihn an und springe auf die Beine. Einen Ausbruch, den ich sofort bereue. „Ah! Verdammt...“
W-Was... Was fällt Calyle nur ein? Ahnt er überhaupt, was er mir mit diesem Kuss antut? Welche Gefühle er in mir damit wachrüttelt?
Ich laufe zum Waschbecken und drücke vorsichtig ein Handtuch auf die leicht blutende Wunde. „Warte, lass mich dir...“
„Verschwinde Calyle!“ Zische ich und werfe ihm einen zornigen Blick zu. „Auf der Stelle!“
Beim letzten Satz erscheint wieder Odette im Schlafzimmer meiner Mom. „Was ist denn hier los?“
Calyle fährt sich kurz über die brennend rote Wange, dann rauscht er auch schon aus dem Zimmer, bevor man ihm irgendetwas ansehen kann. Odette blickt ihrem Neffen verwirrt hinterher, als sie sich wieder mir zuwandte, schenkt sie mir einen auffordernden Blick.
Ich stöhne frustriert und reibe mir die schmerzende linke Hand an der Jeanshose. „Sieh mich nicht so an. Ich weiß, dass ich ein Idiot bin.“ Unglaublich, aber ich habe Calyle tatsächlich eine Ohrfeige verpasst! Ich! Eigentlich bin ich doch total verrückt nach diesem Kerl. Er hat es mir bereits, seit wir in dem Auto gesessen haben, total angetan. Nein... zuvor schon, habe ich etwas bemerkt, als wir nebeneinander beim ersten Abendessen gesessen hatten. Da war bereits irgendetwas zwischen uns übergesprungen, was ich zu dieser Zeit noch nicht verstanden habe. Aber jetzt, die letzten Wochen, in welchen er sich so liebevoll und geduldig, um mich gekümmert hat, war dieses >etwas< zu einem wahren Flächenbrand mutiert. Selbst jetzt brennen meine Lippen und meine Haut kribbelt aufgeregt.
Ich will mehr von diesem Kuss. Mehr von Calyle. Am liebsten würde ich ihm in diesem Moment einfach hinterherrennen und so lange küssen, bis die Erde einfach unterging, ohne dass wir etwas davon mitbekommen.
„Setz dich.“ Befiehlt Odette in einem strengen Ton, was ich auch vorsichtig tue. Oh Mann, ich habe doch tatsächlich Calyle geohrfeigt! Ich habe ihn geohrfeigt! Irgendwie wollte ich es selbst nicht glauben.
„Habt ihr beide Streit?“
„W-Wer?“ Fragte ich völlig unschuldig, während ich das Shirt ganz auszog. Es war ohnehin bereits voll geblutet. Dann lege ich mich über Odette´s Schoß und stoße einen wüsten Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.
„Das weißt du ganz genau. So habe ich Calyle noch nie abrauschen gesehen, was hat er denn gesagt?“
„Seltsame Sachen.“ Gebe ich zu, während Odette die Wunde mit einer betäubenden Creme einschmiert. Die Wirkung setzt beinahe augenblicklich ein und ich seufze erleichtert, da das schmerzhafte ziehen nachließ.
„So seltsam, dass du ihn sogar aus dem Zimmer wirfst?“
„Ist doch egal. Wie sieht es denn in der Wunde aus?“
Odette ließ sich bloß widerwillig ablenken. „Entzündet, rot und... Oh, da haben wir ja schon etwas. Anscheinend lernen die Dämonen dazu. Oder es war eine neue Art. Scheinbar hat er abgebrochene Widerhaken in dir gelassen. So ein... Eigentlich sogar sehr interessant...“ Sie zog vorsichtig einen aus dem wunden Fleisch und spülte es kurz in einer Schüssel ab, bevor sie es staunend bewunderte. Die Frau hatte doch Nerven!
„War´s das?“ Erkundige ich mich auffordernd.
„Entschuldige, nein. Da stecken noch mindestens fünfzehn weitere dieser Dinger drinnen.“
„Fünfzehn!“ Stieß ich ungläubig hervor.
„Mindestens.“ Stimmt sie ihrer Schätzung zu und begann weiter in meiner Wunde herumzustochern, was alles andere als angenehm war. Das Gel betäubte zwar die Schmerzen an der Oberfläche, doch je tiefer sie kam, umso heftiger wurde der Schmerz wieder.
„Willst du mir erzählen worum es ging und dich vom Schmerz ablenken, oder doch lieber weiter leiden?“
„Weiterleiden!“ Stieß ich schnell zwischen einigen hektischen Atemzügen hervor.
„Haylee, Calyle ist nicht der Typ der einem...“
„Ich sagte >weiter leiden<!“ Unterbrach ich sie.
Ergeben vollendete Odette eine weitere halbe Stunde lang ihr Werk, ohne ein einziges Wort zu verlieren. Als sie endlich alles draußen hatte, setzte sie plötzlich ein Tacker an. Ich schrie eher vor Schreck, als vor Schmerz auf. „Was tust du denn da?“
„Um es zu nähen, ist mir der Faden zu schade. In wenigen Stunden kannst du sie ohnehin wieder ziehen.“ Z-Ziehen?
Und geschafft war es. Mit Tackernadeln in der Nierengegend, betrachtete ich ihr Werk im Spiegel. Die heftige Rötung war sofort verschwunden, kaum dass das letzte Stück Dämon aus mir heraußen gewesen war. Jetzt hieß es bloß noch abwarten.
Abwarten und mich Calyle stellen... Ich dumme Kuh! Wenigstens habe ich ihm nicht die Nase gebrochen, oder Schlimmeres!
Hach... aber dieser Kuss! So etwas hatte ich noch nie erlebt. In einem Moment noch scheinen wir uns zu streiten, bloß um daraufhin wild zu knutschen. Na gut, es war nicht >wild< gewesen, wie es Leute taten die miteinander ins Bett wollen. Aber auch nicht so vertraut, wie die Küsse, welche Katya und Tyrone teilten. Es war ein... >richtiger< erster Kuss gewesen. Erst unsicher, doch als wir beide uns bestätigt fühlten, dass der andere den Kuss genauso genoss, wurde er fester... Gefühlvoller! In Calyle´s Kuss hatte all die Sehnsucht der letzten Wochen gelegen, die Angst, die Zweifel, aber auch die Tiefe seiner Gefühle für mich.
Oder war dies die Aussage meines Kusses gewesen? Hatte ich ihm das mitgeteilt? Hach, was wusste ich schon von diesen Gefühlen? Bisher dachte ich, dass ich irgendwann einmal den tollen, attraktiven Adam heiraten und mit ihm perfekte Kinder bekommen würde.
Aber jetzt? Wer würde mich wohl jetzt zum Traualtar führen? Irgendeine Mom, eines anderen gleichaltrigen Kindes? Oder schlimmstenfalls sogar, einer meiner so genannten >Nephilimbrüder<? Wie könnte ich jetzt bloß daran denken, eine Beziehung mit Calyle einzugehen, wenn meine Mutter erst seit einigen Tagen unter der Erde ruht? Wie zur Hölle, könnte ich einen solch intensiven Kuss genießen, wenn ich doch die ganzen tollen Erlebnisse, die ich mit Calyle erleben könnte, nicht mit meiner Mom teile? Wenn ich ihr nicht an ihren, nun laufend guten Tagen, davon erzählte, wie glücklich ich sei?
Mein Blick schweift durch ihr Schlafzimmer. Odette war fort, hatte sogar die Türe hinter sich geschlossen, damit ich meine Ruhe habe. Hier... Hier sollte es doch eigentlich sein. Ich sollte ihr erzählen, dass Calyle mich geküsst hat. Ihr gestehen, wie toll ich ihn fand und wie unfassbar liebevoll er mit mir umging. Nicht Adam war ein Traum... Adam erschien mir lediglich wie eine ferne Erinnerung. Nein, Calyle war nun mein Traum geworden, selbst wenn meine Gefühle bloß auf Dankbarkeit für seine Aufmerksamkeit beruhen sollten. Aber das glaube ich eher nicht.
Calyle hatte mich bereits davor gefesselt. Er hat mich auf mehr, als eine Weise beschützt. Körperlich, wie auch psychisch...
Das... Das alles würde ich nun meiner Mom erzählen. Ich würde mich ihr ohne weiteres anvertrauen, denn sie war meine Mom gewesen! Das Zentrum meines Lebens, bereits seit ich den ersten Schrei in die Welt gesetzt hatte.
Und nun war sie fort. Wer blieb mir also noch? Wer nur, außer Fremden, die mich zwar gut behandelten, aber nicht meine Mom waren. Niemand war wie sie, selbst wenn sie mich fürchterlich genervt hat. Ihre ständigen Halluzinationen hatten mich ins bittere, soziale aus befördert. Dabei hätte ich es doch sein sollen, die für sie da gewesen wäre.
Mit jedem dieser Gedanken fühlte ich mich ein bisschen schwerer. Mutlos sank ich auf ihr Bett, kuschelte mich in die Decke, welche noch immer nach ihrem unterschwelligen Parfum roch und schaffte es nicht einmal, zu weinen. Ich fühlte mich, als würde ich von einem Moment, auf den anderen, in eine schwere Depression fallen. Jeder Gedanke, zog schwer an meiner Laune. Erschlug jede Lust nach einer Muskelbewegung im Keim und führte mich in eine gedankliche Abwärtsspirale, bis ich nichts im Kopf mehr hatte, außer wie scheiße alles um mich herum war.
Psychisch gefesselt an ein Bett... Könnte ich einen Muskel dazu aufbringen, würde ich glatt auflachen. Aber im Moment fühlte sich alles so schwer an... dass ich bloß meine Augen schließen musste, um der Abwärtsspirale in mein, vor Dunkelheit Getrübtes, Unterbewusstsein zu folgen.

XI – Tackernadeln und Lesbenseiten? Oder kurz: geschlossener Friede

Ein Albtraum verfolgte den nächsten. Alle paar, gefühlte, Minuten schrak ich aus einem schrecklichen Traum hoch. Bloß, um daraufhin wieder mühsam in einen hinein zu sinken. Ich fühlte mich allein. So schrecklich alleine, als würde eine tonnenschwere Last auf mir liegen.
Von außen drangen Kampfgeräusche ein. Jemand Schrie, eine bekannte Stimme sogar, aber ich schaffte es bloß den Kopf zu drehen. Die Decke bis unter die Nase geschoben, drängte ich die Tränen zurück. Fühlte mich wie eine Verräterin, die lieber im Bett versauerte, anstatt ihren mehr oder weniger Verwandten dort draußen zu unterstützten.
Andererseits kam auch niemand, um nach mir zu sehen. Niemand rief meinen Namen, damit ich ihnen half, aus dem einfachen Grund, dass ich keine Hilfe war. Würde ich niemals sein... Ich bin schwächlich im Gegensatz zu den kampferfahrenen anderen Nephilim. Ich besaß rein gar nichts, dass ihnen helfen konnte. Nicht einmal meine Mutter hatte ich beschützen können. Das Band zu ihr, das Band zwischen Mutter und Tochter war nicht ausreichend gewesen, um zu ahnen, dass ihr etwas schreckliches zustieß.
Somit ließ ich es einfach geschehen. Ließ alles um mich herum verschwinden, indem ich einfach meine Augen schloss und einen Polster auf meine Ohren presste. Nichts weiter geschah, als dass ich tief einschlief. Weiterhin von Albträumen verfolgt wurde.
Am nächsten Morgen war ich beim ersten Sonnenstrahl bereits wach. Ich saß aufrecht und lauschte den erschöpften Schritten, der anderen Nephilim. Einige sprachen leise miteinander, doch nicht laut genug, damit ich es verstehen konnte. Ich bildete mir ein, meinen Namen zu hören. Dachte, jemand spräche über mich und dass ich nicht da gewesen sei, um zu helfen.
Aber eine böse Stimme in meinem Hinterkopf, flüsterte mir zu, das niemand über mich reden würde. Niemand tuschelte über einen Nephilim, der quasi nie existiert hat. Worüber sollten sie auch sprechen? Darüber wie nutzlos ich doch bin?
Als es bereits länger ruhig geworden war, stieg ich auf leisen Sohlen aus dem Bett und schlich mich beinahe lautlos die knarrende alte Treppe hinab. Die Treppe, auf welche mich Calyle damals nicht gelassen hatte... Die Treppe welche in ein Blutbad geführt hatte!
Hastig überwand ich den Abstand zwischen Treppe und der Küche und suchte dort nach etwas essbaren. Lustlos stocherte ich daraufhin in einem Salat herum und nippte bloß an einem Glas mit Wasser. Mein Magen knurrt und meine Blase drängte auf eine Toilette. Trotzdem konnte ich mich nicht aufraffen um irgendetwas zu tun.
Schniefend wischte ich einige Tränen fort, welche es wagten den Salat zu versalzen. „Scheiße.“ Flüstere ich und gab den Deckel wieder auf die Salatschüssel, bevor ich mich zurücklehnte, um ihn wieder in den Kühlschrank zu stellen.
Mutlos strich meine Hand nun über das längliche Glas. Die klare Flüssigkeit darin, spiegelte die bereits auf dem Horizont stehende, gelbe Sonne wieder. Aber ich wagte es nicht, ihn mir anzusehen. Ich fühlte mich, als sei ich es nicht wert, ihn zu sehen.
Den Sonnenaufgang... Der Morgenstern... Ob er wohl in diesem Moment noch zu sehen war? Der Stern meines so genannten >Vaters<? Er war es doch, der die Engel in einen langen Krieg gestürzt hatte. Würde auch ich so enden? Würde ich diese lieben und starken Leute hier, in einen Krieg stürzten, den sie nicht gewinnen konnten?
Ein Stuhl bewegte sich so ruckartig, dass ich vor Schreck beinahe von meinem fiel. „Olympia!“ Stieß ich schockiert hervor. Woher war sie denn gekommen?
„Haylee!“ Äffte sie mich boshaft nach und blickt mich dabei erwartend an. „Was tust du denn hier? Odette sagte doch, dass du dich gesund schläfst.“
Gesund schlafe... Meine Hand fasste zu der Wunde, welche ich bereits die ganze Nacht nicht mehr gefühlt hatte. Wie viele Stunden hatte ich wohl dort oben gelegen und einfach nur im Selbstmitleid gebadet?
Ich zog das Shirt hoch und entfernte den selbstklebenden Verband. Darunter fand ich nichts, außer einer blassrosa Haut wieder, so wie einige Tackernadeln. „Na toll.“ Murrte ich.
„Warte, ich helfe dir damit.“ Olympia kam mit einer Pinzette, welche sie von einem offenen Regal, über der Spüle angelte, um den Tisch herum. Dann nahm sie neben mir platz und zupfte auch schon die erste heraus. Das Gefühl war einfach bloß ekelhaft!
„Danke.“ Ich betrachtete ihr schnell verbrachtes Werk und atmete erleichtert durch „Hoffentlich habe ich jetzt keine Blutvergiftung von diesen blöden Nadeln.“ Meckerte ich, wenngleich ich dankbar für Odette´s Hilfe bin.
„Mir wäre es zwar lieber gewesen, dir diese Nadeln selbst hinein zu rammen, aber ich weiß wie unangenehm es ist, sie hinaus zu ziehen. Das ist befriedigend genug.“
Ich verdrehe die Augen. „Dir auch einen schönen Morgen, Olympia.“
Für einen skurrilen Moment, lächeln wir uns fast schon auf ein nette Weise, spöttisch an, doch der Moment verflog so schnell wie er gekommen war. „Weißt du, ich wollte es eigentlich für mich behalten, aber nachdem du Calyle gestern geohrfeigt hast...“
„Woher weißt du das?“ Rief ich erschrocken aus. Hatte er es etwa doch weitererzählt? Wie peinlich!
„Lysander hat gesehen, dass Calyle einen Handabdruck im Gesicht hatte. Und Odette hat beobachtet, wie er aus dem Zimmer gelaufen war, in dem du gewesen bist. So schwer ist das nicht zu kombinieren. Aber das worauf ich eigentlich hinaus will, ist dass du ihn nicht länger ohrfeigen musst. Ich habe Calyle abgeschrieben. Du kannst ihn dir also bedenkenlos angeln.“
Ungläubig mustere ich Olympia. Was ging bloß in ihrem schrägen Kopf vor? Zuerst giftet sie gegen mich, als sei ich der personifizierte Teufel, der ihr ihr Glück stehlen wollte. Und jetzt tat sie völlig scheinheilig? „Wie kommst du darauf, dass ich Calyle haben will?“
„Weil ihr euch schon seit Wochen anschmachtet, als würdet ihr auf unerreichbaren Sternen leben. Dabei hängt ihr doch ständig miteinander herum.“
Gut, das war mir echt zu doof. „Schön... Woher der plötzliche Sinneswandel?“
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich mit erhobenen Kinn zurück. „Ich habe entschieden, ab dem heutigen Tag, der Männerwelt zu entsagen und nur noch auf Frauen zu stehen.“
Ich prustete los. Sie hatte sich dazu >entschieden< lesbisch zu sein? In meinem Leben hatte ich noch kaum etwas gehört, das sich lächerlicher anhörte, als dieser Scheiß! „D-Du... bist also ab jetzt Homosexuell? Einfach so?“
Olympia lächelt stolz. „Ich bin viel zu heiß, um mich von diesen Scheißkerlen, als zweite Geige abstellen zulassen. Für den einen, für den ich seit Jahren geschwärmt habe, war ich bloß das Trostpflaster. Die anderen wollen mich bloß zum vögeln, weil ich heiß bin und dann kommt jemand, dem ich tatsächlich etwas zu bedeuten scheine... nur dass ich ihn an seine heiß geliebte Ex erinnere. Nein, danke! Auf solche Ignoranten verzichte ich endgültig!“
Schmunzelnd lehne ich mich ihr entgegen. „Olympia, zu entscheiden jetzt auf Frauen zu stehen, löst dein Problem nicht, dass du dich in die falschen Typen verliebst.“
Sie hob einen Finger. „Unsinn. Ich habe mich erst gestern Abend auf einigen Lesbenseiten angemeldet und schon fast hundert Nachrichten von heißen Schnitten, die mich kennenlernen wollen. Das beste daran ist ja, dass sie genauso sind wie ich. Möpse, Vagina und Bock auf kuscheln nach dem Sex. Was wünscht man sich mehr? Als... wäre man in einer Beziehung mit seiner besten Freundin.“
Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Du hast das... überraschend gut durchdacht.“ Ich konnte die Erheiterung in meiner Stimme kaum verbergen, doch ich fühlte mit Olympia soweit mit, um sie nicht offen zu verspotten. Olympia ist seit so vielen Jahren unglücklich verliebt... Irgendwie gönnte ich ihr da diese Illusion, dass sie sich in ein Mädchen verlieben konnte. Vielleicht hatte sie ja auch recht? Womöglich fand sie doch in einem Mädchen, die Liebe, welche sie sich so sehr wünschte? Bekanntlich hält das Leben viele Überraschungen bereit. Man musste sich bloß darauf einlassen.„Auf jeden Fall wünsche ich dir, dass du findest wonach du suchst, Olympia.“
Olympias überhebliche Maske riss einen Moment, in welchem sie mir einen dankbaren Blick schenkte. War es etwa tatsächlich so einfach, sich mit Olympia zu verstehen? Bisher waren wir ja nicht unbedingt auf einem friedlichen Weg gewesen. Geschweige denn, dass wir ein nettes Wort miteinander gewechselt hätten.
„Also, erzähl. Wieso hast du Calyle geohrfeigt? Das habe nicht einmal ich gewagt, nachdem er mich... benutzt hat.“ Auch wenn sich Olympia bemühte, ich nahm den Stolperer in ihrer Stimme dennoch wahr. So schnell heilten also jahrelang entstandene Wunden nicht... Auch wenn sie es sich schön redete.
„Das geht dich genauso wenig an, wie Odette! Die hat auch schon versucht es aus mir herauszubekommen.“ Gab ich zurück.
„Hat er dir an den Arsch gefasst?“ Stochert Olympia.
„Nein! Das würde er nie tun!“ Verteidigte ich Calyle.
„Wollte er dich etwa ins Bett bekommen, der alte Lüstling?“
Nun warf ich ihr einen genervten Blick zu. „Und wie Lysander ist Calyle schon gar nicht!“
Olympia winkte ab. „Auch wahr. Nun ja, egal. Bestimmt hat er dich mit irgendetwas beleidigt oder gekränkt. Ich weiß ja, dass du keinesfalls Calyle´s Typ entsprichst.“
Verlegen blicke ich auf die Tischplatte. „T-Tue... Tue ich nicht?“
Olympia lacht heiter auf. „Auf keinen Fall! Darum ist es ja auch so schräg, dass ihr zusammen gehört. Bestimmt würde er auf der Stelle nachgeben und eine Seelenverbindung zu dir eingehen, wenn du blond, dämlich und eine Schlampe wärst!“
Mein Herz verkrampft erneut, während ich Olympia entsetzt ansah. „Wie bitte?“
„Ja, Calyle hat sich bisher immer nur untreue Tussis geangelt, mit denen er...“
„Nein!“ Unterbrach ich Olympia. „Der Teil mit dem >zusammen gehören<, was meinst du damit?“
In diesem Moment sah Olympia mich an, als sei ich der größte Depp hier. „Du machst dich wohl lustig über mich. Du weist es echt nicht? Jeder weiß es doch, sogar Calyle weiß es.“ Auffordernd, mich endlich aufzuklären, blicke ich Olympia in die Augen. „Oh...“ Verlegen lehnt sie sich etwas zurück. „Ähm... Sorry. Ich dachte eigentlich, dass ihr aufgrund eures Bandes so umeinander herum eiert.“
„Ca-Calyle... und ich?“ Das erklärt selbstverständlich vieles. Vor allem erklärte es jedoch, dass Calyle mir so lange ausgewichen war, nachdem sich der ganze Schock wegen dem Tod meiner Mom gelegt hatte. Calyle hatte sich meinetwegen zurückgezogen, um mir Zeit zum Trauern zu geben. Um zu verhindern, dass ich in einer... Abwärtsspirale landete, so wie letzte Nacht.
Fluchend schlug ich mir gegen die Stirn. Ich war ja mit Abstand, der dämlichste Mensch auf der ganzen weiten Welt! „Aber spielt es denn überhaupt eine Rolle, Olympia? Ganz ehrlich... W-Wenn Calyle nicht auf jemanden wie mich steht... wie sollte er sich dann ohnehin je in mich verlieben?“ Das widersprach sich alleine in der Aussage.
Calyle stand auf attraktive Mädchen, um die er stets kämpfen musste, um sie bei sich zu halten. Aber mich hätte er an der Backe, ob er wollte oder nicht. In unserem Fall war es einfach... unwiderruflich. Uns würde nach dieser Verbindung nichts mehr auseinander bringen. Er würde mit mir leben und sterben müssen, ob es ihm gefiel oder nicht. Bereits jetzt zeigte diese Verbindung seine Wirkung. Egal ob wir darunter fürchterlich litten.

 

- - - - -

 

Für eine Weile frühstückten Olympia und ich gemeinsam, bis die ersten Eltern nach unten kamen. Besonders Olympias Mom schien überrascht zu sein, als sie uns über Müsli kichern sah und zog fragend eine Braue hoch. Natürlich hatte ich zu Mandelmilch gegriffen, welche irgendjemand extra für mich gekauft hatte!
Danach wünschte sie uns einen herzlichen guten Morgen und der Tag begann langsam. Von Celiné erfuhren wir, in diesem Fall eher ich, auch, dass wir heute abreisen würden. Letzte Nacht waren Katya, Lysander und Calyle verletzt worden. Zudem schienen diese Nacht mehr Dämonen hier gewesen zu sein, als die Nacht zuvor, was mir fürchterlich leidtat. Ich war nicht da gewesen, um zu helfen. Auch wenn ich überhaupt keine große Hilfe gewesen wäre...
Kurz vor Mittag fuhren wir dann mit gepackten Sachen los. Sabrina versuchte noch im Auto, da sie mit Calyle, Tyrone, Ryan und mir mitfuhr, irgendwie an die Kontaktdaten vom Papst zu kommen, was ich ausgesprochen schräg fand. Sie sagte, sie hätte Glück, dass sie einige Pfarrer kannte, die Kontakte zu höher gestellten hätten, welche wiederum selbst jemanden, noch weiter oben kannten. Sie telefonierte ständig herum, während ich neben Calyle gequetscht dasaß. Weshalb landete ich eigentlich ständig neben ihm? Ryan und Tyrone unterhielten sich derweilen köstlich miteinander, während Tyrone den Wagen fuhr. Calyle war vollkommen in sein Buch vertieft, welches sogar in einer anderen Sprache war, nur ich wusste nichts mit mir anzufangen.
Ich besaß kein Handy. Las keine Bücher. Konnte nicht beim Sport mitreden. Aber hin und wieder sollte ich mir zumindest für Sabrina kurz etwas merken.
Hier war ich so verdammt fehl am Platz. Weshalb konnte ich nicht bei Lucy, Olympia und Katya mitfahren? Okay, die Antwort war ziemlich offensichtlich, da ja alle über Calyle und mich bescheid wussten.
Das war mir jedoch zu blöd. So schön ich den Gedanken auch fand, für Calyle bestimmt zu sein, so sehr hasste ich es auch, dass er sich ganz offen dagegen entschied. Dass er las, war die eine Sache. Das war eben sein Ding, gegen welches ich niemals etwas sagen würde! Ohne ein Buch in der Hand, wäre Calyle einfach... nicht der den ich kannte.
Noch müde von meiner albtraumverseuchten Nacht, versuche ich mich so hin zu lehnen, dass mir der Nacken später nicht allzu sehr wehtun würde. Im aufrechten war dies jedoch fürchterlich schwierig. Ich konnte mich bloß an Calyle, oder eben an Sabrina lehnen, um etwas zu entspannen.
Calyle, jedoch ist so versunken in sein Buch, dass er mich nicht einmal bemerken würde, solange ich nicht direkt darauf liege. Von dem her, mache ich den vorsichtigen, Versuch, meinen müden Kopf, an Sabrinas Schulter zu lehnen. Ich höre, wie sie einen Moment in ihrem Gespräch inne hält und erstarrt. Doch dann entspannt sie sich und eine mütterliche Woge der Zuneigung scheint mich regelrecht zu erdrücken, als sie ihren Kopf, sanft an meinen lehnt und etwas leiser weiterspricht.
Mit dieser vertrauten Geste habe ich Sabrina wohl etwas überrascht, doch nicht im negativen Sinne. Sie scheint sich über meine unsichere Annäherung überraschenderweise sehr zu freuen und beendete das Gespräch auch so schnell sie es schaffte. Schon, bin ich tief versunken, in einem fast traumlosen Schlaf und erwache, weil der Wagen zum stehen gekommen war.
Gähnend hebe ich meinen Kopf, welcher nun seltsamerweise auf der linken Seite liegt und blicke mich im leeren Wagen um. Haben sie mich etwa weiterschlafen lassen?
Als ich mich bewege, fühle ich etwas, dass fest um meinen Rücken geschlungen liegt und noch etwas, auf meinem Knie. Die Handflächen ziehen mich seufzend etwas fester an einen Körper, über welchem ich liege. Meine Beine, welche in einer kurzen Hose stecken, liegen über der Jeans eines Jungen und mein Kopf ist vertrauensvoll an eine Schulter geschmiegt. Unter meiner eigenen Handfläche pulsiert ein kräftiger und ruhiger Herzschlag, während der vertraute Geruch von jemandem in meine Nase sticht.
Noch ganz schlaftrunken hebe ich meinen Kopf, um aufzusehen, in zwei herrlich blaue Ozeane, umrahmt von einem schwarzen Schatten, der sie hervorstechen ließ. Über diesem Ozean ging die rote Feuersonne auf, erhellte den Ozean und ließ ihn wieder heller werden, nachdem die Dunkelheit ihn verschluckt gehabt hatte.
Meine Finger glitten hoch, um den herrlichen Sonnenaufgang zu streicheln. Vorsichtig stießen sie auf rosa, doch trockene Lippen, fuhren über einen weichen Sandstrand höher, am Ozean vorbei, hinauf in die Strahlen und berührten sie ehrfürchtig, in der Angst von der Sonne verbrannt zu werden. Heute jedoch war sie mir freundlich gesinnt. Kein Feuerengel, der Tod brachte und Heerscharen anführte. Bloß die warme, heimelige Sonne, die meinen wunderschönen Ozean auf ihren hellen Strahlen trug... Ich konnte einfach nichts anderes tun, als ihn anzuhimmeln. Eigensinnig zu sein und mir zu wünschen, dieser perfekte Engel würde mir alleine gehören. Sein Licht möge bloß noch für mich strahlen...
Doch der Ozean kam näher. Er verschluckte mich mit seinem tiefen Blau, benetzte wie der Hauch einer Feder, meine Lippen und erfüllte mich mit dem Geschmack von völliger Hingabe.
Der Traum, so wunderschön und traurig zugleich, ließ eine Träne meine Wange hinab rollen. Machte den Ozean erst salzig, während ich langsam zurücksank und in seinen Tiefen landete. Seufzend und gierig, kam der Ozean über mir zum ruhen, erdrückte mich nicht, sondern hielt mich in einer intimen Umarmung, wie kein anderes Meer es konnte. Bloß dieses eine... Nur dieser eine Ozean konnte mich auf diese Weise berühren, verführen und gefangen nehmen, wie es eben geschah.
Ein plötzliches Klopfen an einer Fensterscheibe riss mich nun vollends aus dem Traum. „Na, ihr Turteltauben.“ Grinste Lysander frech und öffnete die Beifahrertüre, um ein Säckchen mit Snacks darauf zu werfen, dann ging er weiter.
Hastig setzt sich Calyle wieder auf und blickt sich, mindestens so verwirrt, wie ich es war, um. Mit rasendem Herzen und heftig pulsierendem Puls, zog ich meine Beine hoch und rutsche an die andere Seite der Rückbank.
W-Was war da eben geschehen?
Calyle´s Blick erdolchte mich beinahe. „En-Entschuldige.“ Hauchte er und fasste sich an die geröteten Lippen.
Ich tat es ihm verlegen gleich. „Ähm... Schon gut. W-Wir haben wohl noch geschlafen... irgendwie.“
„Ja...“ Stimmt Calyle mir hastig zu und räuspert sich.
Langsam kehrt auch die Erinnerung zurück! Ich erinnerte mich plötzlich daran, wie Sandra meinen Kopf sanft hinüber zu Calyle geschoben hatte, damit ich an ihm lehne. „Nur kurz, Mäuschen, ich muss schnell auf die Toilette.“ Es war der Rastplatz gewesen, an dem wir bereits einmal gehalten hatten. Eigentlich war es bloß eine etwas größere Tankstelle, in welcher man abhängen konnte.
Calyle ist zu dieser Zeit ebenfalls am Einschlafen gewesen und hat mich zu sich gezogen, damit ich bequemer liege. Irgendwie scheinen es meine Beine auf seinen Schoß geschafft zu haben und seine Arme um meinen Körper.
D-Das war doch das Band gewesen, nicht wahr? Genau dieses musste schuld daran sein, dass wir... dass wir... Verdammt, ich hatte eben auf der Rückbank eines Autos mit Calyle herumgeknutscht! Verlegen bedecke ich mein Gesicht mit beiden Händen. Ich bin definitiv der größte Volldepp auf Erden!
„Haylee, es tut mir leid. I-Ich war noch...“
„Ich weiß! Passt schon. Außerdem sollte ich mich eigentlich entschuldigen.“ fügte ich hastig an. „D-Du hast absolut nichts falsches getan... gestern. Ich hätte dich nicht ohrfeigen dürfen, das tut mir schrecklich leid! Ganz ehrlich! Das war falsch von mir.“
Calyle schüttelte vehement den Kopf. „Nein, es war falsch von mir. Und vor allem war es der falsche Ort dafür. Ich verstehe, dass du... nicht glücklich darüber gewesen bist.“
Doch bin ich! Und wie glücklich ich darüber gewesen bin! Zumindest für einen Moment lang...
„Ach hier sind sie!“ Flötete Katya plötzlich an der vorderen Türe. „Lysander hat es hierher gestellt.“ Dann bückt sie sich und blickt strahlend, wie eh und je, zu uns nach hinten. „Ach, seid ihr auch endlich wach? Wir wollten euch nicht wecken und haben euch daher etwas mitgenommen.“ Sie reicht uns das Päckchen mit Snacks, so wie anderem Zeug, welches darunter begraben lag und reichte es uns nach hinten. „Sucht euch einfach irgendetwas aus, weil bis zum Abendessen gibt es nichts anderes.“
Dann nahm sie am Beifahrersitz platz, Tyrone hinter dem Lenkrad und weiter ging es.
„Wo ist denn Sabrina?“ Erkundige ich mich, während Calyle nach einer Flasche Eistee sucht.
„Bei Odette, Olive, Olympia und... Witzig, alle >O< sitzen in einem Wagen.“ Grinste sie amüsiert. „Ähm, bei den anderen Mom´s vorne irgendwo. Odette will ihr beim telefonieren helfen oder so.“
„Und, jetzt ausgeschlafen ihr beide?“ Stichelte Tyrone, woraufhin er von Calyle einen finsteren Blick durch den Rückspiegel kassierte.
„Ich bin auf jeden Fall wach.“ Murmelte ich und suchte nun selbst nach einer Flasche Wasser. Mal wieder hatte niemand daran gedacht, dass ich Veganerin bin, daher gab es belegte Brötchen mit Wurst und ähnliches. Gerade einmal die Chips konnte ich essen, da sie in Sonnenblumenöl gebrutzelt worden waren.
Calyle, aufmerksam wie bereits von Anfang an, deutete auf eines der Brötchen. „Soll ich dir die Wurst heraus nehmen?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein, der Salat schmeckt so wie so bereits danach. Aber danke.“ Für einen Moment habe ich tatsächlich das Gefühl dass zwischen uns eine unausgesprochene Zuneigung schwingt. Die Bestätigung, dass unsere Gefühle füreinander, nicht bloß an einem mystischen Band liegen.
Katya, feinfühlig wie eh und je jedoch, unterbrach diese Schwingung in Windeseile. „Habt ihr schon gehört, wer wo schläft? Vermutlich nicht... Haylee du schläfst mit Lucy bei Odette. Calyle, du wirst dich mal wieder mit Lysander begnügen müssen.“
Calyle zuckt mit den Schultern. „Was ist mit Ryan?“
„Fährt mit Celiné und Olympia mit, da er etwas geschäftliches erledigen muss. Er kommt aber morgen wieder mit ihnen her, danach müssen wir die Räume erneut aufteilen.
Calyle und mein Blick trafen sich für einen Moment, dann sahen wir beide schüchtern wieder weg. Mein Seelengefährte. Der Mann meines Lebens... So nahe und doch... schien irgendetwas unausgesprochenes zwischen uns zu liegen. Etwas, dass es uns schwerer machte, als unbedingt nötig.
Mein Feurengel... Wie dumm war dieser Gedanke nur gewesen? Und wie kitschig erst diese ganze Sache mit dem Ozean und dem feurigen Sonnenaufgang? Mein Herz schlug alleine bei dieser Erinnerung wie wild und meine Lippen prickelten.
Ohne es zu merken, fasste ich mir erneut an die Lippen, als säßen die von Calyle noch immer dort und ich konnte sie zärtlich streicheln. Leider war dem nicht so. Er starrte stur aus dem Fenster und wechselte hin und wieder ein Wort mit Tyrone oder dessen Freundin. Katya wiederum konnte nicht aufhören davon zu schwärmen, wie froh sie war, diese Nacht nicht gegen ekelhafte Monster antreten zu müssen.
Tyrone schien wiederum völlig anderer Meinung zu sein. Er fand, dass es ein angenehmer Ausgleich zu seinem fehlenden Training im Sommer sei.
Wie lange es jedoch dauern würde, bis dieser Ort endlich wieder heilig wäre, wusste jedoch niemand in diesem Auto.

XII - Der Engelsblick

Bei Lucy angekommen, zog sie mir das große Sofa aus. Beim letzten Besuch hier, hatte ich Katya´s altes Zimmer besetzt. Heute jedoch, musste Lucy mit mir vorliebnehmen, was ihr richtig zu gefallen schien. „Wir könnten ja noch etwas unternehmen, wenn du magst?“ Schlug sie vor.
Ihre Worte rissen mich aus meiner Versunkenheit und der drohenden Abwärtsspirale in meinen Gedanken. „W-Wohin denn?“ Erkundigte ich mich irritiert.
„Na in einen Club, oder so. Ich weiß nicht. Was hast du denn in der Stadt so gemacht, wenn du Spaß haben wolltest?“
„Ich hing mit... Freunden ab.“ Wich ich ihrer Frage aus. Eigentlich war es ja auch keine direkte Lüge. Ich hatte immer mit Jem und Adam abgehangen, bei mir zuhause, oder an den warmen Tagen irgendwo draußen. Wir hatten hin und wieder Alkohol versucht oder uns in einer Karaokebar versucht. Aber... Fortgegangen? An so etwas Banales könnte ich mich nicht erinnern.
„Hättest du denn keine Lust? Ich weiß...“ Sie biss sich verunsichert auf die Lippen. „...Du denkst bestimmt noch viel an deine Mom... Eigentlich sollte ich dich überhaupt nicht fragen, tut mir leid.“
Ich winkte ab. „Ist in Ordnung, du meinst es ja nur gut.“ Lucy schenkte mir ein erleichtertes Lächeln. „Aber nein. Ich denke ich passe heute.“ Nach dem vielen Chaos heute, wollte ich bloß noch alleine sein.
Lucy kam zum ausgezogenen Sofa und setzte sich, wie es eine enge Freundin tun würde, einfach neben mich. „Okay, wenn es nicht deine Mom ist, was ist es dann, dass dich so runter zieht? Du siehst aus, als würde jeden Moment über dir so eine Comicwolke erscheinen und zu regnen beginnen.“
Ich schmunzelte leicht. „Nur das übliche. Nephilim, Dämonen, der Tod... Calyle...“
Mehr brauchte ich auch schon nicht mehr zu sagen. „Ich habe von der Ohrfeige gehört. Ist es wirklich so schlimm zwischen euch?“
Oh Mann, hier mussten alle denken, dass Calyle und ich dem mega Zoff hatten! „Nein, Unsinn! W-Wir haben uns überhaupt nicht gestritten. Ganz ehrlich! Zwischen uns ist es... bloß angespannt. Ich... Ich weiß nicht wirklich wo ich bei ihm stehe.“
„Hi, Mädels!“ Flötete Katya und zerstörte damit einen emotionalen Moment zwischen Freundinnen. „Ihr seid noch überhaupt nicht fertig!“ Als hätten wir sie in ihrer Ehre beleidigt, verzog sie einen Schmollmund. „Auf euch ist aber auch wirklich kein Verlass. Los, jetzt zieht euch endlich um, ich habe einen Mordshunger!“
Völlig verständnislos blickte ich zwischen ihr und Lucy herum. „Ich bin noch gar nicht dazu kommen, Haylee zu fragen, ob sie mitkommen will.“ Erklärte Lucy. „Zumindest nicht so richtig...“
„Wohin denn?“
Katya zog mich ohne Gnade vom Bett und mit zu Lucy´s Kleiderschrank. „Wir gehen jetzt schick essen. Alle Nephilim zusammen, versteht sich. Und danach machen wir Party!“
„Jup, ein großes, tolles Dreifachdate.“ Spottete Lucy, wobei bloß ich die Bitterkeit in ihrer Stimme wahrzunehmen schien. Natürlich... Ryan war ja nicht dabei.
Katya lachte begeistert auf. „So kann man es natürlich auch sehen! Außer... Nun ja, dass du und Lysander auf die Pirsch gehen werdet.. Außer du hast vor endlich...“
„Nein!“ Empörte sich Lucy und verschränkte mit einem angeekelten Blick, die Arme vor dem Brustkorb. „Lysander ist ein Schwein. Wenn ich mich auf den einlasse, habe ich alleine nach einem Kuss von ihm Vaginalkrebs oder so etwas.“
„Ich habe dich auch lieb, Schwesterchen.“ Spottete es aus dem Türrahmen und wir alle fuhren erschrocken herum. Lysander stand, herausgeputzt wie eine Tunte im Türrahmen und lächelte frech.
Lucy seufzte schwer. „Du weißt wie ich es meine.“
Lysander´s Lächeln wurde noch breiter und Calyle trat hinter ihm hervor. „Genauso wie alle anderen Mädchen, die auch nur ein bisschen Würde übrig haben.“ Im Vorbeigehen klatschten er und Lucy sich ab, was mich irgendwie neidisch werden ließ.
„Ihr seid echt fies... Dabei habt ihr noch nicht einmal getrunken! Oder? Habt ihr?“ Lysander sah sich suchend um, doch fand keine verdächtige Stelle, die nach den Umrissen einer hektisch verstecken Flasche aussah.
Ich lenkte von diesem Thema zurück auf das vorherige. „Ähm, würde mich endlich einmal jemand einweihen?“
Calyle nahm schweigend neben Lucy am Bett platz und würdigte mich nicht einmal eines Blickes! Wie fies war das denn? Lucy warf Katya einen auffordernden Blick zu und Lysander wartete einfach nur auf... irgendetwas. Keine Ahnung was in seinem Kopf vor sich ging, aber er schien nicht mehr ganz bei der Sache zu sein, wie zuvor noch.
„Eigentlich machen wir das immer, wenn wir vom Sommerurlaub zurückkommen. Wir, alle Nephilim, gehen zusammen schick essen, schweigen uns eine Stunde an oder zanken uns. Danach machen wir Party, betrinken uns und hassen am nächsten morgen sämtliche laute Geräusche.“ Kicherte Katya amüsiert. „Da wir nicht wissen, ob wir zurück können ins Haus am See, haben wir vorhin entschieden, dass wir es jetzt schon tun.“
„Ohne Olympia und Ryan?“ Stellte ich die Frage, welche Lucy sich offensichtlich weigerte zu fragen. „Ich dachte, die kämen morgen wieder?“
„Da kann man bei Ryan nie sicher sein.“ Erwiderte Tyrone, welcher sich an Lysander vorbeischob und wie ein Magnet auf seine Freundin zuhielt. Sie streckte die Arme aus, als sie seine Stimme hörte und ließ sich in einen langen Kuss sinken.
Betroffen wandte ich den Blick ab und starrte auf den Fußboden. Das wollte ich mir wirklich nicht mitansehen... „Egal, wir können auch so Spaß haben, oder?“
Spaß... Ha. Ha. Dass ich nicht lache!
Katya, Lucy und ich saßen auf der einen Seite eines noblen Restaurants, in welches uns Tyrone eingeladen hatte. Tyrone, Lysander und Calyle genau in derselben Reihenfolge uns gegenüber. Alle schwiegen wir, sahen in die Karte und Lucy´s Finger trommelten einen traurigen Rhythmus.
Das wurde hier immer schräger! Während Tyrone und Katya sich gegenseitig an turtelten, als seien wir anderen überhaupt nicht anwesend, las Lysander sich durch die Weinkarte. Lucy´s Blick war gelangweilt in die Ferne gerichtet und Calyle las seine Menükarte, als handle es sich, um eine spannende Stelle in einem Krimibuch. Langsam bekam ich tatsächlich Migräne!
Migräne! Ha. Ha... „Also da waren mir die Widerhaken in der Seite lieber, als dieses >Essen<.“ Murmelte ich vor mich hin, woraufhin Lucy amüsiert schnaubte. Auch Lysander warf mir einen erheiterten Blick zu, nur Calyle hob seine Karte höher, als könne er mich dadurch besser ausblenden.
Wütend funkelte ich dieses Stück... Papier... Pappe oder Plastik... Aus was es auch immer bestand, ich wünschte einfach, es würde in Rauch aufgehen! Es dauerte eine Minute, da ging mein Wunsch endlich in Erfüllung. Nein, die Menükarte ging natürlich nicht in Flammen auf, doch Calyle legte es genervt nieder und erwiderte meinen bösen Blick mit einem verbissenen.
Plötzlich deutete er auf die Türe. „Jetzt!“ Zischte er dann und sprang auf, ohne noch etwas Weiteres hinzuzufügen. Wieso war >er< jetzt verärgert? Ich bin total verwirrt!
Hastig kam ich auf die Beine. Zum Glück hatte ich mir von Lucy eine hübsche Bluse leihen können, kombiniert mit einer meiner engeren Hosen, sah ich tatsächlich etwas sexy aus in dieser noblen >Hütte<.
Hastig zog ich meine kneifende Hose zurecht, dann murmelte ich eine Art Entschuldigung, bevor ich Calyle hinterher eilte.
„Haylee?“ Erkundigte sich Lucy und sprang bereits auf, um mir nachzueilen.
Ich hob eine Hand. „Schon gut.“ Beruhigte ich sie. Dann ließ ich mir von einem höflichen Mann, die Türe öffnen und suchte am Parkplatz nach meinem rothaarigen Engel.
Ich fand ihn direkt neben der Türe wieder, er packte mich am Handgelenk und zog mich einfach mit sich mit. „W-Wo gehen wir denn hin?“
Entgegen meinen normalen Treter, hatte Katya es als angemessener empfunden, ich ginge mit geliehenen Stöckelschuhen. Zwar hatte sie mich zu keinen mit einem dünnen und lauten Absatz überreden können, doch besaß Katya selbst welche, die verdammt hoch, doch trittsicher waren. So kam es, dass ich sogar Calyle ein kleines wenig überragte.
Als wir das Auto erreichten, einem von zwei, mit welchen wir hierher gefahren waren, drückte Calyle einen Knopf und die Sperre sprang auf. Aber... Lysander hatte doch den Geländewagen gefahren, oder? Lysander den einen mit den Jungs, Katya den anderen mit uns Mädels darin. Jetzt öffnete Calyle einfach die Beifahrertüre, dann umrundete er das Auto, um sich auf den Fahrersitz zu werfen.
Etwas verwirrt und deutlich vor den Kopf gestoßen, blieb ich einfach stehen. Seit wann war Calyle denn so herrisch? Seltsamerweise erschreckte er mich sogar ein klein wenig...
„Steig ein!“
„Wohin fahren wir denn?“ Erkundigte ich mich verunsichert.
„Nirgendwo, ich will einfach nur mit dir sprechen, ohne dass uns zufällig jemand belauscht.“
Na gut, damit konnte ich leben. Aber nicht damit, dass er so wütend auf mich zu sein schien. Eigentlich war doch ich diejenige, die sauer war, oder täuschte ich mich da etwa? Ich verstand Calyle offensichtlich kein bisschen! „O-Okay...“ Vorsicht nahm ich neben ihm Platz und schloss die Beifahrertüre.
Calyle wandte sich mir direkt zu und blickte mir verstörend ernst in die Augen. „Es tut mir leid. Ich weiß, es ist total unfair dir gegenüber, aber... i-ich kann das einfach nicht!“
Verständnislos hob ich eine Braue. „Das Essen?“
Calyle stöhnte frustriert. „Unsinn, wer redet denn vom Essen? Ich meine... >das<.“ Er deutete von sich auf mich und wieder zurück. „Ich mag dich total, Haylee. I-Ich mag dich so sehr, dass ich sogar total verrücktes Zeug von dir träume und das... macht mich wahnsinnig. Denn weißt, du ich will diese Verbindung nicht! Ich >kann< so etwas einfach nicht. Es fühlt sich nicht... richtig an.“
Ich musste den Blick abwenden, damit Calyle den Schmerz darin nicht sehen konnte. Ich... fühlte mich für ihn falsch an? Natürlich, immerhin entsprach ich bei weitem nicht seinem Beuteschema, noch trug ich ein >gutes< Erbe in mir.
„Versteh mich bitte nicht falsch, ja? D-Dieser Kuss auf der Rückbank war... überraschend.“ Ja, klar! Überraschend! Wer´s glaubt. „Doch ich glaube, dass wir einen großen Fehler machen würden, wenn wir dem einfach so bedenkenlos nachgeben.“
Nun sah ich ihn wieder verwirrt an. „Was meinst du?“ Heute stand ich tatsächlich auf der längsten Leitung aller Zeiten.
„Bei dieser seltsamen Verbindung. Du weißt doch bereits, dass wir beide vermutlich...“
„Wie Katya und Tyrone.“ Ich nickte. „Ja, Olympia hat es mir erzählt, weil sie dachte, ich hätte es selbst schon herausgefunden.“ War jedoch nicht so gewesen.
„Genau. Und stellt dir das jetzt genau vor, Haylee. Wir leben vermutlich bis zu zweitausend Jahre. Insofern uns niemand vorher umbringt. Kannst du dir... auch nur ansatzweise vorstellen, wie lange das wäre? Was... in all dieser Zeit passieren wird?“
Abgesehen von der fortschreitenden menschlichen Evolution? Natürlich war mir bewusst, dass dies eine sehr, sehr lange Zeit sein würde. Besonders für zwei Menschen, die sich überhaupt nicht kannten.
„Wir wären aneinander gebunden, ohne richtig zu verstehen, was es überhaupt bedeutet.“ Flüsterte ich leise, doch Calyle hörte es dennoch.
„Genau. Katya und Tyrone kennen sich seit sie Windeln getragen haben und fühlten sich stets als Freunde zueinander hingezogen, ehe sie alt genug wurden, um daraus mehr zu entwickeln.“ Bei uns jedoch, war es ganz anders. „Du kannst mich von mir aus hassen, ich weiß dass es egoistisch ist, aber wir wissen noch so verdammt wenig über Nephilim...“
Ich schnaufte lächelnd. Calyle hatte so recht. So verdammt recht! Langsam wende ich ihm wieder meinen Blick zu und traf auf seinen sorgenvollen. „Wie könnte ich dich dafür hassen?“ Fragte ich, als etwas tief in mir so leise flüsterte, dass ich es kaum wahrnahm. „Für deinen Mut, das hier überhaupt laut auszusprechen... bewundere ich dich vielmehr, Calyle. Nein, ich beneide dich. Ich wünschte wirklich, ich besäße deine charakterliche Stärke.“
Nun gleitet ein ebenso aufrichtiges Lächeln, über Calyle´s Lippen und verziehen sich zu einem so schönen Lächeln, dass mir das Herz schwer wird. „Du kannst mich wirklich verstehen?“ Hoffnung und Angst glänzten in seinen Augen. Aber ja... Ja, verdammt ich verstand ihn so gut!
Ich nicke zwar, doch unbemerkt stiehlt sich dennoch eine Träne über meine Wange hinweg. Überrascht davon, wischte ich sie hastig fort.
„Oh nein! Haylee, ich wollte dich doch nicht zum Weinen bringen. Es tut mir so leid!“
Lachend tue ich es ab. „Quatsch, ich weine überhaupt... nicht. Ich bin eigentlich glückli-.... Ich verstehe es nicht.“
„Was verstehst du nicht?“
„W-Was du eben gesagt hast.“
„W-Was? Die Sache mit dem Weinen.. oder...“
„Nein, nein. Du hast doch eben etwas geflüstert, oder?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, wieso sollte ich?“
Da war es wieder! Es schien von überall aus dem Wagen her zu kommen. Etwas... dass ich nicht verstand. Etwas, dass ich nicht verstehen konnte. Noch nicht... Oder doch?
„Haylee, du weinst ja!“
Überrascht schließe ich die Augen und versuche, alles fort zu blinzeln, doch schaffe es nicht richtig. Warm liefen mir fünf oder sechs Tränen hinab, ohne dass ich mich danach fühlte. Erneut schloss ich die Augen, presste sie fest zusammen und rieb mit den Handrücken über meine Lider.
„I-Ich weine nicht. Ich weiß nicht was das ist!“ Beklage ich mich. Als ich erneut die Augen öffnete... war es einfach fort. „Huch!“ Nichts mehr zu sehen. Keine nassen Tränenspuren, keine feuchten Flecken auf meiner Hose.
„Bist du sicher? Geht es dir gut, Haylee?“
Hastig nicke ich. „J-Ja. Natürlich... Vielleicht?“ Nun war ich mir selbst nicht mehr allzu sicher.
„Was ist denn gerade eben geschehen?“ Calyle ergreift meine Hand und ich blicke zu ihm hinüber. Überrascht schnappe ich nach Luft. Mir blieb... das Herz stehen und ich begriff erst in diesem Moment, was ich nicht hatte verstehen können! „D-Deine Augen!“ Keucht Calyle und greift mit seiner Hand an meine Wange. Mit dem Daumen unterstrich er die Wölbung meines Jochbeins.
Ich öffnete zwar den Mund, um etwas zu sagen, doch schaffte es nicht. Es war einfach... Mir fehlten die Worte! Calyle war einfach so... so wunderschön! Bewundernd schmiege ich meine Wange in seine Handfläche. Mein Feuerengel... So strahlend schön, temperamentvoll und geschickt! Nun sah ich >es<. Für einen kleinen Moment sah ich, was ich bisher nicht verstehen hatte können.
„E-Es gibt sie tatsächlich!“ Seufze ich heiser. Mir wollten die Worte kaum über die Zunge gehen.
„Was denn? Wovon sprichst du?“
Calyle´s Worte lenken mich von seinem Schatten, welcher das Licht der Laterne ins Auto warf, ab und lenkten mich auf seine tiefblickenden Augen. „I-Ich... Siehst du es denn nicht?“ Erkundige ich mich etwas verwirrt.
Als ich wieder hinter ihn sehe, zu seinem Schatten, war es jedoch fort. Dieses kleine Wunder... E-Es war einfach verschwunden, so als hätte ich es mir lediglich eingebildet.
„Was sehe ich denn nicht? Beschreibe es, Haylee.“
Wie sollte ich diesen Glanz bloß beschreiben? Die ganze Art, wie er geleuchtet hatte und strahlte? Die wunderschönen, seidigen Flügel, welche sich hinter ihm abgebildet hatten, nicht erkennbar für das menschliche Auge, aber dennoch da...
Sprachlos schüttle ich den Kopf. Da war eben etwas gewesen. Etwas, dass tief in mir etwas bewegt hatte, um endlich >sehen< zu können.
„M-Mein Vater!“ Stoße ich überrascht hervor. Er muss mir dieses Geschenk gemacht haben!
„Dein Vater? Du hast Luzifer gesehen?“
Luzifer? Ich schüttle langsam den Kopf, immer noch zu verwirrt, um das alles zu verstehen. Aber nein... „N-Nein, das habe ich nicht. Aber er hat mir dich gezeigt.“
„Mich?“ Fragte Calyle verständnislos. Nun war er noch verwirrter, als ich es ohnehin bereits bin. „Aber ich sitze doch bereits die ganze Zeit neben dir!“
Ich lache auf, lehne mich vor und drücke ihm sanft meine Lippen auf. Es war bloß ein kurzer Kuss, ein leichter Hauch, wie das Gewicht einer Feder. Dann zog ich mich auch bereits wieder zurück.
Als Calyle die Augen öffnet, sind auch seine Augen von einem strahlenden Gold umgeben. Das sanfte Blau war verschwunden, doch nicht ausgelöscht. Es war bloß in den Hintergrund gerückt, um etwas mächtigeren den Vortritt zu geben.
Sein Mund klappte auf. „Oh verdammt... D-Das... Das ist...“
Calyle blinzelt heftig und seine Sehkraft verging. „Du hast es auch gesehen!“ Stelle ich begeistert fest.
„Na klar!“ Lacht Calyle auf. „Du bist...“ Verlegen biss er sich auf die Unterlippe und als ich schon denke, er würde sich wieder zurückziehen wollen, lehnt er sich vor, um mich zu küssen.
Erleichtert seufzend, lasse ich mich in diesen viel schwereren, viel intensiveren Kuss fallen. Genieße einfach für einen Moment voll und ganz, das Gefühl seiner Lippen auf meinen und lasse ihn ein. Sein Geschmack trifft mich erneut wie die gebändigte Welle des Meeres. Fest und kein bisschen zaghaft mehr, küsst er meinen Verstand fort, sodass kaum noch etwas davon übrig bleibt.
Geschickt bewegen sich seine Lippen über meine, lassen mich vergessen, dass es neben uns auch noch etwas gab, dass man >Welt< nannte und die damit eingehenden Sorgen. Für diesen Moment hatte ich tatsächlich das Gefühl, als sei dieser Engel extra für mich herabgestiegen, um für mich da zu sein. Meine... andere Seite!
Hastig stoße ich Calyle von mir, was mir im selben Moment noch fürchterlich leidtat! „N-Nein! Das wollten wir doch nicht!“ Stoße ich keuchend hervor und sauge dankbar jedes Sauerstoffmolekül ein, welches ich erwischen konnte. „N-Nicht mehr küssen! Bitte! Abstand!“ Stoße ich, meine Gedanken zusammen sammelnd, hervor.
„G-Genau!“ Stimmt Calyle mir, rot werdend zu. „Abstand! Genau das haben wir ja gesagt.“
„Und kein Körperkontakt mehr!“
„Unbedingt!“ Er nickt heftig mit dem Kopf.
„Scheiße.“
„Scheiße.“
Wir beide sehen uns überrascht an, doch lächeln dann. Verdammt war das nahe gewesen! Noch immer fühlte ich das Kribbeln, welches zwischen uns hochgestiegen war.
Genau das hatten wir doch vermeiden wollen! Wir Idioten!
„Wir sollte hinein gehen.“
„Mit Abstand.“ Murmelte ich, doch anstatt auszusteigen, lehnte ich mich im Sitz zurück. Also wenn das eben bloß ein kleiner Vorgeschmack gewesen war, auf das, was uns nach einer richtigen Seelenverbindung erwartete, bereute ich es, diesen Kuss dermaßen herb abgebrochen zu haben! Nein, ich schämte mich sogar!
Es könnte so wunderschön und perfekt zwischen uns sein... Harmonisch...

 

- – - - -

 

Die Rückfahrt fühlte sich... seltsam lang an. Es hatte sich als schwieriger, denn gedacht herausgestellt, den anderen zu erklären, was Calyle und mir widerfahren war. Niemand schien es so recht verstehen zu wollen, geschweige denn zu können.
Bei Odettes Haus wurden Lucy und ich zuerst abgesetzt. Schweigend traten wir den Rückzug ins Haus an. Was ihr durch den Kopf ging, konnte ich mir nicht vorstellen, doch ich zu meinem Teil, bekam Gesehenes einfach nicht mehr aus dem Kopf. Dass was ich heute Abend gesehen hatte, war nicht bloß total verrückt gewesen, sondern auch einschüchternd und atemberaubend im selben Maße. Wie sollte man so etwas auch bloß beschreiben? In jedem von uns steckte ein winziger Teil einer Macht, die bereits seit Jahrtausenden verehrt wird. Egal ob man an Götter, Engel oder Fabelwesen dabei dachte, wir waren definitiv ein Teil davon, doch bei mir trat es aus irgendwelchen Gründen erst viel zu spät auf... und dann so rasant? Bisher hatten die anderen Nephilim alles selbst heraus finden müssen. Ihre Stärken, wie man Engelsschwerter schmiedete, Teleportation, Engelsmodus... Trotz der Wochen, welche ich bereits mit ihnen verbracht hatte, schien mir ein riesiger Teil an Verständnis zu fehlen.
Ich weiß, meine Mutter hatte es lediglich gut mit mir gemeint, sie hatte mich. Als selbst denkendes und unbeeinflusstes Mädchen erzogen. Ich sollte nichts über meine Herkunft erfahren, um... was nur? Natürlich war die rationale Entscheidung der frisch gebackenen Müttern damals gewesen, das Übel im Keim zu ersticken. Ergo, mein bösartiges Schicksal, welches ich durch Luzifers Blut... oder was auch immer, vererbt bekommen hatte.
Doch... wie konnte das, was ich heute gesehen habe, bloß bösartig sein? Die Macht welche in jedem in uns schlummerte, war zwar nicht unbedingt berauschend und ich sehnte mich definitiv nicht nach der Weltherrschaft. Trotzdem lag etwas darin, was mir erst nach und nach bewusst wurde. Reinheit? Friede? War es das?
Vielleicht auch Sicherheit und Kraft?
„Haylee, kann ich dich um etwas bitten?“
Ich schloss die Türe hinter mir und wandte mich Lucy zu, ehe ich aus meinem Mantel schlüpfte. „Klar, um was geht’s denn?“
„W-Würdest du es mir zeigen?“
Irritiert runzelte ich die Stirn. Ich hatte absolut keine Ahnung, wovon sie sprach. „Was denn?“
„Das, was du gesehen hast. Du und Calyle meine ich.“ Bat sie schüchtern.
Ich schlüpfte aus meinem Mantel und hing ihn in die Garderobe. „Ähm... Ja, eigentlich gerne... Aber ich weiß nicht wie ich das, das erste Mal angestellt habe...“
„Im Engelsmodus?“ Bat sie daraufhin unerwartet.
Für einen Moment dachte ich an das, was ich im Wagen gefühlt habe. Diese unbändige Anziehung zu Calyle, wie wunderschön er ausgesehen hatte. Mächtig, erleuchtet... Ich wusste nicht wirklich, ob es ein Wort dafür gab, was ich da gesehen habe. Aber wollte ich diesen Anblick wirklich teilen? Eifersucht kochte in mir hoch, denn ich wollte nicht, dass jemand Calyle mit denselben Augen sah, wie ich es tat. Für die anderen Nephilim, die quasi meine Halbgeschwister waren, war Calyle einfach... der Bücherfreak, der sich einfach ein bisschen seltsam verhielt, aber zur Familie gehörte. Sie liebten ihn, wie einen richtigen Bruder, auch wenn sie biologisch überhaupt nicht miteinander verwandt waren.
„Haylee?“
Offensichtlich hatte ich sehr lange gezögert und meine Hände, unbemerkt, zu Fäusten geballt. Verlegen räusperte ich mich, denn eines wurde mir nun bewusst, als ich Lucy wieder in ihre sanften rehbraunen Augen blickte. Sie würde es definitiv verstehen! Deshalb nickte ich.
Nervös geworden, doch sprudelnd vor Vorfreude, reichte mir Lucy ihre Hand. Dieses Mal dauerte es lediglich einen Wimpernschlag. Ich öffnete mich für Lucy, sie tat es vertrauensvoll für mich und schon waren wir unwiderruflich verbunden.
Lucy tauchte in meine Erinnerungen, meine Empfindungen ein, wie das letzte Mal. Sie nahm die klaffende Wunde in meinem Herzen, mitleidig war. Glitt tiefer, bis sie die Scham fand, welche mich mein gesamtes Leben lang begleitet hatte, meine Liebe zu meinen beiden besten, menschlichen, Freunden, die mir Halt gegeben hatten, ohne dass ich mich dafür jemals hätte bedanken müssen. Die Wut über diejenigen, welche meine Mutter verspotteten. Die Neugierde, welche mich befiel, seit ich etwas über Nephilim erfahren hatte... bis hin zu der Anziehung, welche ich zu jedem einzelnen empfand. Lucy fand sich selbst in mir, das Vertrauen, welches ich ihr bedingungslos entgegenbrachte, wenngleich es meiner Natur widersprach. Vor allem, nachdem wie mich die anderen Kinder, Lehrer und Eltern bisher behandelt hatten. Besonders das erfreute sie und ließ sie mich verlegen anlächeln.
Wie Lucy nun in mir war, war ich jedoch auch in ihr. Erneut nahm ich die leichte Eifersucht auf Katya wahr, obwohl die beiden doch bereits seit der Windel befreundet sind. Ich nahm ihre Liebe zu Ryan wahr, obwohl sie diese überhaupt nicht wollte. Er war in ihren Augen stark, männlich, doch auch sanft und beschützend. Sie sah jetzt, wie attraktiv er war, obwohl die kurze militärische Frisur nicht wirklich zu ihm passen wollte. Im Kampf war er wie ein Gott und hatte sie bereits unzählige Male beschützt, wann immer ihr dummer Kopf sie abgelenkt hatte. In der Schule, vor möglichen Mobbern, bloß weil sie sehr klug ist. Vor Neidern, welche dieselbe Beziehung zu Katya wollten, welche Lucy stets als selbstverständlich genommen hatte. Nein, Ryan war mehr als ein Beschützer für sie... Und sie wusste, dass sie nicht so fühlen sollte, denn er war technisch gesehen doch ihr Bruder.
Liebevoll erinnerte ich Lucy an Katya und Tyrone, ohne dabei ein Wort benutzen zu müssen. Sie antwortete mir ebenfalls, ohne ihre Stimme zu benutzen, dass es nicht dasselbe sei, denn die beiden waren durch ein Band für einander bestimmt. Und dann waren da noch Calyle und ich, wie also, konnte sie darauf hoffen, dass diese beiden Zufälle, auf noch mehr, als bloß diese vier Geschwister zutrifft?
In ihrer Erinnerung erkannte ich, dass sie sich, aufgrund dieser Gefühle, noch nie mit Lysander oder Ryan verbunden hatte. Eigentlich mit niemandem anderen, außer Katya... und nun einmal mehr mir. Anscheinend waren wir sogar die beiden Einzigen, mit denen man sich bloß einmal verbunden hatte. Lucy hatte es bisher lediglich mit Katya und mir einmal getan. Die Jungs jedoch, Tyrone, Lysander und Ryan taten es regelmäßig, besonders in den Kämpfen und Olympia, so wie Katya taten es ebenfalls sehr häufig. Calyle schien es lediglich zu Beginn einige Male mit den Jungs versucht zu haben, doch fühlte sich dabei stets sehr unwohl. Auch Olympia und Katya hatten es so empfunden, als sei es Calyle unangenehm, wenn man so offen in seinem Geist herum schnüffeln konnte, ohne dass man es überhaupt beabsichtigte. Es war lediglich... ein Nebenprodukt der Vereinigung.
Ich mahnte mich, mich nicht von der Offenheit, so wie der Schüchternheit anderer ablenken zu lassen und ließ das Geschehene von heute Abend Revue passieren. Erneut fühlte ich diese ganz natürliche Anziehung zu Calyle, öffnete meine Augen und betrachtete seine vollkommene Schönheit, das Mal, als die Sonne sein Haar beschienen hatte und wie er auf mich gewirkt hatte... Mein Feuerengel, mein Held... Seine herrlich blauen Augen, welche einen wie der Ozean selbst verschlingen wollten... Die Stütze und Sicherheit, welche er mir darbot, ohne dass ich darum bitten musste. Und selbst, als sich seine Iriden golden verfärbt hatten, um sein wahres Gesicht zu zeigen, das welches in seiner menschlichen Hülle versteckt lag und noch viel mehr Macht versprach, war Calyle mir noch so viel schöner vorgekommen. Konnte man das überhaupt über einen Jungen sagen? Dass er einfach wunderschön aussah? Oder klang das blöd?
Die Antwort erhielt ich prompt, einmal mehr wortlos, und wurde überaus rot in meinem Gesicht. Lucy fand schon, dass man Calyle auch als >schön< beschreiben konnte, wenngleich sie ihn noch nie so gesehen hatte. Ja, attraktiv war er, doch das schien ein Nebenprodukt unserer Herkunft zu sein. Wir alle wirkten auf Menschen attraktiv, das war völlig natürlich.
Verblüfft horchte ich auf. So hatte ich das noch nie gesehen, doch Lucy bestätigte es mir sogleich noch einmal. Katya war ein Sonderfall, sie putzte sich bereits als Kind liebend gerne heraus und wollte stets hören, dass sie hübsch sei und später einmal eine schöne junge Dame werden würde. Lysander wiederum liebte das extravagante. Er experimentierte mit verrückten Sachen und sprach eine ganz eigenen Typ Mensch an. Tyrone und Ryan wiederum waren nicht bloß aufgrund ihres sportlichen Talentes wegen begehrt gewesen, sondern auch aufgrund ihrer attraktiven Gesichter und ihres, wie Lucy es sich oft genug anhören hatte müssen, deren sexy Körpern. Lucy selbst sprach wie Lysander und Olympia ebenfalls einen eigenen Typ Mensch an. Sie hasste es zwar, bloß von neunmalklugen Außenseitern umschwärmt zu werden, doch hatte sich mittlerweile daran gewöhnt. Genauso wie Olympia an die niemals enden wollenden Schlange von Nichtsnutzen, so wie Angebern.
Fasziniert einmal das Leben aus dem Blickwinkel eines anderen Menschen kennen zu lernen, verbrachte ich eine halbe Stunde damit, im Kopf von Lucy zu existieren, so wie sie, in dem meinen. Wir ließen einander am bisher erlebten teilhaben, teilten unsere Erinnerungen und Erlebnisse.
Als wir völlig erschöpft auf dem Sofa zusammenbrachen, denn zumindest bis dorthin hatten wir es noch geschafft, ehe wir in die Bewusstlosigkeit fielen.
Ich schrak hoch, als Odette, mit einer Tasse Tee in der Hand, sanft an meiner Schulter rüttelte. Lucy war bereits dabei, aus ihrer Tasse zu schlürfen, ehe sich unsere Blicke trafen und wir einander anlächelten. Zum ersten Mal hatte in meinem Leben das Gefühl, endlich eine Schwester gefunden zu haben. Ja, Jemma war natürlich auch eine langjährige Freundin, einer der ich bedingungslos vertraute. Jedoch auch so sehr, dass ich mein Geheimnis mit eben jener teilen würde? Kaum vorzustellen... Bestimmt würde ich das sensible Mädchen damit lediglich verschrecken.
Seufzend nippte auch ich nun an meinem Tee und ließ die vergangene Nacht erneut und erneut in meinem Kopf abspielen. Es war beinahe so, als sei ich selbst, bei all den kleinen Abenteuern dabei gewesen, welche diese sieben Freunde bereits erlebt hatten, als sei ich selbst mit ihnen aufgewachsen und hatte das erlebt. Lucy´s Blick nach, musste es ihr ähnlich ergehen. Es war sogar seltsam befriedigend, endlich einmal Verständnis zu bekommen. Lucy hatte gesehen, wie das Leben mit meiner Mutter gewesen war. Sie hatte meinen Schmerz, meine Wut und meine Ängste aufgenommen, als seien es ihre Eigenen gewesen.
„Ist alle gut mit euch? Habt ihr etwa einen Kater?“ Erkundigte sich Odette, als weder Lucy noch ich einen Ton bisher von uns gegeben hatten. Einheitlich schüttelten wir den Kopf, dann ergriff Lucy das Wort.
„Nein, entschuldige Mama... Es war gestern Abend nur sehr turbulent und Haylee hat zum ersten Mal ein Nephilimding heraus gefunden.“
Odette staunte nicht schlecht und wurde sogleich neugierig.
Ich räusperte mich und fand endlich meine Stimme wieder. „J-Ja, es war ganz komisch. Calyle und ich haben... ein wenig zu bereden gehabt und saßen draußen im Wagen. Da hatte ich so ein... Gefühl... Aus irgendeinem Grund musste ich weinen, doch war überhaupt nicht traurig. Als ich dann auf gesehen habe, sah... sah ich Calyle, wie nie jemanden zuvor. Er war so...“
„Gold und glühend!“ Schlug Lucy vor, als ich keine Worte dafür fand.
„Genau! Er hat regelrecht geleuchtet.“
„Wie ein Engel.“ Seufzte Lucy.
„Meine Augen haben sich golden verfärbt und er hatte so einen Schatten hinter dem Rücken... Ich finde, es sah aus wie Flügel... A-Aber wie gesagt, es waren bloß Schatten und wir saßen im Auto.“
„Dann hast du Calyle gezeigt wie es geht und er konnte auch dich sehen. Dich, als Nephilim! Ich wünschte ich könnte das auch...“ Sie seufzte herzhaft, was mich zum Schmunzeln brachte.
Ich stellte die Tasse ab und nahm auch die von Lucy an mich, um diese wegzustellen. Dann schloss ich die Augen und rief das Gefühl von letzten Abend in mir hoch. Ich fühlte mich wieder traurig, obwohl ich das doch überhaupt nicht war, spürte, wie eine Träne über meine Wange lief, und öffnete die Augen. Es war... vielleicht nicht sichtbar, was da vor sich ging, doch ich konnte es ohne Probleme fühlen. Eine Woge von guten Gefühlen, von... Macht und etwas anderes, das ich nicht beschreiben konnte, stieg in mir hoch. Erfüllte meine Haut, meine Sinne, meine Muskeln, bis ich meine Augen geöffnet hatte und Lucy >sah<. Sie schien genauso so von innen heraus zu erstrahlen, wie Calyle letzten Abend, doch war ihr Leuchten, oder goldene Aura oder wie auch immer man es nennen wollte, bei weitem nicht so feurig. Calyle´s goldene Aura hatte geflackert wie eine wilde Flamme, doch Lucy, obwohl sie ganz hibbelig darauf wartete, was ich wohl über sie sagen würde, war vollkommen ruhig. Sie anzusehen... hatte etwas Beruhigendes, etwas Mächtiges aber dennoch, nichts dass einem Angst einflößte. Es passte irgendwie zu der grauen Maus, so wie ich sie kannte.
Ich lächelte sie liebevoll an und Lucy wurde noch aufgeregter. Als sie sprach, klang ihre Stimme ein wenig verzerrt und für einen Moment konnte ich schwören, eine andere, dunklere Stimme darin zu erkennen.
Angestrengt runzelte ich die Stirn und hörte noch besser hin. „Sag noch einmal etwas.“ Bat ich.
Erneut bewegten sich Lucy´s Lippen, da hörte ich es deutlicher. „Zeig es niemandem!“
Erschrocken fuhr ich zurück und mein Herz schlug wie verrückt. Die Stimme war nicht dunkel gewesen, sondern einfach nur zu leise, um sie richtig wahrnehmen zu können. Nun jedoch, wusste ich wenigstens, dass diese Stimme nicht aus Lucy´s Mund gekommen war, sondern aus meinem inneren. Einmal mehr...
„Wieso nicht? Ca-“
Doch ich kam nicht einmal dazu, es auszusprechen, denn meine innere Stimme fuhr mir dazwischen. „Lass sie nichts wissen! Wissen ist zu gefährlich. Ihr seit zu jung.“ Brauste die Stimme auf. Die Stimmlage zumindest klang gebieterisch und konsequent. Doch sollte ich auch darauf hören? Immerhin, so weit ich zumindest wusste, konnte diese Stimme entweder von einem Dämon stammen... oder von etwas weit schlimmeren wie Luzifer!
Tja, ich bin eben, als die Tochter meiner psychisch labilen Mutter aufgewachsen. Mich durchzusetzen, hatte ich bereits früh lernen müssen. Ich öffnete den Mund, um Lucy anzubieten, es zu lernen, so wie Calyle es tat, als die Eingangstüre aufflog und eine flötende Stimme ihre Anwesenheit verkündete.
„Schönen guten Morgen! Sind alle Morgemuffel ausgeschlafen?“ Ihr Strahlen erfüllte den Raum, noch ehe sie eintrat. Katya besaß eine goldene Aura, die noch viel schlimmer war, als die von Calyle! Sie flackerte zwar nicht... In Ermangelung eines Besseren Wortes, temperamentvoll, wenngleich ich Calyle nicht unbedingt zu bezeichnen würde. Doch Katya´s Aura nahm jeden einzelnen Raum augenblicklich ein. Er erreichte das Zimmer, noch ehe Katya´s Fuß dies tat, und schien so kraftvoll, dass er sogar Lucy´s Aura überging und beinahe unsichtbar machte. Hinter Katya erschien Tyrone. Sein Licht war... weißlicher, würde ich beinahe sagen und verschmolz mit Katya´s, ohne dass man wirklich einen Übergang der Farben bemerken würde. Sie schmolzen so einfach ineinander, als gehörte das silbrige, zu dem goldenen, welches doch alles zu erdrücken versuchen schien.
Ich blinzelte ein paar Male, ehe mein... wie sollte man es nennen? Nephilimblick? Engelsblick? Hm... Ja, das klang eigentlich überhaupt nicht schlecht! Ich ließ den Engelsblick verglühen und betrachtete Katya´s völlig ausgeglichenes auftreten. Nichts ließ mehr auf ihre starke Aura schließen, während sie, mit einer Unschuldsmiene im Gesicht, im Türrahmen stand. Natürlich war Katya bei weitem nicht so unscheinbar wie Lucy oder ich. Sie besaß eine natürliche Schönheit, welche die Blicke aller, beinahe automatisch auf sie lenkte. Ich gab zu, man fühlte sich ganz natürlich von ihr angesprochen und freute sich seltsam, über jegliche Aufmerksamkeit, welche sie einem schenkte.
Tyrone war ebenfalls ein Augenschmaus für viele Frauen. Ich konnte zwar keine romantische Anziehung zu ihm empfinden, doch konnte objektiv beurteilen, dass er äußerst attraktiv war mit seinen markanten Gesichtszügen, den spitzen Gesicht und stets schelmisch funkelnden, dunklen Augen. Er hatte lässig einen Arm um seine langjährige Freundin gelegt und beide schenkten mir plötzlich einen, im gleichen Maße, verwirrten Blick.
„Alles in Ordnung, Haylee?“ Erkundigte sich Tyrone.
Lucy antwortete statt mir. „Haylee hat mir gestern Abend noch gezeigt, was sie und Calyle im Auto gesehen haben. Sie hat auch mich so angesehen, richtig? Was hast du gesehen?“ Natürlich galt der letzte Satz mir.
„Nicht!“ Zischte wieder die Stimme in meinem Kopf und ließ mich lediglich bockig werden.
Mit erhobenen Haupt ignorierte ich den Störenfried, welcher mir absolut nichts zu sagen hatte! „Ich habe so etwas... wie eure Auren gesehen.“
„Meine auch?“ Erkundigten sich Katya und Tyrone gleichzeitig.
„J-Ja, klar. Ihr habt alle drei, völlig unterschiedliche und sie passen absolut nicht zu euren Charakterzügen. D-Du zum Beispiel, Lucy...“ Versuchte ich nervös geworden zu erklären. „...warst eben total aufgeregt. Das habe ich dir angesehen, doch deine Aura war so... so ruhig und klar. Sie war völlig anders, als die von Calyle und besonders die von Katya...“ Ich lachte amüsiert auf. „Du leuchtest wie ein Fußballstadium bei Nacht.“ Witzelte ich, wofür ich einen giftigen Blick kassierte.
„Was soll das denn heißen? Dass ich die hellste Leuchte von euch bin?“ Neckte sie nun mich und ließ sich schwungvoll neben mich fallen, nicht jedoch ohne mich ordentlich dabei zu rempeln.
„Und wovon träumst du nachts, Prinzesschen.“
Empört sog sie die Luft ein. „Na warte, ich werde dir gleich eine Prinzessinreife Abreibung verpassen, wenn du frech wirst, Blackbird!“ Mahnte sie und begann herauszufinden, wo ich kitzelig war.
„He, Mädels! Und was ist mit mir? Was hast du bei mir gesehen?“ Erkundigte sich Tyrone neugierig.
Katya hielt, dankbarerweise inne, doch lehnte sich vertrauensvoll an mich dabei. „Nun ja, deine Aura endet direkt in Katya´s. Sie ist... silberner... heller und scheint irgendwie...“ Ich versuchte, mit den Händen zu gestikulieren, wofür ich keine Worte fand. „Ich weiß nicht... Es ist, als würde dein... dein Leuchten das von Katya noch anspornen oder so...“
Tyrone schmunzelte verwegen seine Geliebte an. „Wundert mich nicht. Du weißt ja, wie sehr ich dich vergöttere, Schatz.“
Katya wurde sogar, überraschenderweise, ganz verlegen, doch brach den Augenkontakt zu Tyrone nicht ab. Zwischen den beiden herrschte für einen Moment etwas, von dem ich nur träumen konnte, es auch einmal empfinden zu dürfen.
Calyle und ich waren uns zwar einig, dass es besser war zu warten... Trotzdem durfte ich mich doch danach sehnen, richtig? Daran war absolut nichts verkehrt!
„So wie du es beschreibst...“ Begann Odette, deren Anwesenheit ich ehrlich gesagt, total vergessen hatte! „...klingt es nicht so, als würdest du die Auren von ihnen sehen, sondern viel eher ihre Engels... Auren? Kann man das so sagen? Ich denke ja. Aber, um sicher zu gehen, sprich mit Celiné darüber. Sie weiß besser über diese... Aurensachen bescheid, als ich.“
Lucy grunzte amüsiert. „Stimmt, Mama konzentriert sich eher auf Fakten und das, was sie nachweisen kann.“
Odette schenkte ihrer, am Tee nippenden Tochter, einen tadelnden Blick. „Was ist daran verkehrt? Marie, Celiné und ich mögen vielleicht völlig unterschiedliche Wahrnehmungen haben. Aber ich finde, dass dies, im Anbetracht unserer Situation, als Nephilimmütter, uns lediglich zugute gekommen ist! Wir können das, was passiert ist und alles was euch Nephilim angeht... auf drei verschiedene Weisen studieren, hinterfragen und was auch immer. Drei ergibt einfach einen perfekten Durchschnitt.“
„Fünf wäre aber besser.“ Witzelte Lucy, ihre Mutter neckend.
„Klappe und trink deinen Tee aus, Schätzchen.“
Katya, Tyrone und ich kicherten, doch dann fiel Katya etwas Gravierendes auf. „Sind das etwa die Kleider von gestern Abend? Konntet ihr euch noch nicht davon trennen, oder wie?“
Ich seufzte. „Lucy und ich haben es gestern etwas übertrieben... und sind hier am Sofa eingeschlafen.“
Sie lachte. „Also wirklich! So schnell wirst du deinem Calyle untreu?“
Ich wurde ganz rot! „>So< meinte ich das aber nicht.“
Auch Lucy lachte über Katya´s dumme Anspielung, also lachte auch ich mit, wenngleich ich mich wesentlich unbehaglicher dabei fühlte, als die beiden. Es war schon so lange her, dass ich mich so... ausgeglichen gefühlt hatte. „Na gut, wenn ihr mich jetzt entschuldigt. Ich will endlich zurück in >meine< Kleidung.“
„Lass mich aber nicht zu lang warten, mein Schatz!“ Witzelte Lucy übertrieben und süßlich klingend.
„Ja, lass die arme Lucy nicht an Einsamkeit zugrunde gehen, nach eurer wilden Nacht!“ Schloss sich Katya an.
Ich schüttelte amüsiert den Kopf. Wofür hatte ich solche Dummköpfe verdient? Nun ja, wenigstens sahen sie alles mit Humor. Es fühlte sich sogar an, als würde ich einmal nicht mit Samthandschuhen angefasst werden und einfach kumpelhaft behandelt. Eine willkommene Abwechslung, wenn man so wollte.
Während ich jedoch die Treppe hochstieg, in Lucy´s Schlafzimmer, regte sich in mir jedoch wieder die Frage, weshalb Luzifer nicht wollte, dass meine, so gut wie, Schwestern dasselbe konnten wie ich. Ich persönlich, fände es völlig ungerecht, dass sie mir neue Sachen und Tricks zeigen, während ich die meinen für mich behalte!
Nun ja, was hatte ich schon zu erwarten, von jemanden, der sein gesamtes Volk hintergangen hatte? Seufzend, so wie mit frischer Kleidung in den Armen, schloss ich mich im Bad ein und schaltete die Dusche ein.
Auch wenn es vermutlich etwas verrückt klang... wenngleich ich die Letzte war, die je wieder über diesen Begriff urteilen würde, begann ich in den, vom Rauschen erhellten Raum zu sprechen. „Wieso willst du nicht, dass ich noch jemandem zeige, wie dieser Engelsblick funktioniert? Sie sind meine... meine Familie.“ Brach ich stockend hervor. Es war das erste Mal, dass ich es halblaut aussprach. „Sie zeigen auch mir, was sie gelernt haben.“
Die Stimme in mir schwieg. Na sehr schön! Nach einer, quasi, Schweigeminute, entkleidete ich mich und stieg unter die Dusche. Später würde ich mit irgendjemanden darüber sprechen müssen. Nur mit wem? Dass mir mein Engelsvater verbot ihnen etwas zu zeigen, war schon etwas... in den Augen normaler Leute, verrückt!
Wem machte ich hier etwas vor? Selbst in meinen Gedanken klang dies überaus schräg... Nein, vorerst würde ich noch mit niemandem darüber sprechen, denn... Hallo! Es handelte sich hierbei um Luzifer, dem Fürsten der Hölle, Vater aller Sünden und dem berühmt, berüchtigten gefallenen Erzengel, höchst persönlich! Wenngleich ich mich selbst nicht unbedingt böse >fühlte<, sollte ich dennoch sein Abkömmling sein. Es war so... abstrus? Nun ja, da ich ja über Engel und Nephilim sprach, sollte mich nicht mehr allzu viel wundern.
„Musst du noch einmal ins Bad?“ Fragte Lucy mich, als ich voll eingekleidet, meine Haare trocken rubbelnd, aus ihrem Badezimmer trat.
„Ähm... Nein, vielleicht noch Fönen, aber das kann gerne warten.“ Sagte ich, wobei ich es eher vorzog, meine Haare, im Sommer zumindest, lufttrocknen zu lassen.
„Okay, dann nehme ich jetzt das Bad ein. Wenn du Hunger hast, Mama hat Frühstück gemacht und die beiden Turteltäubchen sind bereits aufgebrochen. Fühl dich wie zuhause... Auch wenn du das bestimmt schon satt hast, andauernd zu hören.“ Kicherte sie amüsiert.
Ob ich es satt hatte überall willkommen geheißen zu werden? Nicht unbedingt das, aber es stimmte mich schon irgendwie traurig, da es mich daran erinnerte, dass mein eigenes Zuhause im Moment absolut leer stand. Was wohl daraus werden würde? Wie sollte ich es mir überhaupt finanzieren? Wollte ich denn dortbleiben, in diesem herunter gekommenem Viertel? Falls nein, wohin würde ich sonst gehen?
Schwach lächelte ich Lucy zu, bedankte mich und ging hinunter ins Erdgeschoss. Die Küche war leer, bestimmt weil sich Odette eben umzog. Tyrone und Katya waren ebenfalls abgezogen, somit stand es mir frei, zu tun, wonach es mir beliebte.
Zuerst warf ich das nasse Handtuch in den Wäschekorb, welcher sich hinter der Küche, in dem kleinen Waschzimmer befand. Dann ging ich zurück, bloß um mich Calyle gegenüber zu finden.
Schlagartig fühlte ich mich zurückversetzt in den Wagen und sah erneut seine flammende Aura. Einmal mehr fühlte ich mich von ihm eingenommen... nein, angezogen und betört. Ich fühlte mich... Ich fühlte mich so, als könne ich ihm mein bedingungsloses Vertrauen entgegenbringen und auf ihn zählen, in jeglicher Lebenslage. Und das war auch bisher so gewesen. Calyle hatte mir bewiesen, dass er für mich da war. In Guten, wie auch schlechten Tagen, hieß es doch so schön, richtig? Schade nur, dass es bisher bloß schlechte Tage für uns gegeben hatte.
Lächelnd betrachtete Calyle mein unfrisiertes, frisch gewaschenes und tropfendes Haar, ließ seinen Blick über meine freien Schultern, tiefer zu meinen, in kurzen Hosen steckenden Beinen wandern, ehe er verlegen meinen Blick suchte. „Gu-Guten Morgen.“
Verlegen versuchte ich, mein Haar glatt zu streichen, doch bewirkte lediglich, dass noch viele Tropfen mehr damit auf meine Kleidung fielen. Wenigstens trug ich nichts Weißes! Wenngleich ich wünschte, so gut gekleidet wie Katya zu sein... oder so schön... und anmutig... Stattdessen fühlte ich mich plump und unansehnlich. „Guten Morgen...“ Nuschelte ich und wandte mich hastig der heißen Teekanne zu, damit Calyle nicht bemerkte, wie peinlich es mir war, dass er mich so sah.
„Tut mir leid, dass ich so rein platze. A-Aber das ist eigentlich normal bei uns. Hier klopft eigentlich nie jemand.“ Bemerkte er amüsiert und kam näher, doch blieb am Küchentisch stehen.
„Cool, wenn das in unserer Wohnung jemand machen würde, würde ich total austicken.“ Bemerkte ich scherzend, ehe ich erstarrte... „Ähm... Ich meine... meine Wohnung halt. Du weißt schon.“ Für einen Moment hatte ich doch glatt vergessen, dass meine Mutter umgebracht worden war... Meine... Mom...
Hände legten sich auf meine Schultern und zogen mich in eine tröstende Umarmung. „He, wie wäre es... Hast du Lust auf eine Ablenkung? Ich würde... dir gerne ein wenig unser Viertel zeigen.“
Mein Herz schlug wie verrückt, während Calyle´s warmer Atem über meine feuchte Schulter glitt. Ob er es hörte? Ich zu meinem Teil konnte ganz ungeniert seinen Herzschlag in meinem Rücken fühlen. Also war... Calyle in meiner Nähe etwa genauso nervös?
Ich schluckte das bittere Gefühl der Trauer beiseite und ließ es zu, dass Calyle mich mit positiven Gefühlen überschüttete. Langsam nickte ich. „J-Ja, gerne.“ Brachte ich dann heraus und Calyle nahm wieder etwas Abstand ein.
„Super. Willst du... Willst du vielleicht etwas Frühstücken gehen? Ich lade dich ein!“
Ich überlegte, wie viel Geld ich wohl noch auf der Seite hatte. Der Druck in meiner Brust, welcher durch meinen Kummer entstanden war, kehrte zurück und erneut fand ich mich in einer Spirale aus Sorgen wieder. Im Haus am See hatte ich das alles ja hinter mir lassen können. Das Finanzielle, die Wohnung, meine Sorgen um die Zukunft. Aber nun, da ich mich wieder in der >realen< Welt, unter richtigen Menschen befand, schienen die Sorgen, so wie Bedenken, mich regelrecht anzuschreien, ich solle sie nicht weiter ignorieren.
„Haylee?“ Finger berührten meine gerötete Wange und mein Blick zuckte erschrocken zurück in Calyle´s wunderschöne Augen. „Was ist? Du siehst so besorgt aus. W-Wenn du nicht frühstücken gehen willst, können wir auch etwas andere tun.“
Räuspernd wandte ich mich ab und suchte beim Küchentisch nach dem Abstand, welchen ich zwischen diesen verwirrenden Gefühlen einfach benötigte. „I-Ich weiß nur nicht...“ Ich holte tief Atem. Nein, ich konnte unmöglich mit Calyle über all das sprechen. Ihn mit meinen finanziellen Sorgen belasten, oder gar dort hinein ziehen. Wenn ich ihm jetzt erlaubte, mir mein Frühstück zu bezahlen, wo würde das dann enden? Würde Calyle annehmen, er müsse sich stets um mich kümmern, so als sei ich plötzlich seine Verantwortung? Immerhin waren wir weder ein Paar noch weniger Geschwister. Nein, damit würde ich mich einfach nicht wohl fühlen! „Weißt du, ich würde liebend gerne etwas mit dir unternehmen. Aber stört es dich, wenn wir das auf später verschieben. Am Nachmittag oder so?“
Irritiert von meiner plötzlichen Zurückweisung, nickte Calyle. „Ja klar, kein Ding. Soll ich dann... so um drei noch einmal vorbei kommen?“
Ich nickte meinerseits. „Klingt toll.“
„Okay.“
„Cool.“ Erwiderte ich.
„Oh Calyle, willst du mit uns frühstücken?“ Odette kam in die Küche und zielte direkt auf den Herd zu. „Ich habe eine vegane Obsttorte gemacht, den wir zum Tee dazu essen können. Ich bin schon ganz neugierig, wie sie wohl schmeckt.“ Flötete Odette, sehr selbstzufrieden mit sich selbst. Jedoch verzog sie das Gesicht, als sie sah, dass der Kuchen erst halb durch war. „Ähm... Das könnte noch etwas dauern...“
Calyle schmunzelte. „Schon gut, ich wollte bloß nach... nach Haylee sehen.“
„Und das hast du. Ich lebe noch.“ Witzelte ich verlegen.
Odette sah man deutlich an, dass sie die gekippte Stimmung durchaus bemerkt hatte, doch war klug genug, um uns nicht darauf anzusprechen.
„Das habe ich und war schön festzustellen. Also... Dann bis später.“
„Bis dann!“ Ich winkte und kam mir gleichzeitig total dumm vor. Wieso zum Teufel winkte ich denn? Wie alt war ich? Fünf? Kaum war Calyle aus der Türe, sank ich wie ein Sack auf den gepolsterten Esszimmerstuhl und vergrub mein Gesicht in den Händen.
Odette schob den Kuchen wieder hinein und kam dann zu mir. Deutlich langsamer, ließ sie sich neben mich auf einen der Stühle sinken. „Willst du...“
„Ich bin so dämlich!“ Unterbrach ich sie, noch ehe sie mir anbieten konnte, mich bei ihr auszusprechen. „Eben wollte mich Calyle zum Frühstück einladen und mir seine Heimatstadt zeigen.“
Sie runzelte irritiert die Stirn. „Und was war daran so schlimm?“
„Gar nichts!“ Erwiderte, als sei es völlig nachvollziehbar. „Ich habe mich sogar total gefreut und wollte schon ja sagen. Bis ich drauf gekommen bin, dass ich überhaupt nicht weiß, ob ich mir überhaupt ein Frühstück noch leisten kann. Ich weiß nicht wie viel Geld ich noch habe... also das von Mom. Und wofür ich es noch brauchen werde? Im Haus am See konnte ich das ja vergessen. Aber jetzt... W-Wozu werde ich das Geld, welches ich beim Frühstück ausgebe, wohl stattdessen brauchen?“
„Sagtest du nicht, Calyle wollte dich einladen?“
Ich warf die Hände theatralisch in die Luft. „Das ist ja das nächste!“ Ich sah ihr an, dass sie kein Wort verstand, doch es akzeptierte, dass ich einfach Dampf abließ. „Was wenn er dann denkt, dass es nicht bloß das Frühstück ist, was ich mir nicht leisten kann? Oder... Oder von mir denkt, dass ich hilfsbedürftig und eine Last bin?“
Odette grunzte hinter vor gehaltener Hand amüsiert. „Haylee... Er hat dich doch bloß auf ein Frühstück eingeladen, nicht auf deine eigene Hochzeitsfeier.“
Frustriert schlug ich mir gegen die Stirn, doch Odette zog sie aus meinem Gesicht. „Ich bin so blöd.“
„Liebes, du bist nicht blöd. Und das du überhaupt so denkst, beweist mir nur, dass du viel Verantwortungsvoller bist, als man es in diesem Alter von dir erwarten dürfte.“
„Ich bin achtzehn!“ Erinnerte ich sie schmunzelnd. Sie tat ja gerade so, als sei ich erst zwölf Jahre alt.
„Ich weiß, was ich damit sagen wollte, ist dass du dich auf uns Mütter verlassen kannst. In ein paar Tagen treffen sich Olivia und Marie mit einem Anwalt und werden dann erst erfahren, was Edna dir überhaupt hinterlässt. Bis dahin bitte ich dich... Lass dich von Calyle einfach verwöhnen.“
Ich wurde schlagartig rot. „Danke, dass ihr das überhaupt macht. Aber Calyle... ich will nicht, dass er einen falschen Eindruck von mir hat.“
Sie kicherte. „Mädchen, ich bin in einer Zeit aufgewachsen, da war es ganz normal, dass die Männer, wenn sie Frauen ausführten, sämtliche Kosten übernahmen.“
„Das waren aber andere Zeiten.“ Maulte ich halblaut, weil ich nicht respektlos klingen wollte.
„Haylee! Ein letztes Mal. Hör auf so zu denken. Calyle mag dich richtig gerne. Und egal was auch immer im Moment zwischen euch läuft, oder nicht läuft... Lass dir einfach mal etwas Gutes tun von ihm.“ Endete sie, während sie mich vom Sessel schob.
„A-Aber kommt das nicht blöd, wenn ich...“
„Geh!“ Befahl sie mich aus ihrer Küche.
Ich war noch immer nicht überzeugt, aber im Grunde hatte Odette ja recht. Calyle wollte nichts weiter, als Zeit mit mir verbringen. Mich... vielleicht sogar etwas besser kennen lernen?
„Calyle!“ Ich schrie ihm hinterher, da ich dachte, er sei bereits längst irgendwo in der Nachbarschaft, doch stattdessen fand ich ihn, mir den Rücken zugekehrt, vor Odette´s Zaun wieder. Erschrocken drehte er sich herum. „Oh, entschuldige, ich dachte, du wärst bereits weiter weg. Ich wollte dich nicht...“ Ich schüttelte den Kopf. Jetzt redete ich schon wieder um den heißen Brei herum! „Ähm... Steht... Steht deine... deine Einladung noch?“
In Calyle´s Gesicht bildeten sich kleine Grübchen, während er versuchte, nicht über das gesamte Gesicht zu strahlen. „Nur wenn du in Sandalen schlüpfst.“ Zog er mich auf, ehe ich begriff, dass nicht bloß meine Fußbekleidung fehlte!
Ich fasste an mein zerrupftes Haar. „Äh... Gibst du mir zehn Minuten?“
Sein Lächeln wechselte von einem amüsierten, in ein sanftes Schmunzeln. „So viele wie du brauchst. Ich warte hier.“
Aufgeregt rollte ich auf meinen Sohlen herum. „Versprochen?“
Calyle nickte zusagend, dann machte ich kehrt und lief direkt hoch in Lucy´s Zimmer. Diese hatte natürlich nichts mitbekommen und betrachtete mich lediglich mit hochgezogenen Brauen. „Was hat dich denn gestochen?“
Ich grinste sie breit an. „Ich gehe mit Calyle frühstücken.“ Prophezeite ich ihr, doch konnte ein erlösendes Seufzen fast gar nicht verbergen.
„Stopp!“ Lucy fing mich ab, als ich mich über meinen Koffer stürzte, so wie mit der anderen Hand, mein zerrupftes Haar frisierte. „So lasse ich dich auf keinen Fall losziehen! Hinsetzen!“
Gesagt, getan...

XIII – Das Date

Nervös zupfte ich an den einzelnen Haarsträhnen herum, welche Lucy nicht in eine lockere Flechtfrisur eingearbeitet hatte. Dank einiger Spangen, welche das Konstrukt halten sollte, fühlte ich mich zunehmend unsicher, doch sie sagte, sollte es mich zu sehr nerven, oder ein Windstoß ihr Kunstwerk ruinieren, würde ich sanfte Wellen von der Flechtfrisur vorfinden, welche mir genauso gut stehen sollten und nichts ruinierten.
Von ihr hatte ich mir eine knielange, schwarze Hose geliehen, welche mir persönlich extrem gut gefallen hatte. Sie besaß einzelne Löcher, wirkte verschlissen und man sah ihr überhaupt nicht an, dass sie ein Designerstück war! Beim Shirt hatte ich nicht mit mir diskutieren lassen, ich trug ein ausgeblichenes, oranges Fanshirt, dass meine Mom für mich geschenkt bekommen hatte. Ich schwamm ein wenig darin, das gebe ich schamlos zu. Aber es gefiel mir vor allem so gut, weil sie es mir an einem ihrer >klaren< Tage geschenkt hatte. Okay, es war auch nicht besonders hübsch, man sah ihm sein alter an... Trotzdem besaß es Charakter. Ich liebte Dinge die Charakter und Geschichten besaßen!
„Und wie schmeckt dir dein Salat?“ Ich hatte mir einen Obstsalat bestellt, da es leider nicht viel vegane Sachen im Angebot gegeben hatte. Calyle war es dementsprechend peinlich gewesen, da er noch nie zuvor auf so etwas geachtet hatte. Aber abgesehen davon... ich liebte Obstsalat, wenngleich er nicht unbedingt zu Tee passte, daher hatte ich mir frisch gepressten Orangensaft bestellt und Vollkornkräcker, bei denen der Koch persönlich hastig nachgesehen hatte, ob sie auch wirklich vegan waren. Zwar hatte ich beteuert, dass er es nicht müsse, doch schien er, nachdem erst einmal auf die Idee gekommen war, nicht mehr aufgehalten werden zu können.
Um sicherzugehen, jedoch, lieh ich mir unauffällig Calyle´s Handy und suchte selbst im Internet nach der Marke. Eins zu null für den Küchenchef!
„Superlecker!“ Seufzte ich und fischte währenddessen das Minzblatt heraus.
„Sicher? Bisher hast du bloß darin herum gestochert.“ Ich sah auf zu Calyle. Tatsächlich hatte ich bereits einiges davon gegessen, doch als ich seinem Blick begegnete, lächelte er mich amüsiert an.
Verlegen kaute ich auf meiner Unterlippe. „Unsinn, es ist perfekt.“ Lobte ich und steckte noch einen Happen in den Mund. Ich kam eigentlich selten dazu, etwas derart Gesundes zu essen.
„Na gut, möchtest du noch irgendetwas? Soll ich uns noch etwas bestellen?“ Wie er das sagte... Am weg hierher, hatte ich Calyle gestanden, dass mir erst bei seiner Einladung bewusst geworden war, was es für mich bedeutete, dass meine Mutter fort war. Finanziell, so wie mein weiteres Leben betreffend. Natürlich hatte er, wie zu erwarten, ohne zu zögern, angeboten, mir alles zu kaufen, was ich wollte. Darauf zog ich ihn auf, dass ich hohe Ansprüche hätte, angefangen bei einer Yacht, bis hin zu einem einmonatigen Aufenthalt in einem zehn Sterne Hotel. Natürlich übertrieb ich maßlos, doch Calyle hatte mich problemlos verstanden.
Nach dem Frühstück machten wir einen kleinen Spaziergang. Erst in den Park, auf der anderen Seite der Kleinstadt, dann fütterten wir Enten, was ich persönlich, superromantisch fand. Danach wollte er mich sogar einladen, dass wir eine Bootsfahrt machte, doch lehnte ich höflich ab. Ich kannte, dank Jemma, die erst letztes Jahr eine mit Adam gemacht hatte, die Preise und das wollte ich Calyle auf keinen Fall antun, wenngleich es nicht so wirkte, als würde ich ihn sonderlich ins Minus ziehen.
Nach einem kleinen Bummel in der Innenstadt, einen Blick in einen Antiquitätenladen, in welchem ich, vor Begeisterung, beinahe an die Decke ging, so wie einen Besuch in einem Café für einen leckeren Matcha Green Tea Latte, den Calyle absolut widerlich fand, zu meiner großen Belustigung, fanden wir uns am Spielplatz seiner Kindheit wieder. Ich warf eben meinen recycelbaren Becher in den Müll, als ich Calyle auf einer Schaukel vorfand. Schmunzelnd lehnte ich mich an einen der Stützbalken und betrachtete ihn dabei, wie er die Sonnenstrahlen genoss. Mittlerweile war die Hitze bereits stärker geworden und das meiste von meinem Haar hatte sich aufgelöst. Ich öffnete es nun vollständig und überlegte, wie Calyle wohl mit offenem Haar aussehen mochte. Bisher hatte er ihn stets seitlich gebunden getragen und von Tag zu Tag, zog mich dieser Zopf immer mehr an. Ehe ich mich versah, war ich an Calyle heran getreten und fuhr mit den Fingerspitzen durch das sonnenbestrahlte Haar. Er öffnete ein Auge und schmunzelte. „Was ist?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts. I-Ich habe mich nur gefragt, wie du wohl mit offenem Haar aussiehst.“
Er streckte einen Arm nach mir aus, bis ich ganz nah vor ihm stand und schwer atmend auf ihn herabblicken konnte. „Das wissen nur mein Spiegel und ich.“ Witzelte er plötzlich und ich lachte erheitert auf. So ein Blödmann!
„Hm, dann werde ich mich wohl irgendwann einmal heimlich in deinem Bad verstecken und warten, bis du hinein kommst.“
„Gut zu wissen. Ab jetzt frisiere ich mich nur noch vor offenem Duschvorhang!“ Gab er neckisch zurück.
„Schade, dann wird das wohl nichts aus meiner Spionage.“
Calyle griff höher, bis er sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger wickeln konnte und zog sanft daran. „Es sieht hübsch aus so.“
Ich spielte meinerseits mit seinem Haar und versuchte angestrengt, nicht auf seine geröteten Lippen zu schielen. Verdammt war es schwer, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, als auf diesen Punk seines Gesichtes. Dabei gab es doch so viel mehr an ihm anzuhimmeln, als seine wolkenweichen Lippen und das feurig rote Haar. Ich schluckte schwer, als Calyle´s Finger von meinem Schlüsselbein, höher zu meiner Wange strichen. „>Du<... siehst so hübsch aus.“
Verlegen wandte ich hastig den Blick ab und ließ mein Haar vor das Gesicht fallen. Er sollte bloß nicht mitbekommen, dass meine Wange, locker mit seiner Haarfarbe konkurrieren konnten! „Quatsch, das... das liegt bloß an Lucy. Sie hat mir die Haare gemacht, ehe wir los sind.“
Er lachte heiter, ehe er mein Gesicht zurück in seine Richtung drehte. „Ich meinte nicht nur heute damit.“ Beschwor er mich und reckte sich mir entgegen.
Jedoch kam es zu keinem Kuss, da mein Mundwerk gegen meinen Willen ein Eigenleben führte. Ich legte meinen Zeigefinger auf seine erwartenden Lippen. „Hatten wir nicht etwas vereinbart?“
Calyle zog meinen Finger von seinen Lippen und legte stattdessen meinen Arm auf seine Schulter. „Ich weiß... Aber nur weil ich nichts eingehen will, dass wie ein Eheschwur bindet, heißt das nicht, dass ich >dich< nicht will, Haylee. Wenn du in meiner Nähe bist, kann ich mich auf überhaupt nichts konzentrieren. Du bist so schön und ich würde dich am liebsten jede freie Sekunde küssen... Bisher habe ich es natürlich vermieden, wegen... den letzten Ereignissen.“ Er benetzte unwissentlich seine Lippen, während sein Gesicht bloß noch Millimeter von meinem entfernt war. Wann hatte ich mich denn zu ihm hinab gebeugt? „Aber mir ist bewusst geworden, dass dieses... hinausschieben, nicht unbedingt andere Dinge mit einschließen muss.“
„M-Mit Din-Dingen, meinst du...“ Erkundigte ich mich nervös stotternd.
„Dich zu küssen, zum Beispiel. Oder dich wieder im Arm zu halten... dir vorzulesen...“ Hauchte er, während unsere Nasen sich aneinander vortasteten. „Ich kann einfach nicht anders, als ständig an dich zu denken.“
„Mir geht es genauso.“ Gab ich zu, doch schämte mich einmal nicht dafür. Ja, Calyle ging es wie mir. Er sehnte sich nach mir, dachte an mich, fand mich anziehend, so wie ich ihn! Oh Gott! Wie gerne ich ihn wieder küssen wollte. Nur Calyle und ich. Wir beide, bei Sinnen und unbeeinflusst durch irgendwelche Mächte.
„Wirst du mich wieder ohrfeigen, wenn ich dich jetzt küsse?“
Amüsiert kicherte ich. „Calyle!“ Auch er lachte, dann küsste er mich endlich. Zumindest so lange, bis ich mich an ihn schmiegte und unser beides Gewicht den Rest erledigte. Calyle schwang auf der Schaukel zurück, ich stolperte und fiel beinahe der Länge nach hin.
Prustend half Calyle mir von meiner knienden Position hoch. „Das war doch irgendwie klar, oder?“ Lachte ich, etwas peinlich berührt. Langsam bekam ich das Gefühl, dass ein Kuss zwischen Calyle und mir einfach nicht sein sollte.
„Tut mir leid, das war meine Schuld. Ich hätte zuerst nachdenken sollen. Das mit der Schaukel war einfach blöd.“
Ich schlug den Sand von meinen Knien, dann legte ich beide Arme um seine Schultern. „Hm... Ja, vielleicht war die Umsetzung ein wenig holprig, aber die Idee an sich... fand ich sehr verlockend.“
Calyle schlang nun seinerseits beide Arme fest um meine Taille. Dieses Mal konnte er nicht das Gleichgewicht verlieren. „Perfekt. Dabei dachte ich schon, ich hätte zu viel geredet.“
Vertrauensvoll ließ ich meine Stirn gegen die seine sinken. So nahe konnte ich bereits seine Sommersprossen zählen. Sie waren ganz hell und zogen sich über seine gesamte Nase, die Wangen und teilweise sogar über seine Schultern und Arme, wie ich heute hatte feststellen dürfen. Ob sie sich wohl an jeder Stelle seines Körpers befanden? Fast war ich gewillt, ihn danach zu fragen, während mein Zeigefinger interessiert eine Spur von einer Sprosse zur nächsten auf seiner Wange zog. Jedoch bemerkte ich zum Glück rechtzeitig, wie intim diese Frage enden könnte, und behielt sie besser für mich.
Wenn ich recht darüber nachdachte, war es das erste Mal, dass ich Calyle so genau betrachten konnte. Ich fuhr die Linie seiner ausgeprägten Wangenknochen nach, registrierte, dass sein Gesicht beinahe dem eines länglich gezogenen Herzens glich und seine Lippen... Die Sonne schien in diesem Moment exakt diese Stelle besonders bescheinen zu wollen. Die Feuchtigkeit auf seinen Lippen neckte meine verwirrten Sinne, lockten sie einladend, bis mein Wille endlich einknickte. Sanft ließ ich meinen ausgetrockneten Mund auf den seinen sinken. Zufrieden nahm ich wahr, wie Calyle´s bisherige Anspannung abfiel und er den Kuss intensivierte. Wie ein hungriger presste er seine Lippen auf die meinen, benetze sie mit seinem Geschmack, umspielte sie herausfordernd und als ich unter Sauerstoffmangel nach Luft schnappte, glitt seine Zunge hinein, um an der meinen zu lecken. Keuchend presste ich mich noch fester an ihn, mir seiner Führung durchaus bewusst. Sobald mein Rücken an einem Stützbalken lehnte und Calyle mich mit seinem Körper daran fixiert hatte, wurde mir erst richtig bewusst, wie sehr er sich eigentlich zurückgenommen hatte.
„Haylee...“ Keuchte er seufzend an meinen Lippen, während sein Griff in meinem Haar und an meiner Taille fester wurde. „Versprich mir, dass du mich nicht hassen wirst.“
Calyle´s Stirn lehnte an der meinen. Meine Haut brannte, mein Hirn fühlte sich ganz weich an, wie mit Watte ausgestopft und mein Herz pochte so heftig, als wolle es aus meiner Brust ausbrechen.
Mein Blick jedoch klärte sich allmählich wieder, sodass ich Calyle´s Gesicht mustern konnte. Bewundern, wie schön er, selbst mit geschlossenen Augen auf mich wirkte und seufzte selig. „Wie könnte ich denn?“ Dafür mochte ich ihn doch viel zu sehr!
Calyle öffnete langsam die Augen und musterte mein Gesicht einen langen Moment. Was sah er wohl darin? Meine Begierde nach ihm? Meine unendliche Zuneigung? Vielleicht ein Mädchen, dass kaum glauben konnte, dass ein Typ wie er, sie geküsst hatte, als wäre sie das Einzige, was sie am Leben erhielt. Dann schloss er sie wieder und küsste mich einen langen Moment dermaßen besitzergreifend, dass ich bezweifelte, dass es je wieder ein anderer Kerl versuchen würde, denn dies würde bloß den Zorn eines Engels auf ihn ziehen. Und Engel waren bekanntlich die Krieger Gottes, richtig?
„Vielleicht wirst du es, wenn du weißt, wie ich wirklich bin? Vielleicht... hasst du es ja, wenn ich kein nerdiger Buchleser bin? Jemand, den man einfach übersieht.“
Ich biss in meine Unterlippe, was Calyle´s Blick etwas trüber machte. „Du bist nicht bloß eine Leseratte und Streber? Kann ich kaum glauben.“ Spottete ich atemlos. Wie hieß es so schön? Stille Wasser sind tief!
Calyle erschien mir plötzlich viel mehr wie ein Engel. Er war mir bisher stets ausgeglichen und ruhig vorgekommen. Unbeteiligt, was die Welt um ihn herum anging, doch so wie er mich eben geküsst hatte. Genauso gut könnte er ein Macho sein, der sich nahm, was er wollte.
Das Schlimmste daran... es ängstigte mich kein Stück! Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie sicherer gefühlt.
„I-Ich denke, ich habe schon eine ganz gute Vorstellung davon, was so in dir steckt.“ Keuchte ich.
Frustriert stöhnte Calyle und wollte sich schon von mir zurückziehen. „Ich wusste, ich würde dich damit verschrecken... Aber ich will einfach nicht, dass du-...“
Ich zog Calyle am Shirt wieder an, sodass er an mir lehnte, und erwiderte seinen Blick herausfordernd. „Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht daran erinnern, mit irgendeinem Wort erwähnt zu haben, dass mir >das< nicht gefällt.“
Von Adam war ich anfänglich wie eine Porzellanpuppe behandelt worden. Nach einem Jahr, als selbstverständlich betrachtet... Natürlich war das zu einer anderen Zeit gewesen. Einer, in welcher ich mich dem männlichen Geschlecht erst hatte öffnen müssen. Aber ganz ehrlich... Obwohl Adam und ich sehr viel Zeit miteinander verbracht hatten und ein wenig intimer geworden sind... so hatte er mich nie berührt. In keiner Sekunde unserer gemeinsamen Zeit war ich je dermaßen überwältigt gewesen und hatte mich zeitgleich wie der Lebensinhalt einer Person gefühlt.
Bei Calyle jedoch war es ganz anders. Ich fühlte mich lebendiger, begehrt und unersetzlich.
Als sein Blick erneut auf meine pulsierenden Lippen fiel, musste ich an Calyle´s Aura denken. Vielleicht hatte Odette ja unrecht. Vielleicht sah ich doch die Auren von uns Nephilim. Die Seiten, welche sie den anderen einfach nicht zeigen wollten... Ich lehnte meinen Kopf zurück an die Stütze und streichelte mit den Fingerspitzen über Calyle´s Wange, bis hinab zu seinem Mundwinkel. „Küss mich...“ Forderte ich, doch als er sich hinab senkte, um eben dies zu tun, legte ich meinen Finger an seine Lippen. „...falls du mich fangen kannst.“ Damit sank ich auf den Boden, duckte mich unter seinem Arm hinweg und sprintete los.
Lachend flog ich geradezu über den menschenleeren Spielplatz. Zu meinem Glück war er dicht bewaldet und befand sich in einem Randteil des Viertels, wo auch die Häuser der Nephilimmütter standen. Mein Weg führte am Holzturm vorbei, unter der Rutsche hindurch, über den Sandkasten und hinein in einen Hindernisparcours, aus Schaumstoffbalken.
Schmunzelnd stieß ich einen gegen Calyle, welcher ihn für einen Moment ins Taumeln brachte. Auch er strahlte über beide Ohren und seine Augen leuchteten amüsiert. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Calyle mir ganz nahekam, ehe ich mich umdrehte, ihn dennoch ein Stück entfernt fand, gerade weit genug, dass er mich nicht erwischte, aber nahe, als würde er mich weiter antreiben wollen.
Irgendwie schaffte ich es auf den Turm, wo ich schlussendlich natürlich in der Falle saß. Calyle wusste das, hielt sich am Dachvorsprung fest und betrachtete mich einen langen Moment einfach bloß keuchend und leicht verschwitzt. Ich selbst war hier hinauf geflüchtet, weil ich wusste, dass ich dieses Tempo nicht mehr allzu lange halten würde können und sonst nur, nicht gerade ladylike, zusammenbrach. Das wusste ich zu vermeiden und lehnte deshalb nun am Sicherheitszaun der Burg, während eine sommerliche Briese die Feuchtigkeit auf meiner Haut kühlte. „Vielleicht war das herumrennen nicht unbedingt mein bester Einfall heute.“ Witzelte ich keuchend. Man sah Calyle an, dass er locker noch eine Weile so mit mir herumlaufen, hätte können.
Langsam nahm er die Arme vom Dachvorsprung und kam auf mich zu. Genauso gut könnte ich die Maus im Käfig sein, die nirgendwo mehr hinkonnte. Sollte ich je wirklich zu einem Wettstreit zwischen Calyle und mir antreten... war es wohl sehr offensichtlich, wer dabei gewann! Trotzdem fühlte ich mich nicht schlecht, sondern blickte stolz zu ihm auf.
Calyle hatte mich nicht bei der erstbesten Gelegenheit gefangen. Er hatte mit mir gespielt, mich gefordert und er hatte mir die Chance gegeben, mich ihm zu stellen. Also war Calyle nicht der Typ Junge, der sich nahm, was er wollte. Jedoch auch nicht die Art, welche das akzeptierte, was man ihm vorwarf, in Ermangelung besserer Optionen. Suchte sich Calyle deshalb diese >leicht zu haben< Mädchen aus? Weil sie einen gewissen Reiz auf ihn auslösten, um das kämpfen zu müssen, was er haben wollte? Selbstverständlich reagierte Calyle deshalb abweisend auf unser Band, denn es bedeutete, er müsse um nichts kämpfen. Sich nichts verdienen, denn es gehörte ohnehin zu ihm. Wenn Calyle und ich uns jedoch nicht banden... hätte ich jederzeit die Chance zu sagen, dass ich nicht mehr an seinem Leben teilhaben wollte.
„Sag das nicht.“ Schloss Calyle und stützte beide Hände links und rechts von mir auf den Zaun. „Dich so lachen zu sehen, so heiter, gleicht die Erschöpfung durch die Hitze wieder aus.“
„Das verdanke ich nur dir, Calyle. Wärst du nicht...“ Ich ballte meine Hände neben meinem Körper zu Fäusten, um dem Drang nicht nachzugeben, ihn zu berühren. Obwohl jede Faser meines Körpers mir bestätigte, dass dieser Moment wirklich echt war, dass Calyle mich geküsst und berührt hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich bloß träumte. Wenn ich jetzt die Augen schloss... würde der Traum enden? Würde ich am Sofa neben Lucy erwachen?
Zärtlich streichelte Calyle mit seinen Fingern durch mein Haar und schoben es hinter mein rechtes Ohr. „Dann erinnere dich am besten daran. Denn ich habe dich gefangen und werde meine Belohnung auskosten. Immerhin hast du mich bei dieser Hitze dazu gezwungen, dir hinterher zu laufen.“ Nackte er mich herausfordern, dabei flüsterte er und strich mit den Lippen über meinen Wangenknochen.
Aufgeregt schlug mein Herz in meiner Brust. Dies hatte nichts mehr mit der Anstrengung von gerade eben zu tun. Mein Blut... kochte geradezu und meine Sinne forderten nach mehr von diesem Jungen. Ich wollte weiterhin Calyle an meinem Körper spüren, durch sein Haar streicheln, seine Lippen kosten... Mir wurde schon ganz schwummrig, alleine bei dem Gedanken daran. Nun ja, vielleicht lag es ja auch einfach an der Hitze.
Eben noch war Calyle kurz davor mich leidenschaftlicher als bisher küssen zu wollen, da ertönten anspornende Rufe, so wie Pfiffe von anderen Jugendlichen.
„Uh! Los gib´s ihr, Alter.“
„Treibt es wo anders!“ Rief wieder ein anderer.
„Klappe, das wird sicher ein Lifeporno.“ Witzelte der dritte in der Runde.
Ich stöhnte genervt und streckte den Mittelfinger hoch.
Calyle, wieder ganz er selbst, legte sanft eine Hand an meine Wange. „Wollen wir zurück gehen?“
Ich nickte. „Ja, ist wohl besser so.“
„Diese Schwachköpfe.“ Fluchte Calyle und stieg vor mir den drei Meter hohen Turm hinab. Als ich die letzten drei Stufen hinab sprang, fand ich mich prompt in Calyle´s Armen wieder. Er schlang seine Arme um mich, fing mich quasi zwischen den Sprossen und seinem Körper ein und küsste mich stürmisch. Nur am Rande registrierte ich, dass wir uns in einem toten Winkel, zu der vorlauten Gruppe befanden. Oder war sie vielleicht auch schon weiter gezogen? Was wusste ich schon. Das einzige was ich wahrnahm, war Calyle und wie er mich küsste. Seine Lippen, sein Duft, seine Haut... das weiche Haar. Hatte ich schon erwähnt, wie herrlich weich sein Haar war? Ich schlang mir den Zopf um die Handfläche und zog ihn noch enger an mich. Meine Zunge verlor in einem Zweikampf und mein logisches Denken verabschiedete sich erneut.
Als Calyle sich schlussendlich ein kleines Stück zurückzog, funkelten seine Augen amüsiert, während ich bestimmt das dümmlichste Lächeln auf der ganzen Welt trug. Ich musste völlig bekloppt wirken! „Habe ich shcon erwähnt, dass ich dich sehr gerne küsse?“
Ich dachte über die Worte nach... Nicht um ihn zappeln zu lassen, sondern weil sich mein Hirn erst wieder ins System einklinken musste. Dann räusperte ich mich. „Ä-Ähm... Noch nicht. Aber ich lasse mich liebend gerne von dir davon überzeugen.“
Das funkeln wurde zu einem zufriedenen Schmunzeln und Calyle küsste mich noch einmal. Das war alles, was er tat. Seine Arme waren wie Fesseln um meinen Körper geschlossen und seine Brust lag gegen meine gedrückt, während ich mich, geradezu verzweifelt, an ihn hing.

 

- - - - -

 

Calyle brachte mich noch bis vor Lucy´s Haustüre. Dort erst ließ er meine Hand los, welche er bis dahin gehalten hatte, da ich angemerkt hatte, dass es bereits zu heiß geworden war, um weiterhin Arm in Arm zu gehen. Das hatte er klaglos unterstützt, doch meine Hand hatte er nicht aufgeben wollen, was ich unfassbar süß fand.
„Bist du mir sehr böse, wenn ich schnell-...“
Katya unterbrach Calyle jäh, als sie quer über die Straße zu uns hinüber brüllte. „Da seit ihr ja endlich. Ich dachte, ihr wolltet bloß Frühstücken? Los packt eure Badehosen ein, wir gehen ins Bad!“
„Bad?“ Erkundigte ich mich irritiert.
Calyle antwortete selbstverständlich für Katya, welche mich nicht hören hatte können. „Ins Freibad. Das ist bestimmt wieder völlig überfüllt.“ Maulte er, sichtlich nicht begeistert von dieser Idee. Erst dann bemerkte er, dass ich eigentlich interessiert geklungen hatte. „A-Außer du magst hin? Dann... Dann würde ich dir natürlich Gesellschaft leisten.“
Eigentuch wollte ich liebend gerne ins Freibad. Ja, okay ich sollte mich davor vermutlich mehr ekeln, als vor dem klaren Gewässer eines natürlichen Sees... Aber in einem Becken voller Chlor musste ich mir wenigstens keine Sorgen um Insekten und Fische machen! Dann wiederum dachte ich an den Eintrittspreis, so vertretbar er auch sein mochte... und seufzte. „Nein, ich mag auch nicht wirklich dorthin. So viele verschwitzte Leute, die ins Becken auch noch pinkeln... Und dann noch die Ameisen, die dort bestimmt eine Siesta feiern unter dem ganzen Abfall. Danke, da verzichte ich auch.“ Hierbei log ich nicht einmal richtig.
Erleichtert lächelte Calyle mich an, ehe er sich an Katya wandte. „Danke, wir bleiben lieber hier.“
Katya kam über die Straße gejoggt, während sogar Lucy aus dem Haus kam, in nichts weiter, als einem Badeanzug und einem Rock, so wie der Strandtasche. „Was? Wieso nicht? Es ist total heiß.“
„Das stimmt, außerdem treffen wir dort auch die anderen.“
Lucy nickte. „Stimmt. Und macht euch keine Sorgen wegen Olympia, die halten wir euch fern.“ Versprach sie.
„Oh ja!“ Stimme Katya zu. „Wenn sie euch nur schief anstarrt, werde ich sie persönlich im Becken ertränken.“
Calyle und ich lachten, während wir rot wurden. Na toll, die nahmen es aber recht schnell, als selbstverständlich an, dass Calyle und ich ein Paar waren. Obwohl wir das noch nicht einmal besprochen hatten! „Olympia wird nicht ihr Gift versprühen. Sie hat mit Jungs endgültig abgeschlossen.“ Alle drei runzelten über meine Wortwahl ihre Stirn. „Schaut nicht so, für den Moment hat sie genug von Kerlen, die sie nicht wollen... oder nur wollen weil sie einer Ex ähnlich sehen, oder so.“ Erklärte ich knapp.
Katya rollte mit den Augen. „Mal wieder typisch Olympia. Sie übertreibt es immer maßlos. Na gut, ist ja auch egal, an was oder wem sie sich orientiert, Hauptsache sie hält die Klappe. Aber ihr beide müsst unbedingt mit. Zumindest du, Haylee. Du warst noch nie in unserem Bad, es ist einfach legendär!“
„Außerdem wagen sich dorthin weder Dämonen, noch Throne.“
„Zu viel Trubel.“ Erklärte Katya wieder. „Und für Dämonen ist es zu hell.“
Wow, die Überzeugungsarbeit der beiden Mädchen war schon ein Ding für sich. Einerseits würde ich tatsächlich liebend gerne mit ihnen abhängen... Doch die Verlockung mit Calyle alleine zu sein...
„Okay, wie du willst, Haylee. Ich bin dir bestimmt nicht böse, wenn du mit gehst. Es ist wirklich toll dort und mit den Mädchen hast du bestimmt eine menge Spaß.“ Versprach Calyle, während er versuchte, seine Enttäuschung für sich zu behalten.
Für einen Moment sah ich von Lucy und Katya, zu Calyle... Im Grunde hatte ich ja noch ein ganzes Leben mit den Mädchen, genauso aber auch mit Calyle und das war nicht unbedingt wenig Zeit, die wir da hatten...
Ich seufzte. „Na gut.“ Gab ich dann nach. „Vielleicht kann ich ja Calyle etwas später dazu überzeugen, mir zu sagen, wo das Bad ist. Aber bis dahin, würde ich gerne ein wenig entspannen. Calyle hat mich von einer Ecke eures Dorfes, zur nächsten gezerrt.“ Beklagte ich mich. Selbst das war nicht einmal gelogen. Ja gut, natürlich würde ich mich liebend gerne ins erfrischende Nass werfen, jedoch aufgeschoben, war doch nicht aufgehoben. Ich konnte mich ja schwer in zwei Teile teilen.
„Ernsthaft?“ Fragte Calyle ungläubig, dass ich mich für ihn an diesem heißen Tag entschieden hatte.
„Wieso nicht? Oder denkst du etwas, dass wir im Hochsommer einen kalten Nachmittag bekommen werden? Und ich nie wieder ins Pool gehen werde?“ Zog ich ihn auf, woraufhin er mich gefühlvoll anlächelte. Beinahe hätte ich mich ihm an den Hals geworfen und einfach geküsst! Er war so süß, wenn er sich freute! Davon wollte ich noch so viel mehr sehen.
„Harg...“ Murrte Lucy. „Blöde Pärchen! Wisst ihr was, ihr könnt mich alle mal. Single sind viel cooler!“ Sie streckte uns frech die Zunge heraus und zog ab, um ihr Fahrrad aus der Garage zu holen.
Katya lachte. „Na gut, dann lassen wir euch eben in trauter Zweisamkeit. Aber treibt es nicht in Lucy´s Bett! Das hat sie mir monatelang vorgehalten!“ Die letzten beiden Sätze flüsterte sie lediglich nur noch in unsere Richtung, woraufhin Calyle dunkelrot im Gesicht wurde und ich erstaunt die Brauen hochzog. Wie es wohl dazu gekommen war, dass Tyrone und Katya... in Lucy´s Bett? Ist ja eigentlich auch egal, richtig. Immerhin hatte ich nicht vor in näherer Zukunft meine Unschuld an einen Jungen, den ich eben erst einen Monat kannte, zu verlieren und mit welchem ich nicht einmal richtig zusammen war. Zumindest nicht soweit ich Bescheid wusste.
Kopfschüttelnd deutete ich aufs Haus. „Ich werde erst mal etwas kühles trinken. Mittlerweile bin ich geradezu am verdursten!“
Calyle folgte mir in die leere Küche. Der halb zusammen gegessene Kuchen stand auf einem Teller, mitten am Küchentisch und lächelte ebenfalls herrlich zu mir auf. Auch wenn er einen Hauch zu dunkel wirkte! „Scheint so, als könnte Odette doch kochen.“ Witzelte Calyle.
„Möchtest du?“ Erkundigte ich mich am Kühlschrank und deutete auf das Fruchtgetränk. Er bejahte dankend. „Kann Odette etwa nicht kochen?“ Fügte ich dann an.
„D-Doch, sie kocht. Aber backen kann sie überhaupt nicht. Das scheint bei ihr geradezu verhext zu sein. Irgendwie klappt immer etwas überhaupt nicht und dann... muss sie es wegwerfen.“
Ich nahm ein Messer aus dem Block und schnitt ein Stück vom Kuchen ab. Sie hatte vegan gesagt, falls ich mich richtig erinnerte. Als ich daran schnupperte, konnte ich statt dem typischen Teiggeruch doch tatsächlich einen Hauch von Banane ausmachen. Ich biss hinein und... stockte.
Calyle begann zu lachen. „Versalzen.“ Stellte er auf meinen Gesichtsausdruck hin fest.
Kopfschüttelnd spuckte ich in den Eimer. „Bitter!“
„Bitter?“ Fragte er ungläubig und lachte noch lauter. „Das kann gar nicht sein. Wie schafft man es einen Kuchen bitter schmecken zu lassen?“
„Limonenschale.“ Und das vermutlich gleich von einem ganzen Baum! Angewidert spülte ich die Reste des Geschmackes mit Limonade hinunter. Wer hatte bitte so viel von dem Kuchen essen können?
Calyle trat lachend an mich heran und legte beide Arme um mich. „Meine arme Haylee.“ Zog er mich auf und streichelte mit den Handflächen über meinen Rücken, während ich halb giftige, halb amüsierte Blicke zu ihm sendete. „Aber mach dir nichts daraus, wir mussten alle bereits unter ihren >Künsten< leiden.“
Ich schnaufte. „Sie hat es ja bloß gut gemeint. Dafür bin ich ihr mehr, als dankbar.“
„Und mir?“ Fragte Calyle. „Immerhin habe ich dich den ganzen Vormittag durch unser >Dorf< wie du es so schön nennst, geführt und dir meine Lieblingsplätze gezeigt.“
Ich schlang meine Arme um seinen Nacken, nachdem ich das Glas beiseitegestellt hatte. „Ach, du armer hast ja schreckliches auf dich genommen.“ Spottete ich mindestens genauso schlimm.
„Oh, lala! Jetzt weiß ich wenigstens, weshalb du uns nicht Gesellschaft leisten willst.“ Lysander stieß einen theatralischen Seufzer aus, während Calyle und ich verlegen auseinandersprangen. „Und dabei hätte ich dich zu gerne in einem Bikini gesehen... Oder Badeanzug... Die haben auch etwas und sind beinahe schlimmer, als die Bikinis, die überhaupt nichts verbergen.“
Genervt stöhnte ich. Danke, genau das hatte ich noch gebraucht. „Ich komme vielleicht später noch nach... In einem Skianzug!“ Drohte ich, doch Lysander lachte lediglich amüsiert über meinen Versuch gemein zu klingen.
Lysander´s Augenbrauen hüpften, während sich ein schelmisches Lächeln auf seinen Lippen abbildete. „Oh, das Kätzchen hat ja doch Krallen. Wie süß.“
Moment, wie hatte er mich eben genannt?
„Ist ja auch egal, ich bin eigentlich nur hier, um mir noch ein Stück von diesem leckeren Kuchen hier zu klauen. Könnt ihr euch vorstellen, dass es kaum bitter schmeckenden Kuchen auf der Welt gibt? Unfassbar, richtig?“
Während Lysander näher kam und Calyle sich unweigerlich in meine Richtung bewegte, bemerkte ich, dass Lysander seltsam tänzelte. Er wirkte schon beinahe, wie... „Hast du etwa Drogen eingeworfen?“ Erkundigte ich mich, woraufhin er mir einen entsetzten Blick zuwarf. Tatsächlich, seine Pupillen waren reine Scheiben und von den Iriden konnte man bloß noch erahnen, dass sie früher einmal grünlich und braun gewesen waren.
„Als ob ich jemals unter tags Drogen einwerfen würde!“ Er fasste sich ans Herz, während er mit der rechten Kuchen in den Mund steckte. Na kein Wunder, dass Lysander es lecker fand. Unter Drogen machte man bekanntlicherweise ja auch Schlimmeres als bloß so etwas.
Ich trat an ihn heran. „Lysander, das ist nicht witzig. Deine Pupillen sind so groß wie die Saturnringe! Wie viel hast du denn intus? Und vor allem >wovon<?“
Forderte ich ihn auf, doch dieses Mal war es Calyle, welcher amüsiert wirkte.
Sanft berührte seine Hand meine Schulter. „Warte einfach nur einen Moment, Haylee.“
Warten? Auf was denn? „Auf was soll ich denn warten?“
Schmunzelnd lehnte sich Calyle gegen die Küchentheke und nickte einfach in Richtung von Lysander, welcher seinen Kuchen auf außergewöhnliche Weise genoss. Schmatzend, als würde er Ambrosia zu sich nehmen, leckte er über seine Fingerspitzen und stöhnte dabei. „Es ist so lecker!“ Seufzte Lysander langgezogen. Also wirklich! Sollten wir nicht Fiona Bescheid geben, dass ihr Sohn total vollgepumpt mit Drogen war?
Ich war schon drauf und dran etwas zu Calyle zu sagen, als eine Veränderung in Lysander fuhr. Er erstarrte, seine Pupillen zogen sich ruckartig zusammen und er gab einen Würgelaut von sich. Schon war er beim Müll und spuckte die restlichen Brösel aus seinem Mund, dort hinein. „Igitt! Ist das bitter!“
Calyle reichte ungefragt sein Glas mit kühlen Saft, weiter an Lysander, welcher wieder vollständig bei Sinnen war. Natürlich stürzte dieser es gierig hinab und, ehe er sich verlegen über den Mund wischte, um auch von dort die restlichen Brösel zu entfernen.
Ungläubig glotzte ich, ähnlich wie ein Fisch, mit offenen Mund, zwischen den beiden Jungs hin und her. „Drogen besitzen auf uns lediglich wenig Einfluss. Und wenn, dann hält dieser nie länger als fünf Minuten.“ Erklärte Calyle belustigt schmunzelnd.
Lysander hingegen wirkte weit weniger amüsiert über das eben geschehene. „Tja, das sind eben meine fünf Minuten Glück am Tag. Ein teures Hobby, aber ich habe ja sonst nicht wirklich etwas zu tun, den lieben langen Tag. Und wenn ich schon wieder in dieser trostlosen Kleinstadt abhängen muss, dann kann ich mir ja zumindest den einen oder anderen Spaß aus der Stadt gönnen.“
Ich glaubte schon, nicht richtig zu hören. War das alles eben etwa ein großer Scherz für Lysander und Calyle gewesen? Ich lebte mein Leben lang in einem Viertel, das gelinde gesagt, der letzte Dreck war! Alleine in meinem Wohnkomplex kommt es zwei Mal in der Woche vor, dass die Rettung einen Einsatz aufgrund des Missbrauches von Drogen hatte! Halb betäubte... fremde, teils aggressive Drogenabhängige, brachen öfters im Jahr in unsere Wohnung ein, auf der Suche nach etwas, dass sie für den nächsten Schuss versetzten, konnten!
Ehe ich mich versah, holte ich aus und schlug Lysander mit der flachen Hand eine kräftige Ohrfeige herunter. Nicht bloß Lysander erschrak, sondern auch Calyle wirkte auf einmal sehr eingeschüchtert. „Wage es nicht noch einmal dieses Zeug auch bloß ansatzweise in meine Nähe zu bringen! Haben wir uns verstanden?“ Mahnte ich ruhig, doch so bedrohlich, dass Lysander sichtlich die feinen Härchen in seinem Nacken zu Berge standen. Schwer schluckend, doch ohne den Mund für eine Rechtfertigung, oder gar einen Widerspruch zu öffnen, nickte er artig.
Mein Blick fiel zurück auf Calyle, welcher immer noch so dreinsah, als könne er nicht glauben, was er eben gesehen hatte. Verlegen wandte ich mich ab und verschränkte die Arme abweisend vor meinem Oberkörper. Mehr hatte ich zu diesem Thema nicht zu sagen, während meine Knochen geradezu schepperten in meinem Körper. Es war wie... ein Kindheitstrauma, welches aus heiterem Himmel aus meinen düsteren Erinnerungen hochkroch. Einmal mehr sah ich meine Mutter betteln, diese Leute mögen einfach nehmen, was sie wollten und wieder verschwinden. Ich hörte mich selbst, gezwungen leise, in ihre Hose schluchzen, während ein Gegenstand nach dem anderen umflog. Diese Menschen wirkten an manchen Tagen... richtig geistesabwesend und erinnerten mich auf eine groteske Art an meine Mutter. Natürlich war meine Mutter mir gegenüber niemals aggressiv gewesen. Noch weniger hätte sie es je gewagt mir drohend, mit verklärten Blick, stinkend und heruntergekommen, ein Messer an die Kehle zu halten, während eine weitere Person meine privaten Sachen durchstöberten.
Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich zitterte, als Calyle´s Hände plötzlich zögerlich meine Schultern berührten. Ruckartig kehrte ich aus der Hölle an verdrängten Erinnerungen zurück an die Oberfläche und konnte endlich wieder tief durchatmen. Im nächsten Moment befiel mich Mitgefühl. Ich hatte schon wieder jemanden geschlagen! Dabei war das doch überhaupt nicht meine Art! So etwas tat ich nicht, ich ging nicht einfach an die Decke. Ja, schreien und Schimpfen konnte ich getrost und ausgiebig. Aber schlagen... Und das zweimal in so kurzer Zeit... Nein, sogar drei Mal, bloß beim ersten Mal hatte es so gutgetan, dass ich beinahe nicht hatte aufhören wollen.
„Wo ist Lysander?“ Erkundigte ich mich, noch ehe Calyle etwas sagen konnte.
„E-Er ist eben zur Türe hinaus. Was war-...“
„Bitte, entschuldige, Calyle.“ Ich ließ ihn einfach stehen und hastete zur Eingangstüre, welche noch einen Moment zuvor, zugefallen war. Kaum war ich vor dem Tor, rief ich auch schon nach Lysander. Er war auf dem Weg zu einem verwirrt wirkenden Ryan, welcher an scheinbar seiner Maschine stand und dort auf seinen Freund wartete. „Lysander, bitte warte!“ Gegen jegliche Erwartung blieb er stehen und wartete geduldig darauf, dass ich aufholte. Weder versuchte er dabei, seine rot glühende Wange zu verdecke noch sein gerechtfertigtes Misstrauen zu verbergen. Stumm wartete er auf meine nächsten Worte.
Vorsichtshalber, um ihm keine weitere Angst einzujagen, hielt ich einen drei Meter Abstand ein. „E-Es tut mir so leid, Lysander! Ehrlich.“ Entschuldigte ich mich aufrichtig. Mit meinem plötzlichen Ausbruch, den ich keinesfalls erwartet hatte, habe ich ganz ehrlich, den absolut falschen erwischt! Und das bereute ich zutiefst.
Lysander erwiderte meinen Blick einen langen Moment lang... dann nickte er stumm. Stotternd suchte ich weiterhin nach Worten. „Ich kann dir überhaupt nicht erklären wie leid es mir tut. Aber, die Sache ist die...“
„Nein, du musst mir nichts erklären.“ Verlegen sah ich vom Boden wieder auf. Jetzt war ich verwirrt, während Lysander so mir so nahekam, dass ich ihn sogar flüsternd verstand. Er legte mir eine Hand auf den Hinterkopf und zog mich für einen Moment an seine Brust. „Ich kenne diesen Blick, Haylee. Er ist entweder der, von jemanden der selbst schon unter solchen Drogen etwas unverzeihliches angestellt hat, was ich in deinem Fall nicht glaube. Oder der Blick von jemanden, der oft unter solchen Leuten gelitten hat. Bitte... verzeih du mir. Ich hatte keine Ahnung.“
Ich zögerte. Wie kam es, dass sich Lysander jetzt plötzlich bei mir entschuldigte? Dann jedoch, nickte ich und schlang für einen Moment meine Arme dankbar um seine Taille. Also steckte doch ein Hauch Vernunft in diesem Kerl? So viel Verständnis hatte ich ehrlich gesagt nicht verdient. Nicht, nachdem ich einfach handgreiflich geworden war!
Sanft streichelte er über meinen Hinterkopf, dann schob Lysander mich von sich, mit seinem üblich, schrägen Lächeln auf den Lippen. „Dafür bist du mir einen Anblick im Bikini schuldig, Fräulein Blackbird.“
Lachend boxte ich ihm sanft in die Magengegend. „Träum weiter, Holzkopf.“
Schmunzelnd ging Lysander, rückwärts weiter zu Ryan retour. „Unterwäsche ist natürlich auch akzeptabel.“
Lachend rollte ich mit den Augen. Himmel! Was stimmte mit diesem Kerl bloß nicht? „Nicht mal für alles Geld dieser Welt!“ Lehnte ich ab und ging mit schlagendem Herzen zurück zu Calyle. So viel Verständnis von Lysander´s Seite aus, hätte ich niemals für möglich gehalten. Noch nicht einmal, dass mich der Anblick eines heiteren Drogenabhängigen dermaßen aus der Bahn werfen würde. Seit uns Adam seine alte Türklinke geschenkt und eingebaut hatte, hatte es schon lange kein Einbrecher mehr hinein geschafft. Ich war auch älter geworden, war abgehärtet solchen Leuten gegenüber geworden, doch dass Lysander so... unbedenklich damit umging... Das wollte und konnte ich einfach nicht glauben. Das kleine, naive Kind in mir sagte, dass solche Leute schlimm waren... nicht gar Böse! Nicht nur einmal, hatten solche meine Mutter bewusstlos geschlagen und sogar mit fünf Jahren, hatte ich bereits den Notruf wählen, so wie unsere Adresse durch sagen können.
Kaum zu glauben wie leicht ich das alles hatte... einfach verdrängen können. Natürlich war nie etwas Ernsteres als eine Beule oder leichte Gehirnerschütterung passiert. Mama hatte immer gesagt, dass ein Schutzengel auf uns aufpasse und uns deshalb niemals etwas geschehen war. Doch wer glaubte in meinem Alter schon noch an so einen Schwachsinn?
Wenn man nicht gerade erfahren hatte, dass man ein Nephilim war, glaubte man doch nach solchen Sachen, bestimmt nicht mehr an Engel die einen hüteten.
„Haylee, alles in Ordnung?“ Calyle streckte eine Hand in meine Richtung aus und streichelte damit eine Haarsträhne hinter mein Ohr, ehe sie an meiner hitzig gewordenen Wange liegen blieb. Ich nickte lediglich und genoss das prickelnde Gefühl seiner Hand auf meiner Haut. „Was ist denn passiert? Du warst plötzlich so außer dir.“
Ich atmete tief durch und zog Calyle mit mir auf die Couch. „I-Ich weiß nicht mal wie ich das beschreiben soll.“
„W-Wenn du es mir nicht erzählen willst, dann-...“
Ich lächelte sanft. „Nein, das ist es nicht. Es ist bloß... Lysander hat mich einfach ganz unerwartet am falschen Fuß erwischt. Eigentlich... mache ich seit meiner frühesten Kindheit große Bögen um Leute die unter Drogen leiden, weißt du. I-Ich bin in einem Viertel aufgewachsen...“
Er nickte verstehend. „Schon gut, ich weiß was du meinst.“
„Dass Lysander so sorglos damit umgeht, während andere von diesem Mist verrückt werden, hat mich... es hat mich einfach eiskalt erwischt. Es tut mir leid... Ich wollte dir keine Angst machen.“
Calyle lehnte sich vor und küsste meine Stirn. „Nicht ich war es, der sich halb in die Hose gemacht hätte. Du hättest Lysander aus meiner perspektive sehen müssen. Ich schwöre dir... nur ein Wort und er hätte sich in die Hose gepinkelt.“
Lachend hielt ich dem Idioten den Mund zu. „Calyle! Das ist... Ah!“ Er hatte sich plötzlich auf mich geworfen und kitzelte mich gnadenlos, während ich mich so gut wie möglich wehrte. Ehe ich mich versah, lagen seine Lippen besitzergreifend wieder auf meinen. Seine Beine drängten sich zwischen die meine, bis wir miteinander verschlungen auf der Couch lagen und uns ausgiebig küssten.
Hach! So etwas schaffte auch bloß Calyle. Im nächsten Moment hatte ich schon wieder alles vergessen und meine gesamte Welt drehte sich bloß um meinen feurigen, leidenschaftlichen Engel, von dem ich überhaupt nicht genug bekommen konnte. Von mir aus hätten Stunden so an uns vorbei gezogen sein können, doch schlussendlich zog sich Calyle viel zu früh wieder vor mir zurück. Atemlos stützte er sich mit beiden Armen über mir ab und blickte auf mich herab. Er sah so schön aus!
Ich blinzelte und erlaubte es der Macht in mir, in mir hochzukommen, bis ich meine Umgebung wieder mit meinem Engelsblick wahrnehmen konnte. Schlagartig vergaß ich zu atmen, und sah einmal mehr, dass schönste Wesen vor mir, welches ich jemals erblickt hatte. Seine goldene Aura war... wild. Sie leckte auf diese geringe Distanz hin, über meinen Körper hinweg, tastete mich willensstark ab und schien das Gefühl meiner Nähe in sich aufzunehmen zu versuchen. Ich erschauderte vor Ungläubigkeit? Hitze? Nein, ich hatte keine Ahnung, was es war, denn ich hatte es noch nie empfunden.
Nun schloss auch Calyle seine Augen für einen langen Moment und als er ihn wieder öffnete, sah er mindestens so verzückt drein, wie ich selbst es tat. „Du könntest in diesem Moment die hässlichsten Lumpen aller Zeiten tragen und wärst dennoch das schönste und sinnlichste Mädchen weit und breit, Haylee.“ Calyle´s Blick glitt meinen gesamten Körper hinab. Von meinen Lippen, zu meinem Hals, über meine Brüste, die Taille und meiner Hüfte, tiefer zu meinem Schenkel. Dabei zeichnete seine Fingerspitzen eine Spur vor, die mich erstickend nach Luft schnappen ließ.
Schlagartig schien sämtliches Blut aus meinem Kopf... nein, aus meinem sämtlichen oberen Körperbereich ab zu sacken und sich zwischen meinen Beinen zu sammeln wie flüssige Hitze. Als Calyle´s Handfläche sich auch noch besitzergreifend von der Außenseite meines Schenkels, darum herum schloss, musste ich doch glatt willkürlich wimmern.
Himmel, ich wollte so unbedingt, dass Calyle mich mit Haut und Haaren verschlang, doch gleichzeitig war mein gutes Gewissen in mir noch nicht ausgeknockt, sondern appellierte eindringlich an meinen Manieren! Noch nie in meinem Leben hatte mich jemand so sehr begehrt, wie Calyle es ganz schamlos tat. Zumindest nicht, dass ich es gewusst hätte. Doch das war auf dieselbe Weise schmeichelhaft, wie es auch einschüchternd war.
Genauso langsam, wie Calyle´s Blick an meinem Körper hinunter gewandert war, wanderte er nun wieder hinauf und blieb an meinem Hals hängen. Sanft ließ er sein Gewicht wieder auf mich sinken, zog dabei mein linkes Bein höher, sodass ich es um seine Taille legen konnte, und begann währenddessen zärtlich an der empfindlichen Haut unter meinem Ohr zu lecken und knabbern. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, während meine Hände, zittrig geworden, ihren Weg unter sein Shirt fanden und etwas hart zwischen meinen Beinen drängte.
So gut sich das auch anfühlen mochte... besser noch, als der Himmel selbst es je konnte, brach ich das, nicht mehr allzu unschuldige Geknutsche schlagartig ab. „Äh, Calyle! Do-Dodette... Äh... Sabrina.... Nein Lucy´s... Mutter... Äh...“ Warte, wie hieß Lucy´s Mutter schnell noch einmal? „Ich meine, es könnte jeden Moment jemand hinein platzen.“ Immerhin schien in dieser Gegend niemand zu klopfen.
Räuspernd setzte sich Calyle auf und gab mir genug Freiraum, damit sich mein gesamtes Blut wieder in meinem Körper verteilen konnte. Wow... jetzt wurde mir schwindelig!
„Ja... Ja, du hast recht. Hier herrscht immer reger Verkehrt, besonders jetzt, wo alle frei haben.“
„Genau!“ Stimmte ich zu. „Au-Außerdem wollten wir nicht einen Film oder so etwas schauen?“
„Ja, genau!“ Stimmte er genauso atemlos zu. „Ei-Einen Film. Genau... Ähm, was denn für einen?“
„Mir ganz egal.“ Am besten irgendeinen unschuldigen Kinderfilm, um meinen viel zu überschwänglichen Hormonen, einen gebürtigen Dämpfer zu verpassen
„Horror?“ Ich nickte. Ja, wieso auch nicht? Ich war die Letzte, die sich großartig gruselte.
Die nächsten Momente suchten wir, mit reichlich Abstand, einen Film aus, den wir beide noch nicht kannten, bis wir einigermaßen wieder Herr unserer Körper waren. Erst langsam näherte ich mich wieder Calyle, nachdem er die Klimaanlage eingestellt hatte, und kuschelte mich die nächste Stunde, völlig unschuldig an ihn.

XIV - Das Testament

Drei Tage vergingen, zu meiner großen Verblüffung, wie im Flug. Lysander war so freundlich und schloss für diese Tage, mit seiner Drogensucht ab und behauptete, auch ein Nephilim bräuchte ab und wann ein Päuschen von bestimmten Dingen. Ersetzt wurden diese Drogen jedoch prompt... mit einer Vielzahl an Mädchen! Man sollte meinen die Mädchen aus diesem Viertel wussten es mittlerweile besser. Calyle und ich verdrehten jedoch lediglich die Augen darüber, während sich Ryan beschwerte, dass Lysander, sein bester Freund, kaum noch Zeit mit ihm verbrachte.
Olympia nahm es sichtlich mit Humor. Einmal ließ sie sich sogar von Lysander mit zu einem solchen Mädchen nehmen... Als sie nach Hause kam, wirkte sie, zu unser aller erstaunen, fürchterlich verstört, wo hingegen Lysander selbstzufrieden vor sich hin schmunzelte.
Lucy und ich, welche erst vor kurzem sämtliche Erinnerungen miteinander geteilt hatten, warfen einander augenblicklich einen auffordernden Blick zu. Schlussendlich erbarmte ich mich meiner, mit der armen Olympia über das Geschehene zu sprechen. Ihre Antwort war schlicht, dass sie als Nonne friedlich sterben würde.
Damit wäre wohl das Mädchenthema ebenfalls abgehakt... Fürs erste. Als mich Calyle darauf ansprach, verlor ich selbstverständlich kein Wort. Er verstand es, als ich ihm zumindest so viel anvertraute, dass Olympia eine grundlegende Entscheidung getroffen hätte und diese nun scheinbar nun bereute. Mädchenkram eben... Daraufhin wurde er ein wenig rot und schwieg bis auf weiteres.
Lucy und Katya konnte ich selbstverständlich nicht so einfach abspeisen und Lysander vertraute eine, vollkommen übertriebene, Version aus seiner privaten, überaus perversen Sicht, dem armen Ryan an. Der >harte< Kerl, zuckte gleichgültig mit den Schultern, als würde ihn das alles überhaupt nicht interessieren.
So vergingen die drei Tage nach und nach. Calyle baute mich auf, von wegen, dass nach der Testamentseröffnung schon alles gut werden würde. Olive vereinbarte einen Termin mit dem zuständigen Amt, während Odette mir meine Wohnung sicherte.
Oh, ja. Habe ich das nicht erwähnt? Calyle und Lucy hatten mir ziemlichen Mut gemacht. Anfänglich hatte ich nicht wirklich daran geglaubt, dass ich es über mich bringen könnte, doch ja... Ich werde in meine kleine, aber feine Wohnung zurückkehren. Immerhin ist dort mein bisheriges Leben gewesen. Zudem hatte ich entschieden, nicht zu studieren, sondern schickte bereits, wie verrückt, über Lucy´s PC aus, Bewerbungen weg. Calyle schrieb sie natürlich, zusammen mit Lucy, wodurch sie fürchterlich übertrieben klangen und ich schämte mich schon fast wieder dafür. Ob es helfen würde, konnte ich jedoch bisher nicht sagen.
„Bist du bereit, Liebes?“ Odette legte beruhigend eine Hand auf meine Schulter und lächelte mich gleichzeitig aufmunternd an, doch ich schüttelte den Kopf.
„Wo sind denn die anderen Moms geblieben?“ Erkundigte ich mich und kaute an meinem Daumennagel herum. Eine echt blöde Angewohnheit.
„Nur Olive und ich werden dabei sein. Marie und Celiné beschäftigen die Kinder.“ Während Josephine, Fiona und Sabrina erst gestern Morgen los nach Rom geflogen waren, um dort den Papst höchst persönlich aufzusuchen. Sabrina meinte, sie hätte ein spezielles Artefakt, welches ihr, mit viel Glück, so wie ihren Kontakten, erlauben würde direkt zum Papst vordringen zu können. Na da war ich aber wirklich mal gespannt, denn mehr, als diese kryptischen Worte, hatte sie niemandem verraten wollen.
Odette deutete auf die Eingangstüre von Olive´s Haus. „Na komm, der Anwalt wird schon längst da sein, Liebes.“ Sanft schob sie mich neben sich her, während ich nervös an meinem lässigen und abgetragenen Outfit herum zupfte. Vielleicht hätte ich mir doch etwas von Lucy borgen sollen? Immerhin fiel ich hier immer noch auf, wie das schwarze Schaf. Nun ja, es störte sich absolut niemand daran, dass ich ausgewaschene Kleidung trug, welche diverse Löcher oder geflickte Stellen aufwiesen. Ich hatte zumindest mein wildes Haar mit einer niedlichen Hundespange, welche ich von Lucy leihen hatte dürfen, gezähmt und wirkte damit wenigstens ein ganzes Stück weniger... heruntergekommen. Ob das den Anwalt überhaupt interessierte? Bestimmt überhaupt nicht. Er wollte, dass alles sicher bloß hastig über die Bühne bringen.
„Olive? Wir sind da!“ Rief Odette noch in der Türschwelle ins Innere des Hauses, welches ich bei Mom´s und meiner Ankunft das erste und letzte Mal betreten hatte.
Olive, wunderschön, wie jeden Tag, selbst wenn sie sich einmal nicht stylte, erschien im Flur und lächelte uns herzlich an. Mich nahm sie für einen Augenblick sogar in den Arm.
„Gut, ihr seit die ersten. Der Anwalt verspätet sich, er ist wohl in einen dummen Unfall verwickelt worden oder so etwas. Wollt ihr vielleicht schon einmal mit dem Kaffee und Tee anfangen?“
„Wozu denn Tee?“ Erkundigte ich mich verwirrt.
„Olive ist ein Kontrollfreak wenn es um Gäste geht.“ Witzelte Odette. „Kein Gast kommt ihr davon, ohne sich vorher für die Rückreise gewappnet zu haben.“ Tatsächlich führte Odette uns in den Essbereich, wo bereits Tee, Kaffee und diverse Snacks zur Verfügung standen. Ich konnte es kaum glauben, als hätte sie die Familie für ein spätes Frühstück nach Hause eingeladen!
Es klopfte. „Ich gehe!“ Verkündete Odette, noch ehe, Olive, ganz Gastgeberin bei einem Staatsbesuch, etwas anderes sagen konnte.
Ich stand noch im Rahmen zwischen Flur und Esszimmer und lugte nun neugierig um die Ecke. Bisher hatte ich noch nie einen Anwalt gesehen. Nun, nicht das ich erwartete, dass er ein besonderes Erscheinungsbild besaß wie zum Beispiel Clowns oder hochrangige Militärmitglieder. Ach, eigentlich hatte ich keine Ahnung, was ich erwartete zu sehen. Vor allem nicht das, was sich vor mir abspielte! Mit offenem Mund sah ich dabei zu, wie der Anwalt, denn der Anzugträger musste es zweifellos sein und Odette sich sprachlos anglotzten. „Sie!“ Stießen beide erstaunt hervor, während sie einander eindringlich musterten.
Olive, neugierig geworden, von dem Tumult streckte ebenfalls ihre Nase heraus, wobei ihr hüftlanges Haar, auch meine Schulter bedeckte.
„Nichts da >Sie<.“ Empörte sich Odette. Mehr aus einem nervösen Tick wegen, als dass sich da tatsächlich irgendetwas befand, strich Odette eine nicht vorhandene Haarsträhne hinter ihr Ohr. Ganz ehrlich, ich hatte Odette noch nie ohne Dutt gesehen. Noch nicht einmal im Haus am See. Dass sie jetzt nach so nervös wurde, wunderte mich dennoch ein wenig. Was hatte sie denn angestellt? „Haben Sie mich etwa bis hierher gestalkt?“
Der Mann fuhr sich seinerseits durch sein perfekt zurückgelegtes Haar. Nicht das sich dort auch bloß ein Härchen verschoben hätte. Ob die beiden etwa denselben Kleber fürs Haar benutzten? „So etwas würde mir niemals einfallen! Ich habe mir Ihr Nummernschild aufgeschrieben und es der Polizei gemeldet. Deshalb bin ich auch viel zu spät zu meinem Termin gekommen!“ Fuhr der Mann sie seinerseits an, ohne dabei laut zu werden. Für einen Moment befürchtete ich doch glatt, dass sich die beiden prügeln würden!
Olive und ich wechselten einen erstaunten Blick. Sollte sie... nicht dazwischen gehen, oder so etwas? „Na klar, das wäre doch wirklich ein viel zu großer Zufall!“ Spottete Odette hochnäsig. „Ausgerechnet der Fahrer, welcher mir meine Vorfahrt nehmen wollte, ist der Anwalt, welcher meiner Nichte das Testament ihrer verstorbenen Mutter überreichen soll. Dass ich mich nicht kaputt lache!“ Dabei stieß sie eine gespielte Belustigung aus.
„Ich Ihnen? Sie hatten doch das Stoppschild! Ob es Ihnen bewusst gewesen sein möge, oder auch nicht. Vor einem Bahnübergang bleibt man stehen! Sieht in alle Richtungen und >dann< erst fährt man darüber.“ In seiner Stimme erklang ein Unterton mit, welcher schwer darauf hoffen ließ, dass Odette nächstes Mal am besten der Zug sofort treffen möge.
„Sollten wir dazwischen gehen?“ Zischte ich Olive zu und schob mir ihr Haar über die Schulter, da es mich am Hals zu sehr kitzelte.
„Bloß nicht!“ Zischte sie ihrerseits im Flüsterton zurück. „Ich will wissen, wie das ausgeht.“ Gut, da waren wir offensichtlich schon zu zweit.
„Da war weit und breit kein einziges Schild!“ Fluchte Odette, wobei selbst ich als Laie ihr da widersprechen musste. Ein Bahnübergang ohne Schilder? Wir leben hier nicht unbedingt in einer bäuerlichen Provinz, wenngleich selbst die Bahnschilder besitzen mussten!
„Ach, jetzt wollen Sie auch noch leugnen? Das wird sich vor Gericht hervorragend machen-“
„Okay, ich gehe jetzt besser dazwischen, das eskaliert.“ Olive setzte ihr herzlichstes Lächeln auf, welches den attraktiven Mann augenblicklich verstummen ließ. „Mister Smith! Es ist mir eine große Freude, Sie in meinem Haus willkommen heißen zu dürfen. Bitte, hier, für Ihre Jacke.“ So charmant, wie ich es eigentlich bloß von der Naturschönheit Katya gewohnt war, umwarb Olive den jungen Mann. Äußerlich mochte er doch im selben Alter sein, wie alle unsere Mütter... doch zwischen ihnen und unseren Müttern müssten gut fünfzig Jahre liegen, beinahe sechzig! Erst jetzt wurde mir das so richtig bewusst... gruselig!
„Sie müssen die nette Dame vom Telefon sein, Miss Blackbird´s Schwester...“
„Olive McBird.“ Sie nahm seine Hand entgegen und benutzte all ihren weiblichen Charme um den armen, hilflosen Anwalt wieder wohlwollend zu stimmen. „Und diese rüde Person hier, ist meine ältere Schwester Odette Birdsall. Ich hoffe doch, sie hat Sie nicht zu sehr mit ihrer rabiaten Fahrweise erschreckt. Normalerweise lassen wir Odette bloß an das Steuer, wenn wir etwas dringliches erledigen müssen.“ Sie lachte kokette. „Und natürlich komme ich für den Schaden auf, denn der Wagen läuft auf meinen Namen, wissen Sie.“
Man sah dem Mann an, dass er von ihrem weiblichen Charme ganz hin und weg war, während ich Olive´s Freundlichkeit extrem aufgesetzt fand. In ihrer Stimme fand sich mehr Diplomatie, als die gewohnte Herzlichkeit wieder, welche sie sonst für jeden von uns alle übrig hatte.
Eilig schnatterte sie weiter. „Darf ich Ihnen vorstellen? Meine... Also, eigentlich unsere, Nichte Haylee Blackbird.“
Räuspernd ergriff ich die Hand des Anwalts. Sie fühlte sich überraschend... weich an, fast wie eine frisch geölte Frauenhand, oder so etwas. „Guten Tag.“ Murmelte ich bloß, da übernahm Olive bereits erneut, das >plappern<.
„Bitte setzten Sie sich. Ich habe eben erst ein spätes Frühstück für uns alle gezaubert.“ Sagte sie leichthin und überließ dem Anwalt den so genannten Vorsitz, welcher eigentlich Olive innehatte. „Tee oder Kaffee?“ Erkundigte sie sich.
Odette und ich nahmen neben dem Mann platz, da es ohnehin bloß vier Gedecke gab.
Ich zu meinem Teil saß, quasi als Mauer, zwischen dem Anwalt und Odette. Olive nahm den vierten Platz, zu seiner anderen Seite ein.
„Kaffee, schwarz. Vielen Dank.“ Olive schenkte ihm in die Tasse ein, dann deutete sie uns beiden, dass wir uns gerne selbst bedienen durften. Odette ließ sich das nicht zweimal sagen und griff ebenfalls nach der Kaffeekanne. Dabei schenkte sie um einen Hauch mehr des schwarzen Gesöffs in ihre Tasse, als der Anwalt hatte. Als würde sie ihn herausfordern wollen, wer von ihnen, mehr Kaffee trinken konnte. Oder bildete ich mir hierbei bloß etwas ein?
„Verzeihen Sie, Misses McBird. Das an der Türe, war keine höfliche Begrüßung, was eigentlich überhaupt nicht meine Art ist. Auch du, Haylee.“
Ich hatte eben nach der Kanne mit Tee darin gegriffen und schnupperte an dem aufsteigenden Tee, anscheinend etwas mit Früchten. Da blickte ich irritiert auf. „Nichts passiert.“ Oh Mann, wie peinlich!
„Nein, nein. Ganz und gar nicht. Misses Birdsall, ich muss mich bei Ihnen ebenfalls entschuldigen. Vermutlich haben Sie mich einfach bloß am falschen Fuß erwischt, denn seit ich in diese Kleinstadt gekommen bin, ist mir ein Unglück nach dem nächsten geschehen und... Irgendwann war einfach das Fass voll. Bitte verzeihen Sie mir, es ist ja im Grunde überhaupt nichts passiert.“
„Miss.“ Besserte Odette aus, ohne auf die Entschuldigung einzugehen.
„Bitte?“ Erkundigte sich der Anwalt irritiert, wobei ich dasselbe empfand. Hatte sie die Entschuldigung denn nun angenommen, oder nicht?
„Ich war nie verheiratet, noch bin ich liiert. Deshalb Miss, nicht Misses.“
Olive lachte heiter, während Mister Smith ein >natürlich< murmelte. „Ja, so ist unsere Gute Odette! Sie ist mit ihrem Job verheiratet.“
„Man kann nicht mit einem Beruf verheiratet sein, Olive. Aber das worauf du anspielst, stimmt. Ich habe kein Interesse an einer Liaison mit einem Mann. Bringt einem ohnehin nichts anderes, als Ärger ein. Edna war da stets meiner Meinung.“
„War sie das?“ Brachte ich erstaunt hervor. Natürlich hatte meine Mutter in den letzten achtzehn Jahren keine Affäre oder gar Liebesbeziehung gehabt. Zumindest keine, welche ich mir vorstellen konnte. Dafür war sie viel zu sehr mit... anderem beschäftigt gewesen.
Odette ließ von ihrem Brötchen ab, welches sie bisher aufgeschnitten hatte und lehnte sich zurück, um mir über den Kopf und den Pferdeschwanz zu streicheln. Liebevoll lächelte sie auf mich herab, während sie sprach. „Natürlich. Edna war damals diejenige, welche mich dazu ermutigt hatte, meinen klugen Kopf durchzusetzen und mich für die Wissenschaft zu interessieren. Ohne sie, wäre ich definitiv nicht der Mensch, der ich heute bin.“
Ich erwiderte ihr Lächeln dankbar, ehe sich mein Gesicht trübte. „Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, ob meine Mutter überhaupt für irgendetwas anderes, als ihre >Berufung< geschwärmt hat. Sie schien immer... so weit weg von mir zu sein, selbst wenn wir uns im selben Raum befanden.“
Olive fasste über den Tisch, um meine Hand zu tätscheln. „Sie hat dich geliebt. Das war Erfüllung genug für sie. Das hat sie uns immer wieder bestätigt. Sie hat dich gehütet wie eine Löwenmutter.“ Sagte sie und knurrte dabei, was mich wieder zum Lachen brachte. Augenblicklich fühlte ich mich wie ein kleines, fünfjähriges Kind, dem man Zuspruch geben musste, damit es weiter machte, nach einer kleinen Schürfwunde.
Der Anwalt durchbrach unseren familiären Bindungsmoment, indem er sich räusperte und einen Aktenkoffer hervorzog, welcher mir bisher überhaupt nicht aufgefallen war. „Haylee, wenn du jetzt bereit wärst, würde ich gerne das Testament mit dir durchgehen. Ist dir das recht?“
Ich wollte schon aufspringen und einfach >nein< sagen. Weggehen. Vergessen... Aber aus irgendeinem Grund sagte ich... „Ja.“
Beide Mütter richteten sich auf, als ob sie Wächterfiguren seien, welche nun in Betrieb genommen wurden. „Wie wird das nun ablaufen, Mister Smith?“ Erkundigte sich Odette, während Olive noch versuchte, ein nettes Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern.
„Natürlich lese ich zuerst das Testament vor. Ich werde dich, Haylee, anschließend fragen, ob du das Testament annehmen möchtest und dann kommen wir zu den vertraglichen Abstimmungen.“
„Ich wiegle das vertragliche ab. Nicht dass sie in ihrem aufgewühlten Zustand noch etwas übersehen.“ Stichelte Odette, mit der Miene eines Unschuldsengels.
Für einen Moment bedachte der Anwalt Odette mit einem giftigen Blick, ehe er den Kaffee zur Seite schob und den Aktenkoffer stattdessen darauf drapierte. Räuspernd begann er seine Standardfragen. „Gut, ich nehme an, sie alle sind die Familienmitglieder von Edna Blackbird.“
Olive übernahm das Wort einmal mehr. „Nein, wir sind leider nicht vollzählig. Drei unserer Schwestern sind gerade auf einem kleinen Trip nach Rom. Unsere beiden anderen Schwestern sind mit den restlichen Kindern unterwegs, um den Rahmen so klein wie möglich zu halten. Edna, Odette und ich sind die drei ältesten Schwestern. Deshalb entschieden wir, dass es reichen würden, wenn wir beide zu Haylee´s Stützte dabei sind. Wir müssen daraus nicht gleich einen großen Familientreff machen.“
Er räusperte sich, nachdem er sich wieder gefasst hatte. Selbst ich wollte Olive sofort abkaufen, dass wir alle miteinander verwandt waren. Was von alldem war wohl noch eine Lüge? Ware Odette und Olive etwa tatsächlich die beiden ältesten nach meiner Mom?
„Verstehe. Das bedeutet also, eine von Ihnen übernimmt freiwillig das Sorgerecht über Haylee für das restliche Monat?“
„Natürlich mache ich-“ Olive brach mitten im Satz ab, während Odette und ich einen erschrockenen Blick wechselten. „Wie bitte? Aber Haylee ist doch bereits volljährig.“
Der Anwalt runzelte die Stirn, ehe er, als Beweis, meine Geburtsurkunde hervorholte. Sie war... auf den fünften August datiert...
„Quatsch, ich habe doch im Mai Geburtstag!“ Entgegnete ich und entriss ihm den Wisch. Doch dort stand es. Schwarz auf... grün, in diesem Fall. Ich wurde am fünften August vor, beinahe, achtzehn Jahren, in... „Wie spricht man das denn aus?“
Odette nahm es mir ihrerseits ab. „Du wurdest in Tschechien geboren?“ Fragte sie ungläubig. „Das ist Unsinn, ich weiß doch noch ganz genau, wie Edna´s Wehen, kurz nach der Geburt von Katya begonnen haben. Sie wollte nicht zuhause entbinden und ließ sich vom Pfarrer ins Spital bringen. Während wir alle dachten, sie wäre im Kreißsaal, ist sie mit dir verschwunden.“
„Stimmt, wir sind dort alle sicher vier Stunden gesessen, alle hoch schwanger, während wir auf das Signal warteten, dass...“ Olive´s Blick traf den meinen. „...dass die Geburt erfolgreich war.“ Ein Schuldgefühl huschte über ihre Gesichtszüge, welche ich zu gut verstehen konnte. Natürlich hatten sie gedacht, dass ich, als Luzifers Tochter, dass personifizierte Böse sei. Stattdessen... war es lediglich ein kleines Babymädchen gewesen. Unschuldig, winzig und völlig wehrlos.
„Erst nachdem Marie die Gynäkologie gestürmt hat, wurde uns klar, dass Edna auf und davon ist. Sie rief uns... einige Stunden später an, um uns zu sagen, dass alles gut gegangen sei.“ Doch leider hatte meine Mom mich nicht im Kinderbett getötet, so wie es geplant gewesen war, um das große Böse endgültig zu vernichten. Stattdessen war sie mit mir ins Ausland geflohen... gar auf einen gänzlich anderen Kontinent, um mich sicher zur Welt zu bringen, während alle ihre Freundinnen dachten, Edna könne es, nach diesem Verlust einfach nicht ertragen, glückliche Mütter mit ihren Neugeborenen zu sehen.
„Wenn sie mich in Tschechien geboren hat... Wann kam sie denn zurück in die Staaten?“
Der Anwalt zog weitere Zettelchen hervor. Darunter den unterschriebenen Mietvertrag. Er war auf kurz vor meine Geburt datiert... Nein... Er war sogar auf den Tag datiert, an dem ich bisher stets gedacht hatte, Geburtstag zu haben! „Hier, fünfzehnter Mai! Das ist mein Geburtstag.“ Ich zog den Reisepass aus meiner hinteren Hosentasche. „Das Datum stimmt überein.“
„Dann hat Edna wohl in dieser Wohnung gelebt, bis kurz vor deiner Geburt.“ Stellte Odette fest. „Wieso hat sie dich dann in Tschechien zur Welt gebracht, zwischen dem Mietvertrag und deiner tschechischen Geburtsurkunde liegen doch drei Monate!“
„Oder sie blieb in Tschechien und hat hier eine billige Wohnung gemietet, für denn Fall, dass wir versuchen sollten sie ausfindig zu machen.“ Entgegnete Olive.
„Wie hätte meine Mutter sich das denn leisten sollen? Sie hat doch überhaupt nichts verdient.“ Gab ich nun meinerseits zu bedenken.
An diesem Punkt mischte sich der Anwalt, räuspernd wieder ein. „Also eigentlich, hat dir deine Mutter sogar ein kleines Vermögen hinterlassen, Haylee.“ Meine Augen wurden groß. Wie bitte? Zur Bestätigung zog er eine Kopie eines Treuhandfonds aus seiner Mappe. Auch diese war auf den fünfzehnten datiert. „Deine Mutter hat ihn eingerichtet, für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte. Im falle ihres Todes, sollst du davon erfahren und darauf zugreifen dürfen.“
Ich las die Zahlen, welche sich darauf massenhaft reihten. Mein Mund klappte auf. „Wie... Wie... Wie viele Nullen sind das denn?“ Ich war zwar kein Idiot in Mathe, aber in diesem Fall wollte mein Hirn das nicht verarbeiten, was ich sah.
„Eine dreiviertel Millionen? Woher hatte Edna denn das viele Geld?“
Der Anwalt lächelte amüsiert. „Sie hat gewettet. Und das scheinbar sehr gut.“
Mein Mund klappte glatt noch einmal auf. „Wie? Sie hat gewettet?“
„Ja, all diese Einzahlungen stammen von Wettfirmen. Alles was sie in den letzten siebzehn Jahren gewinnen konnte, hat sie sofort auf dein Konto überweisen lassen. Es sind kleine Überweisungen, mehrmals die Woche. Sie scheint auf Nummer sicher gegangen zu sein.“
M-Meine Mutter hatte... gezockt? Mir wurde etwas schwindelig, daher griff ich mit zittrigen Fingern, nach der Karaffe. Odette bemerkte es und half mir, etwas in mein Glas einzuschenken. Zum Glück war das Wasser gekühlt, mit einigen Scheiben Zitrone darin, genau so wie ich es am liebsten hatte.
„Wer zum Teufel ist diese Frau?“ Stieß ich ungläubig hervor. Nie hatten wir viel besessen. Ständig musste ich zwischen Hass und Verzweiflung auf sie leben und dann... Ausgerechnet dann, wenn alles endlich gut zwischen uns zu werden schien, da... da war sie einfach fort!
Tränen begannen meine Wangen hinab zu kullern, während ich frische Flüssigkeit auftankte. Wer zur Hölle, war bloß diese Frau, in dessen Obhut ich groß geworden war? Ich hatte sie als exzentrische und verrückte Frau kennen gelernt, welche mir nie zuhörte und regelmäßig von der Polizei heimgebracht wurde. Wir hatten Schulden gehabt, so viele... Schulden und andere Probleme! Wie konnte sie da einfach mal so viel Geld auf der Seite haben? Sie spielte, erfolgreich. Sie besaß so eine Art... übernatürliche Familie. Zog einen Nephilim groß... Wer ist Edna Blackbird? Kennt sie überhaupt irgendjemand richtig? Wie viele Geheimnisse hatte sie noch?
„Haylee...“ Odette legte einen Arm um meine Schulter und zog mich in eine Umarmung. „...sie ist... sie war deine Mutter. Sie hat sich immer um dich gekümmert, dich geliebt und schlussendlich sogar dafür gesorgt, dass du dir keine Gedanken, um die Zukunft machen musst. Du warst ihr ein und alles. Ihr Stern.“ Hauchte sie sanft, wobei sie die Anspielung auf den Morgenstern, bestimmt nicht mit Absicht einbrachte.
„Hat Edna Haylee noch irgendetwas vererbt, oder war es das schon?“
„Oh, der Treuhandfond ist nicht das Erbe.“ Entgegnete der Anwalt im selben Flüsterton, wie Olive nachgehakt hatte. Ich wischte hastig meine Tränen fort und versuchte mich wieder zu konzentrieren. Das hier war immerhin noch nicht vorbei. Nur, was würde jetzt noch folgen? „Rechtlich gehen sämtliche Besitztümer, bis auf die Mietwohnung an Haylee, wenngleich diese noch bis zum ende des Jahres bezahlt ist. Das habe ich bereits abklären können. Den Vermieter stört es nicht, wenn er den Vertrag an deinem Geburtstag an dich überschreibt. Du kannst dann damit verwalten, wie du möchtest. Aber etwas gibt es noch. Es war in einem Schließfach, meines Kollgens. Er hat es für Edna verwahrt. Es ist ein Tagebuch. Das ist eigentlich... das einzige, was du akzeptieren, oder ablehnen musst.“ Erklärte er so einfach, dass auch ich keine Probleme hatte, ihm großartig zu folgen.
„E-Ein Tagebuch? Was steht darin?“
„Wie gesagt. Es ist der Grund, weshalb ich hier bin. Akzeptierst du das Buch und nimmst es als Erbe an, müssen wir den Vertrag abklären und du kannst darauf zugreifen. Was darin ist, darf ich dir leider, rechtlich, nicht preis geben. Tut mir leid. Falls du noch Zeit brauchst, wir können das auch gerne auf einen Termin deiner Wahl verschieben-“
„Nein, ich nehme es an!“ Entschied ich kurzerhand. Ein Tagebuch! Von meiner Mutter! In sein Tagebuch schrieb man doch seine intimsten Gedanken und Gefühle. Vielleicht... aber nur, mit etwas Glück, konnte ich dann diese Frau, welche ich bisher für meine Mutter gehalten hatte, ein wenig besser verstehen?
„Wenn es sonst nichts mehr gibt, kannst du gerne derweilen zu Calyle und den anderen gehen. Sie warten bestimmt bereits.“ Meinte Olive, während ich das Tagebuch in meinen Händen anstarrte, als sei es ein wichtiges Gut, welches gehütet werden musste. Was für Geheimnisse es wohl verbarg? Vielleicht hatte ich ja auch bloß riesiges Pech und würde darin alte Wettnotizen finden? Meiner Mutter war das immerhin zuzutrauen.
„Brau-Brauchen Sie keine Unterschrift oder so von mir?“ Erkundigte ich mich beim Anwalt.
„Nein, da du noch Minderjährig bist, muss das ein gesetzlicher Vertreter für dich machen. Miss McBird, wenn sie hier unterschreiben würden, dürfen Sie auch ganz offiziell jedes Dokument für Haylee unterschreiben...“ Die drei Erwachsenen redeten noch eine ganze Weile, während Odette, völlig von sich überzeugt und mit Absicht den Anwalt reizend, die Formulare auf Herz und Nieren prüfte.
Ich selbst verließ nicht das Haus, sondern nahm im Wohnzimmer platz und betrachtete das blumige Tagebuch. Es besaß einen, in Grüntönen, gehaltenen Einband, ein goldenes Schloss und mit einem Lederband, war ein kleiner Schlüssel daran befestigt worden, sodass er nicht verloren ging. Ich zog die Beine hoch und legte das Buch vor mich auf das Sofa. Stumm betrachtete ich es. Ich spielte sämtliche Szenarien durch. War es ein Abschiedsbrief? Stammt es vor, oder nach meiner Geburt? Würde ich darin wirren Kauderwelsch finden? Oder waren es schlichtweg... Zockernotizen?
Hach... Frustriert steckte ich den Kopf zwischen meine Beine und legte schützend meine Arme darum. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich dachte... Mein Leben lang, hatte ich gedacht, meine Mutter zu kennen. Natürlich liebte sie mich, darin bestand kein Zweifel, doch ihr geistiger Zustand hatte mir und ihr selbst zu Schaffen gemacht. Wenn meine Mom bloß einen Bruchteil des Geldes in unsere Wohnung investiert hätte... oder gar in eine in einem besseren Viertel...
Gut, ich hatte ihr natürlich verzeihen können, dass sie mir den großen, verrückten Zweig der Familie vorenthalten hatte. Ich verstand es, sie dachte, die anderen würden mich tot sehen wollen. Aber alles andere? Was hatte es bloß mit dieser Aktion, mit meinem Geburtstag, so wie Ort auf sich? Wieso hatte sie sich all die Jahre verrückt verhalten, doch kaum hatte sie sich, unter ihren Freundinnen befunden, war sie ganz die Alte geworden? Zum ersten Mal hatte ich mich ihr richtig nahe gefühlt. Natürlich war es das eine, sich der Liebe seiner Mutter sicher sein zu können, aber etwas völlig anderes, wenn sie es aus heiterem Himmel, völlig aufrichtig auch zeigte.
Feingliedrige Finger strichen über meinen frei gelegten Nacken und ein Kuss auf meiner Schulter, holte mich aus den Tiefen meiner Betrübtheit hervor. „Olive hat mir geschrieben. Komm her, Haylee.“ Ich sah auf, in Calyle´s wunderschöne blaue Augen und mein Herz ging auf. Jedes Mal traf mich sein Anblick, mit solcher Wucht, dass ich nicht anders konnte, als zu seufzen.
Die nassen Tränenspuren auf meinen Wangen, schienen ihn nicht zu stören, während er meine Arme von meinen Beinen löste und mich hochzog, sodass ich kniend an seinen Hals heranreichte. „Schnapp dir noch das Buch.“ Sagte er leise, dann hob er mich auch bereits auf seine Arme und trug meinen zitternden Körper, schweigend aus dem Haus von Olive, eines weiter, in das von Marie.
Als ich das bemerkte, wollte ich bereits Veto einlegen, doch er kam mir zuvor. „Meine Mutter ist noch bei den anderen. Sie werden im Freibad bleiben. Ryan schreibt mir, ehe sie los gehen.“
Erleichtert ließ ich meinen Kopf wieder an seine Schulter sinken und atmete genüsslich seinen herrlichen Geruch ein. Leider war etwas Chlor dabei, was mich störte, doch sagte natürlich nichts dazu. Es war eine Kleinigkeit, zu den Dingen, welche mich im Moment beschäftigten...
Statt dass Calyle mich jedoch hoch in sein Zimmer brachte, zielte er auf den Garten ab. Das schmiedeeiserne Tor schloss er mit einem Fußtritt, dann waren wir auch bereits am Pool, wo eine Decke lag, ein Handtuch, ein Sonnenschirm, so wie ein Taschenbuch. Sanft ließ er mich auf die Beine zurück, doch nicht, ohne mich noch einmal innig zu küssen.
Als ich schon dachte, an Atemnot zu sterben, ließ Calyle von mir ab und für einen Moment schwelgte ich in dem herrlichen Wolkenmeer, welches sich in meinem Kopf gebildet hatte. Eine Hand von Calyle lag nun an meiner Taille, knapp über der winzigen Wölbung, welche ich meinen Hintern nennen musste, die andere zog er von meinem Nacken, ließ seine Fingerspitzen über meinen Hals kitzeln und strich anschließend mit dem Daumen über meine, bestimmt gerötete Unterlippe. „Geht es dir besser?“ Erkundigte sich Calyle einfühlsam.
Besser? >Besser< war gar kein Wort für das, was ich fühlte, wenn er mich küsste. Daher zog ich einen Schmollmund. „Nun ja, ich weiß nicht...“ Sorge überschattete sein schönes Gesicht. „Ich glaube einen oder zwei Küsse werde ich noch zur Aufmunterung brauchen.“ Da erschien auch schon wieder ein herrliches Lächeln, welches mich mehr wärmte, als es drei Sonnen vermochten. Ich merkte überhaupt nicht, wie mir das Tagebuch aus der Hand fiel. Ehe ich mich versah, schwebte ich geradezu in Calyle´s Armen, als besäße ich weder Beine noch Gewicht. Gierig ließ ich mich von dem Nephilim, welcher meiner Meinung nach, mehr einem Engel glich, verschlingen, schauderte, unter der Berührung seiner warmen Handfläche, an meinem nackten Rücken. Sein Geschmack erfüllte meinen gesamten Mund, überschattete das leichte Zitrus, welches noch auf meiner Zunge gelegen hatte und ersetzte es mit Calyle. Seine Hände an meinem Körper machten mich völlig verrückt und ließen mich vergessen, dass ich bis vor einer Minute noch mit den Tränen hatte kämpfen müssen. Wenn Calyle bei mir war, schien nie etwas anderes zu zählen. Nicht, wenn er mich so leidenschaftlich küsste, als ob er mich als sein Eigentum zeichnen wollte.
Hasste ich nicht eigentlich solche Kerle? Bei Calyle war es jedoch anders. Er war im selben Maße zurückhaltend, wie auch besitzgierig. Zumindest empfand ich es so.
Schon am Spielplatz war mir aufgefallen, dass er Herausforderungen liebte, sie brauchte, wenngleich er sich stets zurückhaltend und fromm verhielt.
Eigentlich war das doch ein Widerspruch in sich, richtig? Da blieb nun die Frage, welches seiner beiden Persönlichkeiten, sich schlussendlich durchsetzen würden? Der Einfühlsame, oder der kämpferischer? Konnte es zwischen Empathie und einer kämpferischen Natur überhaupt so etwas, wie Harmonie geben, oder musste zwangsläufig das eine, das andere überschatten?
Hm... Eine philosophische Frage... Eine, für welche ich im Moment einfach keinen Kopf hatte.
Schon ganz heiß geworden, von all den Küssen, so wie der herunter brennenden Sonne, löste ich mich von Calyle´s Lippen, bloß widerstrebend, doch es musste sein. „Lass uns doch in den Schatten setzen.“ Bat ich. Calyle stahl sich noch einen letzten, lange Kuss, ehe er sich übereifrig auf die Decke warf. „Bist du mit den anderen eigentlich überhaupt nicht mitgegangen?“
Er schüttelte den Kopf, während ich das Shirt über meinen Kopf zog. Die Shorty hingegen, ließ ich getrost an. „Wie gesagt, ich bin kein Fan von Freibädern. Hier lässt es sich ohnehin besser entspannen.“
Für einen Moment erwog ich, da Calyle mitten auf der Decke lag und die Arme hinter seinem Hinterkopf verschränkt hatte, sein Handtuch in Beschlag zu nehmen, da es zum Kuscheln einfach zu heiß war. Mein Blick fiel auf das viele Meter lange Schwimmbecken. Kurzerhand entledigte ich mich meiner Hose und sprang mit einem perfekten Kopfsprung hinein ins kühle Nass. Ich wusste nicht wirklich, was mich dazu verleitete... aber anstatt sofort wieder aufzutauchen, schwamm ich hinüber, bis zur anderen Seite, machte eine Rolle rückwärts und strampelte genüsslich am Rücken, zurück zu Calyle. Er erwartete mich bereits mit einem Lächeln auf den Lippen und bot mir seine Hand dar, um mich wie eine Fliege aus dem Wasser zu ziehen. Überrascht, doch endlich von der sommerlichen Hitze herab gekühlt, lächelte ich zu Calyle auf. „Angeberin.“ Zog er mich auf und küsste meine nassen Lippen, während mir das Wasser noch in Strömen vom Körper lief.
Ich runzelte die Stirn. „Mit was habe ich denn angegeben?“ Ich hatte eigentlich bloß hastig eine Runde hin und zurück schwimmen wollen. Das Gefühl unter Wasser zu sein, hatte mich schon immer ein wenig ans Fliegen erinnert... schwerfälliges Fliegen, doch dies tat dem Gefühl keinen Abbruch.
„Du bist hin und zurück in wenigen Sekunden. Wie ein Frosch, der abtaucht und sich in Sicherheit bringt.“
So ein Blödsinn! „Ich bin nur so schnell hinein, weil mir heiß ist und ich nicht schwitzend neben dir auf der Decke liegen will und vor mich hin stinken.“
Calyle grinste, während er mich ins Handtuch packte und fürsorglich abtrocknete. Nicht, dass dies großartig einen Unterschied gemacht hätte, denn in wenigen Minuten würde ich, dank der Sonne, ohnehin wieder trocken sein. „Erstens, Schweiß kann in manchen Situationen echt sexy sein.“ Murrte er und küsste mich glatt noch einmal. „Zweitens, meinte ich dein Tempo unter Wasser. Du warst wie ein Delfin. Hin und zurück in drei Sekunden. Das schafft kein normaler Mensch. Sei froh, dass unsere Nachbarn dich nicht gesehen haben, sonst denken sie noch, du seist eine Meerjungfrau.“ Langsam streichelte er das Handtuch von meinen Schultern, während sein Blick dem Rand folgte, wie er immer mehr und mehr, von meiner Haut freilegte.
„Wirklich? Ich kann so schnell schwimmen?“
Sein Blick wurde wieder amüsiert. „Natürlich. Mit etwas Übung kannst du sogar die Luft bis zu zwanzig Minuten anhalten. Ryan übt das jeden Sommer.“
Meine Augen wurden groß. Das war nicht sein Ernst, oder? Da kam mir ein Gedanke... „Ist es wie das Teleportieren?“
„Was meinst du?“
„Nun ja, die Geschwindigkeit, die ich eben unter Wasser unbemerkt aufgebracht habe. Ist es wie das teleportieren? Dass wir so schnell laufen, dass wir selbst den Wind einholen... oder ähnliches.“
Er schmunzelte. „Nein, keinesfalls.“ Er sank zu Boden und zog mich neben sich in den Schatten. Seine Fuhren von meiner Schulter hinab zu meinem Rückgrat, wo er zwei Finger an jeweils eine Stelle unter meinen Schultern legte. „Hier fühlst du es. Wir Nephilim besitzen vielleicht keine Flügel, doch trotzdem ist das Gefühl als ob da. Wenn wir uns Teleportieren, dann zieht es genau an diesen beiden Stellen... Schon befindest du dich an dem Ort, an welchen du gedacht hast.“ Er breitete seine Handfläche, wie einen Fächer über meinen nassen Rücken aus und begann damit meinen Körper entlang zu streicheln.
„Hast du es schon mal getan?“ Fragte ich neugierig geworden.
Calyle warf mir einen überraschten Blick zu, ehe er Verstand. „Du meinst, ob ich mich schon einmal teleportiert habe?“ Ich nickte. „Natürlich. Ich bin ein Langschläfer.“ Witzelte er und ich lachte auf.
„Nicht dein ernst! Nur damit du länger schlafen kannst, teleportierst du dich in die Schule?“
„Nur manchmal. Wenn ich spät dran bin... Und alle in den Klassen sind.“ Wir lachten amüsiert, dann ließ ich mich zurück auf die Decke fallen. Der Schirm schützte mein Gesicht vor der prallen Sonne, doch verhinderte zum Glück nicht meinen Blick hinauf zum wolkenlosen Himmel.
„Kann man sich auch dort hinauf teleportieren und dann einfach fallen lassen?“ Fragte ich, neugierig geworden.
Ohne mir eine Antwort zu geben, sprang Calyle auf die Beine, zog das T-Shirt über seinen Kopf und warf es auf den Platz, an welchem er bisher gelegen hatte. Sehr zu meinem Bedauern verhinderte die Sonne, als ich mich aufstützte, dass ich mehr von Calyle zu sehen bekam, als seine Füße samt Badehose. Calyle nahm eine Position ein, als würde er im nächsten Moment lospreschen, zu einem Wettlauf gegen den Wind, da sprang er ab und... verschwand im Nichts.
Ich war eben erst mit offenem Mund in die Höhe gekommen, da sah ich seinen Körper lediglich, in einer Wasserbombenpose, drei Meter aus der Luft fallen. Schreiend lachte ich, als mich ein besonders großer Strahl, kalt erwischte. Einen Moment später, tauchte Calyle wieder auf, bei der Suche nach seinem Haargummi. „Hast du es gesehen?“
Ich fasste mir ungläubig an den Mund. „Du bist...“
„Ich habe mich teleportiert.“ Verkündete er mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Ah! Da ist es.“ Calyle schwamm zurück zur flacheren Stelle des Pools und zog sich ohne Hilfe hinaus. Bis dahin hatte er bereits wieder seine Haare zu einem nassen Zopf in seinem Nacken gebändigt.
„Das war unglaublich! Wie geht das?“ Ich wollte das auch unbedingt können! Vor allem deshalb, weil es mich diesen Vormittag endlich vergessen ließ...
„Das kann ich dir leider nicht so schnell beibringen, wie du mir >das< beigebracht hast.“ Dabei leuchteten seine Augen golden auf und meine Beine wurden augenblicklich ganz weich. Mein Körper reagierte instinktiv. Ich fühlte, wie die Woge der Macht über mich hinweg rollte und mein Blick sich veränderte. Einen Augenblick später, besaß Calyle wieder seine feurige Aura, welche so wirkte, als wolle sie über mich hinweg fegen und in sich aufnehmen.
Calyle´s goldener Blick glitt meinen Körper hinab und wieder hinauf. „Wie sieht meine Aura aus?“
„Leuchtend...“ Hauchte er atemlos. „Du leuchtest ganz hell und klar... dein ganzer Körper scheint eine... Glühbirne zu sein.“ Zog er mich dann auf, wofür ich ihn sanft schubste.
„Danke! Wenn ich eine Glühbirne bin, dann bist du aber eine Fackel.“
Er zog mich in eine Umarmung und küsste mich zärtlich. „Na gut... dann leuchtest du eben, wie ein Stern. Besser?“ Hauchte er an meinen Lippen.
„Und du, wie die Sonne.“ Entgegnete ich genauso überwältigt von Calyle, wie er es von mir war.
„Das klingt doch perfekt, oder? Die Sonne ist ein Stern...“ Seine Lippen wanderten währenddessen über mein Kinn, meine Wange, bis hin zu meinem Hals. „Das bedeutet, dass wir beide Naturgewalten sind. Übersinnlich... Kaum wegzudenken... Überirdisch schön...“ Calyle biss zart in meine linke Halsseite, dann begann er daran zu saugen, während mein Körper wie Wachs in seinen Armen davon schmolz. Mein Atem stockte erregt, während ich hoffnungslos nach Luft schnappte.
Als Calyle von dem Fleck, welchen er angebracht hatte, abließ, streichelte er zärtlich über die Stelle. „Schade, dass es gleich wieder verheilt sein wird.“ Murrte er etwas enttäuscht, doch brachte mir damit Zeit ein, um meinen Anstand wieder zu sammeln. Wo hatte ich den noch gleich gelassen?
„Ich bin ehrlich gesagt froh...“ Raunte ich, schob meine Lippen wieder über seine und vertiefte den Kuss, bis ich quasi an Calyle hing. Zusammen sanken wir auf den Boden, Calyle über mir, wie ein Schutz vor allen Blicken, jeder Katastrophe und der Zeit selbst. „...dann kannst du das noch viel, viel öfters machen.“ Hauchte ich lockend, wofür ich ein umwerfendes Lächeln erhielt.
„Auch wo ich will?“ Zart kniff er mich in die Unterlippe, ehe seine Lippen an mein Schlüsselbein hinab wanderten, um dort den nächsten Fleck zu erzeugen. Den dritten sog er an meinem Brustansatz, während der zweite verheilte. Als Calyle´s Lippen jedoch drohten, zum Stoffansatz vorzudringen, zog ich die Notbremse.
„W-Warte... Du hast mir nicht gesagt, wieso du mir das teleportieren nicht beibringen kannst.“
Nachdenklich stützte sich Calyle auf einem Arm ab. „Weil es Jahre bei uns gedauert hat. Dabei haben wir aber beim See üben können, wo uns niemand sieht. Hier ist es... zu gefährlich.“
„Aber wäre es nicht praktisch für mich, wenn ich es könnte? Zum Beispiel, wenn ich angegriffen wernden würde, von Dämonen.“
„Dann sind wir da und beschützen dich. Außerdem können wir gerne weiter deine Schwertfähigkeit trainieren.“ Bot er an. „Bekanntlich fliehen Engel nicht vor einem Kampf.“ Zog er mich scherzhaft auf.
„Ha. Ha.“ Antwortete ich genauso sarkastisch. „Bestimmt sind sie deshalb auch ausgestorben.“
Calyle schmunzelte belustigt. „Da könnte sogar etwas dran sein.“
„Vorsicht ist immer besser, als Nachsicht.“ Riet ich ihm und stupste gegen seine perfekt geformte Nase. Kam es mir nur so vor, oder sah Calyle von Tag zu Tag attraktiver und schöner aus? Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Möglichkeit bekommen hatte, Calyle mit nichts weiter, als einer Badehose zu sehen. Was für eine interessante Offenbarung! Seine Sommersprossen zogen sich nicht bloß die Arme, so wie Schultern hinab, sondern ergossen sich in einem wilden Spiel über seinen gesamten Rücken, doch weiter, als bis zum Ansatz seiner Hose konnte ich leider nichts erkennen. Am Bauch wiederum hatte er verhältnismäßig wenige. Dafür besaß er jedoch kein einziges Muttermal.
„Suchst du etwas?“ Fragte Calyle, welchem mein Starren natürlich auffiel.
Verlegen blickte ich auf zur Sonne und tat so, als wäre überhaupt nichts. „Nein... Ich war nur neugierig ob sich deine Sommersprossen ausschließlich auf dein Gesicht beziehen.“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Offenbar hast du sie beinahe am ganzen Körper.“
Seine Fingerspitzen kitzelten über meinen erwärmten Bauch. Oder brannte dieser? Das konnte ich kaum noch auseinanderhalten. „Du hättest mich natürlich auch einfach fragen können. Ich habe nichts zu verheimlichen.“
Ehe ich mit hochrotem Kopf antworten konnte, nicht dass ich dafür eine Antwort gehabt hätte, doch sein Handy läutete, und bewahrte mich damit im Erdboden versinken zu müssen.
Calyle stöhnte genervt, weil es seine Mutter war, setzte sich auf und ging ran. „Hi, Mom. Was gibt’s?“
Ich setzte mich meinerseits auf und ließ die Eindrücke der ruhigen Umgebung hier, auf mich wirken. Vögel sangen in den Bäumen. Schwalben flogen tief, als ob es heute noch regnen würde, doch dafür war es einfach zu warm. Das sonnenerwärmte Gras kitzelte zwischen meinen Zehen und kein einziges Blatt rührte sich, so windstill war es.
Auch von den Nachbarn fehlte jede Spur. Angeblich war der Großteil der Nachbarschaft auf Urlaub oder es waren Besuche bei Verwandten geplant, aber genauer hatte ich diesbezüglich in den vergangenen Tagen auch nicht zugehört. Immerhin kannte ich doch keine einzige Person hier in der Umgebung.
Die Häuser waren schön. Alle im selben Stil, in zarten Farben gehalten, mit riesigen Gärten um sie herum. Viele waren zweistöckig, doch der Großteil besaß lediglich ein Erdgeschoss. Mein Blick schweifte weiter zu dem zweistöckigen Gebäude, direkt neben Marie´s Haus, da entdeckte ich erschrocken eine Gestalt hinter einem Vorhang stehen. Es war ein gebeugter, älterer Herr... und er erwiderte meinen Blick unerschrocken, wenn ich mich nicht täuschte. Mein Herz begann nervös zu hüpfen, den Augenkontakt konnte ich nicht abbrechen, mich rühren noch weniger... Ob er Calyle und mich beobachtet hatte? Wie viel von dem was Calyle vorhin getan hatte, hatte der Greis mitbekommen?
Im nächsten Moment kribbelte es in meinem Magen, da wandte sich der Mann ab und gab die Starre damit frei. Erschrocken tastete ich nach Calyle, welcher im selben Moment das Handy weglegte, mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht. „Was ist?“
„Ca-Calyle, wer wohnt dort?“
Er musste nicht lange darüber nachdenken. „Mister Harrison. Ein alter seniler Mann, der Heimhilfe bezieht, weil er nicht ins Altersheim will. Wieso?“
Es beruhigte mich seltsamerweise sogar etwas, dass er senil war. Egal was er gesehen haben mochte, musste er dann auch schon wieder vergessen haben, richtig? „Er hat uns, glaube ich, beobachtet.“
Calyle zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Er ist dement. Selbst wenn er was gesehen hat, vergisst er das augenblicklich wieder. Komm, wir müssen ohnehin los. Meine Mom trommelt uns zusammen.“
Ich kam auf die Beine und schlüpfte, teils noch tropfnass, in meine Kleidung. „Wieso? Ist etwas passiert?“
Calyle rollte die Decke zusammen, legte das Tuch grob gefaltet darüber und griff nach den Büchern. „In der Nachbarschaft sind ein paar Tote gefunden worden. Das waren bestimmt Dämonen.“
„Dä-Dämonen? Wieso sollten sie das tun?“
„Weil sie wissen, dass wir hier sind.“ Ich trudelte Calyle hinterher, als mir auffiel, dass er jetzt zwei Bücher bei sich trug.
„Calyle, das Tagebuch.“
Er stockte und wirkte verwirrt. „Oh, ja entschuldige, hier.“ Er reichte es mir. „Willst du es erst hoch in dein Zimmer bringen?“
Ich nickte. Natürlich wollte ich das. Die Psyche meine Mutter konnte warten. Erst einmal, mussten wir herausfinden, ob es sich um ein Dämonenproblem handelte, oder etwas viel harmloseres.
Nicht dass der Tod harmlos wäre... Doch Dämonen waren in unserem Fall ein viel, viel größeres Problem, als ein durchschnittlicher Massenmörder. Nichts für ungut...

XV - Die Kirche

Anstatt, wie eigentlich geplant, einen speziellen Ort in Lucy´s Zimmer, für das Tagebuch meiner Mutter zu finden, entschied ich mich kurzerhand dazu, es in meine, eher selten gebrauchte Tasche zu verstauen. Sie war grün gehalten, im typischen Tarnlook vom Militär, an den Seiten hingen einige, von mir aus einer reinen Laune heraus, gesammelten Dosenlaschen und einige Buttons, welche mir Jem einmal geschenkt hatte. Sie wusste nicht, dass ich die Band, welche sie so gerne hörte, nicht mochte. Aber es war ihr erstes Geschenk an mich gewesen... Als ich damals, aus reiner Höflichkeit sagte, dass ich die Musik gut fand, welche sie hörte, da sie total verlegen stammelte, wie blöd ihr Musikgeschmack doch war. Natürlich hatte ich das erste, unvoreingenommene Mädchen, dass ich seit Jahren kennen lernte, nicht gleich vergraulen wollen. Sofort schenkte sie mir Buttons, welche sie gesammelt hatte. Viele davon hatte sie doppelt, so überließ sie diese mir. Ich hing sie damals an diese Tasche und als sie Monate später erfuhr, dass ich gar kein so großer Fan von der Gruppe war, meinte sie, ich solle die Buttons einfach entsorgen. Sie war nicht enttäuscht, sie wusste, ich hatte bloß nett sein wollen und war es gewohnt, dass der Großteil die Band nicht mochte. Lächelnd, hatte ich damals erwidert, dass es ein Geschenk gewesen sei. Ich werfe nie Geschenke weg...
Vielleicht war es sogar dieser Moment gewesen, welcher unsere besondere Freundschaft gefestigt hatte? Auch, wenn es total dumm und materiell klang. Für mich waren die Buttons das Symbol unserer starken Freundschaft, selbst wenn es mal, in extrem seltenen Fällen, zwischen uns krachte. Ich brauchte bloß diese Buttons ansehen und... wollte nichts lieber, als meine beste Freundin in die Arme schließen.
Auch jetzt strich ich mit der Handfläche über die Buttons und sprach innerlich zu Jemma, sie und unser Symbol der Freundschaft, mögen gut auf das Vermächtnis meiner Mutter acht geben. Daraufhin stopfe ich die Tasche zurück in den Koffer, legte ein paar schmutzige Kleidungsstücke darauf und lief wieder hinab zu Calyle. Lucy, Katya und er, warteten bereits im Flur ungeduldig auf mich, dann gingen wir los, zu Sandras Haus. Während Lucy, ich und seit kurzem nun auch Olympia in Lucy´s Zimmer wohnten, teilten sich Lysander und Ryan, Tyrone´s Zimmer. Dieser wohnte wiederum in Katya´s Zimmer, sehr zu Olive´s Missfallen, da diese immer noch meinte, dass die beiden zu jung seien, um zusammen zu wohnen. Dabei teilen sich die beiden doch eine Wohnung, bereits seit vergangenem Jahr. Zu dieser Zeit hatte sich Tyrone einer Baseballmannschaft angeschlossen, welche bisher ziemlich gute Quoten gehabt hatten. Bisher hatte er diese um dreißig Prozent gehoben, Tendenz steigend. Zumindest gab Katya von Herzen gerne damit an, wie gut ihr Freund doch spielte. Seit Anfang dieses Jahres hatte sie dann mit ihrer Volljährigkeit auch die freie Position seiner Managerin eingenommen. Tyrone sagte selbst, es war schwer, Katya etwas auszuschlagen, und mit diesem Mundwerk scheuchte sie sogar den hartnäckigsten Reporter in die Flucht.
Bei Marie wiederum, waren die restlichen drei Mom´s untergebracht. Die stille Fiona, Josephine, welche in einer Tour rauchte, was Marie auf die Palme brachte, und natürlich Celiné, die diplomatische Friedensstifterin.
Nun ja, man konnte es schlechter treffen, mit dieser Würfelung. Aber angeblich, sollte es ja nicht mehr allzu lange dauern. Sabrina hatte bereits ein Okay bekommen, dass ein Bekannter, der jemanden kennt, welcher jemanden kennt, ein zufälliges Treffen mit dem Papst arrangiert. Josephine und Fiona hatten sich währenddessen dazu entschieden, eine Sightseeingtour zu machen, sehr zu Sabrina´s Missfallen.
Dementsprechend saß auch im Moment nicht die vollzählige Runde in Sabrina´s Haus, welches bloß von Celine bewohnt war im Moment. Die Jungs waren nun alle anwesend.
Mit Lucy, Katya und mir auch sämtliche Mädchen, da Olympia, mit verschränkten Beinen, einen Platz am Küchentresen eingenommen hatte und ein Eis leckte.
Jeder von ihnen, bis auf Olive und Odette, welche bis eben noch beim Meeting mit meinem Anwalt gewesen waren, besaß nasses Haar oder roch nach Chlor. Dass die beiden Damen damit etwas overdressed wirkten, musste ich wohl kaum anmerken.
„Alles wieder gut, Haylee?“ Erkundigte sich Olive und streichelte mitfühlend meine Schulter.
„Ja, es... geht besser.“
„Hast du denn schon hinein gesehen?“ Erkundigte sie sich vorsichtig.
Dass sie neugierig war, konnte ich ihr nicht einmal verdenken... Ich war es ja auch, doch mehr noch... fürchtete ich mich vor dem, was ich darin finden könnte. „Nein, vielleicht ja heute Abend.“ Gestand ich halblaut und Olive verstand.
„So, jetzt sind wir ja vollzählig.“ Marie übernahm das Sprechen, während ich mich neben Olympia lehnte, da alle anderen Plätze besetzt worden waren. „Tut mir leid, aber wie die meisten von euch ja vorhin gehört haben, ist hier im Viertel einiges los.“
Einheitlich wurde genickt, während Olive, Odette, Calyle und ich lediglich verwirrte Blicke tauschten.
Plötzlich fiel mir auf, dass der Fernseher ja lief... Und uns Fiona, Josephine und Sabrina daraus anstarrten? „Oh, hi!“ Sagte ich überrascht, alle drei lächelten und winkten, verzögert, in die Kamera. Auch Calyle bemerkte sie jetzt erst, genauso wie Olive und Odette.
„Oh! Hi, Mädels! Wie läuft es in Rom?“ Flötete Olive, während Odette bloß gelassen nickte.
Natürlich stieß Josephine eine Wolke Qualm aus, als sie den Mund öffnete, um zu antworten. Wie lange hatte sie den denn angehalten? „Alles ruhig hier. Wir warten und schauen Luftschlösser in die Wolken.“ Spottete sie, wofür sie von Sabrina einen giftigen Blick kassierte.
„Ja, bei uns heißt es abwarten. Aber was ist da bei euch los?“ Erkundigte sich die Mutter von Tyrone neugierig. „Marie hat uns zugeschaltet und meinte, es gab einen Vorfall, der uns alle bedroht?“
„Genau!“ Schloss Marie hektisch an. „Ich habe vorhin mit Mrs. Milinski gesprochen. Sie hat mir erzählt, da ihr Sohn ja bei der Polizei ist, dass ein paar seltsame Tote vorgestern Nacht gefunden wurden. Jeder von ihnen, ist ein nächtlicher Spaziergänger. Ihre Verwandten sagten, sie seien nur mit den Hunden raus, die letzte Runde abschließen. Keiner von ihnen kam wieder und von den Hunden fehlt jede Spur!“
„Und wieso soll uns das interessieren? Wir haben keine Flohschleudern.“ Erkundigte sich Ryan irritiert. Uns anderen erging es sichtlich ähnlich. Dass es Tote gab, war traurig... aber nicht außergewöhnlich.
„Es geht nicht darum, dass es passiert ist.“ Ergänzte nun Celiné. „Es geht darum, >wo< es geschehen ist.“
„Doch nicht hier bei uns?“ Erkundigte sich Odette, da dieses Viertel noch mehrere, als lediglich diese Straße hier einschloss, damit auch den Park, Spielplatz und die Kirche.
„Das nächste Todesopfer wohnte links neben Marie´s Haus.“ Ergänzte Olympia schmatzend. „Sie haben sich aus dem Osten bis hierher vorgearbeitet. Und so wie es klingt, würde ich genauso wie Marie auf Dämonen tippen.“ Sie sagte dies völlig emotionslos.
„Stimmt, erinnert euch daran, dass immer, wenn sie sich irgendwo herum treiben, anfangen Haustiere zu verschwinden und nie wieder auftauchen. Sie essen die total gerne.“
„Deswegen haben wir auch keinen Hund.“ Katya saß auf Tyrone´s Schoß. „Ich könnte es nicht ertragen, mein Herz an ein so süßes kleines Flauschiknödel zu verschenken... und dann erfahren zu müssen, dass es sich ein Dämon, als Mitternachtssnack genehmigt hat!“ Sie klang gleichzeitig enttäuscht und wütend darüber.
Langsam bekam ich das Gefühl, dass diese Leute hier nicht ganz richtig tickten... oder sie waren lediglich abgehärtet? Was wusste ich schon?
„A-Aber es könnte doch auch bloß ein Tierhasser sein... Oder da die Besitzer sterben, auch ein extremer Tierliebhaber, der sich einbildet dass die Hunde schlecht behandelt wurden? Ein... Psychopath?“ Versuchte ich es weiter.
Marie schüttelte bedauernd den Kopf. „Alleine in den letzten beiden Nächten gingen fünfzehn Suchmeldungen für entflohene oder gestohlene Haustiere raus. Es gibt keinen Zweifel, die Dämonen sind uns hierher gefolgt.“
Ich suchte den Blick von Lucy, welche genauso enttäuscht wirkte. „Tut mir leid, wenn ich so dumme Fragen stelle, aber weshalb sind Dämonen ausgerechnet hinter uns her? Sollten sie nicht eigentlich angst haben, da wir... Nun ja, halbe Engel sind? Und was hat es mit den Haustieren auf sich?“
Marie verzog nachdenklich das Gesicht, während Olympia die Erklärungen übernahm. „Gerade deshalb werden sie ja von uns angezogen. Sie können sich ausschließlich nachts in der Welt der Menschen bewegen, denn nur dann öffnen sich die Dämonentore. Menschen sind bloß... Snacks oder Möglichkeiten ihre Körper hier zu festigen, sodass stärker werden. Dämoen denken im Grunde... an nichts anderes, als daran zu Fressen. Ältere und Stärkere geilen sich daran auf, andere zu tyrannisieren und foltern. Sie können sogar menschliche Züge annehmen, doch sind im Grunde nichts weiter, als perversionen ihrer Selbst.“ Sie klang so angeekelt, als ob sie dabei ein bestimmtes Gesicht vor Augen hätte. Bestimmt war sie schon auf einige solcher Monster gestoßen.
„Genau, und dort wo sich viel Macht sammelt, so wie wir im Sommer, strahlt viel mehr Energie ab, als wenn wir uns auf der Welt aufteilen würden, weißt du.“ Erklärte Lucy. „Für sie ist unser Aufenthalt hier ein Leuchtfeuer, dazu eine unübersehbaren Reklametafel, mit der Aufschrift >all you can eat<. Haustiere wiederum sind so programmiert, dass sie ihren Besitzer automatisch vor der Kreatur beschützen wollen, während Menschen vor so etwas gruseligem eigentlich davon laufen.“
„Wenn einem schon mal leckeres Futter ins Maul läuft, dann schließt man ihn ja nicht.“ Witzelte Lysander beiläufig. Dafür kassierte er einen Seitenhieb von Katya.
„Tu nicht so taff. Du bist der Erste, der flennt, sobald einem Tier unrecht geschieht.“ Zog sie ihn auf.
„Da war ich sechs!“ Regte sich Lysander amüsiert auf. „Dass du mir das noch immer vor hältst! Außerdem wusste ich damals schon, dass man ein Kaninchen nicht an den Ohren hält! Das hätte der Zauberer wissen müssen!“
Die beiden kicherten sich an, während alle für einen Augenblick in schöne Kindheitserinnerungen eintauchten. Auch mir kam für einen Moment Lucy´s Erinnerung in den Sinn von eben jenem Tag. Nur hatte sie in einer Ecke gehockt und war beleidigt gewesen, weil sie Zauberer nicht mochte. Trotzdem hatte sie einen zum Geburtstag geschenkt bekommen, welcher ihr und ihren Freunden Tricks vorführte. Tricks welche sie, dank ihrer Mutter eiskalt durchschaute und somit nicht ansatzweise faszinierend gefunden hatte.
„Kinder, bitte!“ Tadelte Marie. „Wir befinden uns nicht mehr beim Haus am See, das sollte euch doch bewusst sein, oder?“ Die Blicke wurden wieder trüber. „Außerdem haben wir etwas essenziell wichtiges außen vor gelassen.“ Auch ich wechselte, wie die anderen, verwirrt Blicke. Niemand schien eine Ahnung zu haben, um was es ging. „Haylee!“ Stieß sie vielsagend hervor. In keinem Gesicht glomm so etwas wie Erkenntnis auf, was ich zu gut nachvollziehen konnte.
„Was ist mit mir?“
„Ganz genau!“ Marie kam näher und schloss mich überraschenderweise in ihre zarten Hände, während ihr parfümierter Körper eine blumige Note versprühte. Gut, noch eine die nicht nach Chlor roch. „Wir haben dich in dem ganzen Desaster völlig vernachlässigt, Liebes.“
Vernachlässigt? Hilfesuchend blickte ich zu Olympia, doch diese hatte nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und knabberte an ihrem leeren Eisbecher. „Wie, vernachlässigt?“ Fragte ich schlussendlich.
„Na, alles was dir bisher passiert ist. Erst musst du nach achtzehn Jahren feststellen, dass du gar kein normaler Mensch bist, sondern das Kind eines Engels... Dann verlierst du deine Mutter, kurz nachdem du uns begegnet bist, solltest ein Schwert schmieden, ohne Vorwissen und gegen heimtückische Dämonen kämpfen! Ich kann dir gar nicht sagen, wie schlecht ich mich deshalb fühle! Was wir dir zugemutet haben, Engelchen... Es wundert mich, dass du deshalb noch nicht schreiend davon gelaufen bist.“
Das war vermutlich alleine Calyle´s verdienst...
„Stimmt, wir sind bisher davon ausgegangen, dass Haylee alles kann, weil sie ein Nephilim ist und ihre Geschwister es auch können.“ Stimmte Olive zu.
„Und mit dem... nach dem tragischen Ableben von Edna haben wir es auch völlig verpasst dir irgendetwas über das beizubringen, womit wir unsere Kinder eigentlich erzogen haben.“ Stimmte Sabrina, mit einigen Bildunterbrechungen, zu.
„Seht ihr, das meine ich! Haylee ist vielleicht durch ihre Herkunft eine geborene Kriegerin und offensichtlich nicht so leicht unterzukriegen.“ Lobte Marie stolz, als wäre dies allein ihr Verdienst. „Trotzdem hatte sie bisher nie das Vergnügen mit euch zu trainieren, oder sich Wissen über Dämonen und Engel anzueignen.“
„Dann mache ich das. Ich, ich kann ihr alles darüber erzählen.“ Entschied Katya überzeugt.
„Unsinn. Ihr habt jetzt eine Menge zu tun.“ Fuhr Marie dazwischen. „Muss ich euch erst daran erinnern, wie hartnäckig diese Monster wurden, ehe wir verstanden, dass sie euretwegen kommen und die Trainingsmonate an einen sicheren Ort verlegt haben? Ich kümmere mich um Haylee. Ihr bekommt am besten diese Monster in den Griff, ehe noch mehr unschuldige Menschen darunter leiden müssen!“ Ihr Blick fiel konsequent zu Sabrina. „Und ihr macht gefälligst Druck! Früher hat es Jahre gedauert, bis sie uns auf die Pelle gerückt sind. Jetzt haben wir diesen Luxus nicht mehr.“
Mir lief ein Schauder über den Rücken. Marie, stets schmeichlerisch und einfühlsam, einmal so herrisch zu erleben, machte mir ehrlich gesagt ein wenig angst. Zudem war sie noch Calyle´s Mutter... Mein Blick fiel hilfesuchend zu ihm. Er schien sofort zu verstehen.
„Mom, ich glaube es ist besser, wenn sie das von uns alles lernt. Ich kümmere mich um das Wissen, die Mädels trainieren mit Haylee.“
Marie blieb standhaft. „Ihr könnt nicht an zwei Fronten kämpfen. Außerdem bin ich es gewohnt Nephilim zu unterrichten, schon vergessen, wer euch das ganze Wissen über himmlische und höllische Wesen beschert hat? Außerdem sollte Haylee von nichts abgelenkt werden.“ Fügte sie noch mahnend hinzu, woraufhin ich rot wurde.
Calyle und ich hatten unsere Zuneigung die letzten Tage ja nicht außergewöhnlich versteckt... doch vor Marie hatte ich stets einen respektvollen Abstand zu Calyle eingehalten.
„Na gut, ich gehe dann mal wieder zur Polizei.“ Murrte Olive, welche kein bisschen begeistert von diesem Gedanken zu sein schien.
„Soll ich euch begleiten?“ Erkundigte sich Odette wiederum. „Du wirst sie doch zum Pastor bringen, richtig?“
Marie schüttelte den Kopf. „Bleib du hier und pass auf die Kindsköpfe auf. Marcus und ich machen das schon.“ Bestätigte Marie und drückte mich gar noch einmal sanft an sich.

 

- - - - -

 

Als ob niemand es wagen würde Marie Widerspruch zu geben, löste sich die Gruppe auf. Jeder schien Bescheid zu wissen, was in einem solchen Fall zu tun war. Sie nahmen die Sache ernst... wenngleich sie es nicht so zeigten, wie normale, besorgte Bürger es tun würden.
„Mach dich erst mal frisch. Dann gehen wir gemeinsam zu Pastor Marcus.“
„Mitten unter der Woche?“ Erkundigte ich mich verwirrt. Sind solche... Kirchenchefs nicht eigentlich bloß Sonntags für ihr >Blahblah< in der Kirche?
„Wieso bist du so erstaunt?“ Entgegnete sie amüsiert. „Ein Pastor bleibt auch ein Pastor, selbst wenn er sich nicht in seiner Kirche befindet.“
Ich gab ein „Aha...“ von mir, dann wurde ich von ihr auch bereits aus dem Haus gescheucht, von wegen ich solle mich beeilen. Ganz ihrer Aufforderung nach kommend, beeilte ich mich, in Lucy´s Zimmer zu kommen. Nur Olympia war da, sie hatte sich auf die Luftmatratze geworfen und streckte, sichtlich missmutig, alle Gliedmaßen von sich. Während ich nach frischer Unterwäsche wühlte, sprach ich sie an. „Ist alles in Ordnung? Du wirkst so...“
„Frustriert? Wütend? Enttäuscht? Genervt? Planlos?“ Zählte sie emotionslos von einer Hand ab.
„Niedergeschlagen, hatte ich sagen wollen.“
Olympia winkte ab. „Vergiss es. Ist eh nicht so wichtig.“
Ich wurde fündig und packte die frische Unterwäsche in ein ebenso frisches Shirt, ehe mir einfiel, dass ich wohl oder übel auch meine Hose würde wechseln müssen. „Los, red schon.“
„Nein, du hast andere Pläne. Lass dich von mir nicht stören.“
An einem anderen Tag würde ich mich bestimmt von ihrer zickigen Art abwimmeln lassen... Aber heute war definitiv kein normaler Tag. Marie, die Mutter von Calyle, hatte vor mich zu einem Pastor zu schleifen, um mir Gott weiß was, über Dämonen und das Universum beizubringen... Eine winzige Verzögerung würde da schon nicht schaden. „Los, jetzt spuck es aus, oder ich zerre dich an den Füßen mit zu diesem Priester.“
„Pastor.“ Murmelte sie in das Kopfkissen. Dann stöhnte sie und setzte sich auf, woraufhin ein Platz für mich auf der Luftmatratze frei wurde. Mit Schwung ließ ich mich darauf Plumpsen, faltete die Kleidung in meinem Schoß und blickte erwartend in ihre dunklen Augen.
„Ich glaube ja nicht, dass ich dir das jetzt erzähle...“ Stöhnte sie und holte tief Luft. „Aber meine Mom hat sich, ehe wir hierher in den Urlaub gekommen sind, in den Kopf gesetzt, eine Weltreise machen zu wollen.“
Ich wartete auf das tragische an dieser Beichte, doch konnte nichts unfassbar Schreckliches erkennen. Deshalb hakte ich nach. „Ist doch schön für deine Mom, oder etwa nicht?“
„Mir doch scheiß egal, wie sie das findet! Sie hat kurzerhand den Wohnwagen verkauft und hat vor erst mal nach Frankreich zu fliegen, um von dort zu trampen!“
Langsam ging mir das Licht auf. „Etwa, ohne dich?“
„Ja! Unglaublich, was? Sie sagte, es solle eine Selbstfindungsreise sein, etwas, um ihre Chakra zu erweitern und wenn sie dann in China ist, bei den Besten zu lernen. Oder sonst irgend ein schnöder Schnickschnack. Was weiß ich?“
„Du, deine Mom, Lysander und seine Mom Fiona leben doch in dieser Wohnwagensiedlung... Könntest du nicht bei Lysander und Fiona derweilen unterkommen?“
Sie verzog angeekelt das Gesicht. „Lieber schlafe ich unter einer Brücke, als unter dem selben Dach wie Lysander. Wenn er zufällig gerade keine Braut aufreißen kann, dann muss ich noch, als Matratze her halten. Nein, danke!“ Spuckte sie angewidert aus.
„Nun, ja...“ Begann ich, doch sie unterbrach mich mit ihren Gedanken.
„Oder noch besser, ich prostituiere mich gleich. Was anderes, wird ohnehin nicht von mir erwartet!“ Stieß sie aus, als ob auf einmal der Dampf aus ihr weichen würde, welcher sich bereits angestaut hatte. „Außerdem, weshalb erzähle ich dir das überhaupt? Du kannst mich ja überhaupt nicht leiden, weil ich nur herum zicke...“
Schmunzelnd unterbrach ich ihre Schimpftirade über sich selbst und legte meine Hand auf ihre angezogene Knie.
„Olympia... Du bist vielleicht eine Zicke.“ Gab ich zu. „Aber das heißt nicht, dass ich dich nicht mag.“
„Sagt diejenige, die immer nur mit Lucy und Katya herum hängt, oder Calyle an die Lippen gewachsen ist.“ Sie gab einen kindischen Würgelaut von sich. „Dabei bist du doch Luzifer´s Tochter und gehörst damit eigentlich zu Ryan, Lysander und mir. Wir sind die Aussätzigen. Diejenigen, die von den >teuflischen< Engeln abstammen.“
Das mochte wohl wahr sein. Zumindest soweit die Recherchen der Mütter in der Vergangenheit gezeigt hatten. Trotzdem war ich eine eigenständig, denkende Person. Unabhängig davon, was oder wer meine Eltern waren. Genetische Erbe, machte noch lange keinen Charakter aus. „Weißt du... wenn du das so siehst, sage ich dir dasselbe, wie der blöden Kuh, der ich die Nase gebrochen habe...“ Ich holte tief Luft. „Hör auf von meiner Psychomom auf mich zu schließen. Nur, weil du frustrierst bist, da Papi dich nicht lieb hat und Mami lieber herum vögelt, musst du es nicht an mir auslassen.“
Olympia lachte heiter. „Und was hat sie dann gesagt?“
Ich erinnerte mich an die doofe Kuh, wie sie da gestanden hatte... Ihr Mund sperrangelweit offen, die Augen groß wie die eines Fisches, doch ein Konter war ihr nicht eingefallen. Sie hatte mich eiskalt geschubst, sodass ich überwältigt von dem unerwarteten Angriff auf dem Hintern gelandet war... „Sie hat mich zu Boden geschubst und, den Tränen nahe, auf mich herab gespuckt. Dann meinte sie noch, jetzt liege ich zumindest in dem Dreck, in welchen ich eigentlich gehöre... und dann ist meine Sicherung gerissen.“ Ich warf abwertend die Arme in die Luft. „Oh, ich frage mich, was wohl aus der Klage geworden ist?“
Vergessen schien Olympia´s schlechte Laune zu sein und sie legte sich zufrieden seufzend wieder zurück auf die Matratze. Ich selbst stand auf, um mich im, mittlerweile Gemeinschaftsbad, umzuziehen. Jedoch blieb ich in der Türe noch einmal kurz stehen. „We-Wenn du wirklich nicht weißt wohin, versuch es mal bei Olive, oder so. Jede Mom hier würde dich mit Kusshand aufnehmen, das weißt du... Und im schlimmsten Fall... ist bei mir jetzt ein Abstellraum frei geworden.“
Olympia reagierte nicht. Sie blickte weiter starr hoch zur Decke und ich fragte mich einen Moment lang, ob sie mich überhaupt gehört hatte. Achselzuckend ging ich ins Bad, wechselte meine Kleidung, bändigte mein Haar und machte mich dann auf die Suche nach meiner Tasche. Von Lucy lieh ich mir einen leeren Block und zog einen >dynamisch geformten<, für die Fingerknochen vorteilhaften Stift aus ihrer übertrieben großen Sammlung. Als ich beides einsteckte, traf meine Hand auf das harte Material vom Einband... Das Tagebuch meiner Mutter... Wieder einmal hatte Calyle es, erfolgreich, geschafft mich abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Wie machte er das bloß immer wieder? Lächelnd streichelte ich über das Überbleibsel an Erinnerungen meiner Mutter, dann schloss ich die Tasche. Hier lassen wollte ich das Tagebuch nicht. Nicht, dass ich den anderen zutrauen würde es zu stehlen, aber sollte es jemand lesen... wollte ich definitiv die Erste sein.
Unten am Zaun wartete Marie längst auf mich. Sie hupte einmal, um mit dem Wagen auf sich aufmerksam zu machen, und ich schlüpfte auf den Beifahrersitz, wenngleich ich mich am liebsten auf der Rückbank versteckt hätte. „Na, Liebes. Bist du bereit für deine erste Aufklärungsstunde?“
„J-Ja...“ Stotterte ich verlegen. „Aber weshalb müssen wir dafür zu einem Pastor in die Kirche?“
Mühelos fuhr Marie los, da sie im Moment noch keinen Verkehr zu befürchten hatte. „Pastor Marcus ist der Enkelsohn von Pfarrer Amadeus.“ Erklärte sie, was mich bloß noch mehr verwirrte. Erstens, wer war dieser Pfarrer, zweitens wieso dachte sie, dass dies irgendetwas erklären würde? Zum Glück sprach sie nach einer kurzen Atempause weiter. „Pfarrer Amadeus war damals der Geistliche, an welchen Olive, Odette, Edna, Sabrina und ich uns gewandt haben, sobald uns bewusst wurde, dass wir alle schwanger sind.“
Ich horchte interessiert auf. „Ihr wusstet es also gar nicht von Anfang an?“
Sie lachte. „Nein, natürlich nicht.“ Sie lächelte mich herzhaft an. „Olive, Odette und ich haben uns sehr gefreut, als wir erfuhren, dass wir schwanger sind. Edna war zu dieser Zeit bereits ruhiger, denn ihr damaliger Ehemann war... Nun ja, er war sehr Besitzergreifend und sie hatte große Angst dass er eifersüchtig auf das Baby sein könnte. Sabrina hingegen-...“
„Meine Mom war mal verheiratet?“
Marie winkte ab. „Das ist viele, viele Jahre her, Herzchen. Und richtig verheiratet waren sie nicht...“ Deutete Marie an. „Er war von Übersee und schon etwas reifer, als wir Jugendlichen. Wir erfuhren erst viel später, dass er längst verheiratet war und Kinder gehabt hat. Die Trennung der beiden war... unschön. Aber es war das Beste für Edna.“
„Das glaube ich gerne. Klingt nicht so, als hätte meine Mom einen guten Männergeschmack gehabt.“
Marie schwieg einen Moment lang, daher hatte ich Zeit nachzuhaken.
„Hatte... Hatte meine Mom noch andere Beziehungen?“
Marie wirkte auf einmal todtraurig. „Wenn du vierzig Jahre lang schwanger bist... fallen dir die Männer nicht unbedingt reihenweise vor die Füße, musst du wissen. Die ersten zehn Jahre konnten wir es ja noch versteckt halten. Doch ihr wurdet recht groß, weißt du... Irgendwann halfen weite Kleidungen und ein gut gemeinter Scherz über Hüftspeck nicht mehr über das offensichtliche hinweg.“
„Also gab es nach dem eifersüchtigen Kerl keinen weiteren Mann mehr für sie...“ Das fand ich schade... Meine Mom war, wenngleich verrückt, eine wirklich hübsche Frau gewesen.
„Das habe ich nicht gesagt...“ Korrigierte Marie. „Für uns alle gab es diesen... diesen Einen, der es uns angetan hat.“
Ich merkte, dass Marie nicht mehr weiter darüber sprechen wollte. Natürlich hatten sie sich verliebt. Das gehörte nun mal zum Leben. Wie erklärte man also bloß, dass man seit vierzig Jahren einen ungewollten Nephilim austrug, ohne für verrückt gehalten, oder gar weggesperrt zu werden? „Bitte sag nicht, dass es dieser Pfarrer Amadeus gewesen ist.“ Bat ich schalkhaft, woraufhin sie in Gelächter ausbrach.
„Gott, nein!“ Stieß sie, wieder aufgeheitert hervor. „Der war damals schon uralt! Nein, Amadeus wurde bloß zu unserem Hüter. Nachdem wir, bereits seit einem Jahr schwanger, zu ihm zur Beichte gelaufen sind, um Beistand zu erbitten, war er derjenige, welcher uns mit offenen Armen empfing!“
„Tatsächlich?“ Erkundigte ich mich. „Ist er nicht automatisch davon ausgegangen, dass es die Kinder des Teufels oder so sein müssten?“
„Unsinn. Du weißt ja, dass Sabrina´s Vater später Papst wurde... Natürlich sind wir zuerst zu ihm gegangen, weil wir Angst bekamen. Sabrina war noch jungfräulich gewesen, als sie bemerkte, dass sie schwanger ist. Spätestens im zehnten Monat, ohne, dass sich das Kind auch bloß einen Millimeter vergrößert hatte und unsere Morgenübelkeit noch immer nicht vergangen, wurde uns klar, dass das keine normalen Babys sind.“ Sie blinkte und fuhr in die nächste Straße ein. „Ärzte und Hebammen waren verwirrt. Nicht einmal Odette konnte es sich erklären, dabei war sie die Klügste unserer Gruppe. Nachdem uns aber Sabrina´s Vater an Pfarrer Amadeus vermittelt hatte, da dieser nach Rom musste, nach einer Beförderung, wurden wir zu seiner Berufung. Das alte Testament und sämtliche Legenden über Engel, so wie Gott, war so etwas... wie seine Passion. Es gab keine Stelle in der Bibel, welche er nicht gekannt hat oder zitieren konnte.“ Sie kicherte. „Damit ist er besonders Odette ziemlich auf den Geist gegangen. Die beiden sind in einer Tour aneinander geraten.“ Marie seufzte selig, während sie an diese Zeit dachte.
„Wenigstens hattet ihr einander... Und jemanden, zu dem ihr gehen konntet um euch anzuvertrauen.“
Sie nickte. „Ja, den hatten wir. Pfarrer Amadeus war immer für uns da... Auch Pastor Marcus. Damals war er noch ein kleiner Knirps. Immer auf Achse, als hätte er Bienen im Hintern. Nicht einmal während der heiligen Messe konnte der Junge still halten und hinterfragte einfach alles!“ Schwärmte Marie weiter von ihren alten Erinnerungen. Seltsamerweise tat es tatsächlich sehr gut das zu hören. Auch schmerzte es ein winzig kleines bisschen, weil es eigentlich meine Mutter sein müsste, die mir alles offenbart. Sie sollte mir diese Geschichten erzählen. Von ihrer Jugend schwärmen... Sich mir anvertrauen...
„Natürlich ist Pastor Marcus mittlerweile über sechzig und richtig... Erwachsen geworden.“ Meinte sie politisch und wir grinsten uns an.
„Moment, wieso ist eigentlich der eine Pfarrer, der andere Pastor?“
„Oh, natürlich mussten Odette, Olive, Sabrina, Edna und ich einige Male umziehen. Besonders während der letzten Jahre der Schwangerschaft, fiel es natürlich unseren Umfeld vermehrt auf, dass etwas mit uns nicht stimmen kann. Zwar haben wir immer versucht, so viele Monate wie möglich heraus zu bekommen... Doch wenn man hochschwanger ist, dann glaubt einem niemand mehr, man hätte noch >einige< Monate vor sich.“
Das konnte ich natürlich nicht bestreiten. „Oh nein... Und was habt ihr getan?“ Erkundigte ich mich neugierig.
„Wir lebten im Haus am See. Wie du bereits weißt, ist Sabrina´s Großvater Papst geworden...“
„War das nicht ihr Vater?“
Sie schmunzelte. „Er hat es versucht, doch sein Vater war schneller im Amt und besaß die besseren Beziehungen. Jedenfalls, scheute ihr Großvater, welcher natürlich ebenfalls eingeweiht war, nicht uns die herunter gekommene Kirche aufbauen zu lassen, sie neu zu weihen, damit die Kinder und wir geschützt sind, während der Anfangszeit. Natürlich alles unentgeltlich, denn damals hätten wir uns das bei weitem noch nicht leisten können!“
„Und wie sind Fiona, Celiné und Josephine zu euch gestoßen?“
„Sabrina´s Vater hat sie gefunden.“ Das kam unerwartet... „Die drei stammen ursprünglich aus Italien und kannten einander, ebenso wie wir, bereits seit Kindheitstagen. Er schickte sie... zirka im dritten Jahr der Schwangerschaft zu uns. Seitdem waren wir aufeinander angewiesen. Natürlich arbeiteten wir so lange, wie wir konnten, um der Kirche nicht auf der Tasche zu liegen. Aber meistens durften wir Pfarrhäuser bewohnen, oder in den Kirchen übernachten. Gott und seine Hirten schauten auf uns. Deshalb habe ich auch so viel Respekt vor der Kirche... dem Glauben an Gott und die Engel. Ohne deren beherztes Eingreifen... gäbe es euch bestimmt nicht.“
Das stimmte mich nachdenklich... „Die Kirche kümmerte sich vierzig Jahre lang... um acht hochschwangere Frauen, ohne dafür etwas zu erwarten?“
Marie´s Gesicht verzog sich. „Nun ja... Es war nicht >nichts<, musst du verstehen. Zuerst hatte man natürlich angst, dass es sich bei den Schwangerschaften natürlich um etwas... böses handeln könnte. Aber egal, was sie versuchten. Es gab weder böse Omen, noch schadete das trinken von geweihten Wasser, oder das Baden darin, uns oder den Föten. Zudem sagten die meisten, dass sie... sich seltsam beschwingt und sicher in unserer Umgebung fühlten... geradezu von uns angezogen.“
„Also keine kleinen Satansbraten.“
„Nein, keine Satansbraten.“ Stimmte sie kichernd zu. „Ihr wart unsere kleinen Engel... Deshalb haben wir euch im christlichen Glauben erzogen... Also...“ Sie bemerkte ihren Fehler und wurde schlagartig verlegen.
„Die anderen. Weil ich war ja für euch gestorben... Wortwörtlich.“ Ich rollte mit den Augen. So viel dazu. „Aber, wie kamt ihr überhaupt darauf, dass ich Luzifer´s Kind sein muss? Das habe ich bis jetzt noch nicht verstanden. Theoretisch könnte es doch jeder sein.“
„Nun ja, wie gesagt. Pfarrer Amadeus Passion, war sein Wissen über die Bibel. Er studierte jedes Stück, dass er in die Finger bekommen konnte, selbst in den ältesten Sprachen. Somit kannte er auch diverse Texte über Beschwörungen von Dämonen, Anrufungen von Engeln, Legenden über deren Mächte, Eigenheiten und selbst die dunkelsten Geheimnisse hat er sammeln können.“
„Man kann Engel beschwören?“
„Nicht >beschwören<, lediglich eine Erscheinung hervorrufen. Dämonen zum Beispiel, können unsere Welt physisch betreten. So wurden früher... vor vielen, vielen Jahrhunderten, die ersten Dämonenfürsten beschworen. Leider war damals das Wissen noch mangelhaft, sie konnten sich befreien und gewisse Herrschaftsgebiete für sich beanspruchen. So wurde das Wissen über Dämonen auch erweitert. Bis... Irgendjemand so dumm war, ein Dämonentor zu öffnen. Seitdem gibt es zigtausende auf der Welt. Mit Engelsblut, oder auch das von Nephilim kann es natürlich geschlossen werden, was wir hier in der Umgebung auch getan haben. Deshalb ist es ja auch so ungewöhnlich, dass die Dämonen sich bis in unser Viertel gewagt haben.“
Ich bemerkte natürlich, dass Marie stark vom eigentlichen Thema abgekommen war, doch entschied, dass es unklug wäre, erneut zu hinterfragen, weshalb ausgerechnet ich Luzifer´s Tochter war.
„Aber Engelstore gibt es nicht?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Engel besitzen ja Flügel, von daher brauchen sie keine Tore.“
„Gibt es auch Dämonen mit Flügel?“
„Hm...“ Sie dachte angestrengt nach. „Ich glaube nicht. Aber das müsstest du Odette und Lucy fragen.“ Sie setzte den Blinker und parkte mühelos in eine riesige Parklücke am Seitenrand. „So, aber jetzt ab zu Pastor Marcus. Er erwartet uns bestimmt bereits.“ Sie scheuchte mich aus dem Wagen, während sie ihr Hab und Gut noch auf dem Rücksitz zusammen sammelte. Derweilen hatte ich das Vergnügen, die frisch restaurierte Kirche zu betrachten. Sie war... groß, spitz und sah aus wie eine Kirche... Zu meiner großen Überraschung verspürte ich weder eine Abneigung noch eine Anziehung zu diesem heiligen Ort. Dafür dass es ein Haus >Gottes< war, sollte ich da nicht als Nephilim zumindest irgendetwas empfinden? Als die Tochter eines gefallenen Engels... eventuell eine Abneigung?
Ein älterer Herr, in Kutte und einem riesigen Lächeln im Gesicht, trat aus dem zweiflügeligen, offen stehenden Tor und breitete herzlich seine Arme aus. Automatisch hatte ich das Bild einen quirligen, kleinen Jungen im Kopf, doch von der aktuellen Version des Pastors, war natürlich nichts mehr davon zu sehen. „Willkommen, Haylee! Es ist mir ein Segen und Freude zugleich, zu wissen, dass es dir gut geht!“
Kannten wir uns? „Pfarr-... Pastor Marcus, nehme ich an?“ Erkundigte ich mich verlegen.
„Ganz genau. Wie groß du geworden bist. Und bildhüsch. Aber was erwartet man von einem Wesen, dass einem Engel am nächsten steht.“ Witzelte er, dann schloss er Marie herzlich in die Arme und küsste sie auf beide Wangen. „Marie, meine Liebe. Danke noch einmal, für den tollen Kuchen, den du ins Pfarrhaus gebracht hast. Unsere Damen konnten sich kaum zurück halten. Was ist bloß dein Geheimnis?“
Verlegen winkte sie ab. „Ach was. Ich tue doch überhaupt nichts besonderes hinein. Haylee, komm sprechen wir besser drinnen weiter.“
Für einen Moment sah ich mich auf dem Kirchenvorplatz um. Er war sauber gehalten, kein Staubkörnchen lag auf dem Boden, selbst die Mülltonne wirkte von außen sauber und die Bäume, so wie Sträucher waren perfekt gestutzt. Entweder die Gärtner hier waren überkorrekt, was ihre Arbeit anging, oder der Pastor konnte zaubern?
Zufällig fing mein Blick einen gebeugt gehenden Mann, in der Umgebung auf. Er hatte mir den Rücken zugekehrt, doch das nervöse schlagen meines Herzens verriet mir, wer der alte Mann war... Willkürliche Angst befiel mich, da ich daran dachte, dass er Calyle und mich im Garten beobachtet hatte... Wie oft hatte er schon einen übermütigen Nephilim dabei beobachtet, etwas zu tun, was kein Mensch konnte? Noch wichtiger... was davon hatte sich in seine Erinnerungen einprägen können?
Räuspernd nickte ich und floh regelrecht in die Kirche. Zu meiner großen Erleichterung schloss Pastor Marcus die Flügeltüren, sodass uns niemand stören würde, während... ja, während was denn überhaupt?
„Haylee, ich hoffe du nimmst es der Kirche nicht übel, dass sie so... misstrauisch auf deine Geburt reagiert haben.“
Ich blendete das beklemmende Gefühl aus und konzentrierte mich auf etwas Wichtigeres. „Also war es die Kirche, die meinen Tot wollte?“ Ich hatte nicht vor wütend zu klingen, oder gar abgeneigt. Aber dennoch war ich überrascht von dem Gedanken, dass die Kirche einer Mutter befahl ihr Ungeborenes, oder in meinem Fall, frisch zur Welt Gekommenes, Baby zu töten. Verstieß dies nicht gegen diverse... Gesetzte? Glaubensgrundsätze?
„Keinesfalls!“ Stieß Pastor Marcus erschrocken hervor. „Marie, hast du ihr denn noch überhaupt nichts erzählt?“
Marie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Marcus. Ich dachte, du hättest es bereits gehört... Edna ist... von uns gegangen.“
Der Pastor erstarrte. „E-Edna?“ Erkundigte er sich und musste halt suchend, um sich greifen. Marie half dem Mann, sich auf die vorderste Reihe der Bänke zu setzen. „A-Aber wie? Sie ist doch, wie ihr. S-Sie kann doch nicht...“
Hatte Marie nicht gesagt, dass jeder von ihnen >eine große Liebe< gehabt hatte? So wie Pastor Marcus reagierte, konnte man glatt meinen, dass er entweder einen engen Verwandten verloren hatte. Oder etwas noch Intimeres. „Schon gut, denk an dein Herz, Marcus.“
„Vergiss mein Herz. Was ist mit Edna passiert? Wieso ist sie... Und seit wann?“ Tränen traten mir willkürlich in die Augen und ich musste mich abwenden, um nicht loszuheulen. Meine Hand glitt von selbst in die halb geöffnete Tasche und suchte nach dem harten, kühlen Rücken des Tagebucheinbands... Während Marie dem Pastor schonend beibrachte, dass jemand im Haus am See eingebrochen war und sie ermordet hatte. Dass eventuell ein Nephilim darin verwickelt sein könnte, ließ sie jedoch aus unerfindlichen Gründen aus.
„A-Als du mir erzählt hast, dass sie mit kommen würde dieses Jahr... und das Haylee noch lebt und ein gesundes, einfühlsames, zartes Wesen geworden sein soll... Du hast keine Vorstellung, wie froh ich gewesen bin. Dann bekam ich auch noch den Anruf von Sabrina, dass ihr früher zurück kommt, wegen einer Entweihung der Erde dort... Ich dachte...“
Sanft streichelte sie Pastor Marcus Kopf, als würde dort kein, wesentlich älter aussehender Mann sitzen, sondern ein kleiner Junge. „Es tut mir so leid, Marcus. Uns allen fehlt sie, wo wir doch dachten, dass wir endlich wieder alle zusammen sein könnten.“
Ich ging einige Schritte weg, weil ich nicht mehr hören wollte. Nein, ich ertrug es einfach nicht... Edna Blackbird... Die verrückte Edna... Meine Mom... Ob es je weniger weh tun würde?
Nach wenigen Minuten rief Marie mich zu ihnen. Pastor Marcus war nach hinten, ins innere der Kirche verschwunden, um sich ein Glas Wasser zu besorgen. Ich trocknete hastig die entflohenen Tränen, dann folgte ich Marie, die mich fragte, ob ich ebenfalls eine Erfrischung bräuchte.
Räuspernd suchte ich nach meiner Fassung und eilte ins hintere Zimmer. Pastor Marcus hatte sich gefangen, doch seine Augen wirkten... todtraurig. Wie die meinen. Als er meinem Blick begegnete, fand er dort einen sehr ähnlichen Schmerz, wie den seinen wieder. „Bitte entschuldige, Haylee. Hier, ein Glas Apfelsaft aus einer Biobrauerei hier in der Nähe.“
Ich stockte misstrauisch. „Eine Brauerei die auch Apfelsaft herstellt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Wieso denn nicht?“
Marie kicherte. „Die Familie besitzt einen großen Obsthof. Die Apfelsäfte füllen sie rein für unsere Gemeinde ab.“ Erklärte sie, was mir schon eher einleuchtete.
Ich nippte daran. „Mmmh! Richtig lecker!“ Lobte ich begeistert.
Der Pastor lachte amüsiert. „Dann werde ich das so an meine Schwiegertochter weitergeben.“
Marie erklärte erneut. „Pastor Marcus jüngster Sohn hat die Tochter des Hofbesitzers vor zwei Jahren geheiratet.“
„Endlich, denn es hat ja lange genug bei ihnen gedauert!“
„Sagt der Richtige!“ Spottete Marie. „Du warst doch genauso lange Junggeselle, ehe du dich endlich getraut hast!“
Pastor Marcus rollte mit den Augen. „Marie! Du klingst schon wie meine Mutter.“ Die beiden lächelten sich vertraut an.
„Tja, ich persönlich sehe immer noch den kleinen, wilden Jungen in dir, der mir ständig zwischen die Füße gelaufen ist und gefragt hat, ob wir bald platzen werden oder wie lange es noch dauert.“
Verlegen sah er zu Boden. „Das ist fünfzig Jahre her.“
„Für mich ist es jedoch erst gestern gewesen.“
Außen vor gelassen, räusperte ich mich. „Ähm... Marie sagte etwas davon, dass ich-...“
„Ja genau, lasst uns nicht weiter über die Vergangenheit reden...“ Sie stockte. „Also, die neuere Vergangenheit. Ich denke, es wird Zeit, dass Haylee ebenfalls wie die anderen eine Einführung in die Welt der Engel und Dämonen erhält.“
Pastor Marcus hob die Brauen. „Sagtest du nicht etwas davon, dass Dämonen unser Viertel bedrohen? Wäre es da nicht sinnvoller, ihr die Kampfkunst zuerst beizubringen?“
Marie stemmte die Arme in die Hüften und wirkte gleich wieder, wie die tadelnde Mutter, welche sie auch vorhin gemimt hatte. „Und die arme Haylee in ihr Verderben stürzen zu lassen? Als die Kräfte unserer Kinder allmählich erwacht sind, versank die gesamte Gemeinde in Chaos und sie wären mehrfach beinahe gestorben! Also nein! Ich schicke Edna´s Tochter bestimmt nicht unwissend dort hinaus! Kämpfen liegt ihnen im Blut. Aber wenn Haylee nicht weiß, was sie dort in den Schatten erwartet, ergeht es ihr wie bei ihrem ersten Kampf gegen Dämonen. Ich habe es den anderen gesagt. Aber sie wollten nicht hören.“
Räuspernd winkte Pastor Marcus Marie´s Protest fort. „Wie du meinst. Trotzdem beginne ich nicht irgendwo mitten drin in der Geschichte. Haylee muss über alles informiert sein, wenn ich das hier wirklich tun soll.“
Marie nickte. „Ich setzte Kaffee auf. Haylee, du möchtest bestimmt lieber Tee, richtig?“
„N-Nein, nicht unbedingt. Mir ist auch so bereits heiß genug.“ Sie lächelte wissend, dann deutete Pastor Marcus mir, dass wir das Hinterzimmer der Kirche verlassen würden. Vor dem Altar hielt er an und drückte mit vier Fingern gleichzeitig, auf eine verschnörkelte Zeichnung, am Boden vor dem Altar. Ohne Gegenwehr ließen sich die drei kreisförmigen Zeichen in den massiven Stein, zumindest hatte ich angenommen, es sei einer, hinein drücken und der massive >Holztisch< fuhr zur Seite, mitsamt dem Teppich, auf welchem er stand. Mit offenem Mund betrachtete ich das entstandene Loch. Neonlampen auf der Seite erhellten automatisch, sobald man sie passierte, die Treppe, welche tief hinab, in ein kühles Untergeschoss führte. Gut, jetzt hätte ich doch gerne die Tasse mit heißem Tee...
„W-Was ist das hier?“
„Eine Vorsichtsmaßnahme der Kirche.“ Begann er zu erklären. „Diese Unterirdischen Bunker wurden vor dreißig Jahren angefertigt. So gut wie jede katholische Kirche, weltweit, besitzt eben jene. Darin befinden sich Waffen, Betten und Essensrationen für mehrere Monate.“
„Wow! Wofür das denn?“
„Für euch.“
Überrascht blinzelte ich. „Was? Wieso?“ Etwas klingelte in meinem Kopf, so als müsse ich mich an irgendetwas erinnern, doch kam nicht darauf, >was< es sein könnte.
„Weißt du, als meinen Vorfahren klar wurde, dass eure Mütter mit Nephilim schwanger sind, war dies ein Segen für sie. Seit Jahrtausenden versuchen wir bereits die Dämonen, welche Nacht für Nacht, einige Stunden lang auf Erden wandern, zu zerstören, oder zumindest fort zu schicken. Im Normalfall entfernen sie sich niemals weit von den Dämonentoren, da die Sonne ihre Gestalten endgültig auslöschen würden. Bislang gelang es den Kircheneigenen Söldner nicht, Dämonen endgültig auszulöschen, oder gar die Tore zu schließen. Die meisten von ihnen sind ohnehin lediglich dünne Risse, durch welche sich bloß nervige, winzige Biester zwängen können und etwas für Chaos sorgen. Jedoch größere Tore, wie das, welches in der Nähe vom Haus am See vor kurzem geöffnet wurde, muss regelmäßig bewacht werden. Nicht alle Dämonen sinnen danach, sich nachts durch unsere Welt zu bewegen. Dafür sind sie in ihrem eigenen Reich viel zu beschäftigt.“
Mir drehte sich jetzt bereits der Kopf. „Es gibt Dämonenjäger in der Kirche?“
Er nickte. „Viele Waisen, welche die Kirche aufnimmt, sind deshalb Waisen, weil ihre Eltern von schlimmeren Dämonen getötet wurden, als die, welche normalerweise für Unfug sorgen. Leider ist es den menschlichen Söldner nicht möglich gewesen, diese Dämonen endgültig zu zerstören. Man kann sie verbannen, aber dann kommen sie, wenn sie Lust haben, einfach durch ein anderes Tor wieder, weißt du. Nur eure Engelsklingen sorgen dafür, dass sie sich in Asche auflösen.“
Verstehe... Das klang ja grauenhaft, doch mir ging schlagartig ein Licht auf. „Deshalb also, hat sich die Kirche so sehr um unsere Mütter bemüht. Sie haben gehofft, dass die Kinder von Engeln, mehr gegen diese Monster ausrichten können.“
Pastor Marcus nickte zögerlich. „Das war der Deal. Die Kirche sorgt für eure Mütter, dafür kämpfen deren Nephilimnachkommen im Namen der Kirche.“
„Trotzdem führen Katya, Tyrone und die anderen ein ganz normales Leben.“
Er lächelte und öffnete die Türe am Fuße der Treppe. „Natürlich. Ihr seit ja auch bloß Kinder. Das einzige worum die Kirche bat, ist dass wenn ein großes Tor zu gefährlich wird, oder eine Horde von Dämonen beginnt sich einmal wieder vorzuarbeiten, dass ihr einschreitet. Nur euch ist es möglich Tore zu schließen, Dämonen zu vernichten und damit Millionen an Menschen zu retten.“
Der Geruch von Büchern und Staub drang in meine Nase. Die trockene Luft stand im Raum, doch dadurch, dass Pastor Marcus die Türe offen stehen ließ, zog nun ein kühles Lüftchen durch den Raum. In wenigen Minuten würde es uns beide ganz bestimmt anfangen zu frösteln.
„Okay, das bedeutet also, dass die Kirche schon immer über Dämonen Bescheid wusste.“
„Seit jeher.“ Stimmte er nickend zu und bat mir einen Platz an einem metallischen Stuhl da, während er den auf der anderen Seite einnahm.
„Aber woher wusste die Kirche von den Dämonen.“
„Noch ehe der Geschichtsschreibung, gab es genug Berichte über Dämonen, die Menschen terrorisieren...“
„Ja, schon klar. Doch wie kamen sie hierher, auf die Erde?“
„Durch Portale.“ Erklärte er, da er scheinbar nicht verstand, worauf ich hinaus wollte.
„Das ist schon klar. Doch woher kommt das erste Portal? Wer hat es geöffnet?“
Räuspernd tat er dies ab. „Du missverstehst das, Haylee. Gott stellte unseren Seelen schon immer zwei Wege bereit, hinab in die Hölle, oder hinauf in den Himmel.“ Er deutete dabei mit dem Zeigefinger eine Spur vom Boden, in Richtung der betonierten Decke. „Dieses Ursprungsportal war dazu gedacht, dass menschliche Seelen, die unvorstellbar böses getan haben, hinab in die Hölle fahren. Diejenigen, die jedoch mit reiner Seele sterben, werden von Engeln hinauf in den Himmel getragen.“
Ja, insofern man an diesen Schwachsinn glauben wollte... Meiner Mutter musste es wohl entfallen sein, mir Respekt vor dem Glauben an Gott und den ganzen Schwachsinn beizubringen. „Doch woran lag dann das Problem? Kam ein Dämon plötzlich auf die glorreiche Idee, >he, da ist ein Loch in der Decke, ich schau mal was dort los ist<?“
Schmunzelnd erhob sich Pastor Marcus und suchte in einem eher neuer wirkenden Buch, welches er aus einem nummerierten Regal zog, nach einem bestimmten Kapitel. Als er es aufschlug, erkannte ich sofort, dass es Fotokopien eines weit älteren Exemplars sein mussten. Daneben stand eine Übersetzung, für was ich sehr dankbar war. Das Bild, welches die Mitte einnahm, zeigte einen Menschen, dessen Seele in den Schlund der Hölle gezogen wurde. Daneben lag eine Leiche, deren Seele von einem leuchtenden Schemen hinauf getragen wurde.
„Das Ursprungsportal hat man bis heute noch nicht gefunden. Niemand ist sich sicher, ob es sich dabei lediglich, um eine Metapher handelt, oder ob es sie wirklich gibt.“
„Wenn dann bestimmt in der Wüste.“ Witzelte ich.
Er runzelte die Stirn. „Wieso denkst du, dass es sich in der Wüste befinden würde? Vielleicht ist es ja der tiefste Punkt der Erde, oder man gekangt bloß über einen Vulkan und ähnliches dahin.“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wäre doch dumm, oder? In Wäldern stolpert irgendwann einmal jemand darüber, er brennt ab, oder wird gerodet. Die Seen können vertrocknen oder Platten im Meer sich darüber schieben. Ein Vulkan versinkt. Das einzig logische wäre eine Wüste aus Sand oder Eis. Selbst wenn jemals etwas darauf wachsen sollte, aus welchen Gründen auch immer... Es würde verschüttet bleiben... Obwohl, Eis kann auch abtauen. Wenn dann würde ich eher auf eine Sandwüste tippen.“
Nachdenklich legte er die Stirn in Falten und dachte einen langen Moment über meine Worte nach. Währenddessen suchte ich in dem Buch, welches vor mir lag nach irgendwelchen Stichwörtern. Es war altmodisch gehalten, was bedeutete, der Übersetzer hatte sich nicht die Mühe gemacht, es in die moderne Rechtschreibung zu integrieren, als er das Buch gebunden hatte. Der Text gab mir jedoch nicht mehr Preis, als ich ohnehin bereits wusste. Engel gut. Dämonen böse. Keine der beiden Wesen konnten auf der Erde wandeln und kümmerten sich, auf ihre Weisen, um die frisch verstorbenen Seelen der Menschen.
Ich blätterte weiter. Auf dieser Seite gab es mehr zu lesen und es gab kein einziges Bild, sehr zu meiner Enttäuschung. Calyle hatte damit bestimmt seine Freude gehabt, als er es las. „Geht es in dem Buch nur darum, wie toll Engel sind?“ Erkundigte ich mich und blätterte auf die nächste Seite weiter.
„Nein, nein, in diesem Buch geht es rein um Engel. Wenn du weiter blätterst, findest du ein Lexikon mit allem, was wir über eure Engelsabstammung herausfinden haben können.“
Neugierig geworden überblätterte ich noch weitere sechs Seiten, jede Einzelne bis oben hin vollgeschrieben, dann fand ich auf der linken Seite, das Abbild eines unfassbar schönen Engels. Er schien auf diesem Bild mehrere Meter zu messen. Sein Körper erstrahlte und schien heller strahlen zu wollen, als selbst die Sonne! Hinter ihm ragten zwei dunkelbraune Federn hervor, welche zu den gespreizten Schwungfedern hin, immer rötlicher wurden, als würde von ihnen Blut laufen. Oben an den Beugen der Flügel saß sogar jeweils ein Dorn, welcher mindestens einen Daumen lang sein musste und war in dunklen Goldtönen gehalten. Sein makelloses Gesicht zeigte eine stolze, aber auch entschlossene Miene. In den Händen trug er ein Schwert mit zwei Klingen. Er hielt es am Griff in der Mitte, während eine feurige Energie in dessen Inneren zu pulsieren schien und wann immer er die Klinge kreisen ließ, feurige Impulse ausstieß.
Mein Blick glitt nach rechts. Dort stand in einer altmodischen, Schnörkelschrift >Logos<. „Logos...“ Las ich laut. „Der Ersterschaffene und mächtigste Engel, welcher je durch Gottes Gnade erschaffen wurde.“ Darunter stand noch viel mehr Text. Eine Zusammenfassung seines Aussehens, seines Charakters, so wie seinen vielen Errungenschaften im Kampf.
Ich blätterte weiter. „Luzifer, der Lichtträger oder auch Morgenstern genannt. Liebling Gottes... Das Licht Gottes... Märtyrer... Launenhaft... Impulsiv... Von Eifersucht getrieben...“ Las ich halblaut vor. Neben der, wieder einmal vollgeschriebenen rechten Seite des Buches, war natürlich auch das Bild vom Engel Luzifer verewigt. Er saß, ein Bein angezogen, das andere ließ er von einer unkenntlichen Ruine hängen. Die aufgehende Sonne beleuchtete sein Gesicht. Seine Augen hatte er geschlossen, als würde er es genießen, wie der Wind durch sein halblanges dunkles Haar fuhr und die Sonne seine sanft gebräunte Haut liebkoste. Hinter ihm ragten zwei seidig schwarze Flügel auf. Sie glichen denen von Logos kein bisschen, sondern waren viel größer, massiger und breitflächiger als die seines wenig älteren Bruders. Auf den ersten Blick hin schienen seine Flügel pechschwarz zu sein, schwärzer noch als die Nacht selbst, doch an diversen Stellen erkannte man dennoch goldene Zeichnungen, die sich über die Federspitzen zogen. Zudem waren seine Schwungfedern an den spitzesten Punkten, nicht so breit auseinandergefächert, sondern die ganze Form wirkte ein wenig abgerundeter. Stellenweise, in der Mitte der Flügel, hellten die goldenen Zeichnungen die Flügel einige Nuancen auf, ohne dass sie dabei zu sehr herausstachen. Vor ihm, in der Erde, steckte ein armlanges Schwert, dessen Mitte sich ein wenig nach außen wölbte, ehe es an der Spitze, wie jedes Schwert, spitz zusammenlief. Auch anders, als das von Logos, schien ein Schemen, wie der von Flammen auf den beidseitigen Klingen tanzen und brachten es damit regelrecht zum Glühen.
Ich blätterte erneut weiter. „Metatron, dem Thron nahe. Das Wort Gottes... himmlischer Schreiber... Ein jüdischer Engel?“ Stieß ich überrascht hervor und blickte auf. „Metatron ist gar kein katholischer Engel?
Pastor Marcus erwiderte meinen Blick mit gerunzelter Stirn. „Im Grunde, stehen sämtliche Religionen einander sehr nahe.“ Begann er diplomatisch. „Viele Kulturen haben einfach andere Namen, für dieselben Götter oder, in unserem Fall, Engel, an welche wir glauben. So gingen natürlich auch die einen oder anderen Glaubenssätze ineinander über... oder verloren einander.“
Ich gab einen verstehenden Laut von mir, ohne es wirklich zu kapieren. Metatron´s Zeichnung glich dem Sinnbild einer Statue. Er war genauso schön und atemberaubend, wie seine beiden Brüder. Nur mit dem Unterschied, dass er kein Schwert trug, oder Diverses, sondern die Brust stolz heraus reckte, auf welchem sich deutlich die Muskeln abzeichneten. Sein Haar war pragmatisch kurz und zurückgekämmt, die Augen auf ein Buch gerichtet, welches er in seiner Hand trug und der Feder, welche daraus hervor blitzte. Seine Flügel waren gräulich, doch wurden zum Ende hin immer weiser, seine Schwungfedern wiederum waren vollkommen stumpf und erinnerten mich ein wenig an die Flügelform einer Eule, kurz genug, um wendig damit durch die Wälder zu navigieren.
Ich blätterte weiter zum nächsten Engel. Es war definitiv Grigori. Schmunzelnd betrachtete ich den Engel, welcher auf einer gepolsterten Steinliege lag, in einer Hand hielt er Trauben, welche er sich in den Mund führte, in der anderen, einen Kelch mit dunkler Flüssigkeit. Seine Flügel wiederum waren dunkelblau mit silbernen Flügelspitzen. Sie ähnelten denen von Logos, breitflächig an den Spitzen, doch waren sie weit schmaler und stachen, abgesehen von ihrer auffallenden Farbe, kaum heraus. Ein Schwert war nicht zu sehen, doch neben ihm lagen, unbeachtet, zwei Klingen, die als Brotmesser missbraucht wurden.
„Typisch Grigori, was.“ Bemerkte ich schmunzelnd.
„Ja, dieser Engel ist völlig anders, als die anderen. Das fällt auf.“ Witzelte auch Pastor Marcus. „Er ist der erste Engel, welcher nach der Erschaffung der Menschen, auf die Erde geschickt wurde. Damit war er seit Anbeginn unserer Geschichte hier und verfolgte mit Argusaugen unsere Entwicklung.“
Erneut verzog ich das Gesicht. Dass die Welt erst zweitausend Jahre alt sein sollte, wollte ich fast noch weniger glauben, als all dieses >Sünden-< und >Reinheitswahn< von denen die Katholiken... nein, so gut wie jeder der einer Religion folgte, abhängig war.
Auf der nächsten Seite fand ich dann Michael. Das Schwert, welches er in unsere Richtung hielt, als ob er eine ganze Heerschar an Engel auf den Leser hetzen wollte, war dünn und von einem sanften Nebelschleier überzogen. Seine klugen, hellen Augen, blitzten aus seinem markanten Gesicht hervor, den wohl geformten Mund, zu einem beißenden Befehl geformt. Seine Flügel, aus Reinem weiß, ragten engelstypisch hinter ihm auf. Sie waren jedoch nicht ausgebreitet, sondern sorgten für sein Gleichgewicht, während er losstürmte. Sein Haar war beinahe golden, noch etwas, dass mir sehr zu denken gab. Michael schien für diverse Künstler, der heute, typischen Engelsdarstellung, als Vorbild gedient zu haben. „Michael...“ Las ich wieder laut. „Er, der ist wie Gott... Anführer der heiligen Engelsschar... Friedensbringer... Richter über Gefallene...“
Gefolgt von Michael, erwartete mich Uriel. Er wurde sitzend porträtiert. Sein, ebenfalls blondes Haar, fiel ihm, zusammen gebunden, über den halben Rücken. Über die Schulter trug er einen Bogen aus reinem Weis, bloß die Sehne schien aus Gold zu bestehen, was an und für sich schon unmöglich war. Seine Flügel waren ebenfalls Gold, wie sein Haar, so wie seine Iriden. Sein wohl geformtes Gesicht war schmal dargestellt und im ihn herum eine ruhig pulsierende Aura. Sie erinnerte mich stark an die von Lucy.
Danach fand ich Raphael. Seine Flügel erinnerten mich an die von Luzifer, nur nicht so dunkel, eher gefärbt wie die eines Adlers. Mit wunderschönen Schattierungen und Farbübergänge. Sie wirkten so... natürlich mit zig verschiedenen Brauntönen darin. Ich selbst konnte nicht einmal eine Handvoll nennen... Sein Braun war rötlich, braun und wurde von der hellen Mittagssonne besonders schön beschienen. „Raphael... Art Gottes... Heiler... Erfinder...“ Sein Text reichte bis über die nächste Seite, weshalb die darauf folgende rechte völlig frei war.
Auf dem letzten Bild fand ich schlussendlich Gabriel. Ein schelmisches Funkeln erhellte sein dreieckiges Gesicht. Sein Kinn war markant, so wie seine Lippen sinnlich geschwungen. Er war der einzige Engel, welcher bisher freundlich abgebildet worden war. „Gabriel... Gott ist meine Kraft... Wächterengel... Barmherzigkeit... Blah... Blah...“
Ich ließ meinen Kopf auf das Buch fallen, noch ehe ich die Hälfte von Gabriel´s Text durch hatte.
„Na, bist du jetzt schon am Ende mit deiner Auffassung, Liebes.“ Spottete Marie und stellte mir, obwohl ich abgelehnt hatte, eine Tasse mit frisch gebrühten Tee auf den Tisch.
„Danke, Marie!“ Schnell wärmte ich meine kalten Finger daran.
„Ja, ich danke dir ebenfalls.“ Pastor Marcus nahm seine Tasse mit Kaffee ebenfalls entgegen.
„Aber es ist weniger, dass ich mir jetzt schon nichts mehr merken kann, als eher die Frustration darüber, was noch alles vor mir liegt.“
Sie nahm neben mir platz und betrachtete das charmant dargestellte Bildnis von Gabriel. „Ich weiß, es ist viel. Wir hatten im Gegensatz zu dir, viele Jahre dafür zeit. Aber wie wäre es, wenn wir statt mit den Engeln, mit den Dämonen für heute beginnen?“ Schlug sie entgegenkommend vor. „Ich habe dich nicht bloß hierher gebracht, weil ich mich schlecht fühle, dass wir dir dieses ganze Wissen entzogen haben, aufgrund der Umstände, sondern um dich nicht gleich wieder in einen unfairen Kampf steigen zu lassen. Du bist immerhin auch bloß ein Kind.“
„Woher habt ihr... oder viel mehr diejenigen, die es nieder geschrieben haben, alles?“ Pastor Marcus sucht ein Buch für uns heraus, welches über Dämonen berichtete. „Ich bezweifle ja, dass die ihnen gelassen Rede und Antwort gestanden sind.“
Marie räusperte sich, während sie ihre Worte mit Bedacht wählte. „Du weißt ja mittlerweile, dass diese... Gestalten, mit welchen deine Mutter gesprochen hat, doch kein anderer Mensch konnte sie sehen, echt gewesen sind, richtig?“
Ich nickte. „Sie hat mit Dämonen gesprochen, das ist mir klar. Aber Engel? Ich bezweifle, dass einer dieser drei Meter Engel hier, mir nicht aufgefallen wäre, wenn er ein bequemes Schwätzchen mit meiner Mutter gehalten hätte.“
„Nein, nein. Das stimmt schon, Engel sprechen für gewöhnlich nicht mit uns Menschen und wenn, dann geben sie sich nicht, als eben diese zu erkennen.“ Stellte sie richtig. „Dämonen hingegen, sind sehr geschwätzig. Sie müssen fasziniert davon gewesen sein, dass deine Mutter sie sehen kann.“
Ich dachte an die vielen nächtlichen Gespräche, welche meine Mutter geführt hatte, wenn sie dachte, dass ich schlief. „Freunden sich Dämonen auch mit einigen Menschen an? Oder... sympathisieren mit ihnen? Meine Mom hat oft nachts Selbstgesprä-... Also... Mit jemanden gesprochen.“
Marie zuckte mit den Schultern. „Es gibt einige Ausnahmen, Dämonen, die nicht sofort auf Nephilim los gehen. Tatsächlich hat mir Katya vor ein paar Jahren davon erzählt, dass sie einen in einer Kneipe getroffen hätte. Von ihm war eine dunkle Welle ausgegangen, doch er hatte sich lieber auf sein Kartenspiel konzentriert, als ihr hinterher zu laufen. Lucy, Tyrone und sie haben gewartet, dass er Katya folgt, um sie hinterrücks anzugreifen, doch er verschwand einfach am Morgengrauen und kehrte nicht mehr in die Bar zurück. Also, ja. Ich schätze Dämonen, mit bestimmten Kräften, besonders solche die stark genug sind, um eine menschliche Illusion zu erschaffen, werden lediglich von sehr wenigen Dingen... angezogen und von ihren niederen Instinkten übermannt. Vielleicht war bei euch ein solcher, dem es lieber gewesen ist, du bleibst unwissend... Du weißt schon... Was nichts von mir weiß, das jagt mich auch nicht.“ Witzelte sie, mit eher mäßigem Erfolg. Der Gedanke, dass in unserer Wohnung Dämonen ein und aus gegangen sind... war gelinde gesagt, erschreckend. Oder gar, dass meine Mutter einen von diesen... abartigen Wesen Vertrauen geschenkt hatte... Wenn ich bloß an diese ekelhaften Gestalten dachte, kam mir das Grauen.
Ich nahm das Buch entgegen, welches mir Pastor Marcus reichte und schlug es auf. Es war... wortwörtlich eine Enzyklopädie der Dämonen, auf welche die Nephilim bisher getroffen waren. Jeder Eintrag war datiert. Einige sogar weit vor unser aller Geburt... „A-Aber die sind ja...“
„Wir konnten Dämonen bereits seit dem zweiten Jahr unserer Schwangerschaft erkennen. Erst dachten wir, dass wir verrückt wären... aber nach und nach konnten wir uns einiges zusammen reimen. Natürlich unter der Führung von Pastor Marcus Vater.“ Sie deutete auf den Pastor, welcher verlegen lächelte und wieder an seinem Kaffee nippte.
Grob blätterte ich über diverse Seiten hinweg, bis ich ab der Mitte des Buches auf seltsame Zeichen und Schnörkel stieß. „As-...“
„Pssst !“ Zischten mich Pastor Marcus und Marie gleichzeitig an, sodass ich erschrocken zusammenfuhr. Was war denn jetzt los?
„Du darfst diese Beschwörungen nicht laut aussprechen! Du bist ein Nephilim.“
„Außer du hast vor, diese Kirche hier zu entweihen.“ Fügte Pastor Marcus, weniger belustigt an.
Meine Mundwinkel sanken, als mir bewusst wurde, dass die beiden es vollauf ernst meinten. „Mo-Moment... Ihr wollt mir weiß machen, dass diese Beschwörungen absolut echt sind?“
Beide nickten. „Das ist eine Sammlung uralter Pentagramme und Hexagramme. Jedes von ihnen beschwört einen anderen Dämon. Wenn du jedoch weiter blätterst, findest du Siegel, mittels welchen du dich selbst, einen Ort, oder gar ein ganzes Gebiet vor ihnen beschützen kannst.“
Marie fuhr fort. „Deshalb haben wir die anderen auch vor geschickt. Sie setzen solche Schutzmauern, damit wir für die kommende Nacht sicher sind. Sollte jedoch irgend ein Mensch, willentlich oder aus einer reinen Dummheit heraus, ein Portal innerhalb des Kreises öffnen, ist es absolut nutzlos.“ Ich blätterte, während sie sprach, weiter nach hinten, um mir besagte Stellen genauer anzusehen.
„Es gibt aber auch Pentagramme, mittels denen du einen Dämon auf einem Fleck halten kannst. Trotzdem sollte man es wenn möglich vermeiden... Vor allem an einem heiligen Ort, wie diesen hier.“ Pastor Marcus deutete über unsere Köpfe, wo die Kirche stand. „Leider sind die Päpste von heute nicht mehr so... wie vor vierzig Jahren.“
Mein Kopf begann erneut sich zu drehen. Zur Ablenkung las ich durch einzelne Beschwörungsformeln und bemerkte, dass sie einander von der Aneinanderreihungen der Worte sehr ähnelten. „Man singt sie, richtig?“ Beide nickten. „Und... Und mit solchen Beschwörungen werden Portale zur Hölle geöffnet?“
„Insofern sie kein Nephilim schließt, oder ein Engel, bleibt ein winziger Riss am Beschwörungsort. Von dort können dann niedere Dämonen, die nicht physisch mit unserer Welt agieren können, hindurch kommen. Sie bescheren... Albträume, Ängste oder gar psychische Leiden, wenn sie zu lange und zu oft denselben Ort heimsuchen.“ Marie wirkte betrübt darüber. „Leider ist es schwer diese Risse zu finden. Wenn wir nicht zufällig sehen, wie ein Dämon die ohnehin bereits weit geöffnete Grenze durchquert... haben wir eigentlich überhaupt keine Chance sie selbst ausfindig zu machen.“ Sie räusperte sich. „Also, dass >ihr< sie schließt, meinte ich. Wir Mütter pflegen euch, streng genommen, lediglich nur noch gesund.“
Mein Blick fiel zurück auf die Beschwörungen. „Du sagtest doch, dass man Engel ebenso anrufen kann?“ Ich blätterte hastig hindurch, doch fand nichts. „Wenn sie doch die Erde betreten und einige hier sogar leben um uns zu beobachten... weshalb helfen sie dann nicht?“
Es war wieder Pastor Marcus, welcher die Erklärung übernahm. „Das liegt an den Gesetzen, welche von Gott auferlegt wurden. Engel bekämpfen die Dämonen der Menschen lediglich, wenn sich ein Dämon effektiv eines Menschen bemächtigt, das heißt, wenn er sie in besitzt nimmt und dessen Seele durch Sünden schwärzt. Dann tritt ein Cherubim ein, brennt den Dämon aus und reinigt die Seele. Solange jedoch Dämonen die Menschen lediglich >locken< ist das in Ordnung. Auch wenn sich ein Mensch den Dämonen verschreibt und seine Seele verkauft. Das ist und bleibt die Entscheidung von uns Menschen, daran würde ein Engel niemals etwas versuchen wollen zu ändern.“ Er beugte sich vor und blätterte im Buch der Engel vor bis zu den Cherubim. „Genauso können Engel Menschen dazu locken gutes zu tun oder vom Rand der Sünde, welche sie begehen wollen, fort zu locken.“
„Und wenn ein Engel dagegen verstößt? Wer bestraft denn einen Engel, wenn dieser aus der Reihe tanzt?“
„Seine eigenen Leute...“ Hauchte Marie. „Wenn ein Engel sich an einem Menschen vergreift oder einer Tugend in die Hände fällt, werden ihm die Flügel genommen und er wird in die Hölle verbannt. Seine Gnade erlischt und zurück bleibt, laut den Aufzeichnungen, nichts weiter, als ein gebrochenes Monster, an dem sich die Dämonen erfreuen.“
Ich verzog angeekelt das Gesicht. Wenngleich die Cherubim absolut engelsgleich wirkten, mit ihren weißen Kutten, den makellos, einheitlich aussehenden Flügel und ihre, im Gebet gefalteten Händen, waren sie dennoch nichts weiter, als Bedienstete, welche ihren Bestimmungen nachgingen. „Wenn Gott aber den Engeln die Möglichkeit ließ... einer Tugend zu verfallen... Ist es nicht dasselbe, wie uns Menschen den freien Willen zu lassen?“
Natürlich stieß ich erneut auf bedauerndes Kopfschütteln. „Engel werden geboren um zu dienen. Jeder einzelne Engel, wird für einen einzigen Sinn in seinem Leben geboren.“
Marie breitete die Arme aus. „Wie heißt es so schön? Gottes Wille ist unergründlich?“ Pastor Marcus belächelte Marie wegen dieser Weisheit, doch ich verstand allmählich, weshalb einige Engel einen anderen Weg wählten...
„Waren das nicht seine Wege, über die du da sprichst?“ Witzelte Pastor Marcus, doch ich blendete die beiden erneut aus.
Engel. Dämonen. Dazwischen sind wir Menschen... Dämonen tun was ihnen beliebt. Sie leben nach einer Hackordnung und nur der Stärkste überlebt. Engel wiederum haben bloß eine einzige, vorherbestimmte Aufgabe in ihrem, so ewig währenden Leben... Ich fand es etwas grotesk, aber bitte...
Marie beugte sich wieder zu mir und blätterte im Buch der Dämonen, ziemlich weit nach hinten. Dort war eine große Ansammlung von Schutzmaßnahmen, welche man gegen Dämonen legen konnte. Leider hatten sie nie daran gedacht, im Haus am See welche anzubringen oder zumindest einen Vorrat anzulegen, denn ganz ehrlich... wer hätte schon daran gedacht, dass dieser Ort jemals entweiht werden würde.
Wieder fragte ich mich, wer es wohl gewesen sein mag. Die arrogante Katya? Der übermütige Tyrone? Die kluge Lucy? Der stumme Ryan? Die taffe Olympia? Der verrückte Lysander? Oder gar die Leseratte Calyle? Niemanden von ihnen würde ich zutrauen, meiner Mutter... Einer Nephilimmutter das Leben zu nehmen! Weshalb auch? Es gab überhaupt keinen Grund dafür... Anders jedoch... „Wusste meine Mutter von diesen Beschwörungen? Oder kannte sie die eine oder andere?“
Marie nickte. „Vielleicht hat sie sich die eine oder andere Formel einprägen können, oder eventuell selbst niedergeschrieben? Wieso fragst du?“
„Denkst du, dass meine Mutter...“
Ihre Augen wurden groß vor Entsetzen. „Nein! Das würde deine Mutter nie tun. Wie kommst du denn auf diesen Gedanken?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ihr wart ihre Freundinnen und den anderen... traue ich es mindestens genauso wenig zu, dass sie meiner Mom etwas getan hätten. Niemand im Haus am See, hatte ein Problem mit ihr. Also frage ich mich dennoch... Wer hat sie getötet?“
„So wurde das Haus also entweiht?“ Stieß Pastor Marcus hervor, welcher immer noch nicht die ganze Geschichte kannte. „Sagtest du nicht, es sei ein Einbrecher gewesen?“
Marie wandte sich noch einmal für einen Moment an mich. „Nein, deine Mutter hat ganz bestimmt keine Beschwörung gemacht. Erstens, hätte ein Nephilim die Anwesenheit im Haus gespürt, zweitens befanden sich unten keine Zeichnungen oder Kräuter.“ Dann widmete sie sich völlig Pastor Marcus, welcher so wirkte, als würde er jeden Moment einem Herzinfarkt erliegen.
Gut. Also auch keine Beschwörung im Gemeinschaftsbereich unten. Was jedoch die Möglichkeiten weiter einschränkte... Vielleicht... Aber nur vielleicht, war meine Mutter überhaupt nicht mit einem Dämon in Kontakt gewesen, sondern einem Engel, welcher zusammen mit ihr über mich wachte? Eventuell war es ihm nicht recht gewesen, dass meine Mom ausgerechnet mich, den Spross von Luzifer selbst, zurück in die >große glückliche< Familie führt, wo ich möglicherweise beeinflusst werde, doch noch die Welt auf den Kopf zu stellen... Oder was auch immer man sich von mir versprach?
Ich seufzte tief. Pastor Marcus murmelte etwas davon, dass er etwas frische Luft bräuchte und Marie lief ihm hinterher, vermutlich um ihn zu trösten. Ich persönlich fand es schön, zu wissen, dass meine Mutter jemanden, selbst nach all der Zeit, welche sie schon Abstand gewahrt hatte, noch immer so viel bedeutete.
Mein Blick fiel auf die Tasche zu meiner rechten. Ich hatte auf den Stuhl dort die Tasche abgelegt und fasste nun den bunten Einband ins Auge. Mit zittrigen Fingern schob ich die beiden, jeweils tausend Seiten dicken Wälzer zur Seite und legte das Tagebuch nun zwischen sie. Im Gegensatz zu den ledergebundenen Büchern, wirkte dieses richtig farbenprächtig und modern. Vielleicht aus den neunzigern? Achtzigern? Dann hätte sie es jedoch vor meiner Geburt noch begonnen. Gab es solche Tagebücher damals überhaupt bereits, oder war das Motiv einfach nur aus einer Laune heraus gewählt worden? Ich fingerte an dem winzigen Schloss herum, welches man vermutlich, mit etwas Gewalt, bestimmt sogar abbrechen könnte...
Und wenn... Fragte ich mich innerlich. Was, wenn mir dieses Tagebuch Aufschluss bot? Wenn es mir sogar einen Hinweis geben könnte, wer ihr Mörder war? Weder ihre Freundinnen, noch weniger die anderen Nephilim hatten einen Grund dazu ihr etwas anzutun. Ergo konnte es bloß ein Monster aus ihrer Vergangenheit sein... Mit etwas Glück...
„Das Tagebuch deiner Mutter...“ Erschrocken wollte ich es zurück in die Tasche stecken, als mir bewusst wurde, was Pastor Marcus da gesagt hatte...
Mit großen Augen blickte ich zu ihm hoch und schob es zurück auf den Tisch. „Sie haben es schon einmal gesehen?“
Er schmunzelte. „Einmal? Deine Mutter hatte es immer dabei, wenn sie sich mit meinem Vater traf oder studierte. Ich habe sie oft darin Schreiben gesehen, doch sie ließ niemals jemanden nahe genug kommen, um einen Blick darauf werfen zu können. Es war ihr... persönlicher Schatz, wenn du so möchtest.“
Mein Herz klopfte mir förmlich aus der Brust. „S-Sie hat es also schon seit Jahrzehnten bei sich? Es... Es ist bestimmt nicht neu, oder so?“ Man konnte kaum beschreiben, wie erleichtert und aufgeregt ich mich zur gleichen Zeit fühlte!
Er lächelte sanft. „Darf ich... es bloß anfassen?“ Bat er, nachdem er entschieden den Kopf geschüttelt hatte.
Ich schob es über den Tisch auf ihn zu, doch Pastor Marcus Hände zitterten noch viel mehr, als die meinen. Seine geröteten Augen starrten voller Sehnsucht auf das Buch, als wäre es das Letzte, was ihm noch aus seiner Vergangenheit geblieben war.
„Zweifellos. Es ist dasselbe...Siehst du die Abnutzungsspuren hier? Das kommt davon, weil sie es so oft aufgeschlagen hat. Bestimmt ist es an diversen Seiten sogar geklebt, wie ich Edna kenne... kannte.“ Besserte er sich räuspernd aus.
Ich schnaubte. „Tatsächlich? Mir hat sie immer gesagt, dass man kaputtes nicht reparieren kann, sondern einfach wegwerfen soll.“
„Klingt nicht nach der Edna, die ich mein gesamtes Leben lang gekannt habe.“
Ich nahm das Buch zurück und mein Herz krampfte. „Dann sind wir ja schon zwei. Meine Mutter hatte zweifellos verschiedene Leben... unabhängig voneinander.“
„Olive hat mir bereits erzählt, dass du nie etwas von ihnen erfahren hast. Wie fühlst du dich jetzt, da du weißt, was du alles... nun ja, was dir vorenthalten wurde?“
Ich musste nicht einmal aufblicken, um seinen forschenden Blick auf mir zu wissen. „Ich fühle mich... hintergangen und enttäuscht. Fast so, als wäre ich im falschen Film gelandet. Aber gleichzeitig... bewundere ich meine Mom dafür, was sie alles auf sich genommen hat. Was sie... für so ein kleines, zerbrechliches Leben geopfert hat. Das rechne ich ihr natürlich an. Trotzdem fühlt es sich an, als ob ich jede Woche eine neue Edna Blackbird kennen lernen würde.“ Zu allem Überfluss waren dann da auch noch diese neuen Fähigkeiten, die Gefallen die eingefordert werden müssen... und nicht zu vergessen... Gefühle.
Pastor Marcus räusperte sich. „Wusstest du, dass deine Mutter als Einzige dazu in der Lage gewesen war... eine Anrufung durchzuführen?“
Mein betrübter Blick zuckte von dem Buchumschlag hoch. „Wie bitte? Meine Mutter hat einen Engel beschworen?“
Er schmunzelte. „Mehr oder weniger. Es ist lediglich die lichte Erscheinung eines Engels, welche man beschwören kann. Sie haben es damals versucht, um zu erfahren, wessen Kinder sie in sich tragen. Niemand außer Edna gelang es und ihr ging es danach wochenlang schlecht.“
Interessiert lehnte ich mich vor. „Ernsthaft? Wi-Wie war das? Was hat der Engel gesagt?“
Um meine Euphorie zu stoppen, hob Pastor Marcus eine Hand. „Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, Haylee. Der Engel nannte ihnen weder seinen Namen, noch gab er sonst etwas Preis. Er sagte bloß, von welchen Engeln eure Mütter empfangen hatten und erzählte von den Tugenden, welchen vier von ihnen verfallen waren. Zu mehr äußerte er sich nicht, um nicht in den Lauf der Zeit einzugreifen.“
Enttäuscht sank ich zurück, jedoch nicht, ohne erneut das Buch zwischen meinen Händen zu halten. Blöde Engel! Blöde Unwissenheit... Ich stockte. „Woher wussten die Mütter dann, wer welches Kind austrug?“
Der Pastor räusperte sich. „Das ist... etwas, dass wir von Odette wissen. Sie trug das Kind von Uriel in sich...“
„Der Prophet!“ Erinnerte ich mich an den Textausschnitt, wo gestanden hatte, dass er von Zeit zur Zeit auch für Prophezeiungen sorgte.
„Genau. Odette sah damals... dich über Lucy´s Leiche stehen... Mit einem blutigen Schwert in der Hand und dass du auf Calyle losgehst.“ Ich ließ beinahe das Tagebuch fallen. „Nicht aufregen!“ Gebot Pastor Marcus! „Zu dieser Zeit währt ihr erst dreizehn, oder so gewesen. Also genau dann, als eure Mächte erwacht sind. Dadurch, dass ihr jedoch nicht zusammen aufgewachsen seit, konnten sich natürlich auch keine Bindungen knüpfen und... zu diversen Sachen führen.“
Mein Herz stach wie verrückt. Das war doch nicht sein Ernst, richtig? Ich sollte Lucy erstochen haben und danach auf Calyle losgehen? Das klang so gar nicht nach mir! „Me-Mehr nicht? Vielleicht sah es bloß so aus? Möglicherweise...“
Pastor Marcus unterbrach meine Rechtfertigungen. „Haylee, alles ist Gut! Es ist niemals passiert, also musst du dich natürlich auch für nichts rechtfertigen!“ Ich dachte an die liebe, etwas missverstandene Lucy! Sie war so nett, klug und einfühlsam. Wie könnte ich ihr jemals, in einem anderen Leben, etwas antun?
Ich warf das Tagebuch hin und rieb mir durch das Gesicht. Pastor Marcus hatte ja recht! Dieses Geschehen lag in der Vergangenheit. Nein, noch besser! Meine Mutter hatte es erst gar nicht dazu kommen lassen! Noch etwas wofür ich ihr, abgesehen von den vielen Traumata, dankbar sein sollte. „O-Okay, Sie haben recht. Es ist nicht passiert... Und wird auch nie. Lucy und ich haben den Engelsmodus bereits mehrfach geteilt! Sie würde mir genauso wenig schaden, wie ich es könnte!“
Er nickte wissend. „Natürlich könntet ihr das nicht... Was ist das?“ Sein Blick fiel auf etwas, was nun aus dem Tagebuch heraus ragte. Es musste bei meinem Wurf damit, hinauf gerutscht sein. Ich nahm es wieder in die Hand und zog... ein Kuvert hervor.
Für einen Moment wechselte ich einen fragenden Blick mit Pastor Marcus, ehe er sich umwandte. „Entschuldige, ich lasse dich damit alleine uns sehe nach, wie weit Marie mit den Häppchen ist. Ruf einfach, wenn du uns brauchst.“
Der Pastor war schon auf der Ersten Treppe, als ich den Namen las, welcher auf dem Kuvert mit der Handschrift meiner Mutter eingeprägt war. „Marcus?“
„Ja?“ Kam es von hinter mir. Ich stand ebenfalls auf und ging auf den Pastor zu. Ohne zu zögern, übergab ich ihm den Brief. „E-Er ist für... mich?“

XVI - Michael´s Fluch

„Autsch...“ Murmelte ich vollkommen erschöpft, als ich in das leere Zimmer von Lucy kam.
Nur mit der erschreckenden Erkenntnis, dass ich nicht alleine gewesen bin! „Lucy hat es mir bereits erzählt. Ihre Mutter war bei dir und Pastor Marcus.“
Ich konnte noch gerade so einen Schrei verhindern, als ich das kleine Nachtlicht am Schreibtisch anmachte und plötzlich Calyle vor mir stand. Neben ihm und um ihn herum, lagen einige Blätter am Boden. Verlegen stammelnd, hob er sie auf. „Entschuldige... Wenn man sich in einen Raum teleportiert, erzeugt man immer eine kleine Druckwelle.“ Rechtfertigte er sich, während ich an mein wild klopfendes Herz fasste.
„Gott Calyle! Wäre ich es nicht bereits gewohnt, dass hin und wieder mal jemand in unsere Wohnung einbricht, wäre ich gerade eben wirklich tot umgefallen!“ Keifte ich, bloß um einen Moment später, mit einem gezogenen Schmollmund dazustehen. „Was suchst du hier eigentlich?“
Er lächelte im Halbdunklen in meine Richtung. „Na was denn wohl?“ Langsam kam Calyle auf mich zu und streichelte mit den Handflächen über meine Arme zu meiner Taille. „Ich habe Ausschau nach dem Auto meiner Mutter oder dem von Odette gehalten. Als ich gesehen habe, dass ihr beide hier rein seit, bin ich schnell in Lucy´s Zimmer gehuscht...“ Er beugte sich hinab. „...um mir ein bisschen Glück für heute Nacht abzuholen.“
Mein Gesicht wurde ganz rot, aufgrund seiner schmeichelnden Worte. „Nun ja... Vielleicht kann ich dir ja noch mal verzeihen...“ Bot ich schelmisch an, dann lagen auch bereits Calyle´s Lippen auf meinen. Gierig stahl er mir einen Kuss nach dem anderen, zog mich fest in seine Arme und knabberte fordernd an meiner Lippe, als ich den Mund nicht schnell genug für seine kämpferische Zunge öffnete.
Als Calyle sich zurückzog, klopfte mein Herz wie verrückt und meine Beine bestanden bloß noch aus Pudding! „Huch...“ Staunte ich. Alles drehte sich, aufgrund dessen, dass ich vergessen hatte auch mal nach Luft zu schnappen. „Ich glaube, du hast dir eben sämtliches Glück von mir gestohlen.“
Er schmunzelte selbstzufrieden und ging rückwärts zum Sofa, auf welchem ich immer schlief. „Oh, ich glaube da ist noch ein wenig.“ Meinte er und küsste mich auf die Wange. „Und hier.“ Er küsste die Wölbung meines Unterkiefers. „Und hier.“ Ohne es zu bemerken, zog Calyle mich über seinen Schoß und begann meinen Hals zu liebkosen. Seine Hände fuhren tastend über meinen blanken Rücken, während mein Kopf begann sich erneut auszuklinken. Ich war praktisch willenlos in Calyle´s Armen...
Seufzend vergrub ich meine Finger in seinem lockeren Zopf, nahm seinen einzigartigen Geruch tief in mir auf. Er trug etwas Herbes an sich. Etwas, dass ich bei Adam niemals wahrgenommen hatte. Calyle´s warmer Körper fühlte sich auch so gut an. Nachdem ich den ganzen Tag in dem Keller unter der Kirche gefröstelt hatte, war die Hitze, welche meine Haut nun überzog, wahrlich angenehm. Calyle gab sich auch redlichst Mühe, meinem völlig überforderten Kopf eine Pause zu gönnen, während wir nebeneinander auf das ausgezogene Sofa sanken und einfach bloß die Nähe des anderen genossen.
„Musst du nicht irgendwo hin?“ Erkundigte ich mich, als Calyle´s Finger neckisch über meinen Bauch kitzelten.
„Die können warten.“ Murmelte er an meinen Lippen, als könne er überhaupt nicht genug bekommen. „Außerdem habe ich noch eine Stunde, bis zu meiner Wache...“ Fuhr er fort und sein Daumen fuhr, mit einem Mal, unerwartet nahe an meinem BH vorbei. „Bis dahin erwartet mich niemand, irgendwo.“ Seine Hand rutschte höher. Ich versteifte mich zwar, doch wusste genau, was nun passieren würde. Calyle war natürlich nicht der Erste, der meine Brüste anfasste. Adam hatte es bereits getan. Und ein Junge in einer Disko ebenfalls, als ich vollkommen betrunken gewesen war. Doch im Moment war ich nicht betrunken... Und Calyle war nicht mein fester Freund... „Was bedeutet, dass ich für so gut wie alles zu haben bin.“ Calyle´s Lippen fanden erneut die meinen.
Es waren doch bloß Brüste, nicht wahr? Wieso zierte ich mich also großartig? Ich wusste ja, dass es sich gut anfühlen würde, wenn sie jemand berührte und massierte.
Als ich nicht zurückschreckte, legte Calyle seine Handfläche über meine rechte Brust und umfasste diese. Ein Schauder lief über meinen Rücken, als er den Saum tiefer zog und dem frei werdenden Bereich mit den Lippen folgte. Jeder neue Kuss brannte auf der sonst gut verdeckten Haut... und der Nebel in meinem Kopf verschwand schlagartig, noch ehe seine Zunge meinen Nippel erreichen konnte. Räuspernd befreite ich mich von Calyle und schlug verlegen mein wirr gewordenes Haar zurück. „Ä-Ähm... Tut... Tut mir leid, Calyle... Es tut mir wirklich leid.“ Stammelte ich verlegen und hoffte sehr, dass er es mir nicht allzu sehr übel nehmen würde.
Das Poltern in meinem Herzen verging, der Nebel verzog sich und zurückblieb Scham und eine große Unsicherheit. Wieso schämte ich mich denn, zum Teufel noch eins?
Ich bin achtzehn... Nein, eigentlich noch siebzehn, aber wen interessierte das schon? Calyle war unfassbar scharf, er begehrte meinen Körper und war so einfühlsam, dass es beinahe einem Traum glich.
„He... Haylee?“ Sanft zog er den Arm aus meinem Gesicht, welchen ich mir vorgehalten hatte. „Was hast du?“ Fragte er, mit so viel Sorge im Gesicht, dass ich mich gleich noch schlechter fühlte. Oh Calyle...
Ja, was hatte ich denn? Wir hatten ja bloß herum gemacht. Ich musste nicht mit ihm schlafen, bloß weil er an meinen Brüsten herum kaute! Blöd gesagt, aber es ist doch so. Ich wollte ihn küssen, ihn bei mir wissen und von Calyle im Arm gehalten werden. Seine Stimme war so sanft, dass ich dabei mühelos in den Schlaf gleiten konnte, wissend, er würde über mir wachen. Sein Körper war so... so schön, perfekt... herrlich!
Aber trotzdem... Ich fühlte mich aus irgendeinem Grund schuldig. Weshalb fühlte ich mich denn schuldig? Ohne zweifel... ich empfand etwas für Calyle. Er empfand etwas für mich und wir waren über ein mystisches Engelsband für einander bestimmt.
Was also zur Hölle, stimmte nicht mit mir?
„I-Ich weiß nicht... E-Es ist einfach so viel los zurzeit und...“
Er lächelte liebevoll und zog mich in eine Umarmung. „Schon gut, Haylee. Wenn du dich bloß mit mir hierher legen möchtest und kuscheln, dann machen wir das.“ Versprach er, während er meinen Scheitel küsste.
„Es tut mir wirklich leid, Calyle... Ich weiß selbst nicht, wieso ich plötzlich... weg bin.“
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Macht nichts. Wenn du nicht geküsst werden willst, dann überlasse ich dir gerne das Spielfeld.“ Zog er mich plötzlich auf und ich musste wieder lachen. Die Anspannung in meinem Körper fiel und ich konnte ihm endlich wieder ins Gesicht sehen.
„Ach, ja? Und wieso denkst du, dass ich dich küssen wollen würde?“ Stichelte ich sofort.
Zufrieden lächelnd, streichelte er mein Haar zur Seite. „Ich weiß nicht...“ Sein Zeigefinger tippte auf meine, von den Küssen, geschwollenen Lippen. „...es steht dir einfach ins Gesicht geschrieben, wie sehr du mich küssen willst.“
Ich lachte heiter. „Ja, ja. Du weißt schon, was man über große Egos sagt?“
Empört kniff er mich in die Wange. „Jetzt wirst du frech auch noch? Und das nachdem ich dir meinen göttlichen Körper quasi...“ Er sah sich um. „...auf der Klappcouch präsentiere?“ Wir beide lachten und küssten uns wieder.
Calyle war einfach einmalig. Eben noch hatte ich seine Nähe zurückgewiesen, nun ließ er mich dies scherzend vergessen. So etwas hatte ich wirklich dringend gebraucht.
Nicht bloß einen Kerl, der attraktiv war, wie Adam, oder zum Anbeten, wie Calyle... Nein, dieses Geplänkel berührte mich auf eine gar andere Weise. Auf eine die mir Sicherheit und Nähe garantierte. Jemanden, der für mich da war und auf mich achtete, auch wenn ich das überhaupt nicht benötigte. Jemanden... für mein Seelenheil.

 

- - - - -

 

Ich wurde jäh aus dem Schlaf gerissen, als jemand fluchend gegen etwas Hartes polterte. Ich tippte schwer auf das Regal, direkt neben der Zimmertüre. Olympia fluchte so laut, wobei sie eigentlich versuchte, so wenig Krach wie möglich zu verursachen, dass sogar Lucy aus ihrem schnarchenden Schlaf gerissen wurde und grunzend hoch fuhr. Normalerweise, wenn sie mal wieder schnarchte, nahm sie dagegen etwas, das sie sich in die Nasenlöcher steckte und ziemlich witzig aussah. Leider hatte sie es gegen ein Uhr morgens, nicht finden können und war außerdem viel zu erschöpft gewesen.
Nun saßen wir beide aufrecht im Bett und rieben unsere Augen. „´tschuldigung!“ Zischte Olympia und sank auf die Luftmatratze.
Mein Blick fiel auf die Uhr. Sechs Uhr morgens... das bedeutete, dass die Dämonen, bereits seit eineinhalb Stunden untergetaucht waren. „Du bist spät.“ Nun schielte auch Lucy auf die Uhr.
„Stimmt, wo warst du so lange?“
„Mann! Ich bin achtzehn, Mama und Papa! Jetzt lasst mich schlafen!“ Keifte Olympia, gereizt von ihrer eigenen Erschöpfung und der Tatsache, dass ihre Zehe fürchterlich pulsieren musste.
„Magst du das Sofa haben?“ Bot ich an und reckte mich ausgiebig.
Für einen Moment blickte Olympia auf, doch ließ ihren Kopf dann murrend wieder auf dem Kopfpolster fallen. „Nur wenn du mich hinauf hebst.“ Mehr bekam ich nicht mehr, denn sie musste eingeschlafen sein. Schmunzelnd wechselte ich einen wissenden Blick mit Lucy. Sie jedoch dachte noch lange nicht daran, aufzustehen, sondern legte sich wieder hin und zog die Decke über den Kopf. Ich selbst tapste Barfuß ins Bad, wo noch meine Kleidung von gestern lag. Odette tat mir ein wenig leid, dass sie hinter vier unordentlichen Mädchen andauernd hinterher räumen musste, wenngleich sie sich dazu in den letzten Tagen noch nicht geäußert hatte. Während ich also nun meine Zähne putzte, hob ich mit meinen nackten Zehen ein Kleidungsstück nach dem anderen auf und warf es kurzerhand in den offenen Wäschekorb. Um sechs Uhr morgens zählte ich das bereits zu Morgenyoga! Das sollte so ziemlich an Sport für diesen Tag reichen. Nachdem ich mich gebürstet und umgezogen hatte, wusch ich noch das fleckig gewordene Waschbecken aus, sortierte Lucy´s Arsenal aus Nagellack, stopfte Olympia´s Badezimmerartikel zurück in das Täschchen und wischte noch einmal mit dem letzten Waschlappen über die Oberflächen, bis es sauber wirkte. Danach warf ich auch diesen in den Wäschekorb und schloss den Deckel.
„Meine gute Tat für heute.“ Lobte ich mich selbst, wenngleich mir bewusst war, dass meine Mühe umsonst gewesen war, sobald Lucy und Olympia das Bad betraten. Zurück in Lucy´s Schlafzimmer fand ich Olympia tatsächlich auf der bequemen, ausziehbaren Couch vor! Lächelnd schnappte ich mir das Tagebuch meiner Mutter und marschierte hinunter ins Erdgeschoss. Natürlich so leise, wie es mir möglich war. Dort angelte ich die Mandelmilch aus dem Kühlschrank, schnappte mir das Müsli, welches ich mir letztens hatte aussuchen dürfen und nahm dann beim großen Esstisch platz.
Seltsam wie ruhig das Haus war, wenn alle noch schliefen... Normalerweise hörte man das Tippen der Tastatur in Odette´s Arbeitszimmer. Olympia´s Gemecker oder Lucy, die irgendeine fröhliche Musik vor sich hin summte. Oft gingen auch andere hier ein und aus, als wohnten sie hier. Sogar Lysander und Tyrone, welche eigentlich die restliche Zeit des Jahres, Stunden entfernt von hier verbrachten!
Ob sich wohl meine Mom hier genauso wohl gefühlt hätte, wie ich? An eine große glückliche Familie hatte ich niemals zu denken gewagt. Es hatte immer Mama und mich gegeben. Nun blieb mir bloß ihr Tagebuch... Und eine Wohnung voller wertlosem Kram! Was hätte sie wohlgewollt, dass ich tue? Sollte ich tatsächlich umziehen? Studieren? Arbeiten?
Ich weiß, die Bedrohung der Dämonen war wesentlich schlimmer, doch in diesem Moment konnte ich an nichts anderes als dieses verfluchte Tagebuch denken. Etwas... in meinem Inneren drängte mich, es so schnell zu öffnen, wie ich konnte, nun da, meine Zweifel zerstört waren, dass ich Kauderwelsch darin finden könnte.
Pastor Marcus war gestern weinend zusammen gebrochen, nachdem er seinen Brief gelesen hatte. Doch das Lächeln, welches er dabei im Gesicht getragen hatte, hatte ihn glatt ein wenig wahnsinnig wirken lassen. Wer lachte denn schon, wenn er unfassbar traurig war?
Wenig später hatte er es mir dann erklärt. Er hatte mir anvertraut, dass Edna ihm liebevolle Zeilen hinterlassen hatte und ihn gleichzeitig versuchte aufzuheitern, da sie wusste, wie schwer ihn dieser Verlust treffen würde. Sie hatte ihn so gut gekannt und doch nicht genug vertraut, um ihm ihr Geheimnis anzuvertrauen. Aber gut, was hätte sie ihm schon sagen sollen? Dass sie wegging, um ihr Kind heimlich aufzuziehen. Das war vor achtzehn Jahren gewesen. Und Marcus längst in einer eingegangenen Ehe mit zwei tollen Söhnen. Trotzdem hatte es beide zueinander hingezogen... Wie Calyle und mich.
Ich fühlte, dass da etwas zwischen uns war. Eine Verbindung, welche ich zu keinem anderen fühlte, außer vielleicht zu Lucy und Olympia. Ja! Verrückt, nicht? Lucy mochte ich, aufgrund ihrer Art. Nun da ich Olympia besser kannte und sie mich nicht mehr dafür hasste, dass sich etwas zwischen Calyle und mir entwickelt hatte, kamen wir beide auch viel besser miteinander klar, wenngleich sie alle anderen von sich fort biss.
Seufzend steckte ich einen Löffel mit Müsli in meinen Mund, ehe ich die Schüssel zur Seite schob und das Tagebuch an dessen Platz legte. Es war so weit. Nun würde ich in das Tagebuch meiner Mutter blicken und herausfinden, was vor all dem Wahnsinn in ihrem Kopf vorgegangen war. Vor den Tabletten...
Ich steckte den goldenen Schlüssel, in das ebenso goldene Schloss und es öffnete sich mit einem leisen Knacken. Danach fiel der gespannte Riegel ab und ich konnte es endlich öffnen.
Nein, zuerst brauchte ich noch einen Löffel Müsli im Mund! Hastig steckte ich noch einen hinterher, darauf bedacht, nicht zu patzen, und schlug die erste Seite auf. Natürlich war es bloß das Deckblatt, welches meine Mom mit ihrem Namen versehen hatte. Für einen Moment wollte ich mir gegen die Stirn schlagen, für meine unnötigen Ängste, doch tat es nicht, sondern schluckte lieber. Ich blätterte weiter und fand lediglich Stichwörter... Namen von Engeln mit seltsamen Zeichen dahinter, ehe sie weitere Stichwörter anfügte. Dann ein Strich, der nächste Name eines Engels. Ein Zeichen, Stichwörter... Ha... Nicht unbedingt das, was ich erwartet hatte.
Ich blätterte zirka sieben Seiten weiter, dann begann dasselbe Spiel, nur mit Dämonen, neben dessen Namen Kreise mit Zeichen beigefügt waren... Dazwischen Materiallisten...
Frustriert schlug ich das Buch wieder zu! Also wirklich! Konnte meine Mutter nicht einmal normal sein und einfach ihre Gedanken festhalten? Doch, halt! Was hatte Pastor Marcus gesagt? Meine Mutter hatte damals studierend über den Büchern gesessen, sich Notizen gemacht und niemanden einsehen lassen? Natürlich, das ergab klarerweise Sinn! Selbstverständlich konnte ich dann nichts anderes, als Beschwörungsformeln und ihr Wissen über Engel finden. Was hatte ich großartig erwartet? Es war ihr persönliches Lexikon... Nur in kurz und ohne Hintergrundgeschichten.
Ärgerlich kaute ich auf dem nächsten Schub Müsli herum, bis ich das Gefühl hatte Zahnmehl vor Frust dazu zu mischen.
„Ach, was! Positiv denken, Haylee! Wenigstens sind es keine Zockernotizen.“ Stichelte ich an mich selbst, nur um daraufhin, wieder etwas in meinen Mund zu stopfen. All die Gedanken, welche ich mir gemacht hatte, um dieses verdammte Tagebuch... nein, all die Hoffnungen! Ich hatte doch, trotz besseren Wissens, die Hoffnung gehabt, dass meine Mom mir noch irgendwelche, tröstlichen letzte Worte hinterlassen würde. Irgendetwas, dass mir bestätigte, was ich doch wusste. Dass sie für mich gesorgt habe, mich liebe, immer an meiner Seite wäre... Einfach typische Klischees... Nur... Klischees hatte ich hören wollen. Doch stattdessen hatte sie mir ein Tagebuch voller Notizen hinterlassen, über Bücher, die ich doch ohnehin bereits grob überflogen hatte... Die ich... gestern überflogen habe...
Ich stockte.
Meine Mom hatte noch vor meiner Geburt Notizen für mich angefertigt, obwohl es ihre Absicht gewesen war, mich umzubringen... Nein, das passte so überhaupt nicht ins Bild! Alle waren felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ich, als Luzifers Tochter noch im Babybett ausgelöscht werden sollte, um schlimmstes zu verhindern. Nur... weshalb sollte eine Mutter, die doch vor hatte, ihr Kind umzubringen, ein Buch hinterlassen, mit Notizen über Dämonen und Engel? Das ergab so doch überhaupt keinen Sinn! Außerdem musste sie das Jahr vor meiner Geburt gemacht haben. Marcus hatte doch selbst gesagt, er wäre noch klein gewesen... Und damals... Ob sie es zu dieser Zeit bereits gewusst hatte?
Nun schlug ich das Tagebuch doch wieder auf. Erneut bewunderte ich den schönen, wohl geschlungenen Namen meiner Mutter. Edna... Hastig blätterte ich weiter zu den vielen Notizen. Ich laß gut zwei Dutzend Namen von Engeln heraus. Einige davon kannte ich, andere waren mir völlig unbekannt. Natürlich waren die großen acht auch dabei! Bei den Dämonen hingegen, häuften sich die Notizen, weshalb weniger Platz für Namen geblieben war. Außerdem waren da noch die Zeichnungen, welche gerade groß genug waren, um sämtliche Zeichen und Markierungen zu erkennen, doch so klein, um nicht den ganzen Platz wegzunehmen, wie in den wesentlich größeren Büchern unter der Kirche. Ich blätterte und blätterte, bis ich fand, worauf ich gehofft hatte!

 

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Liebste Haylee,
es ist das erste Mal, dass ich deinen Namen schreibe. Er besitzt einen wohligen Klang, wenn ich ihn laut ausspreche, ohne dabei die Stärke, welche darin steckt, zu untergraben. Mittlerweile musst du ja bereits ein erwachsenes Mädchen sein, doch mein kleiner Engel, bleibst du selbst, wenn ich nicht mehr da bin. Ich weiß, dass ich deinen Aufstieg nicht mehr erleben werde. Entweder erliege ich dem Fluch von Michael, oder mir geschieht etwas, ehe ich dich aufklären kann. Nun will ich aber meine Gedanken festhalten, ehe sie beginnen zu zerfallen. Dein Vater hatte recht damit, dich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Du bist etwas ganz Besonderes. Etwas Einzigartiges. Ein Nephilim, welcher nur im göttlichen Glanz erwacht. So etwas gab es noch nie! Er sagte, du würdest für etwas Unglaubliches geboren sein. Nur was es sein mag, weiß ich noch nicht. Ich werde es auch niemals wissen. Zudem sagte mir Raphael, dass wenn die Zeit gekommen sei, würde er mir einen Freund schicken. Jemanden, der zusammen mit mir, deine kleine Seele beschützt und dein Leuchten versteckt. Die anderen Nephilim würden dich sonst vielleicht aufspüren, was unter anderem, auch der Grund ist, weshalb ich tue, was ich tun muss. Du musst unerschrocken und stark werden, Haylee! Uriel sah, dass du ein neues Zeitalter einläuten würdest. Eines, in welchem wir zwar ohne Dämonen leben können, doch die Engel fallen werden. Luzifer´s Kind wird versuchen, das zu verhindern. Wenn es so kommt, wie Uriel es gesehen hat, wirst du das Erbe deines Vaters fortführen und für den Erhalt der Menschen kämpfen.
Ich weiß, die Menschen haben vieles falsch gemacht und dafür kann man unmöglich ausschließlich die Dämonen schuldig sprechen! Trotzdem ist es unfair, dass wir unter der Eitelkeit der Engel leiden sollen oder dem Hochmut der Dämonen. Es ist seit jeher ihr Kampf, doch unsere Welt ist ihr Schlachtfeld. Hältst du das für fair? Ich nicht.
Natürlich kannst du dich auch heraus halten, Liebes. Ich werde dich dem allen vorenthalten, so lange ich kann, doch irgendwann ist auch meine Zeit gekommen. Im Gegensatz zu den anderen Nephilimmütter, kann ich nicht so lange leben.
Ich erinnere mich nämlich, musst du wissen. Michael schenkte mir die Möglichkeit, den Prozess der Empfängnis zu behalten, so wie alles andere, was er mir davor erzählt hatte. Nur würde ich dafür nun höchstens zwanzig Jahre nach deiner Geburt bei dir sein können. Ist es denn schon so weit, mein Engel? Bist du bereits zwanzig geworden? Oder durfte ich noch länger bei dir sein? Ich wünschte, ich wüsste es jetzt bereits, doch du musst wissen, dass ich dich mehr liebe, als alle Leben, die ich in Unwissenheit hätte leben dürfen. Für mich ist kein Platz frei im Himmel. Aber die Hölle sei auch nicht für mich geplant. Was das heißt, kann dir lediglich Raphael´s engster Vertrauter sagen. Er sagte, dessen Name sei Luphriam Urok aus der Ceberus Erblinie. Einem starken Geschlecht, welches dem obersten Herrscher der Hölle direkt unterstellt ist. Hab keine Angst, nur weil er ein Dämon ist. Wie gesagt. Nicht alle Menschen sind schlecht, nicht alle Engel überheblich, oder alle Dämonen hochmütig. Daran möchte ich bis zu meinem letzten Atemzug unbedingt glauben! Ich muss daran glauben, denn wenn ich es nicht täte, könnte ich auch nicht glauben, dass du gut seist. Und du bist gut, Liebes! Dein Licht lodert vielleicht nicht so stark, wie das von Luzifer´s Nachkommen, doch du besitzt ein Licht, auf welches er immer neidisch sein wird. Wie Luzifer auf Michael eifersüchtig war. Er wollte dessen Licht auf seiner Seite wissen. Schulter an Schulter mit seinem Vertrauten kämpfen, doch Michael konnte nicht dabei zusehen, wie sein eigener Bruder eine Spezies auslöscht, bloß weil sie im Weg ist. Die Engel mussten sich spalten, doch ich hoffe, die Generationen nach ihnen, wissen es besser.
Sollte es nun also soweit sein und du dieses Tagebuch in die Finger bekommen, bitte ich dich, es irgendwie zu meiner alten Freundin Olive McBird zu schaffen! Ihre Adresse findest du in meinem Telefonbuch. Sie und die anderen Mütter, sind Jahrzehnte lang nun meine Familie gewesen. So sollen sie nun dir denselben Respekt erweisen und auf dich achten, dich führen! Nur bei Luzifer´s Kind sei vorsichtig. Egal was es geplant hat... Lass es weiterhin denken, du seist unwissend. Lass es keinen Verdacht hegen, denn es wird versuchen dich an seiner Seite zu wissen, oder dich auslöschen. Deshalb ist auch besser so. Für alle von euch.
Pass auf dich auf. In Liebe, deine Mama.

 

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Michael´s Fluch... Er war also doch mein Vater? Was für ein Leuchten? Luzifer´s Kind... Ungläubig fasste ich an meinen Kopf und las es sogleich noch einmal. Ehrlich gesagt, hatte ich mir etwas ganz anderes erwartet. Die letzten Worte meiner Mom... sollten nicht so sein! Vielleicht hätte mir doch ihr letzter verrückter Kauderwelsch besser behagt, als diese Offenbarung. Doch egal, wie oft ich es noch durchlas... Meine Mutter war zu dieser Zeit noch nicht verrückt gewesen. Sie wollte nicht, dass ich die Mission der Kirche zu ende bringe... Ihr Wunsch war es, dass ich mich entweder Luzifer stelle, oder...
„Was haben wir bei dir zuhause zu suchen?“ Erschrocken entdeckte ich Olympia am Fuß der Treppe, welche hinauf in Lucy´s Zimmer führte. Sie rieb sich die Stirn, als würde dahinter ein ganzes Umspannwerk wüten, während sie gegen die hellen Strahlen der Sonne anblinzelte. Hektisch schlug ich das Buch meiner Mutter zu und befestigte den Verschluss.
„W-Was meinst du? Wir sind bei Odette.“
Gähnend winkte sie ab und kam tapsend auf den Küchentisch zu. „Das ist schon klar. Lucy hat mir eben eine Vision übertragen, in welcher wir beide bei dir zuhause sind.“
„Woher willst du wissen, dass es bei mir zuhause ist? U-Und weshalb sollte ich dorthin mit nehmen?“
Sie warf unwissend die Arme in die Luft. „Was weiß ich? Eben träume ich noch total schön, dann habe ich Lucy´s verschwitzte Hand an meiner Wange und meine Hirnzellen brennen wie verrückt!“ Keifte sie zurück. „Also spuck es schon aus! Was hast du vor?“
Ich betrachtete das Buch, welches ich schützend unter meinen verschränkten Armen versteckt hatte. Schwer schluckend fasste ich mir ein Herz und gab nach. Mein Schicksal war es also fortzulaufen? Aber weshalb sollte ich dann Olympia mit mir nehmen? Sie war doch ein Kind der gefallenen Engeln... Vielleicht sogar die Tochter von Luzifer? So wie sie sich verhielt, konnte ich es kaum verdenken, also... lief ich gar nicht fort, sondern... lieferte ich mich ihr aus? War es das, was Lucy gesehen hatte? Nur wie sollte ich in einem Kampf gegen die erprobte Olympia gewinnen?
Mama... wenn du nur jetzt bei mir wärst! Michael? Was ist mit dir, willst du mir überhaupt keinen Hinweis geben?
Ich öffnete den Mund, doch was heraus kam, war nicht unbedingt das, was ich hatte antworten wollen. „Du musst mir zeigen, wie wir uns dorthin teleportieren können. Noch heute Nacht.“
Olympia zeigte mir ungläubig den Vogel. „Sag mal, bei dir tickt es ja nicht mehr richtig.“
Ich war selbst völlig verblüfft, doch spürte, dass es das Richtige so war. „Bitte Olympia!“ Ich sprang auf und nahm ihre Hände in meine. „Bitte, bitte! Es ist wichtig. Ich... Ich weiß nicht wieso, aber wir müssen heute Abend dort sein. Und wenn Lucy es gesehen hat, dann wird es wichtig sein!“
Olympia hielt einen langen Moment die Luft ein, während sie mir unwillig in die Augen blickte. Als sie schlussendlich die angehaltene Luft ausstieß, rollte ein „Na gut.“ Von ihrer Zunge. „Aber warum muss es unbedingt eine Teleportation sein? Wir können auch einfach Katya fragen, ob sie uns führt, oder meine... Ähm, irgendeine Mom eben. Meine ist ja nicht da.“ Murrte sie zum Schluss beleidigt. Offenbar kränkte sie die Tatsache immer noch, dass ihre Mutter ohne sie die Welt bereisen möchte.
Tröstend zog ich Olympia in eine spontane Umarmung, in welcher sie sich stark versteifte. Jedoch stieß sie mich auch nicht zurück! Das war ja schon einmal ein Anfang.
„Ich danke dir! Du bist die Beste.“
Murrend schob sie mich nun doch von sich. „Ja, ja. Aber auch nur so lange, ich das für dich mache, was du willst.“ Meinte sie abweisend, doch ohne ihre typische Spur an Bissigkeit in der Stimme.

XVII - Raphael´s Sünde

Sehr zu meinem Missfallen kamen Olympia und ich, bei der Übung, >wie teleportiere ich mich< nicht sonderlich weit. Ich weiß, sehr zweideutig und so war es auch auf jeden Fall gemeint. Weder schaffte ich es, mich zu teleportieren, noch hatte ich genügend Zeit, um zu üben. Abgesehen davon, dass Olympia einfach fürchterlich übermüdet war, nach ihrem halben stündlichen Schlaf, wachte Odette viel zu früh auf und wir mussten abbrechen. Einmal mehr zerrte sie mich nach dem Frühstück mit in den Untergrund der Kirche. Olympia selbst fiel wieder in mein >Bett<, während Lucy beteuerte, dass sie keine Ahnung davon hätte, eine Vision gehabt zu haben. Ich versprach ihr, später davon zu erzählen. Eins war immerhin gewiss. Lucy war definitiv nicht Luzifer´s Tochter! Was Olympia anging... etwas in mir zweifelte, doch einiges sprach dennoch für sie.
Unter der Kirche nutzte ich meine Chance und las mir die Geschichte zwischen Luzifer und Michael noch einmal genauer durch. Odette sah es völlig ein, dass es für mich wichtig war, den Grund meiner >Erschaffung< besser verstehen zu wollen.
Michael und Luzifer. Ein Herz und eine Seele. Grigori bestätigte, dass er selbst oft eifersüchtig auf das Band zwischen ihnen gewesen sei. Zwischen ihnen lief offensichtlich nichts Romantisches, sondern es war ein Band, wie man es zwischen Brüdern wiederfand. Natürlich waren alle Engel quasi... Geschwister. Zumindest wenn man der Bibel glauben wollte. Doch gerade Luzifer und Michael waren seit jeher unzertrennlich gewesen. Keiner tat einen Schritt ohne den anderen und sie konnten angeblich sogar ihre Gedanken miteinander teilen. Jeder von ihnen wusste, was der andere empfand, auch wenn sie sich nicht in der Nähe des anderen befanden.
Klang für mich stark nach dem Band, welches Katya und Tyrone zweifelsfrei verband. Auch ich fühlte mich stark zu Calyle hingezogen. So stark, dass ich an ihn dachte, wenn er nicht in meiner Nähe war. Ich fühlte Wärme in meinem Körper, wenn er mich berührte. Meine Gedanken verschwimmen in Nebel, wenn er mich küsst...
Ob Engel ebenfalls solche Verbindungen eingingen? Vielleicht... Verbindungen, welche viel purer waren? Über das körperliche hinaus gingen? Oder waren sie schlichtweg wie wir? Anfällig für Gefühle?
Grigori hatte es zumindest nicht so dargestellt, als sei zwischen den beiden Engeln irgendetwas Intimeres gelaufen. Langsam fragte ich mich wirklich, wer diese Engel interviewt hatte? Vor allem aber, wie glaubwürdig diese Quellen waren! Wie erkannte man, dass man mit einem Engel sprach? Weshalb sollten sie uns überhaupt ihre Geschichten anvertrauen? Ihre Legenden, genauer gesagt!
Wenn ich den geschäftigen Pastor Marcus darauf ansprach, hatte auch er keine wirklich hilfreiche Antwort für mich. Er predigte mir lediglich uralte Zeilen aus der Bibel, die mir Antwort genug sein mussten. Als ob!
In der Hoffnung, mehr Erfolg in dem dämonischen Teil der Buchsammlung zu haben, stöberte ich sogar dort eine ganze Weile lang. Jedoch gab es kaum Geschichten zu den einzelnen Dämonen und sie selbst schienen bloß nach ihrem Äußeren benannt zu sein. Natürlich stachen ein paar Fürsten wie Belial, Abaddon und etliche mehr heraus, doch näher beschrieben waren auch diese nicht.
Ob wohl einer von ihnen der Dämon war, welcher auf mich geachtet hatte? Und vor allem, weshalb sollte ein Dämon so etwas tun? Welchen Zweck hätte es, abgesehen davon, mich auf die >dunkle Seite< zu ziehen? Ich persönlich jedoch, fühlte mich ziemlich unbeeinflusst. Die >lichte Seite< jedoch reizte mich genauso wenig. Da war kein Sog, keine innere Stimme. Zumindest nicht andauernd... Olympia hatte, in meiner ersten Woche, nachdem ich mein eigenes Schwert geschmiedet hatte, zugegeben, dass auch sie die Stimme ihres Vaters gehört hätte. Langsam begann ich mich zu wundern, ob diese Verbindung vielleicht sogar in beide Richtungen möglich war? Immerhin hieß es doch, dass sie einen Teil von sich selbst, in uns hinterlassen hätten... Was auch immer das zu bedeuten hatte.
Kurz riskierte ich einen Blick zur Treppe, doch dort befand sich niemand. Ich war völlig alleine hier, inmitten eines quadratischen Raumes, umzingelt von Büchern und Stockbetten. „Michael? Hallo, kannst du mich hören?“ Flüsterte ich.
Natürlich geschah absolut nichts. Kein Flüstern, keine irritierenden Gefühle.
„Okay, ich weiß echt nicht, ob dein... Gedanken-beeinfluss-Dinges auch in die andere Richtung funktioniert... aber kannst mir bloß einen kleinen Tipp geben, wer in Wahrheit das Kind von deinem Bruder ist? Oder... Oder hast du vielleicht eine Ahnung, wer meine Mutter getötet hat?“
Was hatte ich denn erwartet? Einen warmen Luftzug? Eine Eingebung, oder gar einen ausführlichen Bericht darüber, was ich die letzten Jahrzehnte so verpasst hatte?
Enttäuscht stopfte ich das gezogene Buch wieder zurück an seinen angestammten Platz und fröstelte fürchterlich.
In der Hektik hatte ich wohl heute Morgen meine Weste vergessen, nun zitterte ich bereits ein wenig. Da ich ohnehin nichts lieber wollte, als eine lange Pause zu machen, stieg ich die Treppe hoch und lief dabei beinahe in Marie und Pastor Marcus hinein, welche sich angeregt unterhielten. Odette stand etwas abseits und tippte hektisch auf ihrem Handy herum. Als ich bemerkt wurde, herrschte schlagartig Stille.
„Haylee, Liebes!“ Begrüßte Marie mich überschwänglich. „Wie geht es dir dort unten? Fühlst du dich schon weiser?“ Scherzte sie, doch ich lächelte lediglich höflichkeitshalber.
„Ähm... Ja, klar. Alles gut. Ich will bloß ein bisschen frische Luft schnappen. Lasst euch von mir nicht weiter stören.“ Ich trat hastig den Rückzug an, denn egal was die drei in Aufruhr versetzt hatte... Ehrlich, ich hatte absolut keinen Nerv dafür. Nicht bloß, dass ich mich emotional völlig aufgewühlt fühlte, ließ mich das Gefühl nicht los, eingesperrt zu sein.
Es war ein wenig, wie eine Panikattacke, nur dass es mich fürchterlich fröstelte. Mein Herz sprang im Dreieck, mein Magen rumorte... Was stimmte da nicht?
Mit mehr Druck als nötig, schob ich die eine Seite der Türe auf und ließ sie hinter mir, krachend, zurück ins Schloss fallen. Augenblicklich ebbte das Gefühl ab und ich konnte so richtig tief durchatmen. Einmal... Zweimal...
Mit geschlossenen Augen, reckte ich meinen Kopf hoch und ließ mir die heiß herab brennende Sonne, mitten ins Gesicht scheinen. Die Panik verschwand. Mein Kopf begann sich wieder von meinen grüblerischen Gedanken zu erholen. Genau das war es, was ich gerade eben gebraucht hatte. Den klaren Himmel, die warme, erfrischende Luft und natürlich eine große Weite um mich herum...
Dann war das gute Gefühl mit einem Mal auch schon wieder fort...
Gegen die Helligkeit der Sonne anblinzelnd, öffnete ich die Augen wieder und überprüfte, ob das auch wirklich niemand gesehen hatte. Wieder ganz klar im Kopf, kam ich mir völlig idiotisch vor. Erst redete ich im Keller der Kirche mit einem Hirngespinst, danach stürme ich, gepackt von einer Panikattacke, aus dem Herz der Kirche. Leise lachend, fasste ich mir an den Kopf. „Wie dumm...“
„Oh... Wie bin ich denn... Wann bin ich denn?“
Erschrocken fuhr ich herum und entdeckte einen alten, gebückt stehenden Mann, einige Meter entfernt, im Schatten der Kirche stehen. Er hatte mir den Rücken zugekehrt, doch ich ahnte schon, um wen es sich hierbei handeln musste.
Suchend drehte sich der Greis herum und entdeckte mich. „Gu-Guten Tag.“ Begrüßte er mich schwächlich, sodass mich augenblicklich das Mitleid packte.
„Sir, haben Sie etwas verloren?“ Ich ging auf Marie´s und Calyle´s dementen Nachbarn zu, woraufhin dieser sich verwirrt an die Schläfe fasste.
„I-Ich weiß... Ich weiß es nicht. Wo bin ich denn, Fräulein?“
„Ähm... Entschuldigen, Sie. Mein Name ist Haylee und Sie befinden sich bei der Kirche. Haben Sie sich verlaufen?“
Verdattert lächelte der alte Mann mich an, dann bemerkte er scheinbar einen vergessenen Schmerz und fasste sich an den Rücken. „Autsch! Oh je, oh je... Mein Rücken. Wo ist denn mein Stock, Haylee? Hast du... Hast du den hier irgendwo gesehen?“ Langsam kippte der alte Mann vor, sodass ich hektisch auf ihn zusprang, um ihm eine Stütze zu sein. „Vielen Dank, Kleines. Vielen, Dank.“
„Kein Problem, aber Ihren Stock sehe ich leider nirgendwo. Haben Sie ihn vielleicht zuhause gelassen?“ Langsam half ich dem gebeugten Pensionisten zu einer nahen Bank, auf welche er sich schnaufend sinken ließ.
„Nein, nein. Ich kann ihn überhaupt nicht vergessen haben. Du musst wissen.... Du musst nämlich wissen, dass ich einen kaputten Rücken habe. Deshalb bin ich an meinen guten Tagen immer mit meinem Stock unterwegs. Ich kann nämlich nirgendwo ohne ihn hin gehen, weißt du.“ Stammelte er völlig verwirrt.
Ich wusste nicht so recht, ob der Mann wieder einen dementen Schub hatte, doch ihn zu fragen, wagte ich nicht. Durfte man so etwas überhaupt fragen? Andererseits hatte ich nicht gerade eben noch Marie in der Kirche gesehen? Sie kannte den Mann und seine Ticks bestimmt viel besser! „Wissen Sie was. Sie wohnen doch neben Marie Birdwell. Erinnern Sie sich an die rothaarige Frau und ihren Sohn?“
Er lächelte begeistert. „Marie? Natürlich kenne ich die Gute Marie. Sie bringt mir jeden Tag ein leckeres Stück von ihren selbst gemachten Kuchen vorbei. Immer zu Mittag.“
Ich erwiderte sein freundliches Lächeln nur zu gerne, während er nach meiner Hand griff, als wolle er nicht, dass ich fortginge. „Sehr gut, dann hole ich sie besser mal...“
„Was? Nein, nein. Du musst sie nicht holen. Ich weiß, dass wir weit weg sind von meinem Haus. Die Mühe-...“
Ich unterbrach ihn höflich. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Sir.“ Wie war noch gleich sein Name? Nun fiel er mir doch glatt nicht ein! Wie peinlich! „Sie ist gleich hier drinnen.“ Ich deutete auf die Kirche. „Auch Odette und Pastor Marcus sind da. Sollen wir gemeinsam zu Ihnen hinein gehen? Dort ist auch viel kühler als hier draußen.“
„Ja... Ja, ja. Ich denke auch, dass das eine gute Idee wäre. Heute ist es ja auch wirklich brütend heiß, nicht wahr, Haylee?“
Ohne zu zögern bot ich meine Hand wieder, als Stütze an, welche der Greis bloß zu gerne ergriff. „Das stimmt. Es ist furchtbar heiß heute.“
„Ich freue mich schon, wenn es heute Abend endlich einmal wieder so richtig regnet. Das braucht der Boden nämlich!“
Ich nickte zustimmend, während ich ihm Schritt für Schritt die Vier flachen Treppen hinauf half. „Ich hätte auch nichts gegen ein wenig frischen Regen einzuwenden.“ Stimmte ich schmunzelnd zu, während ich daran zweifelte, dass heute auch bloß ein Tropfen vom Himmel fallen würde. Der Himmel war wolkenlos und seit Tagen gab es nicht einmal ein winziges Wölkchen!
„Nicht wahr!“ Er schien geradezu begeistert davon zu sein, mit mir zu sprechen, während er beinahe atemlos nach Luft schnappte, bei jedem einzelnen Schritt. „Weißt du auch woher ich das weiß?“ Fragte er dann mindestens genauso langsam, wie er vorwärtsging. „Das sagen mir meine Knochen. Je stärker meine Knie zittern, umso heftiger wird der Regenguss!“ Beteuerte er voller Überzeugung.
Ich tat so, als würde ich das tatsächlich existierende Zittern seines Körpers überhaupt nicht bemerken. „Na, dann werden wir uns bloß auf ein paar winzige Tröpfchen einstellen müssen, Sir.“
Amüsiert lachte er auf und tätschelte meine Hand. „Du bist aber ein Liebes Kind. Danke.“
Ich stieß die Türe auf. „Marie!“ Ich musste noch nicht einmal laut rufen, denn sie war bereits auf halben Weg zur Türe unterwegs. Zweifellos, um nach mir sehen zu kommen. Als sie nun ihren Nachbarn, quasi in meinen Armen hängen sah, wurde sie ganz bleich. „Oh, nein! Ist etwas passiert? Marcus! Ein Glas Wasser, aber schnell!“ Befehligte sie, woraufhin Odette hellhörig wurde und hastig zu uns gejoggt kam.
Ich half Marie´s Nachbarn auf die erste Bank, welche wir erreichten, auf die er sich schlussendlich auch sinken ließ.
Seltsamerweise bekam ich zur Belohnung sogar ein Bonbon mit Erdbeergeschmack zu gesteckt... Offensichtlich als Dankeschön, das ich ihm so engagiert geholfen hatte. „Ähm... Danke. Ich gehe noch mal schnell hinauf, vielleicht finde ich Ihren Stock ja doch noch in der Näheren Umgebung.“
Gesagt getan, doch auch zehn Minuten später und obwohl ich jede Straße, welche zur Kirche führte, überprüft hatte, konnte ich keinen Stock ausfindig machen. Das kam mir überaus absurd vor. Der Greis hatte sich kaum aufrecht auf den Beinen halten können. Mit dem Auto dauerte es zehn Minuten zur Kirche, was in seinem Tempo... einem zehn Kilometermarsch glich! Ohne Gehhilfe hätte er dies also niemals schaffen können... Andererseits gab es hier in der Nähe einen Park! Er lag zwar in einem großen Bogen zur Kirche, doch wenn er auf halber Strecke dort Rast gemacht hätte, hätte es eventuell sogar erklärt, weshalb er es ohne diesen Stock hierher geschafft hatte. Und fütterten alte Leute ohnehin nicht gerne Enten? Durch den Park floss ein natürlicher See und ein kleiner Teich hatte sich gebildet...
Schwitzend kehrte ich in die Kirche zurück, wo Marie eben ihrem Nachbarn auf die Beine half, um ihn mit dem Auto nach Hause zu fahren. „Tut mir leid, Sir. Ich konnte Ihren Stock nicht finden. Waren Sie vielleicht im Park? Falls ja, könnten Sie ihn vielleicht dort vergessen haben?“ Rätselte ich laut.
Marie schüttelte den Kopf, um mir zu signalisieren, dass er das nicht fertig gebracht hätte. Hm... Stimmt, die Sommerhitze durfte man nicht außen vor lassen.
Noch einmal bedankte er sich überschwänglich, wonach ich bei Odette und Pastor Marcus aufschloss. Mitleidig sah ich dem Greis hinterher. Er tat mir so leid... Eigentlich sogar jeder Mensch, welcher so alt und gebrechlich werden musste. Verlängertes Leben war wohl Segen und Fluch zugleich. Ob wir Nephilim auch so lange und intensiv darunter würden leiden müssen?
„Es erstaunt mich immer wieder, wie Mister Harrison es schafft, mit seinem gebrechlichen Körper, an den undenkbarsten Orten aufzutauchen.“
Ich blickte, da ich nachdenklich in meinen Gedanken versunken gewesen war, zu Odette auf. „Hm? Was meinst du?“
Sie deutete mir, ihr zum vorderen Teil der Kirche zu folgen, wo ein kühles Glas Wasser mit einem einzelnen Stück Zitrone darin, auf mich wartete. „Nun ja, wie du gesehen hast, ist der Arme, extrem gebrechlich. Er sollte nicht einmal mit seinem Stock in der Lage sein, so weit zu gehen. Trotzdem gabeln wir ihn stets irgendwo, völlig zerstreut auf, weit entfernt von seiner Wohnung. Das ganze Jahr über!“
„Stimmt.“ Bemerkte Pastor Marcus. „Manchmal läuft er sogar ohne Jacke, im Winter in der Gegend herum, oder vergisst auf seine Schuhe. Heute auch wieder.“
Angestrengt versuchte ich, mich zu erinnern, ob Mister Harrison Schuhe getragen hatte, doch entsinne mich einfach nicht. Ich war einfach nicht der Typ Mensch, der auf so etwas aufmerksam wurde, außer man deutete direkt darauf, oder versehrte es mit einer Leuchtreklame, so wie blinkenden Pfeilen. „Ist das, weil er dement ist?“ Erkundigte ich mich.
„Nur weil er vergesslich ist, heißt das nicht, dass er in diesen Schüben auch unverwundbar und übermenschlich wird.“ Spottete Odette amüsiert. Sie machte sich wohl über mich lustig. „Nein, ich denke es ist einfach sein Geist, welcher in diesen dementen Schüben übermächtig wird und seinem Körper vorgaukelt dass er keine Schmerzen und Temperaturen verspüre. Anders kann auch ich es nicht erklären. Demenz ist eben... Speziell.“
Ich stürzte das kühle Nass hinab. Ein seltsamer Kauz... Aber gut, mit alten Leuten hatte ich bisher ohnehin nicht viel zu tun gehabt. Natürlich half ich, wenn ich sah, dass sich ein Pensionist abmühte, oder etwas nicht finden konnte. Aber deshalb geriet ich nicht automatisch in ein Gespräch mit ihnen. In der Stadt war es eher so, dass sie direkt nach dem Kontakt mit mir, oder jedem anderen, ihr Portmonee überprüften. Verdenken konnte man es ihnen selbstverständlich genauso wenig. Das Leben in unserem Viertel war schwer... Selbst ich behielt mein Geld stets dort, wo ich es im Auge haben konnte.
„Das Alter in allen Ehren, aber selbst ich scheue mich davor, jemals so alt zu werden.“
Odette grinste hämisch. „Ach, bei deinem Fastfood Konsum, musst du dir darüber bestimmt keine Sorgen machen.“ Zog sie Pastor Marcus auf, was mich ehrlich überraschte.
„Ach, das bisschen! Im Alter muss man sich doch etwas gönnen dürfen. Nur die kleineren Sünden halten einen lebendig.“ Gab er schmunzelnd zurück.
„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Odette nippte an ihrem eigenen Glas und blickte hoch zu der gekreuzigten Person, die an einer Wand der Kirche hing. Selbstverständlich war es bloß eine Porzellanfigur, oder Ähnliches und keine echte Leiche!
„Amen.“ Schloss Pastor Marcus.

 

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Aufgrund meiner abendlichen Pläne beschwatzte ich Odette am frühen Nachmittag, dass ich für heute gerne Schluss machen wollte, da ohnehin kein einziges Wort mehr bei mir hängen blieb. Dabei war das nicht einmal gelogen. All meine Sinne und Gedanken, waren darauf fixiert, was ich wohl heute Nacht in meiner Wohnung finden würde. Antworten auf zigtausend Fragen? Den Mörder meiner Mutter? Oder bloß einmal wieder Junkies die es sich auf meiner Wohnzimmerbank gemütlich machen?
Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen, während Olympia genervt schnaufte. Lysander saß uns beiden am Küchentisch gegenüber und musterte uns mit hochgezogenen Brauen, während wir so taten, als würden wir kein Wort miteinander wechseln.
Als das Schweigen zwischen uns bereits unerträglich wurde, ließ Lysander seinen Löffel in die Suppe fallen und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du bist für mich wie ein offenes Buch, Haylee. Spuck es schon aus. Was hast du vor?“
Ich warf Olympia einen fragenden Blick zu, doch diese hob bloß eine Hand, da sie mir nicht helfen wollte.
„Sieh Olympia nicht so an, sie hat kein Wort verraten. Aber seit du wieder hier bis, hibbelst du um sie herum. Das sagt mir, dass du auf irgendetwas wartest. Spuck es schon aus.“
„Mädchenkram.“ Erwiderte ich abweisend, doch Lysander durchschaute mich scheinbar einmal mehr mühelos.
„Unsinn, ihr habt etwas vor.“
Ungläubig starrte ich ihn an. „Woher weißt du das nur? Ist das so ein Engel-Ding?“
Er grinste frech. „Ich habe es nicht gewusst. Hättest du noch einmal gesagt, das es bloß Mädchenkram ist, hätte ich es dir geglaubt.“ Mist! „Also, was heckt ihr aus?“
„Wenn du es genau wissen willst, Haylee will das teleportieren lernen.“
Lysander prustete los. „Und damit kommt sie zu dir?“
Verärgert warf Olympia ihren Löffel nach dem fröhlich gackernden Nephilim. Zum Glück waren wir im Moment noch alleine im Haus und alle anderen unterwegs, sonst hätte Lysander damit schon etliche neugierige Nasen angelockt. „Halt die Fresse.“
„Oh, Mann!“ Sein Blick glitt zurück zu mir. „Du weißt aber schon, dass sie es noch nie geschafft hat, sich zu teleportieren, oder?“
Mein Mund klappte auf. „A-Aber... Was? Ja, dann ist es überhaupt kein Wunder, dass es nicht klappt!“ Das erklärte selbstverständlich so einiges!
„He!“ Brauste Olympia auf. „Nur weil ich es noch nie geschafft habe, heißt das nicht, dass ich es niemandem beibringen kann. Außerdem hatten wir heute morgen gerade genug Zeit, um über die diese ganze Sprung-Sache zu sprechen!“
Lysander schob seinen Teller fort und deutete mir, zu ihm zu kommen. „Los, gib mir deine Hand, ich >zeige< dir wie es geht.“
Ich war schon bis auf zwei Meter auf ihn zu gegangen, doch bei diesen Worten schreckte ich dennoch zurück. „Äh... Du meinst eine...“
„Oh! Tu das bloß nicht mit ihm, Haylee!“ Warf Olympia hektisch ein. „Glaub mir! Du willst nicht sehen was in seinem Kopf vor sich geht!“
Erneut durchzuckte meinen Kopf das Wort >Luzifer<. Ob Lysander sich eventuell verstellte und in Wahrheit...
„Ach, geh bitte! Ihr seit doch alle bloß prüde.“ Er nahm meine Hand. „So geht es am schnellsten. Na hopp.“ Befahl er leichthin, während ich meine Möglichkeiten an Ausreden durchging.
Andererseits war Lysander, so wie Lucy einer von den wenigen, welchen ich mein Vertrauen schenken durfte. Ihnen beiden war es quasi ins Gesicht geschrieben, von wem sie abstammten.
„Du ziehst das doch nicht wirklich in Erwägung... Und sie tut es.“
Olympia überhörte ich besser einmal und schloss meine Augen. Lysander hatte recht. Es ging schneller, wenn man jemanden zeigte wie es funktionierte, anstatt es erst mal stundenlang zu erklären und versuchen es nach zu machen. Man siehe Lucy und mich...
„Oh!“ Ich hatte mich bereits dafür geöffnet, Lysander in meinen Kopf zu lassen, als ich mich an Lucy´s Geheimnis erinnerte. Natürlich war es damit auch schon das Erste, was er erfuhr, kaum dass er in meinem Geist war.
„Interessant! Die schüchterne Lucy steht also auf Ryan? Hätte ich nicht erwartet.“ Witzelte er in meinem Kopf, ehe ich tausend Bilder in den Kopf geworfen bekam, von welchen ich betete, sie irgendwann einmal wieder vergessen zu können! Darunter auch...
„Nein! Das wollte ich aber wirklich nicht wissen!“ Natürlich war es mir schon bewusst gewesen, dass Olympia und er von Zeit zur Zeit miteinander schliefen und dass Lysander ein schrecklicher Lustmolch war... Aber das war wirklich zu viel für meine armen Nerven!
Nerven, welche ohnehin schon... Und es geschah. Lysander sah den Text meiner Mutter vor sich. Die letzten Worte, so wie die vielen zurückgelassenen Fragen. Meine Gefühle für Calyle, meine Zuneigung zu Lucy und die seltsame Verbundenheit, welche ich zu Olympia empfand. Das Vertrauen, welches ich Lysander, mit dem Einlass in meine Gedanken gegenüber brachte und meine Überzeugung, dass niemand von ihnen, noch nicht einmal die Mütter der Nephilim, meine Mutter ermordet hatten.
Zeitgleich jedoch, tauchte auch ich in die Gefühlswelt von Lysander ein. Ich sah seine schrecklichen Unsicherheiten. Das beständige Gefühl, etwas erfüllen zu müssen, von dem er überhaupt keine Ahnung hatte. Seine ruhige Mutter Fiona gehörte auch nicht unbedingt zu denen, die einen Vorschriften machten. Sie ließ ihm jegliche Freiheiten, sagte nichts zu seinem Kleidungs- oder gar Lebensstil. Wenn sie mit ihm sprach, dann meist bloß um ihn zu begrüßen oder nach dem Essen zu fragen.
Lysander hatte nicht das Gefühl zu wissen, wie sich Liebe und Vertrauen anfühlte, weshalb er darauf achtete, stets Abstand zu jedem zu wahren. Zumindest auf emotionaler Ebene. Er erwartete von niemanden etwas, doch war, ohne zu zögern, zur Stelle, wenn seine Familie irgendetwas benötigte. Schon als Kind, hatte er sich anders gefühlt. Von Jungs und Mädchen im gleichen Maße angezogen. Sein erster Alkoholkonsum wurde von seiner Mutter kaum beachtet, sondern bloß mit den Worten abgetan, dass er ohnehin ein Nephilim sei und ihm nichts passieren könne. Wozu also solle sie sich sorgen?
Dass ein lebenslustiger und leidenschaftlicher Lebensstil, wie der von Lysander so einsam sein konnte, hatte ich nie bedacht... Richtig wie er selbst, fühlte er sich bloß im Sommer, wenn er mit seiner ganzen Familie zusammen war. Mit seinen Brüdern und Schwestern stritt und spielte. Auch zu mir wünschte er sich ein solches Band. Auch wenn er mich heiß fand, war da keine erotische Anziehung zu mir, sondern bloß dasselbe warme Gefühl, wie das, welches er jedem Familienmitglied entgegenbrachte.
Ich fühlte, wie meine Stirn sanft gegen seine sank, während wir einander im Engelsmodus anlächelten.
Lysander hatte schon erwartet, dass meine Gedanken über ihn, eher abgeneigt sein würde. Dass ich ihn ekelhaft fand, oder abstoßend. Doch so extrem empfand ich natürlich nicht ihm gegenüber. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, unverbindlich intim mit irgendwelchen Leuten zu sein, die ich überhaupt, bis wenig kannte. Vor Alkohol hatte ich Respekt und vor Drogen, aufgrund meines Kindheitstraumas schreckliche Angst. Es beruhigte mich ein wenig, dass mir, seiner Erfahrung nach, nicht wirklich etwas passieren würde, selbst wenn ich es einmal versuchen sollte. Keine Sucht, doch der ganze Spaß daran, etwas Verrücktes zu tun. So zumindest sah es Lysander. Er verstand meine Angst und dass ich Mitleid mit denjenigen empfand, welche abhängig waren und ihr Leben zerstörten. Lysander bewunderte mich sogar ein wenig dafür, wie ich die Welt sah. Während er es in >spaßige Zeit< und >langweiliger Alltag< einteilte, wog ich das für und wieder ab. Ich versuchte, mich in die Leute hinein zu versetzen, doch war schnell gekränkt, wenn sie mir gegenüber grausam wurden. So hatte ich es immer gehalten. Erst das >warum< und >wieso< verstehen, ehe ich verurteile. Das war, mitunter, einer der Gründe, weshalb ich erst nach acht langen Jahren der Geduld zugeschlagen hatte, um meiner Mitschülerin ein für alle Mal das Maul zu stopfen.
Lysander fand das Mädchen heiß und hätte sie eher flach gelegt, anstatt sie zu vermöbeln. Zumindest schickte er mir diesen halbherzigen Gedanken, was mich zum Lachen brachte.
Völlig erschöpft lösten sich Lysander und ich wieder voneinander. Mir waren vor Anstrengung die Beine zittrig geworden und ich musste mich setzen, während er bloß keuchte.
„Cool!“ Stieß er einen Moment später hervor, als er seinen Blick zwischen Olympia und mir herum hüpfen ließ. „Eure Auren sind ja endkrass!“
Lachend rief auch ich meinen Engelsblick hoch. Tatsächlich hatte ich Olympia und Lysander noch nie so gesehen. Während um Olympia herum so etwas wie Stacheln zu wachsen schienen, war Lysander wiederum von einer Art Nebel umgeben.
„Nun ja, wenigstens weiß ich jetzt, wie es funktionieren soll.“ Meinte ich atemlos, ein wenig später.
Olympia war bloß verwirrt. „Alles okay mit dir, Haylee? Du wirkst weit weniger verstört, als wir es waren, nachdem wir in Lysander´s Kopf gewesen sind.“ Tatsächlich hatte ich etliche Bilder und Erinnerungen von Lysander´s Vorlieben und >Hobby´s< aufgefangen. Doch sie waren nicht so übermächtig gewesen, wie angenommen. Tatsächlich fühlte ich mich Lysander nun ebenfalls viel stärker verbunden. Seine Gefühle ähnelten nämlich stark den meinen. Auch meine Beziehung zu meiner Mutter war kantig und mühsam gewesen. Ein steter Kampf gegen ihre Krankheit, während er um dessen Gunst hatte werben müssen. Fiona´s Gleichgültigkeit schmerzte ihn so sehr, wie es bloß ein kleines Kind empfinden konnte. Ähnlich dem meinen Schmerz... Meine Mutter hatte ebenfalls stets verantwortungslos und gedankenlos gehandelt. Doch meine Mutter war wenigstens geisteskrank gewesen. Wegen Michael. Was auch immer das zu bedeuten hatte.
Bei Fiona hatte ich natürlich überhaupt keine Ahnung. Ich kannte die Frau kaum und konnte mich nicht daran erinnern, überhaupt ein Wort mit ihr gesprochen zu haben.
Lysander nahm neben mir Platz und ich ergriff die Hand, welche er auf der Tischplatte liegen ließ. Für einen Moment suchte er in meinem Blick nach etwas... Vielleicht war es der gewohnte Ekel, oder gar eine verspätete Erkenntnis, dass ich ihn für abartig hielt. Als er jedoch bloß mein Verständnis wahrnehmen konnte, legte er seine zweite Hand auf meinen Handrücken und streichelte diese sanft.
Olympia schien einfach nur baff von unserem Verhalten zu sein und wurde sogar ein wenig bleib. Hoffentlich kippte sie uns nicht vom Stuhl! „Wenn du möchtest, begleite ich dich nachher, statt Olympia. Nur weil es Lucy gesehen hat, muss es auch nicht exakt so passieren. Man kann seine Zukunft so oft verändern, wie man möchte.“
„Okay, stopp! Ehrlich, was hast du in seinem Kopf gesehen, Haylee?“
Lachend zog ich meine Hand wieder fort und stand auf, um mir ein Glas Wasser zu holen. Stattdessen jedoch wurde ich von einem frisch gepressten Orangensaft abgelenkt, welcher mich mehr interessierte. „Nichts, dass ich nicht ohnehin bereits gewusst habe.“
Lysander wurde ein wenig verlegen und wandte sein Gesicht ab, was Olympia nun tatsächlich halb vom Stuhl kippen ließ. „Oh mein Gott, du steht doch nicht etwa auf Haylee?“
Lysander und ich prusteten gleichzeitig los, was Olympia bloß noch mehr schockierte. Hoffentlich würde das hier keine Nervenschäden bei ihr hinterlassen. „Jetzt tu mal nicht so, Olympia! Lysander ist kein Unmensch. Er hat genauso wie du oder ich, seine Gründe, weshalb er ist wie er ist. Es wäre aber ganz bestimmt interessant zu wissen, was ich in deinen Erinnerungen so finden könnte.“ Zog ich sie auf und nahm wieder beim Tisch platz. Himmel, was würde ich für ein riesiges Stück vegane Schokolade geben! Oder vegane Trops.... Unsinn, ich würde am liebsten Sündigen und den ganzen Süßigkeitenvorrat auffressen!
„Mach das bloß nicht, wenn du ihren Kopf bist, wirst du bloß zornig. Sie hat einen Hass auf so gut wie jeden und alles. Sogar über Eis schimpft sie, obwohl sie es gerne isst. Kannst du dir das vorstellen?“
Olympia hatte offensichtlich genug von Lysander´s und meinem Zusammenspiel und fuhr buchstäblich hoch. „Das muss ich mir wirklich nicht weiter antun! Ganz ehrlich... Werdet einfach glücklich miteinander!“ Fauchte sie und stürmte aus dem Haus.
Mit einem Augenrollen über Olympia´s Abgang, wandte Lysander mir seinen Blick wieder zu. „Also wenn du mich fragst, ist sie >es<. So giftig kann ja wohl nur Luzifer´s Brut sein.“
Ich stieß ihn mahnend mit dem Ellenbogen an. „Bitte, du darfst darüber kein Wort verlieren! Zu niemanden! Nicht den Mom´s, nicht mal Ryan, ja!“
Er nickte verstehend. „Natürlich, ganz wie du willst, Chefin. Aber denkst du wirklich, dass wenn >die Brut< es wüsste, dass sie etwas gegen dich unternehmen würde?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung... Ganz ehrlich. Ich verstehe noch nicht einmal, wieso ihr so überzeugt seit, wer, wessen Vater ist. Okay, bei dir ist es offensichtlich. Bei Lucy auch...“ Ich stockte. „Aber was ist dann mit Katya und Tyrone? Denkst du, sie wissen es?“
Lysander rieb nachdenklich sein Kinn. „Nun ja, die beiden lieben einander abgöttisch. Falls einer von ihnen die Brut sein sollte, dann würde der andere es auf jeden Fall für sich behalten.“
„Wie haben sie überhaupt heraus gefunden, welche Engel zu ihnen gehört?“
Lysander lehnte sich mehr in meine Richtung, damit wir nur noch flüstern mussten. „Katya war diejenige, welche die Waffen sehen konnte. Und laut Pastor Marcus Aufzeichnungen, können dies ausschließlich Luzifer und Michael. Da du, dank Lucy´s Vision als Luzifer´s Tochter abgehakt warst, war es bloß logisch, dass Katya dann Michael´s Kind sein musste. Und nach ihrer Verbindung zu Tyrone, dieser Gabriel´s Sohn.“
Mir schwirrte sofort wieder der Kopf. Plötzlich klopfte Lysander erschrocken mit der Handfläche auf die Tischplatte. „Du denkst doch nicht etwa, dass Katya...“ Begann er.
Ich erwiderte seinen forschenden Blick einen langen Moment. Katya war... Luzifer´s Tochter? Es kam mir etwas abwegig vor... „Nein, sie ist viel zu... sehr Katya, um böse zu sein.“ Jemand der so überzeugt von sich selbst und auf sich fixiert war, wie Katya, hatte nicht wirklich einen Moment Zeit dafür, an das Los aller anderen zu denken. Andererseits, behauptete sie, dass sie die Engelswaffen sehen könne...
„Stimmt, sie ist zu selbstverliebt, um an die Weltherrschaft zu denken. Dann deckt sie ja vielleicht Tyrone?“ Schlug Lysander vor.
Ich lachte. „Das wäre natürlich möglich. Dann wäre Katya dementsprechend Gabriel... Moment, Gabriel und Michael hatten etwas am Laufen? Ich dachte, das hätten Luzifer und Michael gehabt?“ Zumindest hatte ich es so unten im Keller gelesen und wunderte mich nun doch ein wenig...
„Nein, die beiden waren bloß einander sehr verbunden. Wie... Du und Lucy zum Beispiel. Oder wie du zu deiner menschlichen Freundin Jemma fühlst. Eventuell, sogar noch inniger, denn Engel haben bekanntlich keine Geheimnisse.“ Zog er mich scherzend auf.
„Aber zu Gabriel hatte Michael dieselbe Verbindung, wie Katya und Tyrone?“
„Und dich, so wie Calyle nicht zu vergessen! Was... Übrigens Calyle zu Gabriel´s Sohn machen würde!“ Stellte er verblüfft fest.
Verlegen wandte ich mein hochrotes Gesicht ab. Eine, von den Eltern, auf die Kinder weiter vererbte, ewige Liebe... Das war schon etwas kitschig...
„Hm, ich glaube das würde der Kirche nicht sonderlich gefallen... Ein schwules Engelspärchen?“ Witzelte Lysander weiter und amüsierte sich köstlich. „Ich glaube, wenn das heraus käme, würden die Kirchen buchstäblich in Flammen aufgehen.“
Ein Schmunzeln konnte auch ich mir nicht verwehren! Das Bild war einfach zu köstlich! Trotz allem waren dies jedoch nicht mehr, als Vermutungen. Celiné hatte Calyle und mir, genauso wie Tyrone und Katya die Karten gelegt... Unsere Schicksale waren damit bewiesenermaßen verbunden.
„Nein, das würden die bestimmt vollständig verleumden! Übrigens, du warst doch bereits in Ryan´s Kopf. Bei ihm hast du auch nichts bemerkt, richtig?“ Ich musste es einfach ansprechen, wenngleich ich es besser wusste.
„Nein, Ryan... ist ein treuer Soldat. Er tut sich schon bei Shootern total schwer. Besser er folgt weiterhin dem strickten Pfad von Rollenspielen, wo schon alles vor gekaut ist.“
„Hä?“ Machte ich, über die Maße verwirrt. Wovon sprach Lysander?
„Video spiele?“ Half er mir auf die Sprünge.
„Ich habe noch nie eines gespielt.“ Dafür waren wir einfach zu arm gewesen und weder Adam, noch Jemma hatten sich großartig dafür begeistern können.
„D-Du hast noch nie... Mädel!“ Empörte sich Lysander scherzend. „Heute Abend, noch vor Ryan´s und meiner Schicht, kommst du zu uns und wir werden dich entjungfern. Verstanden!“
Ich prustete erneut los, denn mir war vollauf bewusst, dass er damit die Videospiele meinte. Calyle, welcher im Flur erschien, fand das alles jedoch bloß halb so witzig. Sehr zu meiner Belustigung... „Wie bitte?“ Calyle´s Stimme glich einem Knurren, so erzürnt war er über Lysander´s Worte.
„Na, ich habe doch recht, oder? Sie hat es noch nie getan, bloß weil sie arm war! Das ist kein gerechtfertigter Grund! Jeder aus unserer Generation, muss es schon einmal getan haben!“ Offensichtlich bemerkte Lysander nicht, dass Calyle die Pointe zu Beginn verpasst hatte.
Ruckartig stand Calyle vor Lysander und packte diesen am Kragen. Er holte weit aus, als ich auch bereits hektisch dazwischen fuhr. „Video spiele! Calyle, er redet von Videospielen!“
Mann, dieser Nephilim hatte tatsächlich ein schreckliches Timing. Ich legte meine Hand auf seine geballte Faust und drückte sie hinab. „Alles gut, Calyle. Lysander hat bloß festgestellt, dass ich noch nie Videospiele gespielt habe. Das ist alles!“ Schwor ich.
Langsam schien das Adrenalin wieder in Calyle abzuebben und er löste dessen Griff um Lysander´s Kragen. Lysander grinste übrigens immer noch über beide Ohren. „Keine Sorge, das körperliche überlasse ich natürlich dir. Ich bin bloß für den Spaß da...“ Zwinkernd machte Lysander einen großen Bogen um den stinkwütenden Calyle, während ich erneut nach meinem Rotschopf fassen musste, da dieser die, wohl gewählten Worte, genauso in den Hals bekam, wie Lysander es provozierte.
„Lysander, bitte!“ Mahnte ich dessen selbstzerstörerische Ader.
Lysander verschwand aus der Eingangstüre, erst dann ließ die Anspannung in Calyle´s Körper nach. Wütend funkelte er nun auf mich herab. „Was war das gerade eben? Er hat dich doch angebaggert, richtig?“
Lächelnd tätschelte ich seine Brust. „Nein, Calyle. Lysander und ich haben vor gut zehn Minuten unsere Gedanken mittels des Engelsmodus ausgetauscht. Er zeigte mir, wie man teleportiert, ich lehrte ihm den Engelsblick. Wir wissen beide, dass wir absolut kein Interesse aneinander haben. Keine Sorge.“
Für mich war damit im Grunde das Thema gegessen... Calyle hingegen deutete, immer noch mit erhobener Stimme, in die Richtung von Lysander. „Du hast dich >darauf< eingelassen? In seinem Kopf herrscht nichts weiter, als... Nun, ja, du hast es ja gesehen! Wie kannst du ihn da noch in Schutz nehmen?“
Mir entglitt das Lächeln. „Calyle, warst du je im Engelsmodus mit Lysander?“ Erkundigte ich mich irritiert.
„J-Ja. Einmal. Und das genügte. Er ist pervers und denkt an total schräge Sachen.“ Fuhr er weiterhin aus der Haut. Seltsam... Olympia hatte dasselbe gesagt. Auch die anderen hatten mich davor gewarnt, meinen Kopf auf Lysander einzulassen. Hatten sie alle etwa, etwas gänzlich anderes gesehen, als ich?
„Nein... Eigentlich ist er ein einsamer kleiner Junge, Calyle.“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Bisher hatte ich die Meinung der anderen nicht wirklich ernst genommen. Immerhin liebten sie Lysander so, wie er war... Langsam jedoch, dachte ich ernsthaft darüber nach, ob nicht ich diejenige war, welche ihre Meinungen verharmloste?
„Wie bitte?“
„Lysander lebt so gerne am Limit, um sich lebendig fühlen zu können. Nicht, um cool oder ausgefallen zu sein. Wenn er nicht hier ist, bei euch, seiner Familie... Dann fühlt er sich missverstanden und einsam. Außerdem ist seine Mom... Nun ja, ein wenig abgelenkt... wie meine es war.“
Es reichte schon alleine, das Gespräch auf meine Mutter zu lenken, schon war sämtliche Wut aus Calyle verdampft und er legte sanft eine Hand auf meine Wange. „Tu das nicht, Haylee... Vergleich Lysander bitte nicht mit dir. Du bist so viel besser und... und reiner, als er.“
„Du meinst unerfahren und prüde?“ Begann nun ich zu giften. „Calyle, ich bin gerade eben in Lysander´s Kopf gewesen. In seinen Erinnerungen und seiner Gefühlswelt! Er ist weder so abartig, wie ihr tut, noch die Dramaqueen, für welche er sich ausgibt!“
Ein zweifelhafter Ausdruck glitt über Calyle´s Miene, noch ehe er es vor mir verstecken konnte. „Es ist süß, dass du versuchst Lysander zu verharmlosen. Deswegen bewundere ich dich auch so. Du bist... so offen und gibt jedem eine Chance. Aber ehrlich, Haylee... Lysander ist vergebene Liebesmüh nicht Wert. Er hat seinen Weg gewählt und ist wie er ist. Damit haben wir uns bereits seit Jahren abgefunden.“
Langsam beugte sich Calyle herab, um mich sanft zu küssen, doch ich wendete den Kopf ab... Zu meinem großen Bedauern, entdeckte ich durch meinen Richtungswechsel den Spiegel im Flur... in ihm begegnete ich Lysander´s tieftraurigen Blick. Er war also noch überhaupt nicht gegangen. Und das schlimmste... Er hatte jedes Wort gehört!
„Ly-Lysander!“ Ich ließ Calyle einfach stehen und lief hinaus auf den Flur. Natürlich war er nicht mehr dort. Die Türe stand weit offen und er sprang gelenk über den niederen Gartenzaun. „Lysander, bitte warte doch auf mich!“ Bettelte ich, doch er hörte einfach nicht. War gekränkt und einmal mehr darin bestätigt, was er ohnehin bereits gewusst hatte... Seine Familie liebte ihn, doch hatten ihn genauso längst aufgegeben. Fand ihn widerwärtig... Abstoßend... „Lysander, bitte!“
Er sah lediglich für einen Moment zurück, dann, im Schatten einiger Sträucher, löste sich der stets alberne Nephilim einfach in Luft auf. Mein Herz schmerzte... Ich wusste so gut, wie tief in solche Worte immer wieder trafen. Es war noch immer ein wenig so, als ob ich mich noch immer in seinem Kopf befände. Als hätte ich zu ihm eine Verbindung aktiviert, genauso wie zu Lucy. Sie beide waren ein Teil von mir. Ging es einem von ihnen schlecht, tat es auch mir weh. Schrecklich weh!

 

- - - - -

 

„Ich finde trotzdem nicht, dass das eine besonders gute Idee ist, Haylee...“
„Es ist doch bloß für eine Stunde... Dann sind wir zurück und niemand erfährt, dass wir weg gewesen sind.“ Beschwor ich Olympia, welche ich bloß schwerlich davon hatte überzeugen können, dass sie mich doch begleitete.
Sie stöhnte frustriert, während hinter ihr die Sonne bloß noch schwache, rötliche Strahlen zum Himmel schickte. Seltsam kam es nur mir so vor, oder ging die Sonne heute um einige früher unter, als noch vor ein paar Tagen? Unsinn, bestimmt lag es bloß an meinem Schuldgefühl, so wie der Aufregung etwas zu tun, wofür wir bestimmt keine Erlaubnis bekommen würden.
„Nein, dass wir ausbüchsen, ist mir scheiß egal. Mir geht es darum, dass du mich mitnimmst! Du bist noch nie teleportiert und weiß bloß aus Lysander´s Kopf, wie es funktioniert und dass man jemanden mitnehmen kann.“ Sie hob abwechselnd eine Hand. „Was ist wenn ein Teil von mir >hier< und der andere >da< landet?“
„Dann stecke ich dich wieder zusammen, Barbie. Sei keine Memme! Lucy hat es gesehen, also wird schon alles gut gehen.“
Sie funkelte mich wütend an. „Nicht beruhigend, Blackbird!“
Ich grinste breit. „Bitte, tu es für mich! Ich muss wissen wieso wir dort sein sollen.“
Für einen Moment grummelte sie noch etwas, dann zog sie ihr Gummiband vom Handgelenk und band damit ihr kurzes Haar zusammen. Leider half es, aufgrund der Länge, nicht sonderlich viel, die meisten fielen sofort wieder nach vorne und sie hatte nichts weiter, als einen kleinen Pinsel am Hinterkopf. „Gut tun wir es. Aber wehe du verlierst mich irgendwo auf der Strecke!“ Maulte sie noch, dann drehte sie sich um.
Ein wenig war es mir unangenehm, meine Hände um Olympia zu legen, da ich unwillig ein Bild aus Lysander´s, eher widerlichen, Erinnerungen aufblitzen sah. Hastig schüttelte ich es ab, dann tat ich auch das, was er getan hatte. Ich verstärkte meinen Griff, als ob ich vor hatte, ihr gesamtes Gewicht zu tragen, schloss die Augen und spannte meinen Körper an. Anstatt jedoch ab zu springen, wie es Calyle getan hatte, bewegte ich meinen Körper bloß minimal nach vorne, es spannte in meinem Rücken, als ob sich dort tatsächlich Flügel befänden und mich vorantrieben. Ich spürte Wind in meinem Gesicht... Kein Lüftchen, aber auch keinen Sturm. Es war mehr ein ziehen, wie wenn man durch ein Netz aus Spinnenweben lief, doch ohne, dass diese an der Haut kleben blieben.
„Scheiße, ich glaube ich spinne!“ Fluchte Olympia, als wir auch schon polternd am Boden landeten. Vor... meiner Wohnungstüre!
„Ich hab´s ja tatsächlich geschafft!“ Bemerkte ich und pustete mein Haar aus dem Gesicht, welches durch einen unnatürlichen Luftstoß nach vorne gewirbelt worden waren.
Olympia grummelte erneut. „Zum letzten Mal, nicht beruhigend, Blackbird! Jetzt geh von meinem Rücken runter!“
„Psst!“ Zischte ich, da ich wusste, wie dünn die Wände der anderen Wohnungen waren. Bestimmt starrte bereits in irgendeinem Stockwerk, ein Nachbar durch den Spion. Schnell kam ich auf die Beine und zog den Hausschlüssel, welcher sich stets in meiner Geldbörse befand, heraus. Ich sperrte auf und stellte überrascht fest, dass wie durch ein Wunder, niemand eingebrochen zu sein schien... Das musste ein neuer Rekord sein! Andererseits war es nicht so, als ob es nicht jemand versucht hätte, wenn ich den neuen Kratzern neben der Türklinke glauben schenken durfte.
„Oh Mann, ihr seit ja wirklich arm!“ Bemerkte Olympia, charmant. „Sorry, du bist raus, ich ziehe bestimmt nicht zu dir, Stadtkind.“
Ich rollte genervt mit den Augen, dann schloss ich hinter uns ab, da die Türe nie richtig schließen wollte, außer man sperrte ab. Wenigstens hatten weder Odette noch Olive irgendetwas über meinen spontanen Reichtum weiter erzählt... Nicht den Kindern zumindest.
„Was? Dachtest du, es reicht nicht, dass meine Mutter tot ist, da drücke ich besser auf die Tränendrüse und heule jedem etwas von wegen, armer Kirchenmaus vor?“
Für einen Moment besah Olympia mich, als erwartete sie, dass ich sofort losweine, doch das tat ich nicht. Tatsächlich... konnte ich es nicht. Es roch so vertraut in unserer... meiner Wohnung. Die ungewaschene Wäsche, so wie die, welche sie noch nicht gebügelt hatte, lag auf dem Sofa herum. Auf dem Tisch stand noch ein Glas mit ein wenig Wasser darin, die Kalkstreifen waren unverkennbar. In der Küche tropfte, wie immer, der Wasserhahn und die Rohre gurgelten über ihr tägliches Leid.
„Geht´s?“ Erkundigte sich Olympia, als meine Finger, ganz von selbst, nach der Arbeitsbluse meiner Mutter angelten. Ich hob sie hoch und drückte mein Gesicht hinein, um tief den Geruch meiner Mutter aufzunehmen. Dann nickte ich. „Okay, dann klär mich am besten einmal auf. Was genau machen wir hier?“
Ich legte die Bluse liebevoll zurück auf die Lehne der Bank. Gut, dann mal raus damit. „Bist du Luzifer´s Tochter?“ Dabei sah ich Olympia ganz genau in die Augen, doch darin fand ich bloß Verwunderung.
„W-Wie kommst du denn darauf?“ Sie war aufrichtig irritiert. „Du bist es doch. Ich bin...“
„Nein.“ Unterbrach ich sie. Dann zog ich das Tagebuch aus meiner Umhängetasche, öffnete es und reichte es Olympia, damit sie daraus lesen konnte. Für einen langen, entscheidenden Moment herrschte Schweigen zwischen uns, ehe sie erschrocken aufsah.
„S-Sie erinnert sich? Aber wie?“
Ich zuckte mit den Schultern und verschloss das Tagebuch wieder. „Ich weiß nicht. Sie hat irgendetwas über Michael´s Fluch geschrieben, aber ich weiß nicht was das sein soll. Ich vermute, dass es derselbe Grund für ihren geistigen Zerfall ist.“ Zumindest hatte sie es so dargestellt.
„Hm, eigentlich sollte es Raphael´s Fluch heißen. Immerhin hat er es erfunden, aber auch gut. Brüstet sich einmal mehr der falsche Engel mit den Lorbeeren eines anderen. Nichts neues.“ Erschrocken fuhren Olympia und ich zusammen, doch nur mir entkam ein spitzer Aufschrei.
„Luphriam!“ Zischte Olympia so bösartig, als sei es die Beschreibung für ein widerwärtiges Insekt, welches bloß dazu diente, eine Plage zu sein.
„Luphriam!“ Wiederholte ich wiederum erkennend. „D-Du bist Luphriam Urok aus der Ceberus Erblinie!“
„Du kennst ihn?“ Stieß Olympia erschrocken hervor. „I-Ist auch egal!“ Sie beschwor ihre Sense, welche quasi den gesamten Raum einnahm. Sollte Olympia diese schwingen, würde der halbe Raum darunter zu leiden haben!
„N-Nicht!“ Ich legte meine Hand auf das wunderschöne, mörderische Instrument und schob mich vor Olympia. „Ich brauche ihn!“
Der Dämonenfürst lächelte mich so charmant an, dass er beinahe menschlich wirkte. „Wie ich sehe, hast du nun genug eigene Kraft, um Dämonen erkennen zu können. Schön dass wir uns endlich... offiziell begegnen, kleiner Nephilim.“
„Du bist der Freund meiner Mutter... Der, welcher Raphael geschickt hat, um über mich zu wachen.“
Er nickte, dann verbeugte er sich mäßig. „Raphael war mein Leben... Sein letzter Wunsch war es, über Michael´s Nachkommen zu wachen, auf dass sie ihr Schicksal erfüllt. Natürlich hätte ich noch viel spannenderes für ihn erledigt. Aber gut, er war schon immer eher bescheiden. Für einen Engel...“
Ungläubig betrachtete ich die Gestalt, welche nach all den Jahren, in welchen ich meine Mutter für verrückt gehalten hatte, endlich ein Gesicht bekam. Mit ihm hatte sie gesprochen. Nacht für Nacht darauf geachtet, dass er nahe genug kam, um meine wahre Natur zu verstecken, doch nicht so nahe, dass er eine Gefahr für mich sein konnte. Nun drangen doch Tränen an die Oberfläche. „Danke.“ War alles, was ich stockend hervorbrachte.
Ich fühlte ein Surren in meinem Rücken, als Olympia ihre Waffe wieder verschwinden ließ, doch noch immer einfach sprachlos zwischen dem Dämon und mir hin und zurück sah.
„Nicht dafür, Heulsuse.“ Spottete er, woraufhin ich verlegen die Tränen fortwischte. „Ich nehme an, du weißt nichts von Edna´s zweitem Tagebuch, richtig?“
„E-Es gibt ein zweites?“
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, als hätte er dies bereits erwartet. „Sie wollte es hier lassen, doch ich konnte sie überreden, es mitzunehmen-...“
„Nein, Olive hat die Sachen bereits durchsucht. Von einem Tagebuch hätte sie mir erzählt.“
Er rollte genervt mit den Augen. „Menschen... Immer so ungeduldig...“ Schnaufend griff er in die Innenseite seiner Manteltasche, obwohl man seine Kleidung nicht wirklich als diese bezeichnen konnte. Es war mehr ein Ineinanderlaufen an dunklen Farben, dessen Struktur man erst ausmachen konnte, wenn er sich bewegte. „Es war noch im Haus am See. Ich habe es gerettet, ehe ein, euch feindlich gesinnter Dämon es finden konnte.“
Ich riss es ihm förmlich aus der Hand, doch es war genauso verschlossen, wie das andere. Außerdem sahen sich beide Exemplare sehr ähnlich. Ich blickte auf zu Luphriam, doch dieser war schon verschwunden. Irritiert sah ich mich im Raum um und fand ihn direkt hinter Olympia wieder. Dort stand er und atmete tief ihren Duft ein. Als sie dies hörte, sprang sie hastig von ihm fort, direkt auf mich zu. „Lass das, Dämon!“ Spuckte sie verärgert aus.
Ich ignorierte sein dummes Spiel einfach mal. „Hast du auch einen Schlüssel dafür ge-...“ Er machte eine wegwischende Handbewegung, schon sprang das Schloss auf und fiel nutzlos zu Boden. „D-Danke...“

 

- - - - -

 

„Weißt du... Ich fand das, was du im Wald abgezogen hast, ziemlich verletzend, meine Liebste.“
Olympia gab einen Würgelaut von sich, von dem sie hoffte, dass es ihr wild schlagendes Herz übertönen würde. „Gut. Dann kann ich ja endlich davon ausgehen, dass ich meinen Standpunkt klar gemacht habe.“
Mit einem sinnlichen Lächeln trat er viel zu nah an Olympia heran und streichelte, für einen Dämon, fiel zu sanft über ihre losen Haarsträhnen. „Keine Sorge... Du brauchst auch überhaupt nicht um mich zu werben. Ich bin dir bereits so völlig verfallen, mein unschuldiger, schöner Engel.“
Kopfschüttelnd schlug sie seinen Arm weg. „D-Das war doch kein w-werben, gottverdammt!“ Ihr Blick fiel für einen Moment auf Haylee, in der Hoffnung diese konnte sie unterstützen und diesen Dämon von ihr fernhalten. Doch Haylee war so sehr in die Seiten des Tagebuchs versunken, sie bekam von der Außenwelt überhaupt nichts mehr mit.
Luphriam schnurrte geradezu und wich keinen Millimeter zurück. Doch auch Olympia wagte nicht, auch bloß ein wenig zurückzuweichen. Nicht vor einem solchen Monster! „Ich habe versucht dir klar zu machen, dass ich ein Ekel lange vor dir bevorzuge. Vielleicht bin ich nicht dazu im Stande, dich zu töten,...“ Sie pikste mit dem Zeigefinger gegen die schemenhafte Gestalt, welche seine Brust sein musste. „...aber ich werde alles mögliche in Bewegung setzen, um dich von mir fern zu halten!“ Ihre Stimme war entschieden und eiskalt... Leider schien dies den Dämon kein bisschen zu interessieren. Ganz im Gegenteil, seine dunklen Augen leuchteten vor Vorfreude buchstäblich auf!
„Olympia Redbird...“ Schnurrte er und ließ seine langgliedrigen Finger über ihre Wange tanzen. Ein warmer Schauder lief Olympia über die Haut, ihr Atem vermischte sich mit dem von Luphriam und ihr Blut tanzte sinnlich durch ihre Mitte.
„Das ist doch wohl nicht wahr!“
Keuchend nutzte Olympia die Chance, als Haylee herum fuhr, um Abstand zu Luphriam zu ergattern, so lange es noch möglich war. Dieser Dämon ging ihr ganz offensichtlich unter die Haut... und sie hasste sich dafür! „Was hast du gefunden? Weißt du was deine Mutter von dir wollte?“
Haylee funkelte Luphriam erbost an. „Du weißt wer es ist! Wieso sagst du es uns nicht einfach, anstatt uns aufzuhalten.“
Olympia runzelte die Stirn. „Woher sollte...“
„Lucy.“ Erklärte Haylee, doch Olympia verstand es noch immer nicht.
„Wie sollte Lucy einem Dämon eine Vision... überbringen?“
Luphriam schaffte großzügigerweise Abhilfe bei dieser Frage. „Wenn Lucy eine Vision hat, kann sie selbst diese Vision nicht sehen. Sie weiß nicht einmal, wenn sie eine überbracht hat.“
Olympia stöhnte frustriert. „Als ob wir das nicht selbst wüssten!“ Sie selbst hatte es erst heute Morgen, sehr zu ihrem Missfallen, erleben müssen.
Luphriam hob den Zeigefinger. „Wusstet ihr auch, dass Lucy´s Gabe noch viel weiter geht? Sie kann nicht bloß Visionen von der Zukunft in eure Köpfe pflanzen... sondern euch auf der gnazen Welt dadurch aufspüren, egal wo ihr euch derzeit befinden. Natürlich gilt das bloß für diese Ebene...“
„Diese Ebene?“ Erwiderte Haylee verwirrt.
„Engel und Dämonen leben auf anderen Ebenen. Unsere Welt verbindet sie.“
Sie gab einen erkennenden Laut von sich. „Auch dieser Quatsch... Das ist wirklich echt?“
Olympia antwortete nicht auf die rhetorische Frage, sondern widmete sich wieder Luphriam. „Also hat Lucy dich aufgesucht um dir diese Vision zu zeigen...“ Sie machte eine auffordernde Geste, damit der Dämon weiter erzählte. Er verstand ihre Aufforderung jedoch nicht, sondern nickte bloß. „Luphriam! Spuck es aus!“
„Oh!“ Machte er und erkannte, auf was Olympia abspielte. „Ach, das sage ich erst, wenn Olympia geschworen hat hier zu bleiben und Haylee alleine zurück kehren zu lassen.“
„Niemals!“ Verkündeten Olympia und Haylee unison. Olympia warf einen verblüfften Blick zu Haylee... Hatte diese eben für sie eingestanden? Schon wieder...
„Dann ist der Deal hinfällig, Mädels.“ Auch wenn Luphriam diese abschließenden Worte sagte, machte er keine Anstalt, sich in Luft aufzulösen, oder was Dämonen sonst so taten. Natürlich brachte dieses Verhalten Olympia zum Ausrasten.
„Gottverdammt, wieso sollte ich hier überhaupt bei einem Dämon bleiben?“
Luphriam lächelte liebevoll. „Du bist Raphael´s Nachkomme, also somit mein Schicksal. Ich werde dich niemals in Ruhe lassen, egal was du versuchst. Dämonen binden sich über das Leben hinaus... Immerhin sind wir kein bisschen... lebendig.“ Er lachte, als hätte er einen Scherz gemacht, wohingegen Olympia so aussah, als ob sie gleich an einem Herzinfarkt sterben müsse.
„Moment... Du warst mit Raphael...“ Haylee machte seltsame Handbewegungen, welche Olympia die Schamesröte ins Gesicht trieb. Luphriam nickte selbstzufrieden. „Aber Raphael ist ein Engel! Äh... War einer...“
Luphriam deutete galant in die Richtung von Olympia. „Ein Engel, welcher einen Teil seiner Existenz in dieses wunderbare Objekt meiner Begierde transferiert hat. Er wusste, dass seine Zeit ablief. Nicht einmal Engel sind unsterblich. Deshalb, und damit ich weniger litt, schenkte er mir zweitausend weitere, wunderbare Jahre mit sich.“
„ICH BIN NICHT RAPHAEL!“ Schrie Olympia so überraschend und frustriert auf, dass Haylee beinahe das Herz stehen blieb... Plötzlich verstand sie Olympia´s Leid... „Dass das keiner verstehen will! Mein Name lautet Olympia Redbird. Ich bin ein Nephilim und die Tochter von Celiné Redbird.“ Tränen liefen ihre Wangen hinab. „Weder bin ich ein beschissenes Trostpflaster, noch die Reinkarnation eines verdammten Scheißkerls. Also egal, was du denkst, in mir zu sehen... Ich. Bin. Nicht. Er.“
Innerhalb eines Wimpernschlages stand Luphriam vor Olympia und umfasste sanft ihr tränenverschmiertes Gesicht. „Nein, Liebes... Ich denke, ich habe dir wohl den falschen Eindruck vermittelt... Natürlich bist du nicht Raphael, das weiß ich doch.“ Seine Finger fingen jede Träne auf und wischten sie fort. „Ich weiß, dass du Olympia bist. Ein starker, atemberaubender Nephilim. Und ich weiß auch, dass du noch nicht einmal richtig gelebt hast, im Gegensatz zu deinem Vater und mir.“ Olympia wollte ihr Gesicht abwenden, doch das ließ Luphriam nicht zu. „Und ja, ich gebe zu, dass deine Aura, welche so sehr Raphael gleicht, da du einen Teil von ihm in dir trägst, unglaublich anziehend ist. Jedoch selbst ohne diese Aura, wüsste ich, dass du mein Schicksal bist, Liebste. Ich habe dich nämlich beobachtet... Immer... Seit dem Tag deiner Geburt, als ich dich das erste Mal, in einem unbeachteten Moment, in der Klinik im Arm gehalten habe. Du hast mit deinen hellblauen Augen zu mir hoch geblinzelt. So zart. Unschuldig.“ Seine Stirn sank gegen die von Olympia, welche noch immer weinte, während sich ihr Herz langsam zusammen setzte. „Du hast mich geheilt, von einem Schmerz, den ich vierzig Jahre lang, andauernd empfunden habe. Ich wusste nicht, dass es so schmerzhaft sei eine geliebte Person zu verlieren und dachte, ich würde mit ihm sterben. Aber das Schicksal hatte etwas besseres für mich vorgesehen...“
„Also glauben Dämonen an das Schicksal?“ Witzelte Olympia, mehr um die aufgebaute Spannung zu zerstören, doch das Lächeln von Luphriam nahm ihr buchstäblich den Atem.
„Ehrlich gesagt, wusste ich bis zu deiner Geburt nicht einmal wirklich etwas mit dem Schicksal anzufangen. Ich nahm meine Existenz, wie sie kam. Arbeitete mich bloß nach oben, um Fürst, oder gar einmal Herrscher zu werden... Jetzt jedoch, da du existierst, kann ich allmählich verstehen, weshalb mich diese Existenzebene dermaßen fasziniert. Ich kann bloß in einer Welt leben, in der du bist. Egal ob du mich hasst, mich weg stößt....“ Seine Lippen strichen zart über ihren Mundwinkel, welcher salzig schmeckte von all den Tränen. „Ich werde jede Sekunde, die es mir möglich ist, hier verbringen. Selbst wenn mich jemand auszulöschen versucht...“
Olympia ließ den Dämon nicht zu Ende sprechen, sondern drehte ihr Gesicht bloß wenige Millimeter und küsste ihn. Es war ein kurzer, intensiver Kuss, welcher ihr durch Mark und Bein ging. Jede Phase ihres Körpers schrie ihr zu, wie gut es sich anfühlte und dass es ihr an Luphriam´s Seite nur noch besser gehen würde. Er wäre Nacht für Nacht an ihrer Seite. Würde sie bedingungslos lieben, selbst wenn sie etwas tat, wofür er sie hassen müsste... Olympia war bewusst, dass sie dazu neigte, selbstzerstörerisch zu sein und alles in den Sand zu setzen, was sie einmal begann. Das wusste sie so gut, wie sie ihren eigenen Namen kannte. Ungesunde Beziehungen zogen sie an und sie liebte viel zu intensiv, als dass es ihr Herz eigentlich ertragen dürfte.
Zittrig holte Olympia Luft und tat den größten Fehler in ihrem Leben. „Sag Haylee was sie wissen will. Ich bleibe hier... In dieser Wohnung und morgen früh... wirst du mich in Ruhe lassen, Luphriam. W-Was du willst... kann ich jetzt nicht. Nicht... so... Ich muss für meine Geschwister da sein. Für Haylee...“ Sie wagte es, die Augen zu öffnen und begegnete Luphriam´s endloser Enttäuschung.
Sie machte sich von dem Dämon los und blickte in Haylee´s traurige Augen... Olympia wusste, dass Haylee es verstand. Sie wäre ihr nicht einmal böse, wenn Olympia nicht auf den Deal eingegangen wäre... „Bist du dir sicher, Olympia?“ Haylee nickte in Richtung des Dämons. „Ich will dich nicht alleine mit ihm lassen. Egal was er sagt, oder verspricht... Du bist meine Freundin. Ich werde dich niemals verlassen.“
Olympia legte ihre Arme um Haylee und drückte diese liebevoll. Haylee erwiderte die Umarmung sofort. „Schon gut. Vergiss bloß nicht, mich beim ersten Sonnenstrahl abzuholen, ja!“
Haylee drückte Olympia noch fester. „Nein, ich kann dich doch ni-...“
„Haylee, auch du bist meine Freundin. Wenn dich die Auflösung, wer Luzifer´s Nachkomme auch bloß einen Schritt näher an das Rätsel bringt, wer deine Mom getötet hat, werde ich in den Schlund der Hölle höchst persönlich hinab klettern, klar!“
Haylee lachte, mit Tränen in den Augen, ehe ihr ein Gedanke kam. Die Mädchen löste sich voneinander und sie fixierte den, enttäuscht wirkenden, Dämon. „Du sagtest, dass du jede Nacht Olympia beobachtest. Heißt das, dass du in der Nacht, als meine Mutter starb, alles gesehen hast?“
Luphriam wirkte, als würde auch ihm ein Licht aufgehen. „Nun ja, gesehen habe ich es nicht direkt. Aber ich weißt, wer sie fort geschafft hat.“
Sie schloss die Augen und kämpfte mit dem Schmerz, den Olympia nicht einmal ansatzweise nachempfinden konnte, doch sich vorstellen. „Also stimmt es doch... Es war ein Nephilim.“
Olympia legte wieder eine Hand um Haylee, welche auf Luphriam´s Schweigen hin, beinahe zu Boden sank. Auch sie konnte es nicht glauben. Wer war so kaltherzig und brachte es fertig, die Mutter eines anderen zu töten? Wer von ihnen konnte so grausam sein? Lucy? Nein, das hätte Haylee in ihrem Kopf gesehen, genauso wie bei Lysander. Calyle liebte Haylee viel zu sehr, um ihr das anzutun. Also... Katya? Tyrone? Oder Ryan? Nein, egal wie sehr sie es drehte und wendete. Olympia kannte einen jeden von ihnen, bereits seit ihrer Geburt. Sie sind zusammen aufgewachsen, haben ihr Spielzeug geteilt, ihre Sorgen, Ängste und erste Lieben... Niemand von ihnen war ein grausamer Mörder!
„Ka-Kann es nicht ein Einbrecher, oder Dämon gewesen sein?“ Fragte sie ungläubig und hielt Haylee weiterhin im Arm, welche um Fassung kämpfte.
„Nein, einen Menschen hätte ich, selbst wenn es bloß ein Wanderer gewesen wäre, von euch weg gelotst. Das habe ich immer getan, um dich zu schützen. Und natürlich deine Familie. Ein Dämon steht schon aus Prinzip außer Frage, da nicht einmal ich euren Sicherheitswall übertreten konnte. Genauso wenig kann ich in eine Kirche gelangen. Es ist schlichtweg unmöglich.“
„A-Aber, wenn du jemanden übersehen hast?“ Bettelte Olympia, in der Hoffnung auf einen winzigen Hauch... einen Funken an Hoffnung, dass niemand ihrer Geschwister ein eiskalter Killer war. Das konnte einfach nicht sein!
Luphriam lachte. „Als ob ich jemanden übersehen würde! Liebste, ihr seit weitab von jeglicher Zivilisation gewesen. Ich konnte in diesem Wald die Energie eines jeden Tieres, jedes Insekts sogar spüren.“
Haylee, welche den ersten Schock endlich überwinden konnte, schniefte einmal laut, trocknete ihre Tränen mit dem Saum ihres Shirts und raffte sich schlussendlich zusammen. „Okay... i-ich glaube ich bin jetzt bereit... Sag es mir, Luphriam... Bitte.“ Stammelte sie und klammerte sich an Olympia´s Arm.
Er nickte, sah noch einmal von seiner Angebeteten zu Haylee und tat etwas, wofür er glatt aus der Hölle geworfen werden sollte.
Er sagte die Wahrheit. „Um ihre Tat zu rechtfertigen... Ich denke, sie hat es aus Liebe zu ihm getan. Um ihn zu beschützen. Nachdem Edna bewusst geworden ist, wer Luzifer´s Nachkomme ist, wollte sie zuerst mit dessen Mutter darüber sprechen... Aber das hast du natürlich bereits selbst gelesen. In derselben Nacht, habe ich nach einem günstigen Platz gesucht, um zu sehen, ob es dir gut geht. Das hatte ich immerhin Raphael versprochen. Du lagst mit Calyle draußen und ihr wart... einfach ekelhaft schmalzig. Dann ging er in den Hauptraum, was er gewollt weiß ich natürlich nicht, doch dann erschienen Katya und Tyrone. Sie haben dich geweckt und mit hoch genommen.“
„An so viel erinnere ich mich selbst auch noch!“ Brauste Haylee auf. „Los, jetzt spuck es schon endlich aus! Wer hat meine Mom...“ Wiederholte Haylee, was Olympia nur zu gut nachvollziehen konnte.
„Etwas später... sind wieder zwei Energiepunkte im Hauptraum erschienen. Sie haben ordentlich gestritten, das kann ich euch sagen, aber um was es ging, weiß ich nicht. Dann... war auf einmal ein Licht aus... Ihre Seele verschwand binnen eines Augenblicks. Wenig später... trug ein Nephilim sie davon. Es tut mir leid Haylee.“
Haylee zitterte bereits wieder am ganzen Körper. Jedoch nicht mehr aus Trauer. Es war eine solch gewaltige Anspannung, als ob jeden Moment ein Vulkan in ihr explodieren könnte. „Einen Namen, Luphriam.“ Auch Olympia ertrug es nicht länger. So gerne sie auch glauben wollte, dass dieser Dämon dies tat, was für Dämonen üblich war, wusste sie dennoch, dass er nicht log. Nicht in diesem Fall.
Luphriam ließ den Kopf sinken und murmelte dann bloß einen Namen, in dem Wissen, dass dies Haylee´s ganzes Wesen, für immer verändern würde.

XVIII - Alles findet sein Ende

„Hi, Ryan.“ Wäre er nicht so sehr in seinen eigenen melancholischen Gedanken versunken gewesen, wäre ihm bestimmt früher aufgefallen, dass sich ihm leichtfüßige Schritte näherten, ohne sich anschleichen zu wollen.
Er zuckte lediglich leicht zusammen, zog den linken Hörer aus seinem Ohr und schnaufte lediglich laut. In seinen Gedanken spulten sich Fragen über Fragen ab, während er der untergehenden Sonne dabei zusah, wie sie den sternenklaren Himmel, tief im Westen, noch mit einigen Rottönen verzierte. Was wollte sie von ihm? Weshalb sprach sie ihn an? Wieso stand sie hinter, nicht neben ihm, wo er sie sehen könnte? Hatte sie das Lied hören können, welche, zu seinem Bedauern, dunkle Erinnerungen in ihm hoch riefen. Wo zum Teufel war Lysander mit seinem Bier? Hatte sie es ihm bringen wollen? Nein... so etwas täte sie nicht. „Hm?“ War jedoch alles, was seine Kehle verließ. Dafür musste er noch nicht einmal den Mund öffnen.
„Tut mir leid, dass ich dich störe, aber ich habe schon jeden gefragt, abgesehen von dir und Lysander. Hast du... vielleicht Haylee irgendwo gesehen? Vorhin ist sie nämlich im Garten mit Olympia verschwunden und-...“
„Nö.“ Antwortete Ryan karg. Mehr hatte er Lucy nicht zusagen.
„O-Okay, dann vielleicht Olympia? Sie habe ich auch nicht finden können.“
„Lucy, meine Süße!“ Tänzelnd und überschäumend von seiner typischen guten Laune, tänzelte Lysander, zu Ryan´s großer Erleichterung heran und präsentierte ein kühles Bier. „Bist du etwa hier, um mit uns bösen Jungs den Vorrat von Marie zu plündern?“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Sie lächelte höflich, das hörte Ryan in ihrer Stimme, als sie wieder sprach. „N-Nein, danke. Mir schmeckt das Zeug nicht. Aber lasst euch nicht weiter von mir stören... Oder von Marie erwsichen.“ Witzelte sie und kehrte den Rückzug an, da hielt sie noch einmal inne. „Ach, ja. Hast du vielleicht eine Ahnung wo ich Haylee finden kann?“
Lysander winkte ab. „Ach, die macht einen kurzen Ausflug mit Olympia. Die kommen gleich wieder.“
Lucy klang verwirrt, während Ryan weiterhin so tat, als könne er sie getrost ignorieren. Dabei schmerzten die alten Wunden, als seien sie noch ganz frisch. Das hasste er! „Sie sind... Unterwegs? Wohin denn?“
Lysander gab einen gleichgültigen Laut von sich. „Woher soll ich das denn bitte wissen? Vielleicht machen sie einen Mädelsabend...“ Seine Stimme wurde dunkler. „Oder nähern sich gemeinsam Calyle an. Immerhin stehen sie ja beide total auf ihn. Und weder Olympia, noch Haylee sind gerade unattraktiv. So eine Verbindung...“ Schnurrte er weiter, woraufhin Lucy angeekelt die Arme hob.
„Bitte, Lysander, hör auf! Das reicht. Dann werde ich das meiner Mutter eben mal so weiter geben.“ Etwas raschelte. „Oder vielleicht hebt Olympia auch vom Handy ab.“ Damit entfernten sich ihre Schritte, wieder und Ryan war es endlich möglich sich wieder zu entspannen.
Ryan setzte sich im Liegestuhl auf und drückte seine Handyplaylist auf Stopp. „Okay, schieß los, Lysander.“
Lysander spielte auf scheinheilig, doch damit war er bei Ryan an den falschen geraten. Abgesehen davon, abgesehen miserabel darin war, unschuldig zu wirken! „Ich soll losschießen? So eiskalt, wie ihr beide zueinander seit, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Da rührt sich nicht einmal ein Venchen bei mir.“ Witzelte er.
„Lysander!“ Mahnte Ryan, drehte sich nach links, wo sein bester Freund saß, und fixierte diesen mit seinem, typisch, intensiven Blick.
Stöhnend gab Lysander nach. „Na gut, es ist ohnehin besser, wenn es mehrere wissen. Die beiden sind zu Haylee nach Hause teleportiert.“
„Wozu?“
Lysander rang offensichtlich mit sich und wählte seine Worte mit bedacht, was völlig untypisch für diesen war. „Olympia hat heute morgen eine Vision von Lucy erhalten. In dieser sah sie sich und Haylee in Haylee´s Wohnung stehen. Daraufhin wollten beide unbedingt aufbrechen, um zu erfahren, weshalb. Du kennst Olympia, sie kann sich nicht teleportieren. Und eigentlich sollten sich die beiden nicht bei Nacht von hier entfernen... Deshalb habe ich Haylee im Engelsmodus gezeigt, wie sich teleportieren kann.“
Ryan klappte ungläubig der Mund auf und zu. Er fasste es nicht! Nicht bloß, dass er dieser eine totale Anfängerin sich und jemand anders teleportieren lässt, sind die beiden Mädels auch noch inmitten einer Großstadt! Weit entfernt! „Bitte, was soll das denn? Kannst du nicht einmal dein Hirn einschalten? Wieso hast du das auch noch befürwortet? Den beiden kann so gut wie alles dort passieren!“
Lysander winkte ab. „Genauso wie uns, wenn wir von hier fort gehen, Ryan. Krieg dich ein, die beiden sind Schlau und Haylee muss das tun.“
Ryan war dabei noch weiter auf seinen Kumpel einzureden, als ihm die Art von Lysander´s Tonfall auffiel. Weder klang dieser amüsiert, noch scherzte er oder war sarkastisch. Sogar sein Blick war ein wenig abgelenkt, als würde Lysander etwas in seinen Gedanken sehen, wohin Ryan ihm nicht folgen konnte. Nicht ohne Engelsmodus. „Was meinst du damit?“
Lysander kehrte wieder zu seiner Außenwelt zurück und begann schief zu grinsen. „Ach, zerbrich dir schon mal nicht dein hübsches Köpfchen. Das würde Lucy überhaupt nicht gefallen.“
Ryan runzelte die Stirn und blickte in die Richtung, in welche Lucy verschwunden war. Bestimmt war diese nun am Weg zu ihrer ersten Schicht mit Calyle. Die Zeit wurde immerhin bereits ziemlich knapp! „Ich habe doch überhaupt keinen Dienst mit ihr. Also weshalb sollte sie das jucken?“
Lysander´s Lächeln wurde noch breiter, nachdem er am Bier genippt hatte. Wo war übrigens Ryan´s Anteil? Er fand es neben seiner Liege wieder und angelte nach dem kühlen Getränk. „Nun ja, du kennst mich doch. Ich bin ein Verfechter für jegliche Frauenrechte und würde natürlich niemals eine hintergehen. Ich habe Haylee geschworen dir nichts zu sagen, welche überhaupt keine andere Wahl hatte, als ich mich in ihrem Kopf befand. Du kennst das ja. Woran man nicht denken möchte, tritt am ehesten in Erscheinung.“
Ryan schüttelte verständnislos den Kopf. „Wovon zur Hölle sprichst du, Lysander? Komm bitte einmal in deinem Leben einfach auf den Punkt.“
Da ließ sich Lysander natürlich nicht zweimal bitten, vor allem da dieser nicht ahnte, was er damit lostrat. „Lucy steht total auf dich. Und was ich von Haylee weiß, schon seit Jahren!“
Ryan spuckte hochkant das Bier wieder aus, welches er eben genießen hatte wollen. Lysander lachte amüsiert. „Schwachsinn!“ Meinte er und wischte seinen Mund am Handtuch ab. „Lucy kann mich nicht ausstehen. Seit Jahren bereits. Warum denkst du, dass wir uns aus dem Weg gehen oder nie miteinander sprechen? Hast du uns bisher überhaupt einen einzigen Satz austauschen sehen? Ich meine... Es ist Lucy! Sie ist überheblich und versnobt und... neunmalklug!“
Lysander stutzte. Er wusste, dass sein Kumpel ein Problem mit Lucy hatte, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte es ihn nie soweit interessiert, dass er sich erkundigt hätte, was los sei. Oder gar eine Vermittlung zwischen den beiden in Betracht zog. Als Kinder waren Lucy und Ryan eng befreundet gewesen. Beste Freunde, wenn er sich nicht täuschte. Bisher hatte er angenommen, sie seien später, wie es oft zwischen Jungs und Mädchen war, einfach getrennte Wege gegangen.
Ryan war die Lust auf das Bier vergangen. Er legte sich wieder zurück auf die Liege, ließ sich zurückfallen und stopfte mit mehr Druck, als nötig seine Kopfhörer in die Ohren. Nein, er hatte keine Lust mehr, auch nur noch ein Wort darüber zu hören. Die Verbindung zwischen Lucy und Ryan war bereits vor langer Zeit gekappt worden.
Nur leider hatte er vergessen, welches Lied in seiner Playlist auf ihn wartete... Welche Erinnerungen es in ihm heraufbeförderte. Wie schwer sein Herz einmal mehr sein würde...
Frustriert riss er die Kopfhörer wieder heraus, sprang auf und brummte etwas davon, dass er eine Runde um den Block gehen würde. Lysander ließ er verwirrt und ein wenig gekränkt dabei zurück.
Es war doch verrückt, wie sehr man sich im Alter verändern konnte. Eben noch warst du ein unschuldiges kleines Kind, spielst mit deinen besten Freunden und Personen, welche wahre Familienmitglieder für dich waren. Du teiltest alles mit ihnen. Auch deinen Schirm, wenn ihr gemeinsam vom Schwimmbad, direkt in den Regen kamt. Auf Ausflügen teilte man seine Jause mit dieser Person, oder packte etwas ein, von dem man wusste, dass sie es gerne aß. Man kümmerte sich umeinander. Tröstete einen. War einem die Schulter zum Ausweinen, wenn man einen Test vergeigte. Sie hatten so oft telefoniert... So viel quatsch ausgetauscht, der heute absolut lächerlich klingen musste.
Wie konnte man eine solche Person bloß einfach von sich weisen. Sie... Sie wegwerfen, als sei sie Müll? Ryan trat gegen einen nahegelegenen Baum, bloß um einen Moment später zu fluchen.
Humpelnd beschleunigte er sein Tempo, da ein Hund der Nachbarschaft auf ihn aufmerksam geworden war und verschwand hinter der nächsten Häuserzeile. Seine Gedanken rasten. Hatte Lysander recht? Hatte Haylee es richtig verstanden?
Nein. Lucy hatte Ryan vor vier Jahren endgültig die Freundschaft gekündigt. Nachdem sie beide eine solch innige Kindheit geprägt hatte, war er umso enttäuschter von ihr gewesen. Katya outete sich, als die Tochter von Michael, Tyrone, als der Sohn von Gabriel. Calyle, als der Sohn von Raphael... Lucy war von Anfang an als die Tochter von Uriel anerkannt gewesen. Klug, schön und gesegnet mit einer unglaublichen Auffassungsgabe.
Was blieb also für den Rest übrig? Für Olympia, Lysander und ihm? Die drei, welche nicht hier bei den Vorstädter leben? Nicht im Luxus schwimmen, sondern ein einfacheres Leben führen? Gut, sie waren nicht unbedingt arm gewesen, nicht so schlimm wie Haylee. Aber hatten sich auch keine Vorstadt, als eigen gezeichnet. Celiné, Fiona und seine eigene Mutter Josephine, hatten es schon richtig gemacht. Sie waren nicht im Herz der fünf anderen Mütter so akzeptiert worden, wie es richtig gewesen wäre. Sie hatten sich nach der Geburt nämlich lieber distanziert, um ein unscheinbares und ruhiges Leben zu führen, mit dem Gedanken, dass man uns alleine besser beschützen und leiten kann, als wenn wir gemeinsam auf einem Flecken groß wurden. An diesem Punkt hatten sich viele Meinungen spalten müssen.
Aber nicht so er und Lucy. Nach drei Jahren hatten sich alle sieben, verbliebenen Mütter wieder getroffen, damit wir einander kennenlernen konnten. Also nein, es war nie, reiner Friede, Freude, Eierkuchen gewesen.
Schon beim ersten Treffen, woran er sich seltsamerweise noch viel zu gut erinnerte, hatte er sein Weihnachtsgeschenk mit Lucy geteilt. Es waren Bauklötze gewesen und er hatte diese abgöttisch geliebt. Noch heute standen sie in der kleinen Hütte, in welcher sie lebten, auch wenn er mittlerweile nicht mehr damit spielte. Später teilte er seine Lieblingsspeisen mit ihr. Sein restliches Spielzeug und einmal sogar seine Weste, als ihr kalt geworden war. Natürlich hatte er stets auf seine kleine Schwester geachtet.
Lucy war... klug. Aber auch chaotisch und eine Tagträumerin gewesen. Wenn er sie nicht zur Seite schubste, während sie wie ein Wasserfall plapperte, dann lief sie gelegentlich gegen eine Laterne. In ihrer eignen Straße! Auf Fahrradtouren hatte er sie gerne am Gepäckträger mit genommen, weil sie einfach nicht so fit gewesen war, wie die anderen. Es hatte ihm auch nie etwas ausgemacht. Sie war seine Schwester gewesen. Seine beste Freundin, seit er denken konnte!
Und dann war der Bruch gekommen. Etwas, von dem er niemals geglaubt hatte, dass es einen Unterschied machen könne, hatte Lucy sich gegen ihn wenden lassen. Sie hatte ihm die kalte Schulter gezeigt, nicht auf seine Nachrichten reagiert und über ihn gelacht! Sie hatte... ihn, ihren besten Freund, ausgelacht!
Wie also? Wie, zur Hölle, kam Haylee auf die Idee, dass Lucy in ihn verliebt sein könne? Ausgerechnet in ihn! Sie hatte mehr als deutlich einen Schlussstrich zwischen ihnen beiden gezogen.
Es hieß zwar, dass Jungs und Mädchen nicht für immer befreundet sein konnten, dass sich ihre Beziehung in den Jahren änderte, doch das hatte er nicht glauben wollen. Mit Lucy hatte Ryan, in jungen sechs Jahren, sogar seinen ersten Kuss gehabt. Damals hatten sie darüber gelacht... Verlegen festgehalten, dass küssen ekelig war und sie nicht verstanden, weshalb Erwachsene dies so gerne taten...
Frustriert fuhr er sich durch das kurze, stachelige Haar. Nun, da dieser ganze Schwachsinn aufgewirbelt war, musste Ryan das für sich klären. Er war nicht der Typ, der ewig über etwas nachdachte. Nein, er lebte lieber in den Tag hinein. Beziehungen kamen und gingen und an die meisten erinnerte er sich überhaupt nicht mehr. Beziehungen, seien sie intimer Natur, oder freundschaftlicher, blieben offensichtlich nicht besonders lange. Sie waren bedeutungslos. Das hatte ihm Lucy gelehrt!
Ryan achtete darauf, sich im Schatten der Allee zu befinden, wo kein einziges Fenster hin zeigte, dann sprang er los. Es dauerte bloß einen Augenblick, ehe er sich am Dach des nahen Schulgebäudes wiederfand und zwei Gestalten erschrocken hoch fuhren.
Calyle schielte auf seine Armbanduhr. „Du und Lysander seit doch erst gegen Mitternacht dran.“ Bemerkte dieser.
„Blitzmerker!“ Fauchte Ryan ungeduldig. „Lucy, wir müssen sprechen. Sofort.“
Lucy deutete auf ihren bezogenen Posten. „I-Ich kann hier nicht weg. Was ist, wenn jetzt eine Horde an Dämonen anstürmt, oder schlimmeres!“
Er taxierte sie mit einem ernsten Blick. „Calyle schafft das für fünf Minuten alleine. Beweg dich. Jetzt!“
Lucy bewegte sich, nachdem Ryan vom Dach gesprungen war, um am Fuße der Schule, abseits von den Überwachungskameras, auf sie zu warten. Jedoch folgte sie ihm nicht, da sie gehörig war, sondern um ihm eine Standpauke zu halten. So konnte er sie doch nicht behandeln!
„Ryan!“ Fauchte sie, als sie wenige Meter neben ihm am Asphalt landete. „Egal was es ist, dass kann auch bis nach unseren Schichten warten. Das hier ist ernst!“
Er ließ sie nicht einmal fertig sprechen, sondern fuhr ihr dazwischen. „Lysander war in Haylee´s Kopf. Ich weiß es jetzt.“ Genüsslich konnte er beobachten, wie in Lucy´s Gesicht, mehrere Gefühle miteinander kämpften. Selbst heute noch. Nach so vielen Jahren konnte er jeden einzelnen Zug ihrer Mimik entschlüsseln. Die Art, wie sich ihre Stirn kräuselte, verriet ihm, dass sie angestrengt nach dachte... Dann wurden ihre Augen groß, als ihr der Zusammenhang aufging und zum Schluss fasste sie sich mit Zeigefinger und Daumen an die Nase, während ein genervter Seufzer ihre Lippen verließ. Damit verbarg sie die zarte Röte auf ihren Wangen und gab sich selbst Zeit, das gesagte zu verarbeiten.
„Hör zu, es ist...“
„Speis mich jetzt ja nicht ab!“ Schrie Ryan halblaut. „Nicht dabei!“ Mahnte er streng.
Ungläubigkeit breitete sich in Lucy´s hellblauen Augen aus. Sie stützte einen Arm in die Seite und ging ebenfalls auf Konfrontation. „Was soll ich deiner Meinung nach sonst machen? Als ob ich mich dazu entschieden hätte, oder so. N-Nachdem du von diesem Dolch durchbohrt worden bist, war es ganz plötzlich da und... Ehrlich gesagt, dachte ich, dass meine Gefühle irgendwann wieder fort gehen würden...“ Sie räusperte sich. „Aber mach dir keine Sorgen, ich werde dir in keinster Weise zu nahe treten und auf Abstand bleiben. Nichts ändert sich.“
Ryan blinzelte irritiert. Der Vorfall, mit dem ersten Throne, welchen sie jemals begegnet waren, ist bereits vier, elend lange Jahre her. Damals hatte noch keiner um die besonderen Heilfähigkeiten gewusst. Ja, Wunden waren bei ihnen immer schnell verheilt und gebrochen hatte sich keiner der Nephilim jemals etwas, als Kind. Aber diese Superheilkräfte, waren erst im Alter von zwölf, dreizehn Jahren aufgetaucht, zusammen mit ihren anderen Fähigkeiten. „Warte... Auf dem Dach...“ Begann er und trat einen Schritt auf Lucy zu. „Der Vorfall mit dem Throne war erst nachdem unsere Kräfte erwacht sind und ihr uns ausgegrenzt habt. Was... Was hattest du überhaupt dort verloren?“
Lucy blickte verlegen zu Boden und scharrte mit den Zehenspitzen auf einem Stein herum. „I-Ich war... Ich habe mich abscheulich gefühlt. Wie ich dich behandelt habe, um Katya zu gefallen und meine Unsicherheit, da wir in ein Alter kamen, wo Freundschaften... wie unsere, sich entfremden, das hat mich... nicht gerade rational handeln lassen. Als du wieder zuhause warst und die erste Woche ohne eine einzige Nachricht von dir verging, habe ich es nicht mehr ausgehalten... Irgendwie... Irgendwie habe ich mich dann ganz plötzlich teleportiert. I-Ich stand da... vor eurer Haustüre und Josephine hat mich einfach nur angestarrt, als sei ich ein Geist oder so...“ Lucy begann an ihrem zur Seite geflochtenen, hellblonden Zopf herum zu ziehen. „Ich habe auf gut Glück gefragt, ob du zuhause bist, aber deine Mutter sagte, du seist noch etwas unterwegs, wie jeden Abend. Also habe ich mich erinnert, wo dein Lieblingsplatz ist, von dem du immer gesprochen hast. Ich bin hin gelaufen, um mich zu entschuldigen und dich zu bitten, dass wir wieder beste Freunde sind. Dass alles wird, wie es immer gewesen ist...“
Ryan trat mit seinen langen Beinen auch noch den letzten Schritt heran, ehe er es wagte eine Hand auf ihren gesenkten Kopf zu legen. Sanft zog er sie an sich und drückte seine Kindheitsfreundin, während er das Gefühl, sie nach so langer Zeit wieder in seinen Armen zu fühlen, einfach bloß genoss. Für einen Sekundenbruchteil fühlte es sich an, als sei alles beim Alten. Zwei Kinder, die einander bedingungslos liebten, wie Geschwister. Stritten, sich versöhnten und weiter spielten.
Lucy sprach weiter. „I-Ich habe den Throne kaum gesehen, so schnell hat er sich bewegt und auf dich eingeschlagen. Du konntest gerade so ausweichen und in dem Moment, in welchem sein Dolch durch deine Schulter ging, dachte ich schon, i-ich würde denselben Schmerz spüren. Ich schrie und lenkte seine Aufmerksamkeit auf mich. Gleichzeitig, als er auf mich losstürmte, teleportierte ich mich zu dir, packte dich und floh zu Josephine...“ Mehr brachte sie nicht mehr hervor, da Atemlosigkeit ihre Lungen lähmte. Es war, als ob sie den gesamten Sommer noch einmal erlebten. Jeder aus der Sicht des anderen. Lucy bereute es, sich wie eine Tussi aufgeführt zu haben und natürlich Katya genauso. Im nächsten Sommer war einigermaßen Ruhe eingekehrt, doch etwas hatte sich in der Dynamik der Nephilim geändert gehabt. Es war gewesen, als seien sie, zusammen mit ihren Fähigkeiten, ganz andere Personen geworden. Aus den kleinen Kindern, die wie Geschwister miteinander spielten, waren Wesen geworden, mit zweifelhafter Herkunft. Niemand hatte so recht gewusst, was nun von ihnen erwartet wurde. Wer würde den ersten Streich landen, den anderen Hintergehen?
„Ich habe dich auch vermisst, Lu.“
Lucy wagte es, ihre Arme nun seinerseits, um Ryan´s viel größeren Rücken zu legen. Er war nicht massig, oder sonderlich breit gebaut. Aber zwischen dem Jungen, den sie überredet hatte, mit ihren Puppen zu spielen, und diesem hier, war viel Zeit dazwischen geraten. Wichtige Zeit, welche Lucy im Grunde verpasst hatte. Zeit, welche die beiden niemals wieder zurückbekommen würden...
Ryan löste sich jäh von Lucy, als ein seltsames Geräusch erklang. Es war, als ob zwei Klingen aufeinandergetroffen hätten. Da Lucy leichtfüßiger war, sprang sie viel flinker über die Mülltonnen, zurück auf das Dach. „Calyle, wir sind da!“ Hörte er sie noch rufen, dann hatte auch er das Dach erreicht.
Sie waren also da! Dämonen, an welchen er seinen jahrelangen Frust auslassen konnte. Sie dahin schlachten, bis das bittere Gefühl des Bedauerns in seiner Brust endlich verklungen war. Lucy machte sich bereits auf in die Schlacht, kam Calyle zur Hilfe, indem sie ihren Bogen beschwor und aus einem unsichtbaren Köcher ihre goldenen Pfeile zog. Da wich Calyle zur Seite und eine seltsame rote Verfärbung breitete sich auf Lucy´s Rücken aus.
Alles erstarrte. Da waren keine Dämonen. Nur Lucy, Calyle und er. Entsetzt starrte Calyle zu etwas, was direkt vor Lucy stand, während diese ihre beschworene Waffen fallen ließt und zurücktaumelte. Da entdeckte Ryan, im Zentrum der grotesk schönen, roten Blume, etwas dass schimmernd daraus hervorquoll. Eine... Engelsklinge. Aber keine, wie die, welche ein Throne führte.
„W-Was hast du getan?“ Fragte Calyle mit zittriger Stimme.
„Oh mein Gott... Lucy!“ Entglitt es einer weiteren Stimme. Er konnte sie zwar nicht sehen, da sein Blick alleine auf der, zu Boden sinkenden Lucy lag, doch wusste, wer es war.
Bebend ging Ryan auf die Knie und kroch auf Lucy zu. Sie betastete etwas, dass ihr scheinbar Schmerzen bescherte und hustete. Ein Blutschwall ergoss sich aus ihrem Mund und sie kippte nach hinten. Gerade noch so, landete sie in Ryan´s Arme, welche sie sanft umfingen. „Lu... Lu, bitte...“ Tränen krochen seine Augen hinauf. Tränen, welche er vor einigen Jahren geschworen hatte, niemals wieder wegen dieser blöden Kuh zu vergießen und nun... Weinend legte er seine Stirn an die ihre, unfähig etwas anderes zu tun, als um seine kleine Schwester zu weinen.

 

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Wenn man lange genug darüber nachdachte, machten die Tanten der einzelnen, vielleicht Sinn. Somit musste in irgendeinem, völlig verdrehten Universum, welches unserem extrem glich, der Tod meiner Mutter, irgendeinen Sinn gehabt haben. Vielleicht diesen, dass ich stärker wurde? Nein, denn stärker fühlte ich mich auf jeden Fall nicht.
Dass sie von jemanden ermordet worden war, den sie geliebt hatte, machte das alles noch tragischer. Wäre es ein, nach hinten losgegangener Raubüberfall gewesen, könnte ich das Universum dafür verfluchen. Einem Unfall die Schuld geben. Aber...
Mit Tränen verschmierten Gesicht, erschien ich in der, beinahe leeren, Küche. Einzig ein starker Luftzug, welchen meine Erscheinung auslöste, brachte die Frau, welche vor mir stand, dazu, sich vom Abwasch abzuwenden und mich mit einem fröhlichen Lächeln zu begrüßen. Leider verging ihr das Lächeln innerhalb einer Sekunde und ihre hellrot bestrichenen Mundwinkel sanken, während Besorgnis in ihren klugen Augen aufblitzten. Ob ihre Augen mehr grün, oder hellbraun waren, konnte ich bis heute nicht sagen, doch dafür hatte ich nun ohnehin keine Zeit mehr. „Haylee, Liebes. Was hast du denn? Wieso weinst du?“
Sie wischte ihre nassen Hände in der Blümchenschürze ab, während mein gesamter Körper erbebte. „Wieso?“ Fragte ich. Meine Stimme bebte mindestens so sehr, wie meine angespannten Muskeln. „Wieso hast du meine Mutter getötet?“
Für einen Moment huschte Besorgnis über ihr Gesicht, da verschwand es auch schon wieder und sie spielte mir Verwirrung vor. „Haylee, wovon redest du denn da? Deine Mutter war, seit ich denken kann, meine beste Freundin! Ich hätte ihr niemals etwas angetan!“ Beteuerte sie. Ein Teil von mir wollte der Ehrlichkeit in ihrer Stimme sofort glauben schenken. Der andere jedoch, wusste es besser und mein Herz zerfiel einmal mehr in tausend Stücke. Ein Herz, welches Calyle erst wieder mühsam zusammen gesetzt hatte...
Ich zog das neue Tagebuch aus meiner Umhängetasche und hielt es vor mich hin. „Sie hat es hier festgehalten. Für den Fall, dass ihr etwas passiert, sollte ich erfahren, wer Luzifer´s Nachkomme ist. Und für diesen Abend hatte sie datiert, dass sie nun den Mut fasst und dich zur Rede stellt. Immerhin war es deine Idee, dass sie mich nach meiner Geburt direkt umbringt. Es, als Kindstot darstellt!“
So detailliert war es zwar nicht gewesen. Es hatte darin gestanden, dass es Marie schwergefallen war, diesen Vorschlag zu unterbreiten, für das übergeordnete Wohl. Marie hatte sich sogar dermaßen schuldig gefühlt, dass sie wenig später, glatt zusammen gebrochen war. Jedoch so gut, wie sie mir bisher ihre Unschuld und das Mitgefühl vorgespielt hatte, zweifelte ich an der Aufrichtigkeit ihrer Gefühle damals.
Marie schenkte dem Buch einen langen Blick. Es war in etwa so, als würde sie versuchen, durch den Einband hindurch das Geschriebene zu lesen, um die Wahrheit zu erfahren.
Ihre Mimik geriet ins Wanken... „E-Edna sollte es doch nicht wissen. Mir war klar, dass sie mir nicht verzeihen würde. Nicht sofort, jedenfalls.“
Ich stopfte das Buch zurück in meine Tasche. „UND DESHALB HAST DU SIE EINFACH UMGEBRACHT?“ Ich konnte meine Stimme nicht beherrschen. Der Schmerz war einfach überwältigend. Ich musste ihn hinaus lassen. Wollte mir Gehör verschaffen.
„Nein, ich habe sie nicht... nicht mit Absicht getötet! Wir... Wir haben uns gestritten, musst du wissen. Plötzlich war Calyle da und sie begann ihn anzuschreien, dass er sich von dir fern halten solle. Da-Dass sie dich jahrelang nur vor seinem Einfluss hatte beschützen wollen und nun da sie es aufgrund von Michael´s Fluch nicht mehr richtig konnte, sollten Celiné und die anderen deine Betreuung übernehmen. Mei-Mein kleiner Engel war so gekränkt.“ Sie fasste sich an die Brust, als der Herzschmerz einsetzte. „Er beteuerte ihr, dass er alles daran setzen würde, damit du ihn liebst und ihm bedingungslos vertrauen kannst, denn auch er hat eine Vision von Lucy erhalten. In der sah er euch, als friedliche Herrscher über die Erde. Ihr Kinder werdet verehrt, wie richtige Götter! Ihr werdet die Vernichter der Dämonen genannt und schließt gemeinsam die Tore in beide Welten, sodass die Reinkarnation von den Seelen auch Wirklichkeit werden kann. Kannst du dir das vorstellen? Unsterblichkeit, für alle Menschen! Kein Himmel, keine Hölle.“ Sie seufzte stolz.
So ein Blödsinn! Von so etwas wollte ich absolut nichts hören! Ich, als Regentin über die Menschen? Klar, die Dämonen loszuwerden, klang natürlich überhaupt nicht schlecht. Jedoch dafür erst mal das natürliche Gleichgewicht zerstören? So etwas war unmöglich zu erfüllen, ohne dafür unvorstellbare Opfer zu bringen!
„Scheiß da drauf!“ Entglitt es meinem Mund. Marie musterte mich geradezu erschrocken. „Ich hätte niemals die Weltherrschaft, oder die Auslöschung der Dämonen, über das Wohl meiner eigenen Mutter gestellt.“
Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. „Siehst du. Und genau dafür braucht Michael seinen Luzifer. Sie sind das Yin und Yang der Natur. Die gegenseitigen Elemente, welche einander aufheben. Positiver und negativer Pol, welche sich anziehen! Ihr gehört einfach zusammen, um einander besser zu machen. Und genau das wollte Edna verhindern! Egal was ich ihr auch gesagt habe... Sie wollte einfach nicht zuhören, wie wichtig dieser Ausgleich ist!“
„Und das rechtfertigt einen Mord?“ Meine ungläubige Stimme war kaum wiederzuerkennen.
„Nun ja, nein. Natürlich nicht. Aber sobald einmal die Dimensionen voneinander getrennt sind, werden die Seelen hier immer wieder geboren werden. In einem unendlichen Zyklus! Haylee...“ Sie kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu und packte mich an meinen Schultern. „Sie wird doch wieder kommen, Liebes. Ihre Seele wird zurück kommen und in einem anderen Menschen, oder in der Gestalt eines Tieres fahren. Du wirst sie wieder sehen, genauso wie ich meinen Mann. Verwandte Seelen, finden einander immer und immer wieder! Das ist ein Naturgesetz!“
Ich schlug ihre Hände weg. „Das ist so krank, Marie! Hörst du dir überhaupt selbst zu? Das ist... Selbst verherrlichend und Blasphemisch. Besonders für jemanden, der so gottesfürchtig ist, wie du! Du... Du hast meine Mutter, deine Sandkastenfreundin getötet. Mich wochenlang belogen... Nein, uns alle sogar! Und heiligen Ort entweiht... Bloß damit dein Sohn ein Weltherrscher werden kann und das gesamte Universum in Gefahr bringt? Du bist verrückt geworden!“ Anders konnte ich mir das nicht erklären.
„N-Nein, nicht verrückt. Mir wurden die Augen geöffnet, Haylee. Oder denkst du etwa nicht, dass Gott Lucy diese Visionen schickt? Er will, dass wir uns unabhängig machen. Es ist sein Wille, dass wir in unserer Entwicklung voranschreiten. Selbst unsere Götter wählen, Geschöpfe die sind, wie Menschen, aber auch, wie Engel. Eine perfekte Harmonie aus Menschlichkeit und göttlicher Gnade bilden, um uns, den normalen Menschen, den wahren Weg zur Göttlichkeit zu zeigen.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Meine Mutter hatte mir beigebracht, dass das was mit uns passiert, nach dem Tod, nichts weiter ist, als ein natürlicher Prozess. Unser Licht im Gehirn geht aus, der Körper zerfällt und wir werden wieder eins mit der Natur. Da gibt es keine Seele, die in den Himmel oder die Hölle wandert. Keine Wiedergeburt. Sie wollte nie, dass ich an so einen Schwachsinn glaube und... mittlerweile verstand ich es. Der Tod sollte etwas Endgültiges sein, etwas Gnädiges. Der Mensch strebte vielleicht nach etwas Höherem, nach so etwas, wie Perfektion, doch man sieht es doch ganz deutlich, dass dieses Wort für die Natur nicht existiert. Nichts und niemand ist perfekt.
Das, was sich Marie da einbildete, war unmöglich zu erreichen. Man schiebe es auf meine Ungläubigkeit für jegliche Religion. Für Ignoranz, von mir aus. Aber nein!
Meine Schritte führten mich rückwärts aus dem Haus hinaus. „Tut mir leid Marie.“ Mein Gesicht musste ihr wohl deutlich genug sagen, was ich darüber dachte. Trotzdem blickte ich zu allerletzt in eine überhebliche Miene von ihr. Dachte sie etwa, dass ich meine Meinung schon noch ändern würde? Bloß aufgrund von Lucy´s Vision... Prophezeiung, oder was auch immer es sein möge? Dann hatte sie sich aber gewaltig geschnitten! Lucy hatte auch prophezeit, dass ich sie mit meinem Schwert durchbohren würde, wenn wir zirka dreizehn Jahre alt waren. Auch das ist niemals geschehen und die Frist dafür, war längst ausgelaufen. So würde es auch nun eintreffen. Um nichts auf der Welt unterstützte ich einen Plan, der aus Wahnsinn gezeugt worden war.
Ich warf die Türe hinter mir zu. War dies auch der Bruch zwischen Michael und Luzifer gewesen? Zwei ungleiche Seelen, welche unzertrennlich gewesen waren, so lange, bis Luzifer etwas anstrebte, über was Michael nicht einmal nachdenken wollte? Hatte Wahnsinn die beiden auseinandergetrieben?
Würde Calyle und mich... Ich erstarrte. Calyle hatte mich... Mein Herz krampfte so stark, als ob sich eine Faust darum schließen würde. Bisweilen war ich dermaßen auf den Mörder meiner Mom fixiert gewesen, dass ich alles andere außen vor gelassen hatte. Natürlich hatte Marie meine Mutter nicht innerhalb von Minuten quer durch den Wald geschleppt und vor ein Auto geworfen. Luphriam hatte bestätigt, dass ein Nephilim sie weggetragen hätte...
Meine Beine gaben nach und ich stürzte mit verschwommenen Blick gegen den niederen Gartenzaun. Calyle hat... dabei zugesehen, wie seine Mutter die meine tötete. Er hatte sie gedeckt, mich wochenlang in Unwissenheit gelassen, mich getröstet und geschworen, dass der Täter schon gefunden werden würde. Ha-Hatte etwa auch er es wie einen Einbruch aussehen lassen? Die ganzen Möbel... Calyle hatte mir alle bloß vorgespielt. Es war alles ein abgekartetes Spiel gewesen! Nichts davon echt...
Ein Schrei, welcher meinen Schmerz, meine Wut und Trauer in sich vereinte, entkam meiner Kehle. Tränen sickerten kühl über meine brennende Haut und mein Herz drohte mir aus der Brust zu stoßen, so heftig schlug es.
„Haylee?“
Ich hörte die Stimme Lysander kaum, welcher von hinter dem Haus nach vorn schlitterte. Die Gefühle in meinem Inneren, brodelten einfach über. Sie wurden so heftig, dass sie mir körperliche Schmerzen verursachten und damit sie endeten, gab es nur eine einzige Möglichkeit... Ich hatte es oft getan, um den Frust in mir loszuwerden. Um meinem Selbsthass und meiner Trauer ein Ventil zu geben.
Ich hob meine Hand und schlug so heftig auf den Boden, dass es ein knackendes Geräusch gab, während ich erneut aufschrie. Dieses Mal entschlossener.
Kraftvolle, doch nicht gerade breite Arme, schlossen sich um meine Taille und hoben mich auf die Beine. „Komm, Kleine. Wir müssen dich hinein bringen.“
Durch den Tränenschleier sah ich Lysander´s Gesicht zwar nicht, doch mein Blick fing am Rande eine Stelle ein, welche mir noch nie aufgefallen war. Es war ein Loch... Faustgroß und aschefarbene Adern zweigten von ihm in alle Richtungen ab. Das Viertel lag im Dunkeln...
„Ha-Habe ich das?“ Fragte ich, während Lysander mich hinter das Haus zog, zur Garage.
„Ja, das warst du. Beweg dich schneller.“
Schniefend versuchte ich, die Tränen aus meinem Gesicht zu wischen, doch es waren einfach viel zu viele. Meine Augen wollten nicht aufhören zu weinen. Der Schmerz nicht abebben. Ich war so enttäuscht und wütend, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
Lysander schloss die Garagentüre hinter uns, ehe er mich vor sich schob und im halbdunklen besorgt betrachtete. „Was ist los Haylee? Was ist passiert?“
Ich hob meine Hände und tastete damit ungelenk nach seinem Gesicht. Lysander habe ich meine Gedanken anvertraut, meine Erinnerungen und meine Gefühle... Er kannte mich nun so gut, wie ich ihn. Nein, das würde ihn zerstören... Lysander war so sensibel und unsicher. Wenn er wüsste, zu was Marie fähig ist, oder gar was sie plant... In meinem jetzigen Zustand konnte ich ihm unmöglich alles erzählen. „N-Nichts...“ Antwortete ich stockend. Seine klugen Augen funkelten voller Verständnislosigkeit. „Mach dir bitte keine Gedanken. Geh... Geh zu Ryan und... und den anderen. Bleib bei ihnen und tu mir den Gefallen, hol Olympia beim ersten Sonnenstrahl aus meiner Wohnung. Ich muss... Ich muss... Ich muss mit ihm reden. Alles klar stellen, okay?“
Er verstand absolut kein Wort, doch nickte schlussendlich. „Du weißt wer Luzifer´s Sohn ist.“ Lysander sah die Antwort in meinen Augen, lehnte sich vor und gab mir einen Kuss auf den Scheitel, während er mich in die Arme zog. Etwas, dass ich gerade eben unbedingt benötigte. Jemanden dem ich glauben konnte und vertrauen. „Schon gut, ich halte die Stellung. Klärt das.“
Ich zog die Tasche über meinen Kopf und drückte sie in Lysanders Arme. „Pass darauf auf, bis ich zurück bin. Es sind die Tagebücher meiner Muter darin.“ Er nickte schlichtweg. Ich wusste, dass ich ihm bedingungslos vertrauen durfte.
Durch die besprochenen Pläne, wusste ich ganz genau, wo sich Calyle befand. Bei seiner Rundführung hatte er mich auch bereits dort vorbei geführt und einige Geschichten aus seiner Grundschulzeit erzählt. Das war erst ein paar Tage her gewesen? Kaum zu glauben!
Ich entfernte mich von Lysander, sah ihm noch einen langen Moment in die Augen, dann schoss ich los. Ich teleportierte mich vor das Schulgebäude und blickte hinauf zur langsam tickenden Uhr. Für einen Moment war es so, als wolle sie mich verspotten. Mir unter die Nase reiben, wie lange ich doch Calyle fälschlicherweise vertraut hatte. Ihm mein Herz geschenkt hatte...
Ich schluckte schwer. „Calyle?“ Rief ich. Es dauerte nicht lange, da stand er auf einer Ecke der Schule und winkte mich hoch auf das Dach. Ich überlegte nicht lange, sondern teleportierte mich direkt neben ihn. Ehe er den Schlag kommen sah, setzte es eine Ohrfeige, welche über das Gelände hallte.
Ungläubig fasste er sich an die, sich schnell rötenden Wange. „Autsch!“ Fluchte Calyle.
„Du hättest es mir sagen müssen, Calyle!“ Meine Stimme klang eiskalt.
Calyle wandte mir seinen Blick wieder zu, während er die Wange rieb. Für einen langen Augenblick verlor ich mich einfach in den sanften Farben, welche seinem Charakter scheinbar überhaupt nicht wiedergaben. Er erkannte, dass ich die Wahrheit wusste.
„Hat meine Mutter es dir gesagt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es war meine eigene. Die, die deine Mutter getötet hat und du hast verschwinden lassen! Erinnerst du dich?“ Fragte ich und trat ganz nah an ihn heran. „An diese unglaublich starke Frau, welche ohnehin bloß noch wenige Jahre zum Leben gehabt hätte? Sie hat Mittel und Wege gefunden, damit die Wahrheit trotzdem ans Licht kommt. Damit jeder erfährt, dass deine Mutter verrückt ist! Genauso wie du!“ Ich erschrak, als Calyle meine Hand abfing, welche gegen seine Brust gepikst hatte und sie nun in einem Griff hielt, welcher gleich auf mehrere Weisen schmerzte.
„Pass auf Haylee... Ich verstehe, dass du verletzt bist und dich hintergangen fühlst. Aber Edna, deine Mutter-...“
„Sie kommt nicht wieder!“ Schrie ich ihn erzürnt an. Wenn mir das noch einmal jemand erzählte, würde ich in die Luft gehen. Buchstäblich! „Sie ist tot! Marie hat sie getötet und du hast sie vor ein Auto geworfen! So etwas überlebt niemand! Außerdem hast du mich belogen und wochenlang so getan, als seist du mein Freund. Du warst für mich da! Obwohl du mitschuldig daran gewesen bist! Hast du eine Ahnung, wie sich das für mich anfühlt?“
Für einen Moment schloss Calyle die Augen und ich hoffte, zumindest ein winziger Teil in mir, dass er sich einfach entschuldigen würde und sich eingestehen, wie falsch das gewesen sei.
„Ich weiß... Ich weiß, Haylee. Du kannst es jetzt noch nicht verstehen, dafür ist dein Schmerz noch zu frisch. Aber nun, da du bescheid weißt, können wir uns endlich aneinander binden.“
Ich zog meine Hand mit einem Ruck zurück, als hätte ich mich an ihm verbrannt. Was hatte Calyle da eben gesagt? Kein Bedauern? Keine Entschuldigung? Dachte er etwa, nun würde ich mich auf eine ewige Verbindung mit ihm einlassen? Für immer und ewig gebunden an den Nephilim, welcher mich hinterhältig getäuscht hatte... für das höhere Wohl, wie seine Mutter es doch glorreich ausdrückte? „Wie bitte? Niemals!“ Beteuerte ich.
Calyle wirkte verständnisvoll. „Natürlich nicht jetzt sofort. Du brauchst erst mal Zeit, um das zu verarbeiten und mir zu verzeihen. Das verstehe ich, Haylee. Aber denk daran, dass wir zusammen gehören. Das haben unsere Seelen schon immer. Ich weiß, du fühlst es.“ Er streckte seine Hand aus, als ob er meine Wange streicheln wollte, doch mir platzte der Kragen. Ich hatte genug von all seinen verdammten Lügen!
Ich beschwor mein Schwert und schwang es in seine Richtung. Da er keine Zeit hatte, um auszuweichen, hob er den Arm, als ob er den Hieb abfangen wollte, doch beschwor stattdessen seine eigene Waffe... Mit dem kleinen Unterschied, dass es dieses Mal keine Dolche waren, sondern ein massives Schwert mit einer schlichten, gläsernen Klinge und einem golden, weisen Griff.
„Sieh an, wer da seine wahre Klinge zeigt!“ Spottete ich voller Schmerz in der Stimme. „Worin hast du noch gelogen, Calyle? Gib es zu!“ Ich zog die Klinge aus, nicht ernsthaft darauf bedacht, ihm Schaden zuzufügen, denn dafür besaß Calyle einfach viel mehr Kampferfahrung, als ich. Ich musste meinen Frust, den Zorn, die Trauer abbauen und wusste, ich konnte Calyle keinen ernsthaften Schaden zufügen. Das könnte ich auch nicht. Egal, mit was er mich noch verletzte, ich könnte niemals irgendjemanden etwas antun. Wieso, verstand ich selbst nicht.
Das Töten eines Dämons hatte sich gut angefühlt. Wie das Beseitigen einer Kakerlake, welche in einem sauberen Haushalt nichts verloren hatte.
„Das war alles, Haylee! Ich schwöre es. Weiter habe ich nichts zu verbergen. Du weißt einfach alles.“
Ich hieb noch einmal auf ihn ein. „Das glaube ich dir nicht!“ Schrie ich. Meine Klinge traf hart auf die von Calyle, woraufhin das Aufeinandertreffen knisternde Geräusche von sich gab.
„Ich sage die Wahrheit!“ Rief er zurück und blockte den nächsten Schlag. „Es war ein Unfall. Meine Mutter wollte Edna aufhalten, sie ist gestolpert und mit dem Kopf auf der Treppe aufgekommen. Es war also nur ein Unfall! Ei-Ein Tod im Affekt!“
Mit einem wütenden Aufschrei holte ich seitlich aus und es flogen Funken zwischen uns. Buchstäblich. „Das war Totschlag! Du und Marie habt sie auf dem Gewissen! Entsorgt, wie Müll, der euch unangenehm im Weg herum lag! Aber sie war nicht tot!Sie starb erst Tage später im Spital! Alleine! Ohne sich verabschieden zu können...“ Ich schniefte laut und meine Sicht verschwamm wieder. „Ich konnte mich nicht verabschieden... Ihr habt sie mir weg genommen.“
Die ganze Zeit über, blockte Calyle die Schläge, in welche ich all meine Kraft legte mühelos. Es tat so gut... So verdammt gut, endlich meine Wut in etwas legen zu können. Die Trauer zu zulassen und ihr ein Ventil zu geben.
Calyle schob meinen letzten Schlag zur Seite und ließ dann die Klinge sinken, um mir zu signalisieren, dass es genug war. „Haylee, du weißt, dass das keine Absicht gewesen ist. Du kennst mich. Ich liebe dich und beschütze dich vor allem, was mir möglich ist.“
Das war nicht sein Ernst! Der letzte Rest, welches ich mein Herz genannt hatte, zersplitterte. Ausgerechnet jetzt sagte Calyle, dass er mich liebte? Aber ob das reichte, um ihm zu verzeihen? Ja, da war etwas zwischen Calyle und mir. Seine Nähe verursachte mir Herzflattern, er sah so schön aus, dass ich ihn am liebsten ewig betrachten würde und vielleicht... Ja, vielleicht liebe auch ich ihn... Aber konnte ich auch Calyle Birdwell, Luzifer´s Sohn und Mitverursacher am tot meiner Mutter, lieben? Den jungen Nephilim, welcher log, weil er dachte, es sei so am besten für mich? Wen oder was würde er wohl in Zukunft noch aus der Welt schaffen, bloß um das zu bekommen, was er wollte?
„Ich hasse dich!“ Es war mehr ein Flüstern und alles, was ich noch hervorbrachte. Meine Kehle schmerzte, meine Augen brannten und meine Muskeln rebellierten mittlerweile. Um meine Worte zu unterstreichen, hob ich ein letztes Mal meine Klinge, stieß nach vorne zu, in dem Wissen, dass ich ihn unmöglich damit treffen konnte. Mein Körper war zu schwach, zu erschöpft von der Belastung diesen abends. Ich lief vorwärts, sah wie sich Calyle geschickt zur Seite bewegte und bereit einfach am Boden zusammen zu brechen, als meine Klinge, schmatzend in weiches Fleisch hinein glitt. Mühelos bohrte sie sich hindurch, bis sie auf der anderen Seite des Körpers wieder hinaus blickte. Erschrocken erstarrte ich.
„Lucy...“ Keuchte ich, während der Blick meiner Freundin ungläubig von meinem Gesicht, hinab auf das Schwert in meiner Hand wanderte. Sie holte erschrocken Luft, schien etwas sagen zu wollen, doch stattdessen spuckte sie einen Schwall Blut in meine Richtung. Warm ergossen sich die dunklen Spritzer in meinem Gesicht, als mir auch bereits ein erschrockener Aufschrei entkam.
Was hatte ich getan? I-Ich wollte doch niemanden etwas tun. Nicht einmal Calyle. Besonders aber Lucy nicht! Wie... Wie hatte das passieren können? Und woher war sie plötzlich gekommen?
Auge in Auge sanken wir beide zu Boden. Ich vor Schock und Erschöpfung und Lucy selbst, wurde gerade noch rechtzeitig von Ryan aufgefangen, welcher stolpernd hinter ihr erschien.
Ich verstand überhaupt nichts mehr. Alles verschwamm zu einem grotesken Film, dessen Inhalt man nicht verstehen, oder nachvollziehen konnte, weil er so verwirrend war und ausgezeichnet von Subtext, welchen man nicht kannte. Meine zittrigen Finger glitten vom Griff des Schwertes, doch es fühlte sich so an, als würde ich es noch zwischen meinen Händen halten. Das Gewicht war unbeschreiblich, drückte mich zu Boden, ohne mir eine Chance zu lassen.

 

- - - - -

 

„Sieht so aus, als wäre ich etwas spät dran.“
Calyle, Ryan und ich fuhren erschrocken herum, als eine fremde Stimme, direkt neben uns erklang. Es war wie ein Paukenschlag, aus der Bewusstlosigkeit, in welche wir alle drei getrieben worden waren, wieder aufzutauchen. Wurden zurück in die Realität gestoßen, wo wir uns Auge um Auge, mit etwas wiederfanden, dass genauso wenig in diese Welt zu gehören schien, wie Dämonen.
Ehrlich gesagt glaubte ich sogar für einen winzigen Augenblick, mich erneut mit einem menschlich getarnten Wesen wieder zu finden, doch etwas war ganz und gar anders an ihm. Ich kannte ihn! „Mister Harrison?“ Fragte ich ungläubig, während der alte, senile Mann, aufrecht und strotzend vor Kraft nun bloß zehn Meter entfernt da stand, mit erhobenem Haupt und... nach hinten gerollten Augen.
„Nein, ein Throne.“ Calyle verlor keine Sekunde mehr. Er sprang auf den Throne zu, welcher Besitz von seinem Nachbarn genommen hatte und hievte gleich mehrere Male geschickt auf ihn ein.
Der Throne jedoch wich Calyle geschickt und mühelos aus, wie Calyle es bei mir getan hatte, noch vor wenigen Minuten. Er parierte jeden Schlag, täuschte einen Angriff an, dann traf der Griff eines Dolches, die Schläfe von Calyle, welcher zu Boden ging. Ryan war, völlig im Blutrausch, auf einmal in der Luft und ließ seine Klingen auf den Throne nieder gehen.
Mein Blick schweifte zu Lucy. Ihr blutüberströmter Körper lag so friedlich da, als ob sie das alles hier schlichtweg verschlafen würde. Für einen Moment wollte ich das auch glauben... Tränen drängten sich wieder hinauf, während mein Lebenswille verpuffte. Sollte mich doch der Throne holen. Mir völlig egal. Alles war zu Ende. Meine Mutter fort, das versprochene weitere Leben eine Lüge... Die Verbindung zu Calyle bedeutungslos und meine Freundin... meine Schwester...
Ich ignorierte den Kampf, welcher für mich nun endgültig vorüber war und berührte das nackte Schienbein von Lucy. Mein Schwert musste sich irgendwann, nach dem Verlust meiner letzten Kräfte, aufgelöst haben, somit hatte die Stichwunde ungehinderten Blutverlust zu beklagen. „Das war meine Schuld...“ Schniefte ich. Ganz allein meine!
Langsam kamen Schritte auf mich zu. Ich wusste, sie gehörten weder Calyle, noch Ryan, dafür waren sie einfach zu leichtfüßig. Die Schritte verklangen, Zentimeter von mir entfernt. Meine müden Augen schlossen sich, in Erwartung des finalen Schlages, welcher die unendliche Schwärze über mich bringen würde, doch stattdessen erklang Ryan´s Stimme, von der anderen Seite des dreistöckigen Schulgebäudes. „Fass Lucy ja nicht an, du Monster!“
Erschrocken stellte ich fest, dass der Throne überhaupt nicht nach meinem Leben trachtete, sondern sich nach Lucy streckte. Es war wie ein Blitzschlag, welcher meine Muskeln dazu zwang, das zu beschützen, was von der liebenswerten, klugen Lucy Birdsall noch da war. Ich hatte ihr schon genug Schaden zugefügt. Niemals würde ich zulassen, dass etwas wie dieser verfluchte Todesbringer meine Freundin anfasste. Es sollte meine letzte gute Tat sein!
„Nein!“ Ich stürzte nach vorne, ehe der Throne darauf reagieren konnte, warf meinen gesamten Körper gegen die verfälschte Gestalt, eines alten Mannes und überraschte uns beide damit, wie viel Kraft ich noch aufbringen konnte. Schmerzhaft prallte mein Brustbein gegen seine Schulter, wir fielen zu Boden, ich landete auf dem Throne, doch ehe ich die Überhand, mittels meines Überraschungsangriffes erhalten konnte, drehte er uns bereits herum, sodass er über mir kniete.
Ob Engel oder nicht... Während der Throne mit seiner verbliebenen Klinge nach mir ausholte, traf meine freie Faust ihn zwischen den Beinen, woraufhin er laut aufschrie. Es verschaffte mir gerade einmal genug Zeit, dass ich ihn zur Seite stoßen konnte... Was im Nachhinein betrachtet, kein guter Einfall gewesen war. Mir war das Ende des Daches nicht bewusst gewesen. Es gab auch nichts, was uns auffing. Keine Erhöhung, kein Gitter. Nein, zu diesem Dach gab es ja noch nicht einmal eine Zugangstüre. Erschrocken blickte ich den letzten Metern entgegen, welche ich jemals auf meinem Weg beschreiten würde.
Ein Schrei löste sich aus meiner Kehle, ich schloss die Augen und sah buchstäblich noch einmal alles vor mir. Alles, was mir passiert war. Meine Mutter... Ja... Genau das wollte ich sehen, ehe ich ginge. Das fröhliche und geistig gesunde Gesicht meiner Mutter, zurück im Schoße ihrer geliebten Familie. Eine Familie, welche sie nur für mich verlassen hatte, um auf mich zu achten. Ich sah noch ein letztes Mal ihr schönes, altersloses Gesicht vor mir. Ihre säuberlich gekämmten Haare, die sich so weich angefühlt hatten. Das überglückliche Lächeln, welches ich sonst stets in Kombination mit ein wenig Verwirrtheit hatte sehen dürfen. Medikamentenlos. Zufrieden.
So wollte ich auch gehen. Erlöst von all den emotionalen Qualen, welche das Leben einem mit gaben. Ein Lichtstrahl erwärmte meinen Körper, sorgte dafür, dass ich mich wohl fühlte und keinen Schmerz verspürte.
Sah so etwa das Ende für jeden aus? Fühlte sich so sterben an? Wenn ja, dann konnte ich für dieses Geschenk bloß dankbar sein.

XIX - Der Sturz

Bereits seit meinem fünften Lebensjahr verstand ich, dass die Welt nicht nur aus Regenbögen und Bonbons bestand. Meine Mutter konnte gute Tage haben, an welchen sie mich in den Kindergarten brachte und pünktlich abholte. Sie schenkte mir ein Eis, machte lustige Sachen oder sprang zusammen mit mir, durch die ekeligsten Pfützen. Sie gab sich so Mühe eine gute Mutter zu sein... Doch dann gab es auch ihre schlechten Tage. Tage, an welchen sie verschlief, vergaß mich abzuholen oder gar mein Essen zu machen... und diese Tage häuften sich. Mit fünfeinhalb konnte ich mir selbst ein Brot schmieren und Dosen öffnen. Das sah sie natürlich nicht so gerne, da ich ein kleines Kind gewesen bin. Trotzdem war sie dankbar gewesen, für meine Selbstständigkeit.
In der ersten Klasse traf ich dann auf Adam. Er war der unglaublichste Junge gewesen, den ich je getroffen hatte und jeder, wirklich ausnahmslos jeder, wollte mit ihm befreundet sein. Alle lachten über seine Witze, er war charmant gewesen und für sein junges Alter sogar richtig niedlich. Er hatte mir mal erzählt, dass seine Eltern ganz viele Angebote hatte ablehnen müssen, von Agenten für Kindermodel.
Ich lernte, dass nicht alle so nett und umgänglich waren, wie Adam. Natürlich fiel sehr früh auf, dass ich nicht immer etwas zum Essen dabei hatte. Meine Hausübungen waren vergessen worden und Projekte ließ ich unter den Tisch fallen. Meine Mutter musste deshalb mehrmals im Monat antanzen, um den Lehrern Frage und Antwort zu stehen. Schnell wurde klar... meine Mutter entwickelte etwas, dass ich nicht verstehen konnte. Aber es war auf jeden Fall etwas, dass nicht jede Mutter befiel. Es war keine Krankheit. Es war etwas... unberechenbares.
Adam legte stets ein gutes Wort für mich ein und irgendwann begann er ganz von selbst, eine doppelte Portion zu Essen mit zu nehmen, damit wir beide satt wurden. Ständig mussten wir uns anhören, was für ein süßes Paar wir nicht seien und sicher irgendwann einmal heiraten würden.
Irgendwann... wurden wir dann tatsächlich ein Paar.
Meine Mutter begann in Therapie zu gehen, da sie tagsüber fantasierte und nachts Monster sah. Manchmal ging es ihr besser, an anderen Tagen eher nicht. Das war mein Leben. Bescheiden und ein wenig traumatisch, das ja. Trotzdem sagte ich mir stets, dass es nicht für immer so bleiben würde. Es war der Zustand meiner Mutter, welcher mir all den Kummer bescherte, nicht mein Schicksal! Es war die Umgebung, in welcher ich aufwuchs, doch aus diesem konnte ich irgendwann ausziehen. Aber eines wollte ich nie... Ohne Adam sein.
Die Trennung von ihm... war so gut wie einheitlich. Wir empfanden ähnlich, doch liebten uns zu sehr, um einander einfach so gehen zu lassen. Aber was man liebt, kommt doch wieder, nicht wahr?
Nein, es kam nicht wieder. Es kam jemand anders. Eine Person, in welcher man jemanden fand, den man sein ganzes Leben lang gesucht hatte, ohne es überhaupt zu wissen. Ich schaffte es, noch jemanden in mein Herz zu lassen, ihr mein Vertrauen zu schenken, und begann sie wie eine Schwester zu lieben.
Was man liebt, das lässt man sich weiter entwickeln. So einfach ist das. Wir leben nicht in einem Blumengarten, in welchem man sich die schönste von allen pflückt und für ein paar Tage in die Vase stellt, damit sie dann dort jämmerlich verdorrt. Nein, das hier ist das reale Leben. Es kommt vor, dass Freunde, oder sogar seelenverwandte andere Wege einschlagen. Man entfernt sich von ihnen, aus den unterschiedlichsten Gründen, doch hauptsächlich deshalb, weil wir sind, wer wir sind. Menschen sind soziale Lebewesen, die sich durch eine jede erlebte Situation weiter entwickeln. Wir werden durch diese Kleinigkeiten diejenigen, welche wir heute sind. Trotzdem ist das nicht das Ende seiner Entwicklung, denn jeden Tag, leben wir das Leben einer gänzlich anderen Person. Sie sieht vielleicht aus, wie die von gestern. Sie hört sich an, wie die Person von vorgestern. Aber sie ist jemand anders. Jemand Neues.
Ich bin jemand Neues. Ich bin nicht mehr das Mädchen, welches vor über zwei Monaten eine Suspension erhalten hat. Nicht mehr das Mädchen, welches böse auf seine Mutter gewesen ist, da diese niemals etwas von einer großen Familie erwähnt hatte.
Mein Name lautet Haylee Blackbird und ich bin ein Nephilim, zum Teil Mensch, zum Teil Engel. Ein Stück der Seele eines Erzengels steckt in mir. Oder war es ein Teil seiner Gnade? Seiner Macht? Seines Fleisches?
Mystiker, Priester oder Wissenschaftler würden eben jenen Teil, welcher mich zum Nephilim machte, ganz anders benennen. Sie würden das darin sehen, was ihr Glaubenssatz ihnen zuließe. Meine Mutter zum Beispiel, würde sagen, dass ich ihr Engel sei. Ein Geschenk. Das Licht, auf welches sie so lange und sehnsüchtig gewartet hatte.
Aber wer ich war, definierte mich nun mal nicht daraus, wessen Herkunft ich abstamme. Auch nicht, wer meine Freunde gewesen waren. Nein, heute definieren mich meine Erlebnisse. Meine müden Knochen, die gezerrten Muskeln, der pochende Kopf... und natürlich die Leere in meiner Brust.
Meine Augen brannten so sehr, dass ich nicht wagte sie zu öffnen. Mein Rücken fühlte sich an, als bohren sich tausend Nadeln dort hinein, aber was mich am meisten störte, war dieses Ding in meiner Brust. Es pochte in einem gleichmäßigen Tempo, verursachte bei jeder Bewegung unsägliche Schmerzen, welche ich wohlauf verdient hatte. Dabei durfte es das doch überhaupt nicht mehr.
Nicht bloß, dass ich meinen Lebenswillen verloren hatte, nun da ich völlig alleine dastand, hatte ich versehentlich jemanden getötet, der mir etwas bedeutet hatte. Eine wunderschön leuchtende Person, in der Blüte ihrer Jugend. Ein kluges Mädchen, was noch so viel hätte erreichen können, wenn sie nicht so verdammt bescheiden wäre. Jemanden, den ich in einem anderen Leben, als meine Freundin bezeichnet hatte.
„Bist du wach?“
Es war eine fremde Stimme, die eines Arztes, nahm ich an, doch ich hatte nicht vor meine Augen zu öffnen. So lange ich sie nicht öffne... wäre das Leben, in welches ich zurück gezwungen worden war, nicht real. Der Schmerz würde weiterhin bloß in meinem Kopf stattfinden und ich müsste niemanden unter die Augen treten, dem ich nicht wollte. Ich könnt so tun, als sei ich weiterhin tot. Auch wenn mir das kein Arzt der Welt abkaufen würde.
Ein Tritt traf mich am Schenkel. Nicht stark, doch fest genug, dass ich erschrocken die Augen aufriss. „Was, verdammt...“ Ich befand mich definitiv nicht in einem Krankenhaus! „Wo bin ich?“ Fragte ich, während mein Kopf noch immer schrecklich pulsierte und der Schwindel verhinderte, dass ich mehr wahrnahm, als verschwommene Schemen.
„Interessant, es spricht.“ Murmelte dieselbe Stimme, dann entfernten sich die Schritte und etwas das klang, wie eine eiserne Türe, fiel ins Schloss.
„Was?“ Ich hatte den Satz nicht vollständig verstanden, doch ich nahm an, mich nicht gänzlich verhört zu haben. Trotz der Schmerzen in so gut wie jedem Teil meines Körpers, setzte ich mich auf, doch merkte, dass dies nicht so einfach war, wie gedacht. „Ah!“ Ich schrie auf, als etwas in... im Bereich meines Rückens fürchterlich zog. Es fühlte sich an, als würde man versuchen, mir den Arm auszureißen, doch befand sich das Zentrum des Schmerzes in meinem Rücken, nicht in der Schulter.
Mühsam stützte ich mich auf den Ellenbogen auf und fasste dabei in den weichen Untergrund. Für einen Moment dachte ich, es müsse Fell sein, doch schnell merkte ich, dass ich auf einem Bett aus Federn lag. Originell... Das Stechen in meinem Kopf ließ nach und mein Blick klärte sich.
Tatsächlich lag ich auf einem Bett aus hellen Federn. Wie man eine Matratze so bestücken konnte, war mir schleierhaft, geschweige denn, wie man sie nicht nach bereits kurzer Zeit zerknautschte. Bestimmt benötigte man dafür extra noch Utensilien, um sie in Form zu halten. „Das ist...“ Meine Finger bewegten sich über die platt gedrückte rechte Hälfte an Federn, welche sich seltsam warm anfühlte. Körperwarm, dabei bin doch gar nicht auf der äußeren Seite gelegen.
„Aua...“ Murmelte ich und tastete weiter, bis zu dem steinernen Untergrund, auf welchem das Federbett lag. Er war schmutzig und kühl. Prinzipiell schien der Raum kalt zu sein, denn eine kühle Brise wehte mir durchs offene Haar.
„Kannst du mir deinen Namen nennen? Erinnerst du dich an ihn?“
„Haylee.“ Antwortete ich und blinzelte gegen das Licht an, welches von einer hellen Quelle stammte. „Mein Name ist Haylee Blackbird.“
„Wow, das ist mal etwas neues. Das Exemplar Hayleeblackbird kann sogar ganze Sätze bilden. Ich frage mich, ob das bei all ihren Vertretern der Fall ist.“
„Wa-Was?“ Erkundigte ich mich und rollte zur Seite herab von den Federn. Auf den Knien bemerkte ich erst, wie schwer ein Körper war. Ich musste mich doch mehr verausgabt haben, als erwartet... Und der Sturz! Wie hatte ich den bloß überlebt? „Wo bin ich? Wer bist du?“ Ich ließ mich auf meine Beine sinken und begann meine Augen zu reiben. „Wieso brennen meine Augen so sehr?“ Und mein Kopf erst! Es war, als hätte jemand eine Baugenehmigung da drinnen unterzeichnet!
Die Türe öffnete sich wieder, fiel gegen etwas das klang wie Stein und die Schritte von vorhin kamen wieder näher. „Hör auf zu reiben. Sieh mich an.“
Nun erklang die Stimme direkt vor mir, warmer Atem traf meine Seite und eine Hand griff um meinen Unterkiefer, noch ehe ich der strengen Aufforderung nachkommen konnte. Gegen das Licht, in dessen Richtung ich nun sehen musste, kam ich jedoch noch immer nicht an. Es schien viel zu stark eingestellt zu sein, ähnlich wie ein Scheinwerfer auf einem Fußballfeld. „Hör auf zu blinzeln, ich muss deine Iriden sehen.“
„Ich kann nicht... Der Scheinwerfer...“ Beklagte ich mich und versuchte mich dem Griff um mein Kinn zu entziehen, doch scheiterte kläglich.
Etwas schob sich vor die Scheinwerfer, sodass endlich Schatten über meinem Gesicht lag und ich schaffte es, die Augen weiter zu öffnen. Für einen Moment konnte ich sie doch tatsächlich offen halten, bloß... Sah ich eine Fata morgana. Einen Geist. Etwas das nicht real sein konnte!
Vor mir hockte ein junger Mann, an die zwanzig. Um seine Kiefer herum, zeichneten sich einzelne Bartschatten ab, welche das Gesicht dunkler erscheinen ließen. Die spitze Nase besaß eine kaum wahrnehmbare Wölbung auf ihrem Rücken, die Kieferpartien waren eckig angelegt und über seinen dunklen, beinahe schwarzen Augen, zeichnete sich, ein sich kräuselnder, schwarzer Schatten ab. Ich wollte ja nicht behaupten, dass er wirklich attraktiv aussah... doch selbst ein Blinder würde ihn glatt für einen Engel halten.
Nicht sein Gesicht, doch das was sich dahinter befand! Das, was mir Schatten spendete... Mein Mund klappte voller Ungläubigkeit auf, während ich über ihn hinweg schielte, wo sich zwei prächtige Schwingen erhoben hatten, um meinem Wunsch nachzukommen.
„Es reagiert auf Befehle, Reaktionszeit etwas langsam, daher tippe ich auf eine geringe Intelligenz. Seine Augen sind die eines Erzengels, doch aufgrund der abwesenden Art, tippe ich auf einen genetischen Nebeneffekt. Werde es weiter beobachten müssen.“
Moment... geringe Intelligenz? Meinte er etwa mich? Aber da waren doch... Ich lachte hysterisch auf, als mir etwas bewusst wurde. „Ich bin in einer Irrenanstalt!“ Die letzten Tage, der Tod meiner Mutter, die ganze Sache mit den Nephilim... „Das waren alles bloß eine Halluzinationen, richtig? Ich bin gar kein Nephilim, sondern bloß verrückt geworden, wie meine Mutter.“ Erblich! Ich muss aufgrund ihrer psychischen Vorgeschichte, zudem die ganzen Ereignisse in meiner Jugend, ebenfalls irgendeine Störung entwickelt haben! Das war doch glasklar!
„Subjekt halluziniert. Interessant.“ Der junge Betreuer, oder Wissenschaftler, oder was auch immer er sein mochte, ließ mein Gesicht los, die Flügel senkten sich wieder und die Scheinwerfer trafen meine Augen mit vollem Ausmaß.
Schreiend stürzte ich zurück, auf das weiche Bett aus Federn. „Ah! Das Licht!“ Beklagte ich mich, doch merkte, dass ich nicht gänzlich zurücksinken konnte. Etwas drückte sich unsanft gegen meinen Rücken, wie ein Arm, der mich davon abhalten wollte, auf ihn zu fallen, oder Ähnliches.
Erschrocken entdeckte ich hinter mir... das Ende von Flügel! Sie waren pechschwarz, deshalb sind sie mir auch nicht sofort aufgefallen. Fluchend rollte ich von ihnen hinunter. „Oh mein Gott! Ich zerquetsche einen Engel unter mir!“
Als ich wieder auf den Knien war, mit dem Rücken zur Lichtquelle, ergoss sich vor mir ein wahnsinnig schöner Ausblick! Aus der Richtung, aus welcher auch der Luftzug kam, war nicht bloß ein Fenster offen, nein es war eine Art... Terrasse, ohne Geländer und man konnte dadurch hinab sehen, auf eine prächtige Stadt, die vollauf beleuchtet war.
In weißen und goldenen Farbtönen überragte ein Haus das andere. Die Dächer waren teils abgeflacht, teils rund. Terrassen gingen direkt aus den Fenstern ab, Fenster ohne Gläser, bloß mit Vorhängen versehen. Der Wind riss an diversen Stellen, sodass man ein wenig in die Inneneinrichtung linsen konnte. Überall in der Luft flogen gigantische Vögel. Manche von ihnen landeten auf diesen Terrassen, trugen Gepäck mit sich, besaßen Kleidung und... menschliche Gesichter. „Engel?“ Mein Herz, welches für einen Moment meinen Schmerz vergessen konnte, begann schnell zu schlagen. Fast zu schnell.
Überall in den Lüften bewegten sich majestätische Engel. Gekleidet in simple Kleidung segelten sie mit ihren gänzlich einzigartigen Flügel durch die Wolken, stürzten hinab, um einander zu jagen, oder hoben schimpfend ihre Arme, wenn sie versehentlich geschubst wurden.
„Egal auf welchen Drogen ich bin...“ Spottete ich halblaut, ehe mir der Engel wieder einfiel, auf welchem ich gelegen hatte... Nur dass er nun fort war.
Ich sah mich im Raum um. Der Pfleger von vorhin, stand direkt vor der Lichtquelle, weshalb ich auch mehr von dem Raum sehen konnte. Nicht, dass es sonderlich mehr gab, als Stein. Über mir, unter mir, hinter und neben mir... Alles bestand aus einem einzigen Stein, vor dessen Zugang ein Gitter eingelassen worden war.
Mein Blick begegnete wieder dem von dem Schwarzäugigen. „Ich sitze in einem Gefängnis.“
Er nickte, seine nackten Arme waren vor seinem Brustkorb verschränkt, welcher übrigens auch nicht verdeckt war! Mehr als eine dünne Leinenhose trug mein Gefängniswärter überhaupt nicht. Ich brauchte nicht einmal über den Abgrund zu blicken, ohne zu wissen, dass es dort metertief hinab gehen musste. Wenn nicht sogar endlos. Einen Sturz konnte ich nicht überleben. „Also, Hayleeblackbird. Du bist der erste Nephilim, mit einem Funken Intellekt. Ich hoffe, du nutzt ihn und stürzt dich gleich dort hinunter. Das erspart mir den Papierkram und den Aufwand dich zu versorgen.“
Mein Blick wanderte zurück zum Abgrund und dann zu dem... Engel. Ja, er war weder ein Pfleger noch Wissenschaftler. Er war auch ein Engel! Ein gottverdammter Engel! Hinter ihm ragten bronzefarbene Flügel auf, mit dunklen Sigillen am oberen Bogen.
„Gut, du verstehst mich offensichtlich. Morgen früh bringe ich dir, wie allen anderen dein Futter. Ich hoffe, du ersparst mir die Mühe.“ Damit wandte er sich ab, und gab dem Licht wieder die Möglichkeit mich anzuscheinen. Hastig hob ich einen Arm, schützten vor.
Ein Nephilim mit Intellekt? Was bedeutete das? Dieser Engel tat gerade so, als sei dies etwas Außergewöhnliches.
Wo befand ich mich überhaupt? Wo waren Calyle und die anderen? Ging es ihnen gu-... Mein Herz stockte! Lucy... Nein, Lucy ging es ganz bestimmt nicht gut. Wie könnte es ihr auch? Mein Schwert hatte sie vollständig durchbohrt. Wie ein Zahnstocher, welcher durch nachgiebigen Kuchen glitt, hatte es sie einfach durchbohrt. Das Blut war beinahe augenblicklich aus ihr heraus getreten und damit auch der letzte Rest ihres so besonderen Lebens.
Zittrig hob ich meine Hände und betrachtete diese im Scheinwerferlicht. Wie hatte das bloß geschehen können? Wo war sie so plötzlich her gekommen? Wieso hatte ich sie nicht bemerkt? Ob meine Aufmerksamkeit tatsächlich so sehr auf Calyle fixiert gewesen war, dass ich sie weder kommen, noch rufen gehört hatte? Hatte sie denn überhaupt einen Ton von sich gegeben? Ich wusste es einfach nicht mehr. Aber ich musste es unbedingt heraus finden!
Zittrig stützte ich mich auf dem Boden mit meinen Händen ab und schnaufte einen Augenblick durch. Dann versuchte ich, mich hochzustemmen, doch irgendwie fühlte ich mich, als sei ich mit einem Mal, gut fünfzig Kilo schwerer geworden. Mein erhitzter Rücken schwitzte, auf meiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen und beides wurde von dem kühlen Windzug gekühlt.
Als ich in eine gebeugte Stellung kam, versuchte ich mich aufzurichten. Doch kurzerhand taumelte ich rückwärts. Der Schwindel wurde übermächtig und drohte meinen Kopf platzen zu lassen. Ich schrie auf, während ich zur Seite fiel. Meine Unterarme landeten in etwas Nassem, kalten und Wasser spritzte hoch in mein Gesicht.
Was war nur los mit mir?
Erneut versuchte ich, in eine sitzende Position zu kommen. Meinen Rücken hatte ich getrost dem Scheinwerfer zugekehrt, denn dessen Licht brannte höllisch in meinen Augen. Sobald ich erst einmal saß, fühlte ich wieder diesen Druck in meinem Rücken. Zu meinem großen Bedauern konnte ich jedoch meinen Kopf nicht wenden, da jede Bewegung damit, Eisstacheln in mein Hirn trieb. Erschöpft hob ich eine Hand und schob sie nach hinten. Augenblicklich fasste ich in weiches Material. Ein Bündel Federn, wie ich erneut feststellte. Sie lagen gegen meinen Rücken gelehnt und erdrückten mich regelrecht. Ich tastete tiefer, folgte der Spur, bis sie sich am Boden hinter mir ergoss. Dann fasste ich mit der anderen an meinen Kopf. Nein, ich besaß kein Federhaar, was für ein Glück! Wie ein Pfau wollte ich nun wirklich nicht aussehen... Nur, wenn die Federn auf meinem Rücken waren...
Ich blinzelte irritiert, bis sich meine Sicht wieder geklärt hatte. Es dauerte lange... Gefühlte Stunden, ehe sich mein Kopf so weit beruhigt hatte, dass ich wieder klar denken konnte. Federn, die aus meinem Rücken wuchsen. So ein Unsinn! Ich mag vielleicht ein Nephilim sein, doch war flügellos. Von dem her, brauchte ich mir überhaupt nichts einbilden.
Irgendwann sank ich zur Seite. Ich bemerkte es nicht einmal, abgesehen von dem steten und kühlen Strom, welcher meinen rechten Arm kühlte. Benommen fiel ich in ein dunkles Loch, aus Albträumen und Angstzuständen. Ich sah mich selbst, wie ich das Schwert in Lucy´s Bauch versenkte. Wie es auf der gegenüberliegenden Seite mühelos wieder austrat und ihr geschocktes Gesicht.
Dann sah ich meine Mutter. Ich beobachtete wie Marie sie tot schlug und Calyle die Leiche mühelos in seinen Armen davon trug, während hinter ihm alles in Flammen aufging.
Immer und immer wieder sah ich diese schrecklichen Bilder. Blut. Feuer. Schreie... So viele Schreie! Irgendwann war ich so weit, dass ich bloß noch Tränen vergoss, mich wimmernd zusammen kauerte und einfach bloß noch selbst wiegte.
Tot. Flammen. Die Stimmen derer, welche ich verlor. Alles wurde zerstört.
Ich wiegte mich schneller, konnte das Schluchzen nicht unterdrücken, geschweige denn diese Bilder ausblenden. Brennende Gebäude. Fallende Federn. Blutdurchtränkte Städte. Es war so furchtbar!
Wie ein Video, welches man nicht stoppen konnte, begann es von vorne. Lucy. Mom. Calyle. Feuer. Blut. Federn... Es hörte einfach nicht auf. Mein Kopf explodierte geradezu, löste sich förmlich in einem blutigen Brei auf...
Bis keuchend hochschreckte. Atemlos spuckte ich das Wasser aus, welches ich beinahe eingeatmet hätte und würgte es hustend wieder hoch. Wie eine Ertrinkende robbte ich fort von der niederen Wasserquelle, welche in den letzten Stunden an Höhe gewonnen zu haben schien. Mein Haar klebte mir nass an einer Hälfte das Gesichtes und der kalte Wind riss an meinem teils trockenem, teils nassen Shirt.
Schlagartig hellwach musterte ich meine Umgebung mit einem erschrockenen Ausdruck im Gesicht. Der Schmerz war fort. Das Brennen hatte, abgesehen von der Müdigkeit in meinen Augen, endlich nachgelassen. Ich erwachte aus meinem Albtraum! Endlich!
Mit einem Mal konnte ich mittels meiner normalen Wahrnehmung die Umgebung mustern. Erneut entdeckte ich die grauen, Steine. Es wirkte, wie ein Tunnel, in welchen man ein Gitter eingelassen hatte, um den Hauptgang nicht mehr verlassen zu können... oder gar nicht erst betreten. Hinter mir wiederum, ergoss sich ein riesiges Loch, in welches man locker einen Truck hätte stellen können, doch die Aussicht war nicht mehr dieselbe, wie noch vor ein paar Stunden zuvor. Das einzige was ich nun erkennen konnte, war ein schwarzes Nichts, gesprenkelt von wenigen Sternen, welche einmal auftauchten und wieder verschwanden. Wolken schoben sich in einem mörderischen Tempo an meiner Zelle vorbei, bloß um schnellstens wieder zu verschwinden. Als seien sie auf der Flucht vor irgendetwas... Oder ein tosender Sturm wütete.
Links von mir fand ich nicht das Federbett von vorhin wieder. Es war schlichter, kalter Stein. Kahle Steinwände. Eine nichtssagende Steindecke. Während rechts von mir ein Rauschen erklang. Der dünne Wasserstrahl hatte sich mittlerweile zu einem kleinen Strom weiter entwickelt, in welchen ich meine Hände mühelos eintauchen könnte... Und es auch sofort tat. Meine Kehle war völlig ausgetrocknet, wenngleich ich vor wenigen Sekunden noch beinahe in Wasser ertrunken wäre. Anscheinend war das Rinnsal während meiner Ohnmacht gewachsen und hatte mein Gesicht erreicht.
Nun ging es aber wieder und bis auf eine kleine Orientierungslosigkeit, hatten meine Beschwerden auch nach gelassen.
Erleichtert seufzte ich. Keine Federn weit und breit. Kein Engel. Keine Ärzte...
Mein Blick wanderte erneut von dem eisernen Gitter, zu der klaffenden Öffnung. Wenn das also echt war... Ich brachte es hastig hinter mich und fasste wieder nach hinten. Tatsächlich! Dieses Mal griff ich über meine Schulter und drehte mich, so gut ich konnte, herum. Natürlich konnte ich nicht sehen, von wo die Flügel kamen, welche sich über meinen Rücken ergossen, doch nun endlich war mein Blick klar genug, um ihre Farben richtig auszumachen. Ich schnappte mir den oberen, weißen Teil des rechten Flügels, zog ihn teils unter meinem Hintern hervor und breitete ihn in seiner vollen Länge aus, darauf bedacht, ihn nicht ins Wasser zu legen. Er war... lang! Unfassbar lang! Während ich ihn streckte, musste ich mit meiner Schulter rollen, da es sich ungewohnt dort hinten anfühlte. Es war ein Gefühl, welches man kaum beschreiben konnte. Die Verspannung in meinem Rücken, war eigentlich überhaupt keine. Stattdessen entpuppte sie sich, als nie vorher dagewesenes Gewicht. Die ungewohnten Bewegungen eines völlig neuen Drehgelenkes, so wie etlicher neuer Muskeln, trieb mich schier in den Wahnsinn. Es war, als ob man mir völlig funktionstüchtige, neue Gliedmaße angenäht hätte. Oder viel eher ein siamesischer Zwilling, über welchen man noch keine Kontrolle gewonnen hatte.
„Ah!“ Ächzte ich, als ich den Flügel auf fächerte. Er war unfassbar schwer! Wie konnte so etwas Gewichtsloses, bloß so schwer sein? Ich konnte es kaum glauben, doch als meine Finger durch die seidigen Federn glitten, konnte ich ganz deutlich ein Kribbeln darin wahrnehmen. Noch fühlte es sich... fremd an. Wie, als sei einem die Hand eingeschlafen und würde bloß mühsam wieder mit frischem Blut gefüllt werden. Trotzdem hatten sie Körpertemperatur, was mich wiederum auf die Idee brachte, dass sie unmöglich bloß aus einer dünnen Haut bestehen konnten, aus welcher Federn ragten. Nein, ich wühlte tiefer hinein, schob ein paar Reihen zur Seite und traf auf rosa Haut, unter dessen Fläche sich Fleisch verbarg. Sie spannte sich über einige Knochen, doch alle konnte ich nicht ertasten. Zudem musste sich darin Muskelgewebe verstecken. Oder funktionierten Flügel, ähnlich wie Finger, mittels Sehnen? Es war schier unmöglich, das Ende meiner Flügel zu erreichen, da sie noch dreimal länger sein mussten, als mein eigener Arm! Zu den Spitzen hin liefen sie in ein schwarz über, so als ob ich sie versehentlich in Teer getunkt hätte und sich die Farbe nun nicht mehr hinaus waschen ließe. Aber nein, die Federn zum Ende hin waren plötzlich einfach schwarz und unterbrachen das wunderschöne, klassische Weiß, des restlichen Flügels.
Auf der anderen Seite spielte sich genau dasselbe ab. Ich musste für Außenstehende bestimmt ziemlich bekloppt aussehen. Wie ich da saß, mit überkreuzten Beinen und meine eigenen Flügel abtastete... Flügel, gottverdammte Flügel! Es war so surreal!
Okay... Okay, aber das heißt, doch auch, dass ich Fliegen können müsste, richtig? Vögel flogen. Engel flogen. So schwer durfte das also nicht sein.
Wenn dieser... dieser ignorante, was auch immer er darstellen sollte, also annahm, dass ich intellektuell eingeschränkt war, dann legte er sich mit der Falschen an! Ich mochte vielleicht nicht im Vollbesitz meiner geistigen Gesundheit sein, oder gar eine Idee haben, wo genau ich mich befand... Aber ich wusste, wo ich nun sein musste! Ob es meinem Gefängniswärter passte oder nicht, da draußen war jemand, den ich unbedingt sehen musste. Ich musste mich vergewissern, dass es Lucy gut ging. Ihr helfen! Nicht weniger war ich ihr schuldig! Nicht nach alldem! Lucy musste nämlich leben! Sie musste einfach! Das... Das würde ich spüren. Ich habe mich in Lucy´s Kopf befunden, war eine Verbindung zu ihr eingegangen, die man kaum beschreiben konnte. Eine Seelenverbindung zwischen Geistern her zu stellen muss doch mehr bewirken, als bloß die Gedanken von jemand anderen sehen zu können, die Erinnerungen zu teilen. Da musste einfach mehr sein!
Ich robbte hinüber zur anderen Seite der Wand und zog mich an den Schwielen hoch. Meine Flügel schleifte ich dabei über den Boden, was ein unangenehmes Gefühl in mir verursachte. Es zog an den Stiften der Federn und reizte meine Haut, doch ich bekam sie einfach nicht hinauf. Ich hatte keine Idee, wie? Doch dies ließ ich mal außen vor.
An der Wand zog ich mich entlang, bis ich mich einen Meter vom klaffenden Loch entfernt befand. Selbst von hier fühlte ich bereits den steten und kalten Sog des Sturmes, welcher außerhalb der Höhle wütete. Eisiger Schauer ergoss sich an der Außenseite der Wände, doch man hörte nicht, wie sie aufschlugen. Dafür war das Getöse einfach zu laut.
„Egal...“ Keuchte ich und fühlte den Schweiß von meiner Stirn perlen. Oder war es noch das Wasser von vorhin? Jedenfalls kühlte der Sturm meine Körpertemperatur viel zu schnell hinab. Nun da ich vor dem Abgrund stand, welcher definitiv endlos zu sein schien, überlegte ich noch einmal, ob ich einen Sprung wagen sollte? Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, was für eine unsäglich dämliche Idee, dies sei. Es ist stockdunkel, regnet und stürmt. Außerdem hatte ich noch nicht einmal die Kraft meine Flügel zu heben, wie also sollte es mir möglich sein sie zu schwingen, ähnlich dem Anblick eines Vogels?
Okay, nein, das war definitiv eine dumme Idee. Aber wenn ich vielleicht einen Vorsprung fand, die Wand rau genug war, dann konnte ich sie bestimmt hinunter klettern! Ja, das klang schon menschlicher. Vorsichtig trat ich Zentimeter für Zentimeter näher an den Abgrund heran. Fest klammerten meine Finger an der abgerundeten Wand. Ob durch sie mal Wasser geflossen war, ein reißender Fluss etwa, damit diese Glätte hatte entstehen können?
Mein Kopf wanderte über den Rand hinaus und endlich konnte ich hinab blicken. Leider reichte das Licht für nicht sonderlich weit... Ehrlich gesagt, erkannte ich absolut überhaupt nichts. In den nächsten zehn Zentimeter war es einfach bloß stockdunkel. Kein Licht schien den Felsen erreichen zu können...
Ich blickte hastig auf. Moment, hatte ich nicht zuvor noch Sterne sehen können? Trotz dieser dicken Wolkendecke? Tatsächlich! In weiter ferne, noch viel weiter fort, als noch bei vor einigen Stunden, bei Tageslicht, erkannte ich nun hell leuchtende Sterne. Dies mussten wohl Lichter der Stadt sein, welche ich zuvor staunend entdeckt hatte? Gut, nun wusste ich zumindest, wo ich nicht hinsollte, da diese Stadt alles andere als >menschlicher< Natur gewirkt hatte!
Mein Blick glitt wieder hinab und ich wagte es, mich noch ein kleines Stück weiter nach vorn zu schieben. Sehr fatal! Bedauerlicherweise vergaß ich für den Sekundenbruchteil das neu dazu gewonnene Gewicht und kippte nach vorne. Zum Glück konnte ich mich jedoch abfangen, indem ich meine Finger noch schmerzhafter in den glatten Stein schlug, was bloß zur Folge hatte, dass ich einen stechenden Schmerz empfand. Blut begann über zwei meiner Fingerspitzen zu laufen und mein rechtes Standbein rutschte am glitschigen Rand der Höhle ab. Ehe ich mich versah, packte der Sog meine plötzlich hoch erhobenen Flügel und entzog mir damit meinen letzten Halt. Schreiend fiel ich mit dem Bauch auf die äußere, abgerundete Kante, was mir die Luft zum Schreien abschnitt. Mit Panik versuchte ich, mich noch fest zu klammern, doch aufgrund der Nässe fand ich einfach keinen Halt! Ich schrie wieder, als meine Handflächen über den plötzlich kantigen Teil der steilen Wand schredderten. Ein Schmerz explodierte in meinen Unterarmen, dann änderte sich auch bereits der Luftstrom und ich wurde an den schweren Flügel zur Seite gerissen. Die Wand vor mir verschwand und ich befand mich im freien Fall ins Nichts. Dunkle Schwärze, ein Meer aus Teer, schien auf mich zu warten, während der Wind gierig an mir riss. Mein Rücken wurde herum gerissen, da sah ich plötzlich wieder nach oben zu den schweren Gewitterwolken. Ich rollte weiter herum, während nicht einmal mehr ein Schrei aus meiner Kehle drang. Zumindest konnte ich ihn nicht hören. Ich war taub geworden, meine Sicht wurde vom Regen, welcher sich mittlerweile wie eisiger Hagel anfühlte, getrübt, da erhellte ein greller Lichtblitz den Himmel. Er zog sich zirka durch die Hälfte meines Sichtfeldes, beinahe weislich und wurde begleitet von dem ärgerlichen Grollen eines gigantischen Monsters.
Ein beschissener Tag, um zu sterben, dachte ich noch. Wieso war ich überhaupt auf die Idee gekommen, mich über den Rand eines unendlichen Abgrundes hinaus zu bewegen? Nur weil ich Flügel hatte, welche ich noch nicht einmal heben konnte, bedeutete das doch noch lange nicht, dass ich auch automatisch dazu in der Lage war, zu fliegen! Und dann auch noch dieses beschissene Wetter!
Was hatte ich da nur wieder angestellt? War mein Leben tatsächlich dazu bestimmt einen Fehler nach dem nächsten zu begehen? Alles hatte mit dieser beschissenen Suspension begonnen! Dann der tot meiner Mutter, mein falsches Vertrauen in Calyle, sein Betrug, der Wahnsinn seiner Mutter, Lucy... Selbst Olympia hatte ich in den Fängen eines Dämons zurückgelassen!
Ob dies nun meine gerechte Strafe war?
Ja... Ja, das war sie! Sie war gerecht und mehr, als verdient. Mein Verhalten meiner Mutter gegenüber war schrecklich gewesen. Dabei hatte sie doch einfach alles aufgegeben... Ihre Liebe geopfert und ihr Leben für mich gegeben...
Ein Schmerz explodierte in meiner Brust, welcher meine physische Strafe zu dem Vergehen war, welches ich begangen hatte. So endete es nun... In einem unendlichen, gepeinigt von innerem, wie auch äußerem Schmerz, während ich ins unendliche Nichts fiel. Unwissend, wann es denn nun endlich enden möge! Wann ich endlich die Erlösung im ewigen Schlaf finden durfte.
Neugierig geworden, da mein Fall nun wirklich bereits eine Weile andauerte, drehte ich mich, so gut es ging, herum, woraufhin meine Rotation bloß von vorne begann. Wieso hatte dieses Fliegen bloß bei den Engeln so einfach gewirkt? Ich verstand es nicht wirklich.
Meine Sicht verschwamm irgendwo zwischen Dunkelheit und nachfolgenden Blitzen. Das gesamte Himmelszelt schien unter meinen Schreien zu erzittern und je mehr Angst ich bekam, umso häufiger ergossen sich Lichtblitze um mich herum. Es war so nah, ich konnte die statische Ladung geradezu über meine Haut brennen fühlen. Es war ohrenbetäubend und ein Pein für meine Sinne.
Doch plötzlich... Plötzlich war da irgendetwas! Ich erhaschte lediglich einen Sekundenbruchteil einen Blick darauf, als das Licht auch bereits wieder verglomm. War da... War da etwas gewesen? Kam ich endlich dem Erdboden näher? War dies nun... „Nein!“ Ein spitzer Schrei entfuhr mir, was die schemenhafte Gestalt erschrocken nach oben blicken ließ. Seltsamerweise war dieser Schemen absolut trocken und der Regen perlte wenige Zentimeter über seinem gesamten Körper ab. Dies war jedoch schon das Einzige, was ich wahrnahm.
Im nächsten Moment schon, befand ich mich auf Augenhöhe mit der Gestalt, ein Blitz zerriss abermals den wolkenschweren Himmel und tauchte uns beide für einen Sekundenbruchteil in gleißend helles Licht. Es beschien uns bloß von einer Seite, doch es genügte, um dem Schemen endlich ein Gesicht zu schenken. Ein Engel! Durchfuhr es mich. Wie schon beim ersten Mal, als ich ihn im Lichte der Scheinwerfer hatte bewundern dürfen, stockte mir auch nun der Atem. Seine Augen und Haare war so schwarz, als seien sie die Dunkelheit selbst, während die Flügel durch den gleißenden Lichtblitz nun in ein blutiges Rot getaucht wurde.
Ein Eindruck, welcher mir in einer normalen Situation ganz bestimmt fürchterliche Angst ein gejagt hätte, doch dies war der Moment, in welchem ich überraschenderweise überhaupt keine Angst mehr verspürte.
Überraschung, Verwirrung und Schock zeichneten sich im gleichen Maße in seinem Gesicht ab, während er seinen Arm ausstreckte und mich, einem Instinkt folgend, einfach am Unterarm packte. Ich hatte selbst nicht bemerkt, dass ich mich ihm hilfesuchend entgegen gereckt hatte. Wieso hätte ich dies auch tun sollen? Mein tot war verdient! Es war mein Schicksal zu sterben!
In dem Moment, in welcher mein Gefängniswärter erkannte, was er tat, entkam ihm bloß ein Wort. „Scheiße!“ Was übrigens, dass erste Mal war, einen Engel doch tatsächlich fluchen zu hören.
Wie sich herausstellte, war es absolut keine gute Idee gewesen, dass er meinen Arm gepackt hatte. Warum er es tat, konnte ich nicht nachempfinden. Nicht nachdem er mir in meiner Zelle so viel Gleichgültigkeit entgegengebracht hatte. Außerdem wie hoch war schon die Wahrscheinlichkeit ausgerechnet ihn im Todesfall... geradezu in den Armen zu landen?
Ehe ich wusste, wie mir geschah, prallte ein schwerer Körper gegen den meinen, meine Stirn knallte gegen etwas, dass sich stark nach einem Knie anfühlte und die Welt drehte sich noch viel, viel schneller, während der Wind uns herum riss. Um die Wette schreiend, im freien Fall, versuchte ich halt zu finden und er sein Gleichgewicht zu stabilisieren.
„Deine Flügel!“ Schrie er mir ins Ohr, sobald ich auch meine zweite Hand mit der seinen vereint hatte. Leider war die meine so rutschig, dass wir ständig erneut nacheinander fassen mussten. „Du musst mit ihnen schlagen!“
„Ich kann nicht!“ Brüllte ich heiser zurück, wodurch er aber überhaupt kein Wort verstand.
Mit verbissenem Gesicht, zog er mich näher, seine Nägel kratzten über meine Haut, wie die meinen über seine, bis er mein Shirt zu fassen bekam und mich mit mehr Kraft, als ihm eigentlich zustehen sollte, an sich zog. Ängstlich klammerte ich meine nassen Arme um seinen Hals und meine Beine, um seine Taille. In jeder anderen Situation, wäre mir das mehr, als unangenehm gewesen... Und vielleicht hätte ich ihn einfach loslassen sollen, damit er es alleine zurück hinauf schaffte, doch in diesem Moment konnte ich nicht einmal daran denken. Es war mein Überlebenswille, welcher meinen Körper übernahm.
„Schlag mit den Flügel! Schlag, verdammt!“
„Ich kann nicht!“ Brüllte ich ihm genauso ins Ohr, wie er mir. „I-Ich weiß nicht, wie?“
„Scheiße...“ Fluchte der Engel daraufhin und ich fühlte seinen Kopf hin und her zucken, als ob er in der Finsternis nach irgendetwas Ausschau halten würde. „Dann eben im Sturzflug.“
Ich sah den Boden erst, als meine Schulter brutal darauf aufschlug. Etwas knackste an mehreren Stellen, dann verlor ich den Halt und musste mir gefühlt siebzehn Mal das Genick gebrochen haben, doch bis dahin, hatte bereits die Ohnmacht gewonnen.

XX - Der Engelskerker

Es war seltsam. Das letzte Mal, als er abgestürzt war, hatte er voller Übermut eine Wette angenommen und sich daraufhin gleich den linken Flügel zertrümmert. Die damaligen Schmerzen waren unmöglich auszuhalten gewesen, da besonders Flügel schmerzempfindlich waren. Wie er jetzt jedoch da hockte... Seine Beine mussten viele Meter über den Boden geschlittert sein, während seine Flügel für ihn den größten Schaden abgefangen hatten. Das würde zwar morgen eine unangenehme Zerrung geben, doch wenigstens hatte er dieses Mal keinen Zahn verloren. Wenngleich seine pulsierende Wange etwas anderes behauptete.
Mit den Armen, keuchend auf die Knie gestützt, spuckte er einen Schwall Blut zur Seite aus und ärgerte sich darüber, doch noch nass geworden zu sein. Nun war seine Lieblingshose hinüber. Der Stoff vertrug Wasser, bloß in wenigen maßen. Sie durfte höchstens feucht sein, sonst begann sie scheuernd zu werden und die Geschmeidigkeit verlor sich.
Da es unnötig war, noch weiter darauf zu achten, besah er sich den angerichteten Schaden. Zum Glück war ihm in den Sinn gekommen, dass hier ja ein Grundstück herum stand. Während er bloß zwei Spuren durch den perfekt getrimmten Rasen gezogen hatte, dessen Höhe nicht mehr als sieben Millimeter betrug, wie jeder Standartrasen, hatte sein >Fang< einen wesentlich größeren Schaden hinterlassen. „Verdammt!“ Fluchte er und besah sich das Dilemma. Ausgerechnet auf >ihrem< Grund hatte er landen müssen! Da hätte er die heißen Quellen doch eher vorgezogen.
„Cirillo! Ich glaube dir muss der Oberste höchst persönlich in den Kopf geschissen haben! Was zu allem unheiligen, hast du... Oh meine Babys! Was hast du nur getan?“
Beschwichtigend hob Cirillo seine Hände. „B-Bitte hör mir erst mal zu...“
Die Furie, welche mit wehendem, schneeweißem Haar und Gold gesprenkelten Flügeln vor ihm landete, ließ ihn nicht einmal aussprechen. „Dafür kommst du, verdammt noch einmal, auf! Für wen hältst du dich bitte? Es ist mitten in der Nacht!“
Es hatte keinen Sinn! Frustriert schnaubend, ging Cirillo um den tobenden Engel herum und auf seinen Fang zu. „Wenn, dann kommt gefälligst sie dafür auf!“ Schrie er zurück, wohl bewusst, dass bisher kein einziger Tropfen den Garten des hohen Engels Alitia berührt hatte. Ein magischer Bann verbot es dem Regen hier zu landen und musste gnadenlos abperlen. Selbst die Windböen wurden umgeleitet, damit die Vorhänge nicht aufgerissen wurden und jeder ins Haus schauen konnte. Solch ein Talent erreichte man frühestens im höheren Alter, nach gut viertausend Jahren.
„Wer ist das?“ Keifte sie weiter. Ihre Stimme war beinahe so schrill wie ihre unnatürlich silberne Hautfarbe. Ein unangenehmer Nebeneffekt, wenn ein Engel unter einer seltenen Hautkrankheit litt. Es war genetisch, weshalb es Alitia verboten war, jemals in ihrem Leben, einen Nachkommen zu gebären, da dieser die Hautkrankheit selbst ertragen müsste, oder es an seine eigenen Nachkommen weiter vererbte.
„Ein entflohener Nephilim.“ Gab Cirillo zähneknirschend zu, da es ihm unmöglich war, zu lügen.
Bestürzt sprang Alitia mehrere Meter zurück und zeigte anklagend auf das, im besten Falle, toten Bündel. „Da-Da-Das ist ja... Bring es sofort fort von hier, Cirillo! Wie kommt das Ding überhaupt hierher? Es ist unmöglich aus den Käfigen zu entkommen!“
Cirillo warf unwissend die Hände in die Luft. „Sehe ich so aus, als ob ich das wüsste? Ich bin gerade erst gelandet und wie du selbst siehst, ist es bewusstlos. Wie also, hätte ich es befragen können?“
Der uralte Engel schnaufte abweisend. „Pfff! Bring es weg! Raus hier aus meinem Garten! Die Schadensklage bringe ich dir morgen früh vorbei!“
Schnell entfernte sich Alitia, da sie wusste, wie unberechenbar solche Wesen sein konnten, da diese sämtlichen Verstand eingebüßt hatten. Er selbst schnaubte lediglich, ungläubig darüber, dass sie an so etwas banales wie ihren blöden Garten denken konnte, während sich ein Nephilim, aus einem ausbruchssicheren Gefängnis hatte stehlen können! Was stimmte bloß mit dem senilen Engel nicht?
Kopfschüttelnd beugte sich Cirillo über den toten Nephilim. Sie hatte sich mehrmals überschlagen und dabei ganze Büsche mit sich gerissen. Auf den ersten Blick wirkte es so, als seien ihre Flügel heil geblieben, wenngleich sie nun grüne und braune Flecken aufwiesen.
Vorsichtig hob Cirillo den linken Flügel, welcher schützend über den Körper ausgebreitet worden war. Er wirkte grotesk lang. Gestern Abend war es ihm nicht so sehr aufgefallen, doch nun, im sanften Schein der Außenbeleuchtung, war es doch recht offensichtlich, wie groß die Flügel, im Verhältnis zu dem winzigen Körper waren. Es hatte keinen sinnvollen Nutzen, dass die Flügel so unnötig lang und schwer waren. Ein Flügel wog bereits mehr, als alle beide von ihm. Kein Wunder, dass sie keine-... >es< keine Kontrolle darüber gehabt hatte.
Behutsam legte er den Flügel zur Seite ab. Bestimmt würden einige wissbegierige Engel diese, als Forschungsprojekt haben wollen und einen guten Preis dafür zahlen? Das dürfte dann zumindest einen Teil des begangenen Schadens abdecken. Aber so wie er Alitia kennen gelernt hatte, würde dies nicht annähernd ausreichen.
Sein Blick wanderte gekonnt über den blutigen und schmutzigen Körper. Der Nephilim hatte sich den Arm gebrochen, das Bein an mehren Stellen und bestimmt jede Menge Rippen eingebüßt... Trotzdem konnte Cirillo, verblüfft, eine Atmung feststellen!
„He!“ Er rüttelte es unsanft an der Schulter. „Lebst du noch?“ Eine blöde Frage, da es doch eigentlich offensichtlich war. Viel eher sollte ihn das >wie lange noch< interessieren.
Es gab ein leises Stöhnen von sich, doch rührte sich kein bisschen. Scheinbar lebte es noch. Dank ihm! In diesem Moment ging ihm dies auf und er ärgerte sich über sich selbst. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, einem herab fallendem Wesen, die Hand zu reichen? Vielleicht war es ja so eine Art... Instinkt gewesen. Cirillo hätte dies nicht tun müssen, immerhin war ein Nephilim weniger oben in den Kerkern, eigentlich eine Entlastung seiner täglichen Arbeit mit diesen verdammten Wesen.
Wenn er ehrlich mit sich selbst war, hätte er sie schon auf der Erde sterben lassen sollen. Wenngleich, ein Sturz aus dieser Höhe einem Nephilim nicht so sehr geschadet hätte, wie es der Fall sein sollte. Trotzdem hatte er es mit hoch genommen, bloß um auf halben Weg festzustellen, dass es immer schwerer und schwerer wurde, den Nephilim zu tragen. Deshalb war er auch direkt im See, oberhalb der Zellen gelandet. Er hatte die tiefste Stelle anvisiert und sich dort abgefangen. Danach hatte er es hinter sich her gezogen und einfach mal hingelegt. In der Zwischenzeit musste der See jedoch ihre Heilungskräfte verstärkt haben, denn man sah ihr nicht einmal mehr den kleinsten Kratzer an.
Nun jedoch, sah dies aber ganz anders aus. Wie sollte er, ganz ohne Hilfe und im Angesicht des Sturmes, bloß den Nephilim zurück nach oben bringen. Seine Flügel waren nicht für Lastenflüge gedacht, wenngleich ein Throne ein bestimmtes Gewicht tragen können muss.
Seufzend ließ er seinen Kopf hängen. Irgendwie hatte Cirillo das Gefühl, als ob er diesen Nephilim nicht allzu schnell loswerden würde. Zudem... waren da noch gewisse Schulden abzubezahlen. Und er würde nun noch mehr machen müssen.

 

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Mein Erwachen war wie ein Deja Vu. Kaum hatte ich die Augen aufgeschlagen, erblickte ich das grau einer, mir wohl bekannten, steinernen Decke. Mein Kopf sackte nach links, wo sich ein klaffendes Loch befand. Rechts von mir, eiserne Metallstäbe, welche mich hier drinnen gefangen hielten. Selbst das stete, doch ausgesprochen leise Plätschern des, wieder abgeflachten Baches erkannte ich augenblicklich.
Ich müsste tot sein.
Das war der erste Gedanke, welcher mir durch den Kopf schoss. Meine Gliedmaßen zerbrochen. Mein Körper zertrümmert. Ungefähr so hatte ich mir mein Ende, den ganzen Weg des Falles vorgestellt. Aber nein, das Schicksal hatte einmal mehr, etwas anderes vor.
Ich seufzte. Meine Finger krallten sich in weiche, doch dieses Mal, sogar stellenweise verklumpte Federn. Also war doch nicht alles gleich geblieben? Nein, auch die Engelsstadt von letztens konnte ich nicht ausmachen, dies konnte jedoch auch daran liegen, dass ich auf dem harten Boden lag. Ob sie noch da sein würde?
Ich schloss meine Augen wieder, denn eine ungewohnte Frustration erfüllte mich. Natürlich kannte ich diese Art bereits. Ich hatte sie immer und immer wieder erlebt. Hatte es nicht fassen können, in einem ewig währenden Kreislauf von Scham und Wut festzustecken. Nun war es aber ein wenig anders. Da war keine Wut mehr. Nur Trauer und Selbsthass.
Wieso war es einer Person, wie mir bloß vergönnt weiter zu existieren? Das war absurd. Ich hatte so viel falsch verstanden. So viel Falsches getan...
„Dein Essen steht hier.“ Es war wieder dieselbe Stimme, welche mir mittlerweile wohl vertraut war. Jedoch dachte ich nicht daran, mich auch bloß ein wenig zu bewegen.
„Du brauchst die Luft nicht anzuhalten. Ich sehe, dass du wach bist. Außerdem weiß ich mittlerweile, dass du mich verstehst. Du bist kein normaler Nephilim. Du bist abnorm.“
Abnorm! Beinahe hätte ich über diese plumpe Beschreibung laut aufgelacht. Abnorm war ich bei weitem nicht. Ich war ein klassisches Beispiel dafür, was aus Kindern wurden, welche unter einer psychischen Belastung aufwuchsen. Kurz gesagt. Ich war zur Mörderin geworden und einer Suizid gefährdeten, tickenden Zeitbombe.
„Reagiere gefälligst, wenn ich mit dir spreche. Das zumindest bist du mir schuldig! Oh! Und wenn wir schon über Schuld sprechen. Dank dir habe ich nun einige. Du wirst das abbezahlen.“
Schuld.. Ja, ich trug so viel schuld in mir. So viel... jämmerliche... erbärmliche... Schuld...
Etwas Metallenes schlug gegen die Metallgitter. „He! Nephilim, ich spreche mit dir!“ Auf den Schlag hin, wurden aus heiterem Himmel, ungekannte Kreaturen laut. Seltsame Geräusche, von Grunzen bis Stöhnen, erklang, ehe die Ruhe, wenig später, endlich wieder einkehrte. „Na gut. Reiz es bloß weiter aus. Mir egal, irgendwann wirst du angekrochen kommen. Bis dahin, bekommst du nur morgens Essen. Gewöhn dich also besser schon mal daran.“
Ärgerlich stampfende Schritt verklangen, doch ich öffnete meine Augen noch immer nicht. Würde ich eben verhungern. Wen sollte das schon stören? Schniefend rollte ich mich auf meine linke Seite und blickte hinaus, auf den marklosen Himmel. Nicht eine Wolke trübte ihn heute, dafür dass erst vergangene Nacht der Weltuntergang höchst persönlich gewütet hatte. Vielleicht aber auch gerade deshalb. Eventuell... spiegelte der Himmel bloß meine Gefühle wieder. Nun, da all meine Tränen vergossen waren, war einfach nichts geblieben. Alles war verschwunden, abgesehen von meinen, sich im Kreis drehenden Gedanken.
Ich weiß nicht wie lange ich so dalag. Stunden vielleicht, ehe der Himmel allmählich begann, sich orange zu verfärben. Mein Magen wütete bereits wie ein Ungeheuer, ich zitterte ein wenig und mein Hals war unangenehm kratzig. Mir fehlte jedoch bedauerlicherweise ein Funken Motivation, um mich aufzurichten. Würde ich es tun... würde ich bloß zum Essen laufen. Das durfte ich aber nicht.
Also schloss ich die Augen. Ich ignorierte das grausame ziehen in meinem Magen, was ich allmählich als Teil meiner persönlichen Strafe ansah und schlief irgendwann endlich ein.
Der Schlaf war alles andere als erholsam. Es war dasselbe Spiel, wie erst vor einigen Stunden... oder war dies bereits Tage her? Jedenfalls kochte mein Kopf bereits von all den Flammen. Meine Augen brannten, wann immer ich Calyle vor mir sah, oder das Blut, welches aus Lucy´s Bauch in strömen lief. Es sammelte sich zu einem Bach, welcher durch meine Zelle lief und verspottete mich für meine Schwäche, nicht einmal dazu fähig zu sein, zu sterben.
Das rutschen, von Metall über Stein, schreckte mich aus meinem Schlaf hoch. Ich hob den Kopf, blickte panisch zu dem blutenden Fluss, welcher zu meinen Füßen floss, doch fand, zu meiner Erleichterung, bloß das beinahe versiegte Bächlein, von gestern vor. Eine Bewegung rechts von mir, erregte meine Aufmerksamkeit, doch es war bloß der Engel, welcher mir auch bereits gestern bereits das Essen gebracht hatte. Er stand mit verschränkten Armen vor der Zelle und blickte mich grimmig an. Ich folgte dem süßlichen Duft, zu einem silbernen Teller, auf welchem ein einziges Brotstück lag. War es Brot? Es erinnerte mich schon daran, doch wirkte seltsam feucht.
Mein Blick glitt wieder zurück in die beiden dunklen Augen, welche mich von oben herab missachteten. Also würde es noch ein Tag sein. Noch ein weiterer Tag, an welchem ich mühsam auf mein Ende wartete.
Ich legte meinen Kopf zurück, auf meinen prickelnden Arm und blickte weiter hinaus auf den goldenen Himmel. Die Sonne musste eben erst aufgehen. Wie schön... Und friedlich.
Der Engel hinter mir gab einen, wesentlich weniger friedlichen Ton von sich und schnaubte eher. „Also wenn du versuchst dich zu Tode zu hungern, dann hast du noch eine lange Reise vor dir. Engel können Wochen und Monate ohne Nahrung überleben. Nephilim gut neun Tage. Wenn sie bloß daliegen, wie du, dann dreimal so lang.“
Ich glaubte ihm natürlich nicht. Was wusste der schon über mich? Immerhin hatte er mich für ein dummes Insekt gehalten!
Etwas schlug verärgert gegen die Gitterstäbe. „Ignoriere mich gefälligst nicht. Iss jetzt, oder ich werde dich zwangsernähren! Du musst trainieren!“
Ich und trainieren? Nein danke.
Als ich nicht reagierte, sprang das Schloss meiner Zellentüre auf und flog lautstark gegen die Steinwand dahinter. „Ich sagte, du sollst essen!“ Die Stimme war nun viel näher. Er musste direkt hinter mir stehen. „Ich warne dich bloß noch einmal, Nephilim.“
Anstatt zu ihm aufzusehen, zog ich die Beine bloß noch näher an meinen Körper und schlug die zweite Hand auch noch über meinen Kopf. Ein Zeichen meinerseits dafür, dass ich in Ruhe gelassen werden wollte. Durfte ich denn nicht einmal das? Qualvoll verhungern? Was war denn nun der gerechte tot für mich?
So unerwartet, dass ich erschrocken aufschrie, packte er mich an meinem Haar im Nacken und zog mich in eine aufrechte Position. Als ich saß, blickte ich in wütend funkelnde Augen. „Glaube mir, ich sorge dafür, dass du nicht stirbst, Nephilim. Dafür hast du zu viele Schulden angehäuft und ich bezahle diese Zeche ganz bestimmt nicht. Jetzt iss. Oder ich werde dir Brei einflößen.“
Störrisch erwiderte ich seinen überaus dunklen und hasserfüllten Blick. Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, irgendetwas anzunehmen. Ich würde alles erdulden, so lange, bis ich tot war. Das hatte ich verdient!
Der Engel lachte mit einem Mal auf, sodass ich erneut erschrocken, zusammen fuhr. „Oh, Kleines. Gib dir keine Mühe. In deinen Augen existiert noch viel zu viel Lebenswille. Das kannst du mir glauben, ich sehe es jeden Tag in den Augen meiner Kreaturen. Du bist noch nicht einmal ansatzweise am Ende mit deinen Kräften. Du kannst dich so nicht zu tode Hungern.“
Ich biss die Zähne ärgerlich zusammen. Was wusste der schon? Als ich jedoch den Mund öffnete, war meine Stimme gedämpft und rau. „Und du hast überhaupt keine Ahnung von den Dingen, die ich kann.“
Sein Blick wanderte von meinem Gesicht, über meine Schulter zu meinen Flügeln, dann wieder zurück. „Dann werden wir es wohl gemeinsam heraus finden müssen.“ Er lockerte seinen Griff in meinem Haar, doch ließ noch nicht los. Erst als das Tablett neben mir zu Boden fiel, bemerkte ich, dass er es in seiner rechten Hand getragen hatte. „Jetzt iss das. Und zwing mich nie wieder dazu, hier hinein kommen zu müssen. Denn dann wünscht du dir, dass ich dich gar nicht erst abgefangen hätte.“
Ich schnaufte, als er seine Hand aus meinem Haar zog. „Keine Sorge, dafür bin ich dir ohnehin nicht dankbar.“
Er stand auf und ging rückwärts zurück zum Zugang der Zelle, während mein Blick hinaus zum farbenfrohen Himmel schwenkte. Nein. Keine Stadt war zu sehen. Hatte ich sie mir etwa bloß eingebildet?
Das Tor schnappte ein und die Schritte verzogen sich erneut. Dieses Mal lauschte ich den Geräuschen der Umgebung etwas genauer. Sie waren Leise, aber ja... ich nahm die Geräusche von irgendwelchen Wesen wahr. Ob das diese Kreaturen waren, welche er Nephilim nannte? Die, ohne Intellekt?
Ich schnaufte. Ach was interessierte mich das schon? Hastig warf ich einen Blick über die Schulter. Er war nicht da. Dann schnappte ich mir das seltsam fruchtige Ding und warf es hochkant aus meiner Zelle. Es verschwand im selben Abgrund, welchem ich erst vor kurzem hinab gestürzt war, dann schob ich den Teller mit einem Tritt von mir und rollte mich wieder ein. Soll er doch glauben, dass ich gegessen hatte. Mir egal.
Ich wusste nicht, wie lange ich bereits die heute, schnell vorbei ziehenden, winzigen Wölkchen gezählt hatte, doch als die Schritte sich wieder näherten, mussten wieder Stunden vorbei gezogen sein, in welchen ich alleine mit meinen frustrierenden Gedanken gewesen war.
Die Schritte stoppten vor meiner Zelle und das Tablett wurde einmal mehr über den Boden gezogen. „Also, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dich ja bedauern, dass du diesen Kern gegessen hast. Der kommt raus, wie er rein gekommen ist. Aber zum Glück weiß ich es ja besser.“
Ich zuckte ertappt zusammen, über seine höhnischen Worte. Doch anstatt mir wieder etwas vorzuhalten, entfernte er sich einfach. Also war mein Plan, einfach so zu tun, als hätte ich gegessen, nicht aufgegangen. Mist, wer konnte schon ahnen, dass in diesem nassen... Brot, oder was auch immer es dargestellt hatte, ein Kern drinnen war? Sollte das etwa Obst sein?
Grummelnd entschied ich, da ich ja nun wieder alleine sein musste, zumindest ein wenig zu trinken. Ein >wenig< entpuppte sich schlussendlich nach dem gierigen Schnappen nach Flüssigkeit. Ich tauchte sogar mein Gesicht in das kühle Nass, sobald es Nacht geworden war und der Pegel gestiegen. Mittlerweile hatte ich mitbekommen, dass der Wasserstand nachts viel höher war, als tagsüber. Na gut, es erreichte nicht weiter, als Knöchelhöhe und es war geradezu eisig. Aber was erwartete ich denn in diesen luftigen Höhen? Natürlich war es hier viel kälter als weiter unten.
Wie weit wir uns wohl über dem Erdboden befinden mochten? Ob ich ihn von hier aus sehen konnte, wenn die Sonne wieder aufgegangen war?
Meine Neugierde überwog und ich schleifte meinen tonnenschweren Körper den ganzen Weg zum Abgrund. Es mussten gute dreißig Meter sein. Natürlich war dies bei weitem kein Dauerlauf, doch mir kam es trotzdem so vor. Ich schaffte es trotz allem, bis zum Rand der Höhle und lehnte mich dort gegen die Wand. Erst wo ich nun dasaß. Nichts tat, außer in den schwarzen Schlund der Nacht zu starren, bemerkte ich, dass mein Fluss eigentlich sogar hier endete. Das Wasser lief über den Rand hinaus und wurde vom Wind gnadenlos verweht. Währenddessen brannte mir das grelle Licht der Scheinwerfer auf die Schulter, was sehr unangenehm war. Meine Augen reagierten noch immer sehr empfindlich darauf, wenngleich ich die schrecklichen Kopfschmerzen nicht mehr empfand.
Das dumpfe Gefühl der Leere jedoch, hielt weiterhin an. Bis zum nächsten Morgen, als das Schaben des Tabletts mich weckte. Irgendwann scheine ich doch eingeschlafen zu sein und sah nun irritiert auf. Als mein Blick, dem von meinem Gefängniswärter begegnete, hatte ich für einen Moment den Hauch der Hoffnung, er würde mich mit seinem zornigen Blick, einfach über den Rand des Abgrundes schicken. Hinab in den dieses mal, ganz sicheren Tod. Aber dies hatte ich zuvor ebenfalls bereits angenommen gehabt. Mir war es wohl nicht vergönnt, auf der harten Erde zu zertrümmern.
„Oh, es bewegt sich ja. Dann kannst du auch endlich etwas essen. Falls du es wieder einfach hinunter wirfst, werde ich dich ab morgen Früh mit dem Schlauch füttern.“ Er trat das Tablett hinein, sodass das Essen, es war dasselbe wie am Vortag, hinab rollte und direkt auf mich zu. Aus einem Reflex hinaus, fing ich es ab, ehe es über den Rand hinab fallen konnte und blickte wieder verbissen auf zu dem tyrannischen Engel.
„Guter Nephilim. Jetzt iss.“
Ich schloss meine Hand vor Ärger so fest um das essbare >Ding<, dass es zermatschte. Tatsächlich stieß ich dabei auch auf einen ovalen Kern, in dessen Mitte. Ungerührt wandte sich der Nephilim ab und ging weiter, als ob er schwer beschäftigt sei. Ärgerlich betrachtete ich den Matsch zwischen meinen Fingern. Es war geformt, wie ein übergroßer Maiskolben, doch weich, wie eine Banane. Vielleicht auch etwas fester. Vielleicht eher eine Tomate? Jedenfalls war sie knall gelb und weißliche Perlen kamen aus ihr heraus. Es sah aus wie weißer Kaviar, was mich sofort vor dem Teil ekeln ließ. Ich war immerhin Veganerin!
Jedoch nun neugierig geworden, pflückte ich eine weiche Perle von meinem Finger und drehte sie zwischen meinen Fingern herum. Nein, es waren bestimmt keine Fischeier. Oder doch? Nein... Ich roch daran. Süßlich? Wie merkwürdig...
Hm... Fisch oder nicht Fisch? Das war hier die Frage... Unsinn! Ich war bloß froh, dass niemand meine Gedanken hören konnte, denn nach so vielen Tagen voller Selbsthass und Einsamkeit, begann mein Kopf seltsam zu werden. Ich dachte an die lächerlichsten Dinge, wie daran, wie sehr sich Jemma angestellt hatte, bei ihrem ersten Date mit Adam. Sie war so nervös gewesen und hatte sich einfach nur lächerlich verhalten. Auch dachte ich daran, wie Adam mir ganz nervös seine Liebe das erste Mal gestanden hatte. Er hatte sich wie ein kleines Kind verhalten, der etwas total Peinliches zugab. Oder auch an den Tag, an welchem ich das erste Mal einen völlig fremden Jungen geküsst hatte. Es war interessant gewesen, ja. Nur hatte ich jedes Detail mit Adam verglichen. Ich hatte so viel über diesen einen Kuss philosophiert, trotz meiner Alkoholfahne, dass ich kaum den Kuss genießen hatte können.
Ich erinnerte mich an die Abende, mit Jemma, wie wir da gesessen waren, einfach nur an die Schulter der anderen gelehnt und gute Musik genossen. Ich dachte an die wenigen Sterne, welche man von meinem Fenster aus, am Himmel hatte ausmachen können. Ich hatte sie an einer Hand abzählen können, doch seit vergangener Nacht wusste ich, dass es unzählige mehr davon am Himmel gab.
Hatte ich überhaupt die Sterne über dem Haus am See bewundern können? Ich erinnerte mich kaum daran. Seltsam was einem entfiel, nachdem man mit einem Trauma nach dem anderen zu kämpfen hatte.
Wie lange ich auf diese seltsame Frucht starrte und sie in ihre Einzelteile zerlegte, konnte ich nicht sagen. Nur, dass es schon wieder Abend war, der Engel den leeren Teller abholte und mir drohte, er würde morgen mit einem Schlauch hier ankommen, ehe er verschwand.
Sollte er doch machen. Ich wusch meine klebrigen Hände im Bach und trank wieder. Es war merkwürdig, dass ich es erst wagte, mich zu bewegen, sobald ich mich alleine fühlte. Natürlich war ich dies niemals gänzlich, denn ich vernahm in der Stille der Tage die Geräusche von anderen Lebewesen, welche scharrten, schnauften, knurrten oder kratzten. Erst abends, wenn der Wind lautstark tobte, kehrte wahre Stille ein und ich konnte mich entspannen.

 

- - - - -

 

Irgendwie hatte es mich, nachdem Händewaschen dazu gereizt, auch meine Arme und nackten Beine zu waschen. Ich trug noch immer die alte Jeanshose, welche gerade einmal meine Oberschenkel bedeckte. Als ich versucht hatte, das Shirt auszuziehen, um die blutigen Flecken hinaus zu waschen, war mir aufgefallen, dass ich es nicht konnte. Meine Flügel waren durch den dünnen Stoff gewachsen, hatten es aufgerissen und nun waren sie darin eingesperrt. Stöhnend hatte ich dann aufgegeben und spielte bis spät nachts, an den Klumpen in meinen Federn herum. Zumindest die, welche ich erreichen konnte.
„Bereit für deine Sonderbehandlung, Nephilim?“ Ich schreckte zusammen, da sich mein Gefängniswärter geradezu lautlos angeschlichen hatte. Misstrauisch begutachtete ich das altmodische Teil in seinen Händen. Es war, wie er es prophezeit hatte, ein Schlauch... Mit einem schmutzig wirkenden Trichter am oberen Ende, währenddessen der stumpfe Schlauchteil, in meinen Rachen eingeführt werden sollte.
Er machte ernst! Verdammt!
„Mo-Moment!“ Bat ich, doch der Engel riss die Türe bereits auf und trat mit schweren Schritte ein. Erst jetzt fiel mir auf, dass er barfuß war! Wie irritierend. „Bitte! Ich esse ja!“ Er stockte.
„Ach, wieso das auf einmal?“
„Ich bin Veganerin!“
Irritiert hob er die Brauen. „Ist das... Eine Sprache?“
„Nein!“ Fuhr ich ihn an. „Ich esse nichts das von einem Tier... von einem lebenden Wesen stammt.“
„Das ist aus einem Strauch!“ Er deutete auf das Fallengelassenen, bereits verflüssigte Teil, mit dem ich mich gestern den ganzen Tag lang gespielt hatte.
„Also ist es Obst, oder Gemüse?“
„Was?“ Fragte er wieder und wirkte zunehmend ungeduldiger. „Ach, vergiss es. Du hattest deine Chance.“
„Nein, bitte! Ich schwöre, dass ich jetzt etwas esse. Aber bloß, wenn es nicht von einem Lebewesen stammt. Das verstößt gegen meine Prinzipien.“
Er lachte heiter los, als hätte ich eben einen wirklich amüsierenden Witz gemacht. „Ein Nephilim...“ Lachte er. „Ein... Ein Nephilim mit Prinzipien? Wie Originell.“ Er lachte sich schlapp.
Beleidigt rückte ich noch weiter ab, denn aufstehen konnte ich nicht, ohne dabei umzukippen. „Was ist daran lustig? Ich mag es eben nicht, wenn Tiere erst gequält werden, bloß um dann auf dem Teller einer undankbaren Person zu landen. So wie sie gehalten werden, ist einfach Grausam!“
Allmählich beruhigte sich der Engel wieder und ließ seine Utensilien, zu meinem großen Glück, endlich sinken. „Schon gut. Ich will ja nicht deinen winzigen Stolz belasten. Natürlich werde ich der Gnädigen sofort das besondere Mahl bringen, welche sie sich wünscht.“ Spottete er weiter und begann bloß von neuem zu lachen.
Himmel, was stimmte mit dem nicht? War der auf irgendwelchen Engelsdrogen? Arschloch!
Kurze Zeit später warf er mir ein Stück von besagter Frucht in den Kerker. Dass sie dabei aufplatzte, schien ihm völlig egal zu sein. „Bitte schön. Hier ist Ihre gewünschte Spezialdiät.“ Spottete er weiter, ehe er sich auf zu irgendetwas machte... was auch immer dort weiter hinten im Gang war.
„Arschloch!“ Fluchte ich nun etwas lauter, mir sicher, dass er mich nicht gehört hatte. Dann angelte ich nach der beschädigten Nahrung und seufzte einmal tief. Wie etwas von einem Tier, sah es nun wirklich nicht aus. Als ich eine der kleinen austretenden Perlen in den Mund sog, schmeckte sie tatsächlich... seltsamerweise nach Honig! „Mh...“ Machte ich begeistert und biss in die Schale. Oh, nein! Okay, das hätte ich mir sparen können. Sie war saurer, als alles, was ich je in meinem Leben gegessen hatte! Angeekelt saugte ich bloß das innere aus und bemerkte erst da wieder meinen Hunger. Also von mir aus, hätte er ruhig noch einen ganzen Strauch davon in meine Zelle stellen können!
Sobald ich fertig war, robbte ich auf dem Hintern sitzend, zur Wasserquelle, schoss den steinernen Kern, so wie die Schale hochkant aus meiner Zelle hinaus und begann mir, die klebrige Substanz von meinen Fingern zu waschen, ehe ich mein Gesicht wusch. Wie man so etwas aß, musste ich wohl noch lernen...
„Sag bloß, du hast es schon wieder hinunter geworfen!“ Mahnte eine Stimme mich, was ich mittlerweile schrecklich hasste. Wieso musste der Engel sich bloß so anschleichen?
„Nein! Nur... Nur die Schale und den Kern.“
„Wieso denn die Schale? Sie ist das nahrhafteste.“
„Weil sie sauer ist!“ Entgegnete ich genauso bissig, wie er mich anfuhr.
„Ja und? Man isst das süße innere, mit dem sauren äußeren. Dann schmeckt es perfekt.“
„Ich mag saures aber nicht.“ Abweisend verschränkte ich meine Arme vor dem Brustkorb und kam mir einmal mehr vor, wie ein trotziges kleines Kind. Nur leider knurrte mein Magen dafür viel zu laut...
„Tja, hättest du mal alles gegessen. Wir sehen uns morgen. Versuch bis dahin zumindest deine Rückenmuskeln aufzubauen.“
Er ging fort, woraufhin ich ihm die Zunge kindisch heraus streckte. Also wirklich... Was bildete der sich überhaupt ein?
Den restlichen Tag lang, wurde ich, Überraschung, Überraschung, von einem lästigen Hungergefühl gequält, so wie am ersten Tag meines Fastenstreiks. Einmal mehr hasste ich mich dafür, dumm genug gewesen, zu sein und mich zwingen zu lassen, etwas zu essen.
Wenn ich jetzt sprang... würde wieder jemand da sein und mich auffangen?
Schniefend rollte ich mich auf meinem üblichen Plätzchen, in der Nähe des Abgrundes zusammen und begann zu weinen. Ich hasste mich. Ich hasste mich so abgrundtief...

 

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„Ich sagte, dass du deine Rückenmuskulatur trainieren sollst.“
Grummelnd wandte ich meinem Peiniger nicht einmal den Blick zu. Ich starrte weiter hinauf auf die dichte Wolkendecke, welche für den heutigen Tag den Himmel vor mir versteckte. Wegnistens waren sie weis wie Zuckerwatte. Damit konnte ich mich zumindest ein wenig daran erfreuen. Außerdem begann mein Hunger wieder nagender zu werden.
„He! Muss ich wieder mit dem Schlauch kommen?“ Mahnte der Engel mich.
Ich warf ihm einen trotzigen Blick zu. „Ich esse ja eh!“
„Aber du trainierst nicht!“
„Wieso sollte ich auch.“ Murmelte ich, doch das hörte er wohl.
„Weil ich es dir sage. Du übst deine Flügel zu tragen, denn du hast noch eine Schuld zu begleichen.“
„Lass mich in Ruhe!“ Ich zog meine Beine enger an meinen Körper und versteckte mein Gesicht darunter. Ob wohl alle Engel so waren? Sahen sie uns, halbwegs menschlichen Wesen auf diese Art?
„Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Die Schritte verklangen, doch heute war die Unruhe, der anderen Gefangenen, was auch immer sie sein mochten, wesentlich lauter, als an allen bisherigen Tagen. Ich wollte überhaupt nicht wissen, was er dort veranstaltete, doch mein Augenmerk wurde gezwungenermaßen stark von der gelben Frucht, in der Nähe der Zellentüre angezogen. Ach, hätte ich doch gar nicht erst damit angefangen...
Seufzend rutschte ich über den Boden, hin zu der Frucht, welche nun noch nicht einmal mehr einen Teller dazu hatte und befolgte, ausnahmsweise den Rat des Engels. Zu meinem Bedauern behielt er recht. Es schmeckte absolut köstlich... Und das hasste ich! Wieso musste dieser Scheißkerl recht haben?
Als die Geräusche im, wie ich annahm, hinteren Teil der Gefängniszellen lauter wurden und teilweise sogar seltsame, kreischende Laute erklangen, wurde ich doch etwas neugieriger. Ich zog mich mühsam an den Gitterstäben hoch und klammerte mich mit einem Arm, an diese, während ich weiterhin auf der seltsamen Frucht herum kaute. Bisher hatte ich noch keinen Blick gewagt... Aber der Gang, welcher sich vor mir erstreckte, war nicht besonders viel anders, als der, in welchem ich saß. Andererseits schien alle paar Meter ein goldener Edelstein auf derselben Höhe zu hängen, wie die nächtlichen Scheinwerfer. Ob das... Nein, so etwas Kleines konnte doch nicht dermaßen hell scheinen... Oder doch?
„Bleib ruhig, ich muss dich erwischen.“ Murrte der Engel, welcher ständig mein Frühstück brachte und dann wieder verschwand. Er tauchte aus einem, scheinbar weiteren Gang auf, nur dass mir dieser nicht einmal aufgefallen war. Als er sich plötzlich in eine tiefer gebeugte Kampfposition brachte, wanderten meine Brauen ganz von selbst hoch. Mit gespannten Muskeln machte der Engel ganz schön etwas her... Auch wenn er schlank wirkte, konnte man seine Muskeln durchaus als ausgeprägt bezeichnen. Seine Stirn legte sich konzentriert in Falten und kurze Zeit später, begann er auch bereits damit, mit den Armen seltsame Kreise zu formen.
Irritiert davon, welche Aufwärmübung dieser Unsinn darstellen sollte, schmunzelte ich sogar willkürlich ein kleines wenig. Aber bloß für einen Moment! Dann sammelte sich in diesen Kreisen, welche er formte, langsam Wasserblasen. Sobald die Wasserblase einen Durchmesser von gut einem Meter erreicht hatte, rotierte der Engel einmal im Kreis und schleuderte das Ding von sich. Etwas schrie empört auf, während sich das Wasser über irgendetwas ergoss. Zufrieden betrachtete der Engel sein Werk, dann ging er weiter, zum nächsten Käfig.
Also... ob neben meinem Gefängnis noch jemand war?
Für einen Moment erwog ich, ob ich mit irgendetwas laut genug gegen die Wand klopfen konnte, auf dass mich das Ding nebenan hören mochte. Leider bräuchte ich dafür das Tablett... Nur mit diesem, konnte ich laut genug klopfen, um auch wirklich gehört zu werden.
Als ich meinen Blick wieder nach draußen schweifen ließ, um das Geschehen weiter zu verfolgen, erschrak ich beinahe zu Tode. Mein Gefängniswärter stand weniger als einen halben Meter von mir entfernt und musterte mich mit zusammen gekniffenen Augen. „Was heckst du aus?“
Ich hatte den Mund eben voll, weshalb ich ihm vor Schreck beinahe ins Gesicht gespuckt hätte. Zum Glück blieb mir diese Peinlichkeit erspart... andererseits hätte das Bild, von einem Engel, mit halb zerkauten Frühstücksresten im Gesicht, bestimmt zum Schmunzeln angeregt... „Gar-Gar nichts! Ich stehe bloß hier.“ Erwiderte ich hastig, nachdem ich hinunter geschluckt hatte.
„Ganz genau!“ Ergänzte der Engel. „Du stehst hier.“ Er deutete auf die Gitterstäbe, an welchen ich wortwörtlich hing, denn das Gewicht in meinem Rücken konnte ich kaum noch ertragen. „Das hast du noch nie gemacht. Also spuck es aus. Was planst du? Einen neuen Selbstmord? Ausbruch? Mir auf die Nerven gehen? Grandios, letzteres hast du bereits zweimal innerhalb kurzer Zeit geschafft.“ Wow redete er schnell... Ob alle Engel so schnell sprachen?
Anstatt auf seine Vermutungen einzugehen, stellte ich eine Gegenfrage. „Bist du der einzige Engel, der sich um diese... Gefängnisse hier kümmert?“
Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Es braucht auch bloß einen, um Nutztier das Futter in die Zellen zu werfen.“
„Also sind dort drüben... mehr wie ich?“
Er schnaufte abweisend. „Nein. Kein anderer Nephilim hier ist, wie du.“ Wäre in seiner Stimme nicht dieser anklagende Tonfall gewesen, hätte ich mich glatt geschmeichelt gefühlt. Blöder Körper! Wieso regierte dieser überhaupt? Sollte das eine neue Art an psychischer Folter werden? Das Stockholmsyndrom? Konnte ich denn noch tiefer sinken?
„Wieso nicht?“ Die Worte entglitten meinem Mund so schnell, dass ich nicht fähig war, sie zu zügeln.
Seine schwarze Braue wanderte ein weiteres Mal. Dieses Mal war der Ärger aber wenigstens vorhersehbar. „Weißt du... du hast mir besser gefallen, als du noch auf deinem Platz neben dem Abgrund halbtot herum gelegen bist. Wieso machst du das nicht weiterhin?“
Ich verzog mein Gesicht, um nichts Pampiges zu erwidern. Nach einem kurzen Schweigemoment biss ich provokativ in die seltsame, gelbe Frucht und kaute genussvoll. „Mach ruhig weiter mit deiner Arbeit, als Mistschaufler. Ist wie Kino.“ Moment, wie war das eben, mit nicht pampig werden? Sonst war ich eigentlich die Art Person, die Mobber nicht einmal mit dem Arsch an schielt, da diese dadurch viel schneller das Interesse an einem verloren. Was mir da also eben entkam, war somit absolut nicht meine Art, die Dinge zu regeln.
„Weißt du... Du könntest auch mal ein Bad gebrauchen...“ Oh, das würde er doch nicht... Ein spöttisches Schmunzeln lief über sein Profil, welches er mir nun zukehrte. „Übrigens, deine Flügel kontrollierst du mittels deiner Schulter. Feile an deiner Haltung und du wirst schon bald Schmerzen im oberen Rückenbereich haben. Das ist deine Muskulatur.“ Damit schritt er wieder von dannen und ich blickte ihm verständnislos hinterher.
Erst beleidigen, dann Ratschläge geben... Wusste dieser Engel überhaupt, was genau er nun von mir wollte?
Stöhnend ließ ich mich wieder auf den Boden sinken, was ein angenehmes Gefühl in meinem Rücken auslöste. Während ich dabei zusah, wie der dunkle Engel nach... was wusste ich schon, wohin verschwand, wagte ich es, wieder durch zu atmen. Die Metallstäbe hatten einen Abdruck an meinem linken Arm hinterlassen, was mich aber nicht allzu sehr störte, wie die Tatsache, dass ich Dummkopf gelächelt hatte.
Wieso tat ich denn so etwas? Mir war es nicht mehr vergönnt, lächeln zu dürfen. Nicht bloß, dass ich meine Mutter im Stich gelassen hatte und mit Abstand die schrecklichste Tochter auf der weiten Welt war, nein ich hatte sogar... ich hatte...
„Verdammt!“ Fluchte ich, als etwas in meinem Magen zum Rumoren begann. Nicht das auch noch! Immer wenn man dachte, man konnte nicht noch tiefer sinken, saß man in einem Kerker ohne Toilette fest! „Ach nicht doch! He!“ Wie genau rief man seinen Gefängniswärter, um nach einem Toilettengang zu verlangen? Ganz plump? Oder doch lieber sachlich? Ja... Ja, sachlich klang gut. „He! Du! Engel, bist du noch in der Nähe? Kannst du mich hören?“ Rief ich, woraufhin lautes Getöse begann. Zischend biss ich die Zähne zusammen. Ups... Ich hatte wohl einen Tumult ausgelöst.
„Verdammt!“ Er kam um die Ecke gelaufen und starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Was ist denn jetzt schon wieder?“
Ich setzte mein höflichstes Lächeln auf und hoffte inständig, dass ich einigermaßen charmant wirkte. „Ähm... das tut mir leid. Ich wollte wirklich keinen Tumult auslösen... Aber mir ist eben aufgefallen, dass es hier, in dieser... wirklich hübschen Zelle keine Toilette gibt.“
Okay, ich korrigiere. Jetzt betrachtete der Engel mich, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte... Oder Federn am Flügel? Wie sagte man das bei Engeln?
Für einen Moment betrachtete er das karge Innenleben, ehe seine Brauen vor Konzentration geradezu zusammen wuchsen. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich dermaßen wandelbare Brauen gesehen. Irgendwie schräg...
„Dir ist bewusst, dass du ein Nephilim bist?“ Entgegnete er, doch es klang eher wie eine Frage.
„Ja.“
Nichts anderes hatte er scheinbar von mir hören wollen, denn er deutete vielsagend auf den Raum, in welchem ich eingesperrt war. „Bitte, halt dich nicht zurück. Ist deine Zelle.“ Damit wandte er sich erneut ab.
Ich glaubte es ja nicht! „He! He, du! Ich werde ganz bestimmt nicht einfach hier in den Raum machen.“
Er winkte über seinen Rücken hinweg ab. „Machen doch deine Gefährten genauso. Lass dich von mir nicht abhalten.“
Mit offenem Mund starrte ich seinem fedrigen Rücken hinterher. Wie gemein! Und kaltherzig! Aber... Aber ich konnte doch nicht einfach so in einen Raum hinein... etwas erledigen. Weder die eine, noch weniger die andere Seite!
Verzweifelt schlug ich mir gegen die Stirn. Das hier wurde ja immer besser und besser! Wo war ich da bloß wieder hinein geraten? Reichte es denn nicht, ein verwaister Nephilim zu sein und eine Mörderin?
Ich konnte nicht verhindern, dass mir vor Frust und Selbsthass erneut die Tränen aufstiegen und ich mich weinend in eine Ecke verzog. Das Leben war einfach so verdammt unfair! So... ungerecht...

XXI - Begleichung von Schulden

Trotzig saß ich am Rand der Klippe und sah hinaus auf den, mit Watte gefüllten, Himmel. Es war einer der seltenen Momente, in welchen der Engel zuließ, dass ich ihn hörte, wenn er sich anschlich, doch ich reagierte nicht auf ihn.
„Hast du gegessen?“
Ohne zu antworten, warf ich den Kern hochkant hinaus in die Tiefe.
Er seufzte. „Na wenigstens das. Wie sieht es mit deinem Rücken aus? Du trainierst nicht.“ Auf diese Aussage reagierte ich gleich überhaupt nicht. Ich hatte ja auch nichts davon. Wieso sollte ich trainieren?
Die Türe hinter mir Rücken sprang auf und ich konzentrierte mich darauf, meinen Blick nicht über meine Schulter gleiten zu lassen. Hoffentlich kam er nicht schon wieder mit seinem blöden Schlauch! Ich hatte ja gegessen, so wie er es verlangte. Mehr konnte er nicht haben. Zu mehr war ich nicht fähig.
„Beginne wenigstens damit, deine Flügel richtig zu halten.“ Erschrocken stieß ich einen piepsigen Laut aus, als seine groben Hände die oberen Enden meiner Flügel packten. Für einen Moment machte sich in mir das Gefühl von Schmerz breit. Ich... Ich erwartete es sogar geradezu, doch der Engel tat mir nicht weh. Ganz im Gegenteil...
„Spürst du das?“ Ich saß vollkommen erstarrt da und konnte nicht einen Nerv bewegen, weshalb ich lediglich einen bestätigenden Laut von mir gab.
Der Engel hatte meinen rechten Flügel an der Stelle gepackt, wo zwei Knochen ineinander über gingen und ein bewegliches Gelenk entwickelt, ähnlich wie ein Ellenbogen, nach außen gekrümmt war. „Hier, dieses Gelenk, spürst du das auch?“
Seine Hände... ich konnte sie buchstäblich fühlen. Es war, als würde er mir über den Arm streichen und mir demonstrieren, wie ich ihn abbog und wieder streckte. Dabei war er jedoch weder sanft noch brutal. Ein wenig bekam ich das Gefühl, dass dies nicht das erste Mal war, dass er es jemanden demonstrierte.
„Du besitzt lediglich in deinem Rücken die nötigen Muskeln um zu fliegen. Der Rest deines Flügels besteht aus Knochen, Haut, Sehnen und ein wenig Fleisch. Nur hier...“ Seine Finger glitten zu einer Stelle, knapp eine Handbreit von meinem Rücken entfernt, aus welcher meine Flügel austraten, drückte er mit drei Finger, massierend auf eine Stelle. Willkürlich seufzte ich. „...das sind auch noch Muskeln. Die musst du trainieren. Sie sind dafür zuständig dass du deine Flügel oben hältst.“
Als er mit der kurzweiligen Massage aufhörte, wollte ich glatt protestieren, da ich nun die Spannung darin unweigerlich wieder wahrnahm. Vorher war sie mir eigentlich noch nie aufgefallen. „Wieso muss ich sie überhaupt haben? Ich bin ein Nephilim... Nephilim besitzen keine Flüge. Wir sind keine Engel.“
Ich hatte mich bisher noch überhaupt nicht umgedrehte, da ich nicht wollte, dass er mein verweintes Gesicht sah. Meine missmutige Stimme jedoch, erkannte er augenblicklich wieder. „Oh sag bloß, dass Madame schon wieder eine ihrer Anwandlungen hat. Willst du es dieses Mal richtig machen und einfach unten zerschmettern?“ Seine Stimme klang so, als sei sie lediglich ein paar Zentimeter von meinem Kopf entfernt, was seinen Spott bloß noch realer für mich machte. Er hielt mich augenscheinlich für einen schlechten Witz.
Die Geschehnisse von vor wenigen Tagen durchzuckten meine Erinnerungen lebhaft. Für einen Moment war es so, als ob ich das Reißen des Windes erneut auf jeder Stelle meines Körpers spüren würde. Die getrockneten, mehrere Tage alten braunen Flecken auf meiner Hose, so wie Teilen meines Shirts, bezeugten, dass ich geblutet haben musste. Mein Verstand schwor, dass ich mir an mehreren Stellen etwas gebrochen hatte... Und dennoch saß ich hier. Unverletzt. „Hat ja beim letzten Mal nicht so gut geklappt, was... Scheiß Selbstheilungskräfte.“
Er schnaubte, sodass einige meiner strähnigen Haare sich leicht im erzeugten Wind bewegten. „Hm... Ich hätte dich einfach weiter fallen lassen sollen, dann hättest du wenigstens kein Eigentum beschädigt.“ Murrte der Engel in meinem Rücken, welcher mir eher wie das Teufelchen auf meiner Schulter vorkam.
„Hättest du mal... Wie-Wieso hast du es überhaupt getan?“
Ich hörte hinter mir seine Flügel rascheln. Ob er sie etwa gerade eben bewegte? „Du hast doch um Hilfe gebeten.“ Warf er mir regelrecht vor.
„Warum habe ich das getan?“
„Hm?“ Dieses Mal hörte ich deutlich, wie er sich kratzte. „Was meinst du?“
Ich ließ meinen Kopf gegen die steinerne Wand sinken und seufzte tief. „Ich will sterben, weißt du. Ich... Ich wollte es wirklich und aufrichtig. Es einfach... einfach beenden. Zack. Und ich wäre nicht mehr da gewesen. Niemanden hätte es interessiert. Niemand hätte sich mehr Gedanken um mich gemacht.“
Der Engel hinter mir, trotz meiner ersichtlichen, emotionalen Belastung, prustete amüsiert los. „Also wie eine Verrückte, die sich in den sicheren Tod stürzt, hast du ja nicht wirklich gewirkt.“
Nun sah ich doch über die Schulter und bemerkte da erst, dass er hinter mir in der Hocke saß. Ich funkelte ihn natürlich wütend an. „Ich will es aber immer noch. Sterben meine ich. Es soll einfach zu ende sein.“
Sein amüsiertes Lachen wich einem wissenden Grinsen. „Vergiss es, kleine Hayleeblackbid. Deine Augen sind das funkelnde Leben pur.“ Sein Blick lag so intensiv auf meinem, dass mich für einen Moment doch tatsächlich das Gefühl beschlich, als würde dieser Engel meine Seele prüfen mittels seiner gottgleichen Gnade. „Du bist vielleicht geschlagen. Aber du bist noch lange nicht so weit, dass du das Leben aufgibst. Kein Nephilim, der das Himmelsreich betritt, hatte je solche Augen, wie du. Vor dir liegt noch ganz bestimmt etwas...“ Er stupste mich mit dem Finger an die Schulter. „Aber vorher wirst du deine Schulden begleichen, die du bei mir gemacht hast. Besser früher, denn später.“ Der Punkt, welchen der Engel eben an meiner Schulter berührt hatte, fühlte sich mit einem Mal gleißend an. So als ob mich eine Flamme berührt hätte... bloß, ohne mich zu verbrennen. Es war glühend, echt und damit eine tröstliche Abwechslung zu all den kalten Tagen, welchen ich hier ausgesetzt war.
Das änderte nichts daran, dass ich seine Aussage überaus ironisch fand. „Was habe ich denn bitte noch vor? Ausgerechnet ich? Ich bin eine Waise und eine Mörderin. Ich bin Abschaum. Das war ich schon immer.“ Ich spuckte diese Worte geradezu aus. Abschaum... Als dieses hatten man mich so viele Jahre lang bezeichnet. Ich war in einem gestörten Viertel-Verhältnis groß geworden. Meine Mutter ist verrückt. Mein bester Freund, liebt meine beste Freundin, obwohl er doch stets zu mir gehört hatte. Dann traf ich endlich jemanden, den ich mehr begehrte, als Adam... und dieser betrog mich. Hinterging mich. Er schützte seine Mutter und heuchelte mir Verständnis so wie seine Liebe vor. Aber das war in meinen Augen doch keine Liebe! Es war Besessenheit gewesen. Eine Besessenheit von einer möglichen Zukunft, in welcher ich absolut nichts verloren hatte. Mit Kräften... die mir überhaupt nicht zustanden! Die ich niemals hätte bekommen dürfen!
„Genau das!“ Ich hatte wütend auf den Boden gestarrt, als der Engel mein Kiefer packte und meinen Kopf herum riss, sodass ich ihm wieder ansehen musste. Tief hinein, in seine dunkel, funkelnden Augen. Was sie wohl alles in sich verbargen? Diese Abgründe... „Dieser Blick ist es, kleiner Nephilim. Genau der! Egal, an was du eben gedacht hast, aber das ist es, was dich bei Verstand hält. Was dir den Funken des Überlebens schenkt. Solange du das hast... wirst du dich nicht auflösen und zu einem dieser...“ Er deutete in Richtung der anderen Zellen. „...hirnlosen Monster werden. Und genau das brauche ich. Wenn du jetzt noch lernst, deine Flügel zu tragen, kannst du deine Schulden quasi von heute auf morgen abbezahlen.“
Ich runzelte irritiert meine Stirn. Dieser selbstzerstörerische Hass also, sollte mich davon abhalten... tot umzufallen? Wie lächerlich! „Unsinn. Ich habe... Ich habe mein gesamtes Leben verloren... Wie kann so etwas denn gut sein?“
Unkontrolliert kugelten einmal mehr meine Tränen über meine Wange hinab und verloren sich in meinem schmutzigen, bereits müffelnden Shirt.
Sein Griff wurde ein wenig sanfter, während er mir ernst in die Augen sah. „Dein Leben ist nur das, zu was du bestimmt wurdest, Nephilim. Du magst auf der Erde als Mensch gelebt haben. Hier jedoch... Hier, in meiner Welt, kontrollieren dich deine Engelsgene. Du bist das, wozu du geschaffen wurdest. Du nimmst den Platz ein, welcher dir vorherbestimmt ist. >Das< ist jetzt dein Leben. Engel dienen. Wir sind stark, stolz und unumstößlich. Willst du leben, musst du dein wahres Selbst akzeptieren, um nicht mehr als Nephilim... Als Nutztier hier drinnen eingesperrt zu sein. Hast du das verstanden?“
Angetrieben von seinen leidenschaftlichen und so überzeugenden Worten, konnte ich nichts anderes tun, als zu nicken. Ich nickte einfach nur, während meine Tränen liefen und ich mich zum ersten Mal... seit einer schier endlos langen Zeit, endlich verstanden fühlte. Es schien quasi das zu sein, was ich hören hatte, müssen.
Ich war am Leben. Es hatte einen Sinn... einen vorherbestimmten Zweck, dass ich lebte und litt. Kein... dummer Zufall. Es war eine Aneinanderreihung an Ereignisse. Ereignisse, die ich vielleicht niemals verstehen mochte, doch ich würde über sie hinweg kommen. Daran wachsen. Stärker werden...
„Sehr gut. Trainiere... dann sehen wir weiter, ob du es zu aller erst mal schaffst, deine Schulden bei mir zu begleichen.“
Der schwarzäugige Engel kam aus der Hocke hoch und stand wie ein Schicksalsgott vor mir. Für einen Moment war ich dazu verleitet ihn, darum zu bitten, bloß noch ein kleines bisschen länger zu bleiben. Seine Berührungen waren wie Balsam auf meiner kühlen Haut gewesen. Seine Stimme, einmal nicht getränkt von Abscheu oder Spott, herrlich anzuhören. Es schien... als ob alleine seine Anwesenheit dafür sorgte, dass es mir endlich besser ging.
Für einen flüchtigen Moment erlaubte ich es mir, ihm sehnsüchtig hinterher zu sehen. Seinen muskulösen Rücken zu bewundern, die fein geschwungenen, rundlichen Flügel, welche zweifellos perfekt dazu geeignet waren, wie ein wendiger kleiner Vogel, durch die eng aneinander gereihten Bäume eines Waldes zu navigieren. Seine Haut war makellos, was mich bei einem Engel eigentlich überhaupt nicht verwundern sollte. Schon die anderen Nephilim hatte ich stets, als wunderschön und makellos angesehen. Doch Engel...
Gefühle... Oh Gott! Meine Gefühle kamen mit einem Schlag wieder zurück. Als hätte sich in mir eine Art... eine Art Schalter umgelegt. Plötzlich versiegte die gähnende Leere in meiner Brust. Der dumpfe Schmerz in meinem Herzen, wurde von dem Kratzen der hinterbliebenen Splitter gepeinigt. Die Trauer, die Verzweiflung, die Wut, die Scham... Besonders die Scham!
Wie hatte ich mich bloß so hintergehen lassen können? Weshalb hatte ich die zweischneidige Klinge, auf welcher ich balanciert hatte, einfach nicht wahrgenommen? Calyle hatte mir so viel bedeutet. Er war für mich da gewesen, als es mir besonders schlecht gegangen ist. Seine Worte, sein Lächeln, seine Nähe...
In diesem Moment wollte ich mir nichts lieber, als das Herz heraus zu reißen. Würde es heilen? Nachwachsen? Könnte ich dadurch sterben?
Der Engel hatte doch gesagt, dass hier, in seiner Welt, im Himmelreich, andere Gesetze galten. Hier war ich ein Bastard mit Flügeln. Ein Nephilim mit Verstand. Ab jetzt musste ich nach deren Regeln spielen, wenn ich es irgendwie zurückschaffen wollte.
Zurück zu dem steinernen Grab meiner Mutter, zu der verlogenen Schwester, welche sie getötet hatte, zu meinem Ex, welcher mich hintergangen hatte und natürlich... zu Lucy. Ich musste zu Lucy zurück. Mich vergewissern, was aus ihr geworden ist. Wenn sie... Wenn sie doch nun tatsächlich tot war, würde ich mir das niemals verzeihen können. Wie denn auch? Sie war so rein, so leidenschaftlich und herzensgut! So jemanden durfte nichts zustoßen.

 

- - - - -

 

Der Tag schritt dahin. Ich tat, was der Engel mir gezeigt hatte, doch lange hielt ich diese Spannung in meinem Rücken einfach nicht aus. Alles schmerzte, doch ich wusste, schon bald würde es wieder geheilt sein, so wie meine Knochenbrüche, Quetschungen und Kratzer. Hier, in dieser Welt, würde ich andauernd heilen, dank meiner Engelsherkunft.
Irgendwann schlief ich jedoch wieder ein. Es war etwas Eigenartiges, was mich weckte. Stimmen. Erst dachte ich, ich würde wieder träumen. Feuer. Flügel. Blut. Tod. Ich sah es noch immer. Hörte die Schreie, fühlte den Schmerz. Aber es waren zum Glück bloß Albträume von alledem, was ich schon durchgemacht hatte.
Sobald ich jedoch dieses Mal erwachte, verklangen die Stimmen nicht. Sie blieben beständig, doch wirkten etwas weiter entfernt, so als ob ich sie durch ein Rauschen wahrnehmen würde. Ich blinzelte gegen die schwere Müdigkeit an, welche meinen Verstand versuchte, zurück in den Schlaf, zu zwingen, doch ich riss mich mühsam davon los. Es wirkte... seltsam vertraut und durch einen Schleier voller Erinnerungen meinte ich, so etwas Unnatürliches bereits einmal gefühlt zu haben.
Als die Stimmen, zwei am Stück, jedoch, zusammen mit tapsenden Schritten begannen lauter zu werden, konnte ich ihn tatsächlich vollständig abwimmeln. Blinzelnd setzte ich mich auf und sah mich nach der Quelle um. Natürlich kam sie von draußen, aus dem Gang, in welchen der Engel stets verschwand.
„-so wie es ist. Keinen Umtausch, keine Garantie. Ich liefere wie immer in die Arena. Also im Grunde kennen sie ja das Verfahren.“
„Aber du bist alleine.“ Erklang eine tiefe, männliche Stimme, die ich bisher nicht kannte. Die Schritte erstarrten.
„Es braucht auch bloß einen, um die Nephilim zu füttern und auszumisten. Mehr ist nicht zu tun.“
„Der Transport, Cirillo. Stell dich bitte nicht dümmer, als du bist. Solche Konversationen ermüden mich lediglich. Du bist nicht für Lastenflüge geschaffen. Und immer wirst du keinen finden, der sich die mühsame Arbeit annimmt, um dir zu helfen.“
Die Stimme meines dunkeläugigen Engels erklang höhnisch. „Oh gut, wenn ihr einen besser geeigneten zur Verfügung habt, der gemacht ist für diesen Job...“ Es herrschte eine kurze Stille. „Nicht? Gut. Dann werde ich in meine Lieferung eine Aushilfe mit einkalkulieren. Danke für den Hinweis, Ältester Aboran.“ Uh! Das war eins zu null für den dunkeläugigen Engel. Aber das mal hintenan gestellt... über was genau verhandelten diese beiden Engel da?
„Vater, stört es dich, wenn ich euch bei eurem Testosterongehabe alleine lasse und mir die Ware ansehe? Meine Zeit ist auch nicht unbegrenzt.“
Wieder wurde geschwiegen, dann setzten sich die Schritte erneut in Bewegung. Der schwarzäugige Engel, welcher anscheinend für die >Ware< hier in den Zellen zuständig war, ging voraus. Hinter ihm folgte, schwebend, ein grauhaariger, doch sonst altersloser Engel mit weißem Kinnbart. Sein kurz gehaltenes Haar, war ebenfalls vollkommen farblos, die Augen in einem zarten, ausgebleichten Blau. Bloß ein paar Fältchen an den äußeren Ecken der Augen, verrieten, dass dieser Engel bereits ins Alter gekommen sein musste. Sonst hätte ich ihn bestimmt auf Anfang dreißig geschätzt. Wie der schwarzhaarige Engel, trug auch dieser, nicht mehr, als eine dünne Stoffhose und war barfuß. Seine Flügel waren in Grau gehalten, wenngleich ich mich nicht entsinne, dass grau so viele Farbvarianten bot.
Der Engel, welcher als Letztes folgte, war eine Frau. Sie war mindestens so groß wie der weißhaarige Engel, doch besaß im Gegensatz zu ihm, flammend rotes Haar, welches in vielen Nuancen schimmerte. Genauso unterhielt es sich mit ihren hellroten, fast stechend grellen Flügel, während sie, im Gegensatz zu ihren männlichen Gegenstücken, in einem einteiligen Jumpsuit steckte. Vorne war er bis zu ihrem Hals geschlossen, nicht einmal ihre Schlüsselbeine sah man, die Füße waren ab der Mitte ihrer Schenkel nackt, genauso wie ihre Arme ab den Schultern. Hinten ging der Ausschnitt wesentlich tiefer, sodass er ihren Flügel völlige Bewegungsfreiheit bot.
Jeder der dreien überragte den anderen an Ausstrahlung und Schönheit. Ihr Gang war perfekt aufeinander abgestimmt, jeder trug das Haupt erhoben, bewegte sich leichtfüßig, lautlos oder schwebte gar. Die Schultern waren stark zurückgeschoben, so als ob sie einen Stock im Hintern besäßen und keiner von ihnen, ließ den Blick auch bloß für einen Moment schweifen, während sie in einheitlichen Abständen hintereinander her gingen.
Ich war so verblüfft gewesen, dass ich nicht gewagt hatte, mich auch bloß einen Millimeter zu bewegen. Nun jedoch, da sie außer Sichtweite waren, klappte mein Mund, ungläubig auf und zu. Was war das eben gewesen? Was suchten die anderen beiden hier? Und wieso zum Teufel hatte das vorherige Gespräch wie eine Verkaufsverhandlung geklungen?
„Das ist eines der möglichen Objekte. Ich weiß ja, dass deine Tochter am liebsten welche mit Reißzähnen hat.“
Reißzähne?
„Er ist zu klein.“ Maulte besagte >Tochter<. „Wenn, dann will ich schon einen großen haben, der ordentlich Schaden austeilt. Ich will gewinnen, nicht bloß mitmachen.“
„Wie jeder andere, der an den Spielen teilnimmt.“ Entgegnete der schwarzhaarige Engel scharf.
„Nun ja, du musst es ja wissen, wenngleich du dir bisher keinen hast leisten können, Cirillo. Immerhin arbeitest du ja in diesem... Drecksstall mit ihnen.“
„Tochter.“ Mahnte die tiefe, dröhnende Stimme ihres Vaters mahnend, woraufhin weiter kein Ton mehr von ihr kam.
„Cirillo...“ Wiederholte ich flüsternd für mich selbst. Hieß etwa so der schwarzhaarige Engel?
„Zeig uns noch weitere, Cirillo. Bis sie zufrieden ist.“
Die Schritte entfernten sich und ich ging davon aus, dass sie tiefer hinein bewegten, von Zelle zu Zelle, bis das passende >Objekt< gefunden war. Nein, ich täuschte mich doch nicht so grundlegend, oder? Wurde hier eben mit Nephilim gehandelt? Wie... Wie mit Haustieren? Personal? Sklaven... Also in meiner Welt verstieß das gegen so ziemlich jegliche Menschenrechte! Auch, wenn wir das bloß zur Hälfte waren, rein aus dem genetischen Aspekt.
Einige Zeit später, erklangen erneute Schritte, doch dieses Mal, bloß von einer einzigen Person. Es war das Mädchen, die schnellen Schrittes an meiner Zelle vorbei raste. Sie verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war, als hätte sie es besonders eilig, von hier fortzukommen.
Lautloser folgten, der schwarzhaarige Engel Cirillo, so wie der weißhaarige. Dass sie so abrupt auftauchten, erschreckte mich etwas und ich zuckte unweigerlich zusammen, was natürlich auch meine Flügel zum Rascheln brachte. Mit hochgezogener Braue blieb der ältere Engel stehen und betrachtete mich eingehend. Cirillo merkte erst, als er angesprochen wurde, dass ihm der andere Engel nicht mehr folgte.
„Cirillo, was ist mit diesem hier?“ Unweigerlich lehnte ich mich zurück.
Cirillo kam zurück und positionierte sich, in derselben Stellung, wie der andere Engel, während sein Blick jedoch, nicht musternd über mich glitt, sondern eher gleichgültig ausgelegt werden konnte.
„Das ist mein neuestes Exemplar.“
„Warum ist es so anders?“
Cirillo schwieg einen Moment. Wieso schwieg er? Das provozierte meine Nervosität! Oder... Oder wusste er es einfach nicht? „Ich forsche an diesem Nephilim. Es versteht, was ich sage und spricht auch. Nur Anweisungen kann es nicht so gut verarbeiten. Das trainieren wir noch.“
Ich bewarf Cirillo mit einem giftigen Blick. Was soll das denn heißen, dass ich keine Anweisungen befolgen kann? Was war er? Mein Boss?
„Ich sehe, es versteht wirklich was du sagst und reagiert emotional. Was ist mit den Flügel? Sie sind abnorm.“
Cirillo nickte. „Ja, das hat mich auch irritiert. Sie sind außergewöhnlich schwer, aber nicht sehr empfindsam. Ich denke nicht, dass dieser Nephilim sie je benutzen kann.“
„Wenn sie nicht dienlich sind, würde ich sie kaufen wollen. Ohne den Nephilim, versteht sich. Es wäre interessant sie zu erforschen.“
Meine Augen wurden riesig! Das konnte er doch nicht machen! „He-...“ Ich brachte nicht mehr, als das heraus, denn Cirillo unterbrach mich mit erhobener Stimme.
„Weder der Nephilim, noch ein Teil von ihm steht zu Verkauf.“
„Weshalb?“ Konfrontierte ihn der andere Engel nun strenger. „Es ist ein Nephilim. Ein Abfallprodukt. Es würde dir bloß unnötige Arbeit bescheren, wenn du es weiterhin behältst.“
Cirillo´s Stimme wurde ebenfalls eindringlicher. „Ich bitte dich Aboran... Sag bloß, jetzt sorgst du dich bereits, um meine Zeit.“
Aboran schnaubte. „Natürlich nicht. Ich versuche bloß den Ruf unserer Familie zu retten und sorge dafür, dass du es nicht noch schlimmer machst.“ Cirillo´s und mein Blick trafen sich. Er war ihm weitgehend ausgewichen, doch bei diesen Worten, sah ich ihm deutlich an, dass er nicht gewollt hatte, dass ich so etwas Privates höre.
„Gut, wenn das geklärt ist, geh besser. Nicht, dass es noch heißt, dass ich dir deine kostbare Zeit auch noch stehle, Bruder.“
Aboran erwiderte Cirillo´s Blick für einen Moment und ich bekam es schon mit der Angst zu tun, dass die beiden damit beginnen, aufeinander loszugehen. Stattdessen schlug Aboran unmerklich mit seinen Flügeln und schwebte, vollkommen geräuschlos auf und davon.
Cirillo stand noch eine ganze Weile einfach nur da, sah in das Innere meiner Zelle, ohne wirklich etwas zu sehen. Ich überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte? Wollte er überhaupt angesprochen werden? Sein Bruder hatte ja nicht gerade so geklungen, als sei Cirillo ein geschätztes Mitglied der Familie. Trotzdem behandelte man so doch nicht... Nein, ich hatte absolut kein Recht zu urteilen. Abgesehen davon, dass ich meine Mutter selbst abwertend behandelt hatte, konnte Cirillo, Gott weiß was, sein. Ein Mörder, Dieb, oder irgendeine Art an Versager, den man in seiner Familie einfach nicht gerne sah. Was wusste ich schon? Ich wusste... wie immer, überhaupt von nichts.
„Vergiss nicht auf deine Übungen.“ Fauchte Cirillo, ehe er lautlos im Gang verschwand. Fort war er und mindestens eintausend weitere Fragen polterten durch meinen Kopf. Fragen, welche ich nicht stellen wollte, denn das würde bedeuten, mich für diese Welt zu interessieren. Mit ihr zu interagieren. Zu... Zu leben.
Trotzdem übte ich wieder etwas weiter. Muskeln aufzubauen, war überraschend schwer. So schnell und mühelos wie meine Wunden in der vergangenen Woche verheilt waren, musste doch ein Muskelkater genauso schnell verschwinden, richtig? Aber es war ganz anders. Ich fühlte mich schlapp, mein Körper wollte kaum an die >Arbeit< gehen und meine Arme schmerzten, während ich versuchte, mich aufrecht hinzustellen. Ich brauchte dafür die Gitterstäbe, um mich richtig festzuhalten, da sich mein Schwerpunkt stark nach hinten verlagert hatte.
Die schweißtreibende Arbeit sorgte dafür, dass ich mich schnell wieder ekelig und klebrig fühlte. Zum Glück war es schnell Nacht geworden, was auch bedeutete, dass der Stand des Flusses höher wurde. Das war meine Chance, um mich zu waschen, so wie mein Geschäft zu erledigen.
Ich hatte es mittlerweile so geregelt, dass ich aus meiner Hose schlüpfe, sie zur Seite lege und mich über den seichten Bach knie, um Nötiges zu erledigen. Natürlich machte ich das alles am Ende der Zelle, weit entfernt von den Gitterstäben, wo es auch schnell abgelaufen sein würde und nicht erst durch den gesamten Raum schwamm! Danach wusch ich mir ewig lang meine Hände, bis ich mich einigermaßen sauber fühlte und meine Finger zu Eiszapfen gefroren waren.
Das alles änderte aber nichts daran, dass ich mich sehnlichst nach einem heißen, duftenden Bad sehnte, so wie neuer Kleidung. Vielleicht so etwas, wie das was der rothaarige Engel getragen hatte... bloß einen Tick wärmer. Mit Handschuhen... und einen Schwamm, so wie ein Bett... Toilette...
Während ich über die Annehmlichkeiten eines normalen Lebens philosophierte, schlief ich wieder ein. Früh morgens wurde ich wieder durch Cirillo geweckt. Er warf mir mein Frühstück in die Zelle und meckerte mich an, dass ich trainieren solle. Danach verschwand er wieder für Stunden, in denen ich mit meinen Gedanken und Erinnerungen alleine blieb. Als er zurückkehrte, versuchte ich, mich nach frischer Kleidung zu erkundigen, doch alles was ich bekam, war ein herablassender Blick, so wie Spott darüber, dass ich ein Nephilim sei und deshalb selbst in meinem eigenen Dreck überleben könnte. Jeder weitere Aufwand, wäre bloß eine weitere Anhäufung meiner Schulden, die ich doch endlich begleichen sollte.
Tage vergingen. Die Sonne ging auf, verschwand wieder. Cirillo war wie ein Uhrwerk. Er kam stets zur selben Zeit, zog mich ein wenig auf, aufgrund meiner Unfähigkeit, dann verschwand er im inneren der Gänge. Wenn er wieder ging, kontrollierte er, wie ich meine Flügel trug oder wie viel ich gegessen hatte.
Ich wünschte wirklich, ich wüsste, wie viele Tage an mir vorbei zogen. Waren es bereits Monate geworden? Zu meinem Bedauern behielt Cirillo recht. Ich baute Muskeln auf. Alle paar Wochen fiel es mir ein gutes Stück leichter, meine Flügel zu heben und sie auch oben zu halten. Meine Beinmuskulatur musste ich natürlich ebenfalls trainieren, da sie es nicht gewohnt war, dieses Gewicht zu tragen und irgendwann... Man glaubt es kaum... bekam ich sogar ein Geschenk von Cirillo. Es war eine Haarbürste aus Holz mit goldenen Verzierungen auf der Rückseite. Leider war es nicht unbedingt das, was ich am meisten begehrt hatte. Ich wollte frische Kleidung und Utensilien, um mich zu waschen. Selbst meine Flügel sahen erbärmlich aus, wenngleich ich jeden Tag versuchte, sie einigermaßen mit den Fingern auseinander zu kämmen. Ein leidliches unterfangen, doch das einzige, was ich tun konnte. Von hinten wollte ich sie mir nicht einmal ansehen, da kämen mir bestimmt die Tränen.
Mit Cirillo sprach ich nur das Nötigste. Wir hatten... einen Weg gefunden, um miteinander umzugehen. Dadurch dass ich eingesehen hatte, von hier nicht so schnell fortzukommen, begann ich damit, bloß an die guten Sachen zu denken, welche mir auf der Erde widerfahren waren. Nur so schaffte ich es aus meiner Depression heraus und die Tränen versiegten irgendwann endlich.
Wo genau, seit wann oder gar weshalb, ich mich hier in den Zellen befand, bekam ich auch nicht wirklich aus Cirillo heraus. Er reagierte auf Fragen von mir entweder spöttisch, oder abweisend. Langsam begann ich zu verstehen, dass es einfach seine Art war, er hielt mich damit auf Abstand.
Alle paar Tage kamen Engel vorbei. Sie wollten Nephilim, für irgendein anstehendes Ereignis erwerben, doch an meiner Zelle blieben sie am längsten hängen. Ich verstand schon sehr bald, dass ich >das< Gesprächsthema war und oftmals gingen die Engel einfach wieder, ohne etwas erworben zu haben. Sie wollten sich einfach nur von meiner Existenz überzeugen und versuchten, meine Flügel zu kaufen! Wie abartig war das denn?
Cirillo, dessen Eigentum ich im Grunde war, machte ihnen klar, dass sie mich nicht haben konnten, da er seine eigenen Pläne verfolgte. Ich hatte außerdem gelernt, zu schweigen, wenn die anderen Engel anwesend waren. Er mochte es überhaupt nicht und im schlimmsten Fall, setzte er sogar mein Essen aus, dieser Arsch!
Ehrlich gesagt, begann ich ihn bereits so richtig zu hassen. Er war gemein, widerlich und einfach nur ein Arschloch. So hatte ich mir Engel überhaupt nicht vorgestellt, wenngleich sie, wenn sie beisammen waren, stets ein und dasselbe Bild abgaben. Sie waren stoisch, steif und überheblich. Die größten Gefechte lieferten sie sich verbal und auf eine Art, die einfach bloß noch einschüchternd war. Das war unter anderem einer der Gründe, weshalb ich mich an Cirillo´s Richtlinien hielt.
Plötzlich war der Tag da. Ich hatte ehrlich nicht erwartet, dass Cirillo mir jemals verraten würde wann, geschweige denn >wie<, ich meine angeblichen Schulden, für was auch immer, abbezahlen konnte. Oder was danach mit mir geschehen würde. Besonders Letzteres interessierte mich sehr, da ich nicht vor hatte, den Rest meines Lebens in einer kleinen Zelle zu verbringen!
„Komm.“ Ich hatte eben, stehend an die Wand gelehnt, hinaus auf den makellosen Wolkenhimmel gestarrt. Völlig gedankenverloren, hatte ich nicht mitbekommen, wie sich Cirillo näherte, doch als ich mich umdrehte, um ihn fragend anzustarren, schlug die eiserne Türe neben ihm, gegen die dahinter liegende Steinwand und er bot mir seine Handfläche da. „Es ist so weit. Du bist bereit, deine Schulden abzubezahlen.“
Mein Gehirn brauchte unnatürlich lange, um seine Worte zu verstehen, aber da lag etwas Endgültiges in seinem Blick, dem ich mich nicht widersetzen konnte. Ehe ich mich versah, hatten sich meine Beine völlig selbstständig auf ihn zu bewegt, doch meine Hand wagte ich noch nicht auszustrecken. Dafür war ich zu misstrauisch geworden. Was sollte das bedeuten? Was hatte er mit mir vor?
„Was... Was soll ich tun?“
Sein Blick deutete auf seine ausgestreckte Hand. „Erstmal folgst du mir. Du musst hergerichtet werden, ehe du arbeiten kannst.“
Kleidung... Arbeit... Aus einem seltsamen Grund, wollten sich diese Wörter nicht zu einer sinnvollen Bedeutung zusammen schließen. Natürlich kannte ich die Bedeutung dieser Worte bloß zu gut. Da sie jedoch aus Cirillo´s Mund kamen und Cirillo prinzipiell nie sonderlich nett zu mir war, besaßen diese Worte einen gewissen Beigeschmack. Egal was es für Arbeit sein würde... es wird mir absolut nicht gefallen!
Als mein Blick wieder, den von Cirillo traf, spürte ich abermals diesen Zwang, auf ihn zuzugehen. Mist, das musste so eine verdammte Engelsfähigkeit sein, oder so. Ehe ich mich versah, glitt meine kühle Hand, über die seine. Der Wärmekontrast zwischen uns beiden war enorm. Nicht bloß dass ich unterkühlt sein musste und dass bereits seit vielen Wochen. Nein, Cirillo schien prinzipiell eine höhere Körpertemperatur, als ich zu besitzen. War das eine Eigenheit der Engel?
„Vertrau mir. Du wirst das schaffen.“ Seine Finger umschlossen meine Hand und er zog mich, mit einem sanften Druck, hinaus auf den Flur. Es war das erste Mal, dass ich mich außerhalb der Zelle befand. Ein wenig verwirrt sah ich auf sie zurück. Natürlich gab es absolut nichts anderes zu sehen, als das, worin ich die letzten Wochen gelebt hatte. Einzeln lagen abgenutzte Federn verstreut, welch ich gerne dann und wann den kleinen Bach hinab fließen ließ, bis sie verschwanden, oder dem Wind zum Spielen mit gab. Im Moment lagen zwei weiße von ihnen, in der Nähe des Platzes, an welchem ich bis gerade eben gestanden hatte und bewegten sich sanft in der Woge eines leichten Lüftchens. Da es taghell war, beleuchteten vereinzelnde Sonnenstrahlen die Zelle und keine schrecklich unangenehmen Leuchtkristalle.
Allmählich erhob sich in mir ein Hochgefühl und ein Gedanke setzte sich in meinem Kopf fest. Ich bin draußen!
Kaum zu glauben, doch ich befand mich tatsächlich außerhalb meiner Zelle und fühlte regelrecht, wie die Lebensenergie wieder in mich hinein kroch. Meine Sinne begannen... Gerüche wahrzunehmen. Süßes, Dunkles, stechendes... Ich zog die Nase kraus. Himmel, wieso stank es hier denn so? Zudem gab es mit einem Mal ohrenbetäubenden Krach. Schreie erklangen, dumpf schlugen harte Materialien auf Stein, oder Metall ein, ehe verärgertes Knurren erklang.
Für diesen Moment war ich so überfordert von all den Sinneseindrücken, dass ich sofort zurückwollte in meine Zelle. Zurück in die behagliche Stille, der Einfachheit... Dorthin zurück, wo mich nichts berühren konnte, wo all meine Sorgen und Gefühle versteckt waren, vor der Außenwelt.
Doch ehe ich flüchten konnte, spürte ich schwere Schellen, welche sich um mein Handgelenk wanden und fest zupackten. Erschrocken betrachtete ich das silberne Seil auf meiner Haut, welches sich ganz von selbst darum herum schlang, dann flitzte mein Blick zurück zu Cirillo. „Tut mir leid, du musst dich daran gewöhnen. Jetzt komm.“ Das andere Ende der Schnur band er gekonnt um mein zweites Handgelenk, was mir beinahe das Blut abschnürte.
Ärgerlich wehrte ich mich, mitsamt meinem ganzen Gewicht. „Lass das! Was hast du vor? Wieso fesselst du mich?“
„Weil dir nicht gefallen wird, was du gleich tun musst Besser ich binde dich gleich fest, ehe du auf Dummheiten kommst und dich gar noch einmal wo hinunter stürzt. Dafür habe ich zu viel auf mich genommen.“
Unbarmherzig zerrte der Engel mich hinter sich her. Mein Protest verklang, als ich unweigerlich an etwas vorbei gezerrt wurde, was in einer sehr, sehr fernen Vergangenheit einmal so etwas, wie ein Mensch gewesen sein musste. Lippen und Lider fehlten dem Wesen vollständig. Es ging auf viel zu langen Hinterbeinen und gorillaartigen Vorderbeinen. Behaarung besaß es bloß stellenweise, und zwar dort, wo sich keine Schrammen und Narben befanden. Der Boden war voller getrockneten Blut und diversen Ausscheidungen. Im Gegensatz zu mir warf dieses Wesen nämlich nicht seine Essensreste durch das große, klaffende Loch hinter sich.
Flügel, viel zu zerfetzt, um sie noch als solches bezeichnen zu können, hingen schlapp von seinem gebeugten, kahlen Rücken. Die Augen... Himmel, die Augen leuchtete in einem matten Rot, vom augenweis war, absolut nichts zu sehen.
Weiter an der nächsten Zelle, erwartete mich optisch dasselbe Bild, bloß mit einer anderen Kreatur darin. Sie besaß überhaupt keine Flügel, dafür acht haarige Beine, die in alle Richtungen auswuchsen. Sein Körper, wenn man das große stachelige Maul als solches bezeichnen konnte, erinnerte an einen zusammen geknüllten Menschen, der bloß noch aus Gewebe und Fleisch bestand.
Mir wurde Übel...
„Was... Was sind das... für Wesen?“ Fragte ich, schockiert darüber, neben solchen Kreaturen über ein Monat hinweg gelebt zu haben. Oder waren es bereits zwei?
„Nephilim, wie du.“ Antwortete Cirillo und zog mich weiter neben sich her.
Ich riss an meinen Fesseln und versuchte mich mit den Fersen gegen den Boden zu stützen. Als ich einmal am Hintern landete, zog er mich weiter, als besäße er eine unmenschliche Kraft und ich sei bloß eine lästige Fliege, zwischen seinen monströsen Fingern!
Angst und Panik packte mich. Würde auch ich einst zu so einem Wesen werden? Wie konnte ich so ein schreckliches Schicksal vermeiden? Wer experimentierte mit diesen Wesen? Was war hier los?
Cirillo beantwortete mir keine weitere Frage. Er hob mich hoch, nachdem ich auf den Boden gefallen war, und schob mich vor sich her. Meine Tritte wehrte er gekonnt aus und eine tödlichen Blicke... Nun ja, er fiel leider nicht einfach tot um. Das wäre auch zu schön gewesen.
Meine Kopfschmerzen nahmen zu, da die Wesen meine Unruhe spürten und teilweise auch sahen, was sie selbst unruhig werden ließ. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Kessel in meinem Körper angezündet und vergessen den Deckel davon abzunehmen. Immer heißer und heißer kochte es in mir. Ich schrie. Ungehört wurde ich weiter verschleppt. Tiefer hinein, in die endlose Anzahl an Gänge, welche Cirillo Tag für Tag und für Tag durchquerte.
Keuchend und schweiß gebadet, kamen wir scheinbar endlich zu einem Ausgang. Also waren diese Tunnel doch nicht unendlich? Es wunderte mich kaum... Mittlerweile hatte ich gut siebzig von diesen Wesen erblickt oder teile von ihnen entdeckt. Es gab sie in jeglichen, noch so schrecklichen Ausführungen, doch kein einziger. Nein... Nicht einmal ein einziges dieser Wesen, besaß so etwas, wie Intellekt. Sie waren bloß Instinkt gesteuert, griffen die Zellenwände an oder donnerten in einstudiertem Trott ein und denselben Weg durch die Gemäuer.
„Wir haben es schon geschafft. Wir sind da.“ Hörte ich, über den entstanden Lärm hinweg, Cirillo´s seltsam ruhige Stimme. Diese Ruhe darin machte mir beinahe noch mehr Angst, als alle Kreaturen dort drinnen! Was waren sie? Wieso befanden wir uns hier?
„Wohin bringst du mich? Was soll das?“ Schrie ich wieder, meine Handgelenke blutig gescheuert und mein Blick verschwommen. Grelles Licht blendete mich, da es mitten am Tag war und ich seit Monaten keinem direkten Sonnenlicht mehr ausgesetzt worden war.
Das Pulverfass in meinem Körper beruhigte sich.
„Du wolltest doch ein Bad.“ Zog Cirillo mich auf, was meine Ängste bloß wieder schürten, während meine Sinne sich hingegen beruhigten. Er zog mich auf ein großes Wasserbecken zu. Ein natürlich entstandener, kleiner See, kaum größer als vier aneinandergestellte Zellen. Der See hatte sich zum Fuße einer abgebrochenen Klippe gebildet, doch der Wasserfall war nicht besonders hoch, oder gar reißend. Darüber, über dem See, war ein Holzgestell aufgebaut worden, mit einem Haken daran. Für einen Moment dachte ich an die Zeit der Hexenverbrennungen und die barbarischen Tests, welche zuvor noch mit ihnen gemacht worden waren, um zu beweisen, dass jemand eine Hexe war.
Ich stemmte mich wieder fester gegen Cirillo, als dieser auf eben jenes Gestell zuging. Wollte er mich darin ertränken? War das eine seiner perfiden Späße?
Nein, im Gegenteil. Das Wasser reichte mir lediglich bis zur Mitte der Oberschenkel. Das Wasser war eisig, der Boden schlammig. Meine Schuhe, welche ich scheinbar irgendwie am Weg hierher verloren hatte, fehlten mir in diesem Moment ein wenig, da ich mit Schlamm überhaupt nicht umgehen konnte. Ich dachte an die Fische und Insekten darin... Vor allem die Insekten! Angeekelt versuchte ich mich, so wenig wie möglich zu bewegen, während Cirillo meine Arme über dem Haken befestigte.
„Was soll das? Mach mich sofort los!“ Keifte ich wütend geworden und gleichzeitig sehnte ich mich danach, diesen dreckigen Sumpf verlassen zu können. Scheiße! Hatte mich da etwas berührt? Unten an der Außenseite meines Fußes, krabbelt doch etwas, oder? Igitt!
„Na, na.“ Tadelte er mich und ging auf die linke Seite des Sees zu, wo ein Körbchen lag. „Erst nerven, weil du wegen deiner Körperpflege eitel bist und jetzt jammern, wo du in klarem Wasser stehst?“ Dieser verdammte See war alles andere als klar! Das war eine einzige Schlammbrühe! Zumindest laut meinen Zehen. Igitt! Schon wieder etwas!
Ich tänzelte angeekelt davon weg, doch weit kam ich nicht, da meine Arme nach oben gestreckt waren und ich nicht mehr, als auf einem Bein stehen konnte. Wie widerlich!
„Ich schwöre es... wenn ich hier erst mal los bin, bringe ich dich eigenhändig um!“ Schwor ich aufbrausend vor Zorn und Hass auf dieses Monster!
„Mach dich nicht lächerlich Hayleeblackbird, die Fesseln kommen erst ab, wenn du deine Arbeit aufgenommen hast.“ Seine Stimme war wieder näher und da bemerkte ich, dass er direkt hinter mir stehen blieb, während er etwas in dem Körbchen suchte, welches er nun in seinem linken Arm hielt.
„Was hast du da?“ Fragte ich ängstlich.
„Nichts, dass dich umbringt. Halt aber besser still.“ Cirillo stellte den Korb im Wasser ab, welcher augenblicklich zu Schwanken begann. Zweifellos von den Wellen, welche ich erzeugte. In seiner rechten Hand glitzerte nun die Klinge eines recht kurzen, gebogenen Dolches. Dessen Griff war aus reinem Gold und die Klinge schneeweiß. Augenblicklich begann mein Herz wie verrückt zu klopfen, während tausend Horrorszenarien durch meinen Kopf schossen.
„Perverses Schwein! Ich bringe dich um!“ Schrie ich, während er mich herum drehte und den Stoff meines Shirts am Rücken aufschnitt.
Ich hatte es bereits in den stürmischen Nächten des Öfteren gewaschen, damit es schnell trocknete. Natürlich konnte ich es nicht ausziehen, doch die Flecken hatte ich mittlerweile so weit verschmiert, dass mein, ehemalig weißes Shirt, nun aussah, als gehörten diese ungleichen Flecken dazu.
Während ich schimpfte und drohte, zudem regelmäßig austrat und schrie, ging Cirillo völlig systematisch vor. Er trennte den vorhandenen Stoff zwischen meinen Flügeln auf, dann schnitt er es senkrecht von oben nach unten einfach auf. Als ob das noch nicht genug sei, durchtrennte er nun noch den letzten tragenden Teil auf meinen Schultern und schon fiel es von mir ab. Schreiend und mich wehrend, trauerte ich dem Shirt hinterher. Mir war bis zu diesem Moment überhaupt nicht bewusst gewesen, wie sehr ich daran hing. Es war, zusammen mit meiner restlichen Kleidung, der letzte Rest aus meinem alten Leben.
Tränen liefen in Strömen über meinen Körper, während ich mich genötigt und beschmutzt fühlte. Cirillo trennte die Träger meines BH´s, dann wurde auch dieser von der Strömung davon getragen. Als er sich jedoch an meiner Hose zu schaffen machte, hatte er schon mehr Probleme...
„Hör damit auf. Wenn ich mit dem Messer nachhelfen muss, verletze ich dich noch!“
„Fick dich!“ Warf ich ihm an den Kopf, als er sich darüber beklagte, dass ich meine Beine wie Schraubstöcke miteinander verkeilte. Dabei achtete ich penibel darauf, dass er meine Brüste auch ja nicht zu sehen bekam! Wie konnte er nur! Niemand hatte das Recht, mich nackt zu sehen! Bloß Adam hatte mich... teilweise nackt gesehen... Und Bikinis zählten dabei nicht!
Das hier jedoch, war etwas völlig anderes. Auch, wenn ich Cirillo nun bereits seit einem Monat kannte, war er ein absolut Fremder für mich. Ein Monster, das mich wegsperrte und nun wie Ware behandelte!
„Also wirklich... Gut, wenn du es nicht anders willst!“ Keifte Cirillo zurück, als sei ich hier die Undankbare.
„Vergiss es!“ Ich wehrte mich, so gut ich konnte. Er versuchte, meine Beine auseinander zu drücken, doch beides ging nicht. Hatte er sie auseinander, konnte er nicht die Hose hinunter ziehen. Versuchte er die Hose hinunter zu ziehen, verkeilte ich meine Beine wieder. Zudem drehte ich mich ständig im Kreis, was dazu führte, dass das Seil, welches vorher noch streng über dem Haken gehangen hatte, nun gewaltig an meinen Gelenken zog, während ich auf den Zehenspitzen tänzelte. Blut lief meine Arme hinab, doch ich ignorierte es. Ich würde selbst tiefe Narben in Betracht ziehen, nur damit Cirillo nicht das bekam, was er wollte. Was auch immer dies sein mochte.
Aus Angst wurde Wut und diese schürte meinen Hass auf diesen Engel. Irgendwann... Sagte ich mir.
„Bitteschön!“ Cirillo nahm wieder die Klinge aus dem Korb und begann, mit der viel zu scharfen Klinge, den Bund meiner Hose am hinteren Teil entlang auf zu schneiden. Sobald die feste Naht erst mal durch war, schnitt er wie durch Butter, während ich ihn anschrie, dass er es lassen sollte.
Nur einen Moment später, hing ich hier nackt, mit triefend nassen Flügel und blutenden Gelenken herum...
Schniefend versuchte ich, mit den Beinen das zu bedecken, was mir möglich war. Leider für meinen Geschmack jedoch, viel zu wenig.
Cirillo kramte wieder in seinem Korb, was er dieses Mal heraus zog, war kein Folterinstrument, sondern ein einfacher, bauschig weicher Schwamm, so wie eine rosarote Seife.
Was... Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Geschickt warf er das Messer hochkant an das nahe Ufer, wo es mit der Spitze voran stecken blieb. Dann löste er die Seife mit etwas Wasser im Korb auf, ließ sich den Schwamm vollsaugen und begann etwas vom See über meinen Körper zu schütten.
Prustend spuckte ich ihm das Wasser entgegen. „Arschloch!“
Für einen Moment erwiderte Cirillo meinen Blick, doch zum Deuten war er nicht unbedingt. Es lag jedoch weder Mitleid noch Abscheu darin. Er war schlichtweg gleichgültig, als er damit begann, meinen Rücken mit dem Schwamm zu waschen. Meine Arme, meine Schultern, den Hals und mein Haar. Bloß meine wund gescheuerten Gelenke ließ er dabei aus.
Mehrmals noch, ließ er das Wasser über meine Flügel laufen, bis ich ihr Gewicht kaum noch ertrug. Es war, als hätte man mir Goldbarren an die Haare gehängt und diese befahlen mich nun, mittels ihres Gewichts, unbarmherzig in die Knie. Ich wimmerte, während der Schwamm an meinem Hals rieb und danach über meine Schlüsselbeine glitt.
So gut ich konnte, wich ich jeder seiner Berührungen aus. Zu meiner großen Erleichterung waren sie jedoch weder forsch, noch anders zu deuten, als effizient. Nachdem er auch meine Hüfte gewaschen hatte, so wie meine beiden Beine, war zu meinem Entsetzen, meine Vorderseite dran.
Ich begann damit, mich in die andere Richtung zu drehen. „Vergiss es, Perversling!“ Keifte ich das Schwein an, doch Cirillo, welcher seine Flügel ausgebreitet hochhielt, damit diese nicht ebenso nass wurden, packte meine Taille mit einem Arm, damit ich nicht mehr herum zappeln konnte. Trotz seines Griffes lehnte ich mich so weit von ihm fort, wie es mir möglich war, während der Schwamm, immer noch effizient, über meine Brüste fuhr und einen angenehmen Duft hinterließen. Es erinnerte mich... an eine sommerliche Blumenwiese, etwas dass ich bereits seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gerochen hatte... Zitternd am gesamten Körper, wandte ich wimmernd das Gesicht ab und hoffte einfach, dass diese Demütigung bald vorbei sein würde.
Er hatte kein Recht. Er hatte kein Recht. Er hatte kein gottverdammtes Recht mir so etwas anzutun! Das sagte ich mir in meinen Gedanken vor, während ich auf das Ende dieser Tortur wartete.
„Jetzt stell dich nicht so an! Du hast ohnehin keine Kraft mehr!“ Tadelte Cirillo, als ich meine Beine immer noch nicht auseinander drücken ließ, obwohl er sich große Mühe gab.
Kurzerhand spuckte ich ihm mitten ins Gesicht. Das sollte wohl deutlich genug sein, was ich vo-...
Cirillo bewegte seinen Arm so schnell, dass ich der Bewegung nicht einmal folgen konnte. Gefolgt davon, explodierte ein heftiger Schmerz in meiner Schläfe und ich verlor für einen Sekundenbruchteil das Bewusstsein. Stechender Schmerz, so wie, von Blitzen durchzogene Schwärze. Mehr nahm ich kaum noch wahr.
Das Einzige was ich noch zusätzlich hörte, war Cirillo´s Stimme, als er ärgerlich vor sich hin brummte. „Das hätte ich schon viel früher machen sollen.“ Benommen von dem unerwarteten Schlag hatte er damit freien Zugang zu einem Ort, von dem ich nicht erwartet hätte, dass es ein Engel sei, welcher ihn zum ersten Mal sehen würde, abgesehen von mir. Ich hatte während meiner Gefangenschaft darauf geachtet, mich zumindest zwischen meinen Beinen sauber zu halten, was mit reinem Quellwasser ganz einfach gewesen war. Zudem musste ich bloß einmal täglich eine Toilette aufsuchen und meine Periode war diesen Monat, zu meiner großen Überraschung ebenfalls aus geblieben. Den Grund schob ich natürlich dem Stress zu, was niemanden wundern sollte. Vor allem mich nicht.
Wie durch Nebel beobachtete ich nun Cirillo nun. So viel Hass und Abscheu, wie ich für Cirillo empfand, konnte ich noch nicht einmal für Calyle aufbringen. Es war seltsam... aber die Taten des Engels fand ich viel schockierender, als alles, was mir ein gewöhnlicher Junge jemals hätte antun können. Mein Herz schmerzte und und die Tränen brannten in meinen gereizten Augen. Alles spielte sich wie in einem Film ab. Ich konnte zwar beobachten, wie Cirillo mich wusch, doch mein Reaktionsvermögen genügte einfach nicht mehr, um mich irgendwie zu verteidigen. Alles verschwamm, dann fielen auf einmal meine Hände herab. Mein Kopf landete auf so etwas wie heißem, weichen Asphalt und der Geruch von Erde betörte meine Nase, zusammen mit dem wohligen Duft der Seife auf meiner Haut.
Als ich die Benommenheit endlich abstreifen konnte, fand ich mich schwebend wieder. Etwas schaukelte sanft und verleitete mich dazu, meine Augen geschlossen zu halten, während mein Körper zitterte, doch nicht vor Kälte. Etwas Weiches kitzelte mich an der Stirn und ich hatte das Gefühl in Geborgenheit und dem Gefühl endlich sicher zu sein, zu ertrinken. War ich etwa zuhause?
Ja... Für einen Moment hatte ich tatsächlich das Gefühl zuhause zu sein. Ich lag in meinem Bett, kuschelte mein Gesicht an den alten Stoff, den ich Polster nannte und umklammerte die Steppdecke mit meinen Beinen. Es war viel zu heiß, während meine Tränen stumm in den Stoff sickerten, doch ich war zuhause... Für... Für einen Moment war ich tatsächlich endlich zuhause!
Als meine Augen jedoch sehnsüchtig aufflogen, fand ich mich nicht in meinen eigenen vier Wänden wieder, sondern blickte dem Eingang zu den Zellen entgegen. Mein Körper war auf der weichen Wiese gebettet, nicht auf dem Kopfpolster, an welchem ich bereits seit meiner frühesten Kindheit hing. Meine Beine lagen auch angewinkelt auf dem Erdboden... nicht geschlungen in die Decke meiner Träume.
Dieses Mal sicher, wieder bei Bewusstsein zu sein, hob ich den Kopf, um mich besser umzusehen. Dabei bemerkte ich jedoch rasch, dass ich immer noch nackt war, und bedeckte meine Brüste mit den Armen. „Engel?“ Erschrocken fuhr ich herum, als mir die Berührungen an meinen Flügeln bewusst wurden. Er trocknete sie...
„Tut mir leid, ich habe wohl zu hart zugeschlagen.“ Entgegnete Cirillo trocken, ohne den Hauch von Schuld in der Stimme.
Ich funkelte ihn wütend an, während ich meinen gesamten Körper schützend zusammen knüllte. „Was sollte der Scheiß? Wieso hast du mich angefasst? Fühlst du dich jetzt etwa besser, du ekelhaftes Schwein?“ Fuhr ich ihn an und versuchte mich seinen Berührungen zu entziehen, doch sein unnachgiebiger Griff an der Oberseite des Flügels, welchen er eben bearbeitete, verhinderte dies problemlos.
„Was?“ Zischte er mich wütend an und erwiderte endlich einmal meinen Blick mit mindestens genauso viel Zorn darin. „Ich habe dich doch nicht angefasst!“ Rechtfertigte er sich.
„Ach, und wie würdest du es sonst nennen, wenn du jemanden die Kleidung vom Leib schneidest und den dann überall angrapscht! Das war sexuelle Belästigung!“ Noch während ich das Wort aussprach, kehrten neue Tränen in meine Augenwinkel zurück und trübten meinen Blick. Er hatte mich angefasst! Er hatte mich angefasst...
Cirillo schnaufte abweisend. „Du hast Wahnvorstellungen! Wieso sollte ich denn einen Nephilim anfassen?“ Fragte er, ohne auf eine Antwort zu warten, während mein Mund ungläubig aufklappte, doch seine Worte trafen gleichzeitig etwas in mir. Ein Monster... Ich würde ein Monster werden, so wie die anderen Wesen, an denen ich vorhin vorbei gekommen war. „Das war eine rituelle Reinigung, welche jeder Nephilim erfährt, ehe sie in die Arena kommen.“
Ich stutzte. Hä? „Wa-Was? Wieso? Wohin?“ Ich war so perplex, ich brachte nicht einmal mehr ganze Sätze hervor.
Cirillo widmete sich wieder den Rückseiten meiner Flügel. „Du hast nie gefragt, weshalb du in der Zelle sitzt. Noch hast du dich jemals erkundigt, wo du dich überhaupt befindest. Wieso nicht?“
Ich wandte meinen Blick dem Eingang der Höhlengänge zu. Warum? Vielleicht ja... „Weil ich es nicht wissen will.“
„Dann sollte es dich im Grunde auch nicht verwundern, dass du absolut keine Ahnung davon hast, was dein Zweck hier ist.“
Ich wandte ihm bloß halb meinen Kopf zu. „Muss ich das denn wissen?“
„Es wäre besser, wenn. Sonst überlebst du nicht und ich sitze weiterhin auf deinen Schulden fest.“
Meine Schulden. Rituelle Reinigung. Arena. „Ich bin Futter für eure Ungeheuer, richtig?“
„Nein, du bist eine Kämpferin. Du erheiterst mit deiner Natur gegeben Blutrünstigkeit die gelangweilten und eitlen Gemüter der älteren Engel. Und zum Schluss wird dein Körper zu Studienzwecken denjenigen Verkauft, die an deiner Andersartigkeit interessiert sind.“
Ich erschauderte erneut. Das klang ja grauenhaft! „Das ist ja barbarisch! Wieso lässt ihr denn Nephilim gegeneinander kämpfen? Und... Ich bin doch nicht blutrünstig!“
„Ach, tatsächlich?“ Fragte er mit erhobenen Brauen und warf mir ein Tuch zu, welches er bisher neben sich liegen gehabt hatte. Sofort wickelte ich es mir um. „Du hast versucht einen Nephilim zu töten und den anderen erlegt.“
Dunkelrot im Gesicht fuhr ich erneut herum. „Was? Das war... Das war etwas zwischen >ihm< und mir!“ Meine Wut legte sich jedoch auch augenblicklich wieder, als ich an Lucy dachte. „Ich hätte Lucy niemals willentlich etwas angetan... Ich wollte sie überhaupt nicht... Sie war meine Freundin.“ Endete ich, in Ermangelung irgendwelcher Rechtfertigungen. Ich hatte es getan, das konnte ich nicht bestreiten. Dafür würde ich mich jede Sekunde meines weiteren Lebens hassen...
Die Stimme von Cirillo wurde eine Spur sanfter. „Hast du es deshalb getan? Bist du gesprungen, weil du dein Schwert gegen eine Freundin gerichtet hast?“ Wenigstens war ihm endlich klar, dass ich nicht bloß aus Jux und Tollerei hinab gestürzt war.
Ich nickte schwach. „Es war ein Unfall... Ich war wütend verletzt und wollte einfach...“ Ich konnte nicht weiter sprechen.
„Du wolltest, dass es aufhört.“ Er nahm sich den zweiten Flügel vor. „Aber nun ist es anders, Nephilim. Jetzt musst du töten, oder du gewinnst deinen ersten Kampf nicht.“
Ich erschauderte. „Erst belästigen und dann auch noch Forderungen stellen... Engel sind einfach grauenhaft...“ Murmelte ich, doch einmal mehr hörte Cirillo mich, obwohl ich flüsterte.
„Nephilim besitzen kein Existenzrecht. Ihr seid bloß Ungeziefer, dass sich ausbreitet, je dunkler es auf der Erde wird. Es ist ein kleiner Preis dafür, dass wir den Planeten der Menschen rein halten.“
„Du bist ein Monster.“ Entgegnete ich. Aber was hatte ich schon anderes erwartet?
Cirillo reagierte nicht darauf, sondern entließ, wenig später, endlich meine Flügel aus seinem festen Griff. „So, jetzt sind sie trocken. Außerdem...“ Er sprang mühelos auf die Beine und ging auf eine elfenbeinfarbene Kiste zu, welche ich bisher noch nicht bemerkt hatte. „...kannst du dir hier deine Rüstung zusammen stellen.“
Meine Beine ähnelten Pudding, als ich versuchte hochzukommen. Trotzdem wagte ich es nicht, auch bloß einen Schritt auf den Engel zu, zu machen. Noch immer saßen mir die Bilder von gerade eben im Kopf. Rituelle Reinigung hin oder her... Er hatte mich gewaltsam entkleidet und gewaschen, ohne meine Einwilligung! Im Moment ertrug ich seine Nähe einfach nicht!
„Komm schon, ich habe auch nicht ewig Zeit.“
Ich schnaubte und als er einen Schritt auf mich zu machte, so als ob er mich kommen holen wolle, machte ich willkürlich mehrere zurück. Scham füllte mein Gesicht mit Röte. Ich betrachtete die frischen Wundränder an meinen Handgelenken und konnte mir einer Träne nicht verwehren, welche trotz all meiner Bemühungen über meine Wange lief.
Es war Teil meiner Bestrafung... Das hatte ich verdient, oder nicht?
Scheinbar erkannte er, dass er so nicht weiter kam, daher trat er mit erhobenen Händen, einige Schritte zurück. „Na gut. Bitte.“ Mit einem Nicken deutete er auf die Kiste.
Bloß langsam, mit dem Blick auf ihn gerichtet, ging ich, im großen Bogen, auf die scheinbar per Hand verzierte Kiste zu. Ich hob ihren federleichten Deckel und berührte den weichen Stoff, welcher obenauf lag. Als ich es anhob, raschelte es wie Seide zwischen meinen Fingern, doch fühlte sich seltsam flauschig an. Ich nahm es heraus mit einer Hand und drehte den gelblich, weißen Stoff. Es war ein Rock, wenn ich mich nicht täuschte. Mit der Aussicht auf frische, so wie bedeckende Kleidung, vor der Nase, legte ich den Rock zur Seite und wühlte nach weiteren Sachen darin. Das meiste fühlte sich hart an und ähnelte viel mehr Rüstung. Sie waren teilweise von tiefen Furchen durchzogen, oder wies diverse Größen an Dellen auf.
Ich schnappte mir eine Hose, so wie ein langärmeliges Shirt. Vielleicht fror ich dann endlich weniger! Als ich es mir jedoch über den Kopf ziehen wollte, bemerkte ich meinen Fehler... Ich ließ es wieder sinken und überlegte, wie ich überhaupt dort hinein kommen sollte. Das einzige, was es zum Öffnen und Schließen besaß, war ein goldenes Kettchen, welches man im Nacken schloss...
„Von unten.“ Kam es ungeduldig aus einiger Entfernung. Verwirrt sah ich auf, doch dann verstand ich es. Ich musste erst mit den Füßen hinein schlüpfen, deshalb auch der tiefe Ausschnitt im Rücken. Jedes Kleidungsstück der weiblichen Engel war so geschnitten, dass sie es von unten nach oben anziehen konnten.
Ungelenk balancierte ich nun also auf der Stelle und versuchte in ein gottverdammtes Kleidungsstück hinein zu kommen. Als ich mich jedoch nach vorne beugte, vergaß ich völlig auf das Gewicht meiner Flügel und kippte zu Boden. Fluchend fing ich mich mit einer Hand auf und bewegte mich einfach nicht mehr. Ich konnte nicht... Ich konnte das alles einfach nicht...
Was stimmt hier nicht? Was war los? Tränen trübten einmal mehr meinen Blick. Wie war ich bloß so erbärmlich geworden! Ich schämte mich schon für mich selbst.
„He...“ Eine Hand berührte meine Schulter und ich zuckte willkürlich zusammen. „Komm, lass mich dir helfen.“ Hauchte der Engel halblaut, doch ich wollte nicht. Ich konnte nicht!
„Hau ab!“ Mit diesen Worten schlug ich seine Hand fort.
„Bitte...!“ Seine Stimme klang streng, doch noch zwang er mich zu nichts. Ich blickte auf in das Schwarz seiner runden Augen. Die Stirn hatte er in Falten gelegt und für einen Moment fühlte, ich mich dazu verleitet sie glatt zu streichen. Engel durften keine Falten haben...
„Fass mich nicht an! Ich kann das!“ Ich schlug noch einmal mit dem Kleidungsstück nach ihm, doch Cirillo fing es geschickt ab. Dabei bekam er mein Handgelenk zu fassen und hielt es nachdrücklich.
„Ich weiß, dass du das kannst...“
Ich erwiderte den Blick in seinem verschwommenen Gesicht. Was wollte er von mir? Was sollte der ganze verdammte Scheiß? Meine Gefühle waren wie in einem Karussell gefangen. Erst fühlte ich mich so, dann wieder anders... Das war doch alles nicht normal. Wieso konnte es nicht zumindest für eine einzige verdammte Minute lang normal sein? Wieso? „Wieso, verdammt...“ Ich schniefte, unwissend dass ich meine Worte laut ausgesprochen hatte. „Wieso... Wieso...“
Ehe ich mich versah, fiel der Engel aus der Hocke auf die Knie und zog mich an sich. „Sch...“ War alles, was er zu machen musste und ich gab augenblicklich nach. Wie jämmerlich. „Beruhige dich. Engel weinen doch nicht.“ Meine Stirn war gegen seine Schulter gesunken und selbst durch den angesammelten Rotz in meiner Nase hindurch, konnte ich Cirillo´s eigenartigen Duft wahrnehmen... Zudem fiel mir seine trockne Hose auf! War er damit nicht im Wasser gewesen? „Atme tief durch...“
„Ich bin aber kein Engel!“ Schniefte ich vorwurfsvoll, aber wahrheitsgemäß. Ich sah vielleicht mit den Flügeln aus wie einer... Aber fühlen tat ich mich wie eine Missgeburt. „Ich bin... Ich bin ein verschissener Nephilim... Ich bin ein Monster... Eine Mörderin...“ Eine Waise...
Cirillo tastete mit einer Hand hinter sich, was mich dazu zwang mein Gesicht wider zu heben. Als er mich wieder ansah, tupfte er mit einem feuchten Tuch meine Tränen fort. „Hör mir jetzt zu, Hayleeblackbird. Du-“
„Haylee.“ Murrte ich. „I-Ich heiße, einfach bloß Haylee.“ Das hatte mich eigentlich bereits seit Wochen gestört. Wann immer Cirillo meinen vollen Namen aussprach, klang dies, als ob er denken würde, es sein bloß ein besonders langer.
„Verstehe. Also, Haylee...“ Ich stockte erschrocken, als er meinen Namen sanft von der Zunge rollen ließ. Für einen Moment bekam ich das Gefühl, als würde Cirillo mir mit seinem Blick geradezu zwingen, ihm nun ganz genau zuzuhören. „Was ich da gesehen habe, damals auf dem Dach, als du den anderen Nephilim angegriffen hast, wollte ich dich erst überhaupt nicht mitnehmen. Ich wusste, du würdest unberechenbar und unbeherrscht sein.“
Schniefend wischte ich über meine Nase. „Das ist doch das selbe, Blödmann.“ Ein Lächeln zauberte sich plötzlich auf seine Lippen, womit ich absolut nicht rechnete. „Außerdem muntert es mich kein bisschen auf!“ Was dachte er sich dabei blo-... Ich stockte. „Warte... Was?Du warst da? Auf dem Dach?“ Ich dachte an den alten Greis, den Nachbarn von Marie und Calyle. „Du bist ein Throne...“
Ermahnend hob Cirillo einen Finger. „Nein, ich bin >der< Throne. Derzeit bin ich immerhin der Einzige mit diesem Titel.“
Mein Hirn ratterte so schnell, dass ich beinahe augenblicklich Kopfschmerzen bekam. „Was?“ Nur einer? „Wieso? Was ist mit den and-...“ Sein Zeigefinger, welchen er bloß mahnend in die Höhe gehalten hatte, lag nun konsequent auf meinen Lippen.
„Haylee... Du häufst zu viele Schulden an. Erledige erst deine Aufgaben. Danach kannst du Rechte einfordern. Wollen wir jetzt?“ Cirillo nahm den Finger von meinen erkalteten Lippen und nahm mir den Stoff aus der Hand, an welchen ich mich geklammert hatte. „Steh auf, dann ziehe ich es hoch.“ Er packte mich am Oberarm und half mir mich wieder aufzustellen. Schweigend folgte ich seinen Aufforderungen, hob abwechselnd jeweils ein Bein, drückte das Handtuch enger an meinen Körper und drehte mich, damit er den Verschluss in meinem Nacken zu machen konnte. Sobald er das Hemd losließ, ging es mir bis knapp über die Hüfte und bedeckte mich endlich vollständig, von Schlüsselbein, bis hin zu den geröteten Gelenken.
Ich ließ das Handtuch zu Boden gleiten.
Verdammt, was war das bloß mit diesem Engel? Immer noch verspürte ich den, gerechtfertigten, Drang ihm den Hals umzudrehen, auf seinem Grab zu tanzen, während er ausblutete... Doch dann war er plötzlich nett und fürsorglich.
Ich bückte mich nach einer Hose, da spürte ich, wie Cirillo mein tropfend nasses Haar nahm und zurück auf meinen Rücken schob. Mir war überhaupt nicht bewusst gewesen, dass es wirr in meinem Gesicht und an meinem Hals klebte. Doch als er es nun durchkämmte, ohne dabei auch bloß einmal daran zu zerren, erschauderte ich willkürlich. Eben noch hatten mich diese Hände noch gegen meinen Willen entkleidet und gewaschen. Nun war er so... so verdammt nett! Das machte mich rasend!
„Also... Throne... Stehlen Nephilim von der Erde und lassen sie dann gegeneinander in einer Arena antreten?“
„Mehr oder weniger.“ Scheinbar wollte Cirillo nicht näher auf dieses Thema eingehen.
„U-Und das...“ Mir stockte der Atem. „...mit der rituellen Reinigung, was sollte das?“
„Das ist so Brauch. Damit waschen wir traditionell die Sünden der Seele rein, welche einst den Körper bewohnt hat.“
Einst? „Ich habe keine Seele mehr?“ Fragte ich ungläubig. Dafür fühlte ich mich aber noch ziemlich lebendig. Nicht schuldfrei, doch lebendig.
„Natürlich. Nephilim, welche die Schwelle in diese Welt übertreten haben, geben damit auch ihre menschliche Seele auf und nichts weiter, als ihr verdorbenes Fleisch bleibt zurück, mit den niederen Instinkten von Tieren.“
Okay, jetzt glaubte ich ihm absolut kein Wort mehr, drehte mich herum und begegnete absurderweise seinem völlig aufrichtigen Blick. „Ich habe absolut nichts gemein, mit diesen Kreaturen, an denen du mich vorbei geschliffen hast! Außerdem baden hätte ich mich selbst genauso gekonnt!“ Ich konnte meine Gefühle, dies bezogen, kaum zügeln!
Sein Blick wurde wieder dunkler. „Nur einem Throne ist es gestattet, die Seele eines Mischwesens zu säubern!“ Er klang dabei, als hätte ich in einer Kirche offen über Gott gespottet.
„Das war aber mein Körper dort im Wasser! Nicht meine Seele!“ Erwiderte ich neunmalklug.
Mit zusammen gekniffenen Augen drehte er mich an der Schulter zurück, ehe er mit meinem Haar fortfuhr. „Es hat eben Tradition. Traditionen einzuhalten ist wichtig. Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns nicht an die Regeln halten würden?“
Ich war versucht, einen amüsierten Laut auszustoßen. Wann hielten sich Menschen schon mal an Regeln? Falsch. Das hier war kein Mensch. „Du bist in der Menschenwelt aufgewachsen, deine Seele, falls du überhaupt je eine hattest, ist verdorben. Daher ist es sicherer sie im reinen Quellwasser zu säubern, für den Fall, dass du im Kampf stirbst.“
Oh, dank! „Wie ermutigend.“ Viel Vertrauen hatte er ja nicht in mich.
„Ich hatte nie vor dich zu ermutigen.“
„Darin wärst du auch miserabel!“ Konterte ich, dann war ich auch bereits fertig. Endlich konnte ich die lange Hose überstreifen, welche ich sogar mit einem erleichterten Seufzen hochzog. Endlich! Eine richtige und saubere Kleidung an meinem seltsam wohlig duftenden Körper.
Als ich mich herum drehte, achtete ich kaum auf den Engel. Ich hob meinen rechten Flügel an und strich fasziniert durch die, nun wieder, flauschigen Federn. Ich fühlte mich seltsam neu. So, als ob ich eine völlig andere Person wäre.
Mein Blick traf den von Cirillo, welcher meinem Tun stirnrunzelnd zugesehen hatte. „Was?“
Er zuckte mit den Schultern. „Nichts.“
Ich kniff die Augen zusammen. „Wenn du doch denkst, dass ich so wie so sterbe, dann bloß raus damit. Du gibst dir auch sonst keine Mühe deine Meinung zu filtern.“
Cirillo verschränkte abweisend die Arme vor dem Brustkorb. „Dafür gibt es auch absolut keinen Grund. Du bist bereit. Wir sollten gehen.“
Ich blinzelte irritiert. „Ohne Waffe? Ich dachte, ich muss kämpfen?“
Er zuckte erneut mit den Schultern. „Du bist ein Nephilim. Nephilim kämpfen mit dem was sie haben.“
Ich starrte entsetzt an mir hinab, dann hinein in die Kiste, welche er just in diesem Moment abschloss... Scheiße! Ich hätte doch die verbeulte Rüstung wählen sollen! „Mo-Moment mal... Ich kann doch nicht... He! Engel! Lauf nicht von mir weg, wenn ich mit dir rede! Wie soll ich denn ohne Waffen kämpfen? Hast du dir die Monster dort drinnen einmal angesehen? Gegen... Gegen welches werde ich denn überhaupt kämpfen?“
Ich merkte überhaupt nicht, wie Cirillo mich von den Zellen fortführte, auf eine Passage zu, welche abwärts führte. „Oh, Bitte! Ein unberechenbarer Nephilim, wie du, wird schon das eine oder andere in Reserve haben, um sich zu verteidigen.“
„Hätte ich etwas, um zu kämpfen, hätte ich dir schon längst den Kopf abgehakt, für das, was du mir in dem ekeligen Sumpf angetan hast!“ Ein Schauder lief über meinen Körper, als ich an das Krabbelvieh darin dachte!
„Es war eine reine Quelle!“ Brauste er auf. „Außerdem stehe ich in keinem Vergleich zu einem gewöhnlichen Nephilim, wie du einer bist. Selbst eine Kakerlake hätte mehr Chancen gegen mich, als du.“
Keine Chancen... Also dem würde ich noch... Da traf mich plötzlich die Erkenntnis! Dass ich Idiot da nicht bereits früher darauf gekommen war! Ich öffnete meine zu Fäusten geballten Hände und beschwor mein gläsernes Schwert, so wie ich es bereits einige Male zuvorgetan hatte... Ähm. „Ach komm schon!“ Frustriert sammelte ich meine Kräfte, doch es erschien nicht. Ich bekam nicht einmal das warme Gefühl in meiner Handfläche, wie in den Momenten, in welchen es erschien. Es war... Es war einfach fort!
„Was hast du gemacht? Wieso funktionieren meine Kräfte nicht?“ Ich versuchte es noch ein paarmal frustriert, doch nicht einmal ein Schimmer rührte sich zwischen meinen Fingern.
„Ich?“ Cirillo verlangsamte sein Tempo ein wenig. „Was soll ich denn schon wieder getan haben?“
Irritiert von den Erinnerungen, welche plötzlich in meine Gedanken schossen, ging auch ich um einiges langsamer. „Du hast irgendetwas mit mir gemacht.“ Jetzt, da ich mich auf das... Ding in mir konzentrierte, konnte ich es allmählich erkennen. Erst kam die Zeit nach meinem ersten Erwachen zurück. Das Licht vor den Zellen, hatte wie Strahlung in meinem Gesicht gebrannt. Vorhin, als er mich hinaus aus eben jener Zelle gelockt hatte, da war ebenfalls etwas gewesen. Etwas, dass ich nicht erklären konnte. Plötzlich waren da Laute, Gerüche und Sinneseindrücke, welche ich niemals zuvor wahrgenommen hatte. Zudem, exakt in diesem Moment, fühlte ich eine seltsam warme Präsenz in mir, welche mich zurückhielt.
Cirillo legte fragend den Kopf schief. „Was fühlst du.“
Gute Frage. Ich streckte meine Sinne in mich selbst hinein, folgte der unbekannten Energie in meinem Körper, welche wie ein zweites, pulsierendes Herz, zwischen meinen Lungenflügeln versteckt lag. „Eine Energie. Sie ist warm und ich denke... ich habe sie schon einmal gefühlt.“ Ich war bereits einmal in ihr gelegen. Damals hatten sich... Arme um mich geschlungen, Flügel, kräftig und unnachgiebig, hatten mich immer höher und höher getragen... Und diese Kraft...
„Wir sind da!“
Erschrocken darüber, so herb aus meinen schemenhaften Erinnerungen gerissen zu werden, betrachtete ich die massive Steintüre vor uns. „Hier?“ Fragte ich ungläubig. Abgesehen von Stein, fand man hier absolut nichts vor. „Was machen wir hier?“
„Das ist ein alter Durchgang. Eigentlich würdest du ja in einer dunklen Kiste geliefert werden, wie alle anderen...“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „...aber ich dachte, da du so schwer bist, lass ich dich besser selbst gehen.“
Arsch! Dachte ich erneut. Moment... War da eben nicht irgendetwas gewesen? Stirnrunzelnd sah ich Cirillo dabei zu, wie er die Türe mittels einer Handbewegung aufstieß. Sie schwang schwerfällig nach innen auf und angesammelter Dreck verhinderte, dass sie vollständig aufging.
„Bleib in meiner Nähe.“ Befahl er streng, während er uns durch den dunklen Gang, tiefer hinein führte. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, erneut in eine kalte Höhle voller Zellen geführt zu werden, doch nach einer weiteren Biegung, traten wir auf einen perfekt zugestimmten Gang. Er war mehrere Meter breit und verkleidet mit dem schönsten Marmor, den ich jemals gesehen hatte. Feine Verzierungen, wie die, welche ich bereit in den Büchern der Kirche, an den Flügeln der Erzengel gesehen hatte, prägten die glatten Wänden. „Das sind Zeichen von Erzengeln...“ Stieß ich ungläubig hervor.
Cirillo blieb starr stehen, während über uns ein richtiger Tumult losbrach. Von allen Seiten und in alle Richtungen hinweg, flogen Engel, so viele, ich konnte sie überhaupt nicht zählen! Schwer schluckend betrachtete ich ihre grazilen Bewegungen in den vielen Metern, welche der Gang hinauf reichte.
„Woher weißt du-“
„Cirillo!“ Ein männlicher Engel, mit zu Zöpfen gebundenem Haar und dunkelgrünen, bis hin zu bräunlichen Stellen durchzogenen Flügeln. „Da bist du ja endlich. Die Nephilim sind längst ausgeliefert. Ich nehme an, bezahlen wirst du uns erst danach.“
Der Engel war einen guten Kopf größer als Cirillo, was dazu führte, dass er mich eineinhalb Köpfe überragte. Seine Flügel waren wirklich groß und an den äußeren Enden liefen sie spitz zu. Ich sah nicht viel davon, doch auf mich hatten diese Flügel tatsächlich eine einschüchternde Wirkung. Sie waren so... kraftvoll.
„Natürlich. Direkt nachdem ihr die übrig gebliebenen Waren zurück geflogen habt. Vielen Dank.“ Cirillo klang wieder so kühl und emotionslos, wie bereits das letzte Mal, als er mit seinem Bruder gesprochen hatte. Mich fröstelte es beinahe.
Der Blick des fremden Engels landete auf mir. „Wer ist deine Begleitung?“
„Es ist keine Begleitung sondern ein Nephilim. Sie ist zahm.“
„Zahm!“ Der Engel und ich stießen dasselbe Wort, in unterschiedlichen Tonlagen aus. Während er wunderlich wirkte, fiel meine Stimmlage unter die Kategorie >empört<.
„Es wirkt überhaupt nicht wie ein Nephilim.“ Scheinbar fasziniert von meiner >zahmen< Erscheinung, kam der fremde Engel einige Schritte auf mich zu und streckte seine Hand nach mir aus. Erstarrt beobachtete ich seine Annäherung, unsicher wie ich darauf reagieren sollte. Für die war ich bloß... Vieh...
Plötzlich machte Cirillo einen Schritt zur Seite. Er baute sich, mit erhobenen Flügeln direkt vor mir auf, während er seine Arme vor dem Oberkörper verschränkte. Samtig weich kitzelten die runden Federn über meine Haut, welche nicht bedeckt war, von der Kleidung. Für einen Moment dachte ich, er würde noch ein Stückchen größer werden, als meine Hände, welche ich willkürlich erhoben hatte, um die vorhin noch auf mich zukommende Hand abzuwehren, nun in den weichen Flausch seiner Flügel eindrang.
Während sich meine weich, doch strähnig und lang anfühlten, war sein Federkleid noch viel dichter als das meine. Ich konnte nicht widerstehen und war vollkommen versunken in die herrliche Wärme, welche er von sich gab, während seine Flügel meinen Körper schützend einschlossen.
Irritiert betrachtete der fremde Engel Cirillo. Dann zog er sich scheinbar zurück, denn Cirillo senkte die Flügel wieder einigermaßen, sodass ich nicht mehr vollkommen von ihnen eingeschlossen war. Trotzdem konnte ich nicht anders, als dem Lauf bis hin zu seinem Entstehungsort zu folgen. Dort wo ich weiche Haut erwartete, fand ich stattdessen harte, unnachgiebige Muskeln unter der Schicht vieler kleineren Federn vor. Sie waren hart wie Stein, doch fühlte sich auch gleichzeitig gut an... Tatsächlich wurden die Federn, in der Nähe seines Rückens, zunehmend heller.
„Wir sehen uns, Cirillo.“
„Wir sehen uns.“ Stieß Cirillo etwas atemloser hervor, wobei ich seine Gesichtszüge jedoch nicht sehen konnte. Erst, als der andere Engel wieder in der Luft war und sich dem >Flugverkehr< einreihte, bekam ich einen unsanften Schlag eines seiner Flügel, gegen die Seite, sodass ich ein paar Schritte zur Seite taumelte und mich an der Wand abhing. „Bist du-...“ Cirillo war einfach... atemlos. Verständnislos sah ich von seinem leicht geröteten Blick, hinab auf meine wohlig kribbelnden Hände. Das hatte offensichtlich ich gemacht, aber was genau? Hatte ich... Cirillo beschämt?
Sein Gesichtsausdruck wechselte zurück zu ärgerlich, dann deutete er auf den Gang, welcher nach rechts führte. Also fort von der Richtung, in welche die meisten Engel flogen. „Geh besser vor mir, wo ich dich sehen kann!“
Da er besonders verärgert wirkte, tat ich, was er sagt, doch konnte mir nicht erklären, weshalb ich mich immer noch so... so gut fühlte. Wie gut Cirillo gerochen hatte. Erdig, von der Zeit, welche er in den Zellen verbrachte, aber auch irgendwie... anders. Ich konnte diesen Geruch nicht einordnen und wusste ihn auch nicht zu beschreiben. Aber egal, was es war... Ich mochte diesen Geruch. Er war mir definitiv nicht völlig fremd, sondern vertraut, als ob ich ihn bereits mehrfach aufgenommen, doch nie wirklich >wahrgenommen< hätte.
„Links.“ Wies Cirillo mich weiter an. Wir gingen sicher an die zehn Minuten, in welchen ich angestrengt nach einer Erklärung suchte. Ich hatte es bemerkt. Nur wo? Wann? Erst kürzlich? Angestrengt dachte ich darüber nach, als ich mich seltsamerweise in einem kleinen Raum wiederfand. „Wo bin ich?“
„In einer hübscheren Zelle.“ Spottete Cirillo, doch sah mich dabei nicht einmal an. Als ich meinen Blick hob, bemerkte ich, dass man von oben ein Gitter herablassen konnte und somit die Zelle verschloss. Scheiße... Wieder gefangen.
Mein Blick begegnete dem des Engels. „Na wenigstens gibt es ein Upgrade.“ Spottete ich abweisend, wobei ich meine Finger an der glatten Stoffhose rieb.
„Ein was?“
Ich winkte ab. „Nicht so wichtig. Zurück zu-...“ Waffen! Ich konnte kein Schwert beschwören! Aber wieso nicht? Blitzartig erinnerte ich mich, wie ich es auf dem Weg zur Steintüre versucht hatte, jedoch erfolglos blieb. Wie konnte mir das bloß entfallen? Ein Schauder glitt über meinen Körper. Genau! Das war es gewesen! Cirillo hatte etwas mit mir gemacht! Nein, er tat es immer noch! „Du vernebelst meine Erinnerungen!“ Ein Fakt. „Wieso? Und wie?“
Cirillo wirkte ertappt. „Wie konntest du das bemerken?“
Sollte das ein Witz sein? Ich kam bis auf wenige Schritte auf ihn zu. „Ich bin doch nicht bescheuert! Ich fühle doch, dass da etwas in mir ist! Bisher habe ich es vielleicht nicht bemerkt, aber seit ich vorhin deinen Geruch richtig wahr genommen habe, weiß ich, dass diese... Energie von dir stammt! Du tust das!“ Was auch immer >das< sein soll.
Für einen Moment kämpfte der Engel noch mit sich, doch dann legte er ein Geständnis ab. „Ja, ich tue das, damit du nicht überschnappst. Immer wenn ich versucht habe die Kontrolle über dich abzugeben, bist du verrückt geworden! Du bist sogar problemlos durch ein beschissenes Feld gegangen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken! Bloß, um dir den Tot zu holen!“
„Welches Feld denn?“
„Das, in deiner Zelle. Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass sich über und durch die Wände Banne ziehen? Banne die verhindern, dass ihr Kreaturen aus oder durchbrecht? Die Zellen sind so sicher, da kann höchstens ein Erzengel durch spazieren!“
Erzengel! Ernüchtert trat ich einen Schritt zurück. Nur diejenigen, die Erzengel waren, also?
„Was?“ Fragte er, als er bemerkte, dass ich ausnahmsweise etwas wusste, das sich ihm und seiner Vorstellungskraft entzog. „Was weißt du?“
Nur ein Erzengel, also. Viel weniger war mein Vater auch nicht gewesen. Ein Erzengel, der einen Teil seiner Kraft in einen menschlichen Embryo gelegt hatte. Oder eine Eizelle? Was wusste ich schon, wie das funktionierte. Fakt war jedoch, dass ich an diesem Ort, kein gewöhnlicher Nephilim mehr war!
Wie hatte Cirillo es so schön formuliert? Wenn wir die Schwelle in diese Welt übertreten, verloren wir unsere Menschlichkeit und zurückblieb nichts weiter, als ein Instinkt gesteuertes, blutgieriges Monster? „Du sagtest doch, dass Nephilim nichts weiter wären, als instinktgesteuerte Monster, wenn sie in euer Reich kommen, richtig?“ Ein furchtbarer Gedanke kam mir in die Sinne.
„Ja. Natürlich!“
„Ohne Intellekt, monströs...“ Beschrieb ich, was ich gesehen hatte. „...und blutgierig.“ Unsere Blicke trafen sich erneut. „Sag mir, Engel... Was sind Nephilim?“
Sein Blick war voller Abscheu, als er die nächsten Worte über die Lippen brachte. „Es sind menschenähnliche Hybride. Gezeugt von einem widerwärtigen Dämon, der sich an einem unschuldigen Menschen vergangen hat.“
Scheiße!

 

- - - - -

 

Ich hatte absolut keine Ahnung, was genau hier verbrochen wurde, doch irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Cirillo dachte ernsthaft, dass ich der Spross eines Dämons war? Kein Wunder, dass er mich nicht mochte und mich dementsprechend behandelte. Ernsthaft, jedoch! Dämonen? Wie sollte so etwas möglich sein?
Gut, hinsichtlich meiner eigenen Existenz, sollte ich wohl nicht allzu vorschnell urteilen, richtig?
Nun jedoch stand ich vor einer völlig anderen Problematik. Wenn Cirillo sich irgendwie in meine Kräfte hinein >geklinkt< hatte... wieso wusste er denn nicht, dass ich Michael´s Tochter war? Oder zumindest nicht der Spross eines Dämons? Ganz ehrlich... Ich sah vielleicht nicht aus wie Katya, aber ein Monster war ich genauso wenig!
Zwischen uns herrschte einen langen Moment eisernes Schweigen. Natürlich könnte ich jetzt behaupten, dass ich die Tochter eines Engels war, genauer gesagt, eines Erzengels, doch eine mahnende Stimme, welche ich zudem bereits seit Wochen nicht mehr vernommen hatte, meldete, dass es keinen Sinn hatte. Er war ein Throne. Nichts was ich sagte, konnte ihn von irgendeiner anderen Wahrheit überzeugen. Schlussendlich würde bloß ich den kürzeren ziehen.
„Wenn du mich entschuldigst. Ich habe noch andere Nephilim, die ich in Kampfstimmung versetzen muss.“
Kampfstimmung, was? Ich stieß einen abschätzigen Laut aus, nachdem die Gitter hinunter und eingerastet waren. Ich nahm am hintersten Ende des quadratischen Raumes platz, welcher ausnahmsweise einmal sanft beleuchtet und zimmerwarm war. Zudem zog kein Lüftchen hier hindurch und ich konnte das Brummen vieler verschiedener Stimmen wahrnehmen, so wie Flügelschläge.
Diese Zelle war ein extremer Gegensatz zu der, in welcher ich das vergangene Monat in fast völliger Einsamkeit verbracht hatte. Einen Monat war es nun her? Wieso fühlte es sich nicht dementsprechend an? Ich hatte die Sonnenaufgänge zwar nicht allzu genau gezählt, doch war mir sicher, dass mittlerweile ein guter Monat um sein musste. Zudem bemerkte ich, wie schwach ich mich fühlte. Meine Lippen waren trocken, mein Haar umrahmte in sanften Locken mein eingefallenes Gesicht. Der Hungerstreik hatte auch an meinen Rippen deutliche Zeichen hinterlassen. Seltsam befremdlich, betastete ich meinen mageren Körper.
Sich ungesund zu ernähren und zu hungern, waren definitiv zwei völlig unterschiedliche Dinge. Zumindest auf meinen Körper wirkten sie sich dementsprechend aus. Während meine Haut, rein wie noch nie geworden war, schien mein restlicher Körper, abgesehen von meinem Rücken, stark an Form verloren zu haben. Im Grunde war ich ein wandelndes Skelett! Auch jetzt grummelte mein Magen, doch ich nahm es kaum noch wahr, da ich es bereits gewohnt war. Es war eine Begleiterscheinung zu dem ständigen Stechen in der Magengegend.
Barfuß wackelte ich mit den Zehen. An ihnen hatte sich nichts verändert, abgesehen davon, dass meine Nägel abgerissen waren. Anders hatte ich sie leider nicht kürzen können. Ebenso die Fingernägel, an welchen ich gelegentlich abends, ehe ich ein schlief, kaute.
War es denn tatsächlich bereits einen Monat her? So lange nämlich quälten mich nachts schreckliche Bilder. Tagsüber starre ich denselben Himmel an und konnte beinahe die Wölbungen in den Wänden zählen.
Es war so verrückt! Nun saß ich hier. Allein. Wartend. Unfähig auf meine Kräfte zuzugreifen, verwirrt von all den neuen Empfindungen, so wie der Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte.
Befand ich mich denn im Himmel? Dort, wo die Engel zuhause waren, welche sich um die reinen Seelen der Menschen kümmern? Wo es bloß diesen einen Throne gibt, der mich offensichtlich hierher entführt hatte. Bloß wie? Warum?
Wenn ich mich sehr anstrengte, konnte ich den Abend, abgesehen von dem Moment des >Versehens< ziemlich gut rekonstruieren. Da waren Olympia und ein Dämon gewesen. Ein Dämon, welcher heillos in sie verliebt war. Dann Marie, die sich wie die Mutter des Erretters aufgeführt hatte. Schmerz. Wut. Lysander´s, besorgte Hilfsbereitschaft. Dann Calyle und... Wieder ein großer Schmerz. Einer, der mich genauso, wie Calyle´s Verrat getroffen hatte.
Plötzlich war er einfach da gewesen. Ein völlig, normaler, alter Greis, bloß dass er keiner gewesen war. Aus einem, mir unerfindlichen Grund, hatte er Lucy holen wollen, doch ich hatte bloß noch rot gesehen. Ihn umgeworfen. Mit ihm gekämpft, doch ständig war ich ihm unterlegen gewesen. Körperlich, wie auch im Kampf unerfahren, hatte ich mit einem gemeinen Trick die Oberhand gewonnen, bloß um im nächsten Moment... Ja, was denn eigentlich?
Stunden vergingen. Die Ruhe, welche plötzlich eingekehrt war, wurde bloß von grauen erweckenden Schreien, Fauchen, so wie das Poltern verschiedener, schwerer Dinge unterbrochen.
Während ich da gesessen hatte, mit geschlossenen Augen und dem Versuch mich selbst wieder zu finden, schien dort draußen der große Kampf stattzufinden. Meine Nummer war die allerletzte.
Cirillo erschien vor mir, indem er sich einfach davor vom Himmel fallen ließ und mich aus meinen frustrierenden Gedanken riss. „Du bist dran, Nephilim.“ Mit einer Handbewegung öffnete Cirillo das tonnenschwere Gitter und deutete mir, vor ihm hinaus zu gehen.
Ich kam auf die Beine und klopfte den Staub ab. „Bekomme ich wenigstens eine Waffe?“ Fragte ich, es besser wissend.
„Nephilim bekommen nie Waffen. Sie >sind< Waffen.“
Ich verschränkte abweisend meine Arme vor dem Oberkörper. „Gibt es etwa eine Regel bei diesen Spielen, welche die Benutzung von Waffen verbietet?“ Ich kam bis auf einen Schritt auf ihn zu. „Falls ja, dann musst du aus meinem Geist verschwinden und mir wieder Zugang zu meinen Kräften gewähren.“ Seine Augen verengten sich. „Ich weiß, dass du sie blockierst.“ Entgegnete ich hastig, für den Fall, dass er wieder so tun wollte, als ob er nichts mit alldem zu tun hatte. „Ich fühle, wie du sie blockierst. Alles... ist so viel klarer, seit ich hier in der Arena bin.“ Mein Blick schweifte wieder ab, während ich versuchte, diese Gefühle zu beschreiben. „Auch meine Erinnerungen und Gedanken blockierst du damit, seit ich damals gesprungen bin. Aber das darfst du nicht.“
Cirillo schnaufte abschätzig. „Kein Nephilim stellt Forderungen an einen Throne.“
Mit einem gemeinen Lächeln auf den Lippen fing ich seinen Blick wieder ein. „Gut, dann bleibst du wohl auf meinen Schulden sitzen.“ Scheinbar waren diese ihm verdammt wichtig. Ansonsten würde er doch das alles nicht tun, richtig?
Ich hatte richtig geraten! Cirillo´s Ausdruck wurde sogar noch verbissener, während er seine Möglichkeiten abwog. Als er jedoch keinen Ausweg fand, griff er nach dem geringeren Übel. „Gut. Eine Waffe. Folge mir.“
Und das tat ich auch. Artig dackelte ich hinter Cirillo her, während er mehrere Minuten lang, dem Flur folgte. Jedoch... je näher, wir seinem Zielort kamen, umso ekelerregender stank es! Etwas Süßliches, doch gleichzeitig Abartiges, stach mir bestialisch in die Nase und ich musste mich beinahe übergeben... insofern sich noch etwas darin befunden hätte. „Du bekommst keine Engelswaffe, deshalb... musst du dich mit den Resten begnügen, die übrig geblieben sind. Wähle.“
Mist! Anstatt mich u einer Waffenkammer zu führen, hatte Cirillo mich zu dem Ort gebracht, wo sie anscheinend die toten Kreaturen entsorgten! Ich würgte. „Niemals!“
Nun hatte Cirillo ein bösartiges Lächeln auf den Lippen. „Du wolltest doch eine Waffe. Bitte schön!“
Ich hätte mich auch mit einer Glasscherbe zufrieden gegeben, oder mit Pfeil und Bogen, selbst wenn ich sie, aus mangelndem Talent, so wie Wissen, nicht hätte benutzen können. „Du bist einfach nur krank!“ Warf ich ihm an den Kopf, dann trat ich dennoch ein. Cirillo erhellte mir den Weg, in dem er eine golden, weißliche Kugel über meinem Kopf erscheinen ließ, welche mir überall hin folgte. „Ist das widerlich!“ Entfuhr es mir halblaut. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas Dementsprechendes gerochen. Der Gestank war so stark, dass ich durch den Mund atmen musste, damit es nicht allzu intensiv roch. Trotzdem drang etwas Säureartiges in meine Kehle ein und erzeugte einen unangenehmen Geschmack darin.
Gezwungenermaßen ergriff ich nicht die Flucht, sondern zwang mich, die vor sich hin verwesenden Körper, vor mir genauer zu betrachten. Stacheln, Klauen, Reißzähne, Käulen... Einfach alles konnte man hier finden. Es war wie in einem Horrorfilm. In einem, wo man sich Waffen aus den Überresten extraterrestrischer Lebensformen basteln musste. Oh! Da fand ich einen Arm, welcher geformt war wie eine Klinge und gut einen Meter maß. Ich fasste nach ihr, doch leider hing diese >Klinge< an etwas, dass stark einem drei Meter langen Schwanz ähnlich sah! „Ih!“ Angeekelt sprang ich zurück und würgte ein paar Mal. Es kam wieder nichts.
„Herrje!“ Fluchte Cirillo. „Wenn du so weiter machst, fällt die nächste Kreatur auf deinen Kopf. Stell dich nicht so an!“
Angeekelt ging ich einige Schritte rückwärts, während sich Cirillo genervt an mir vorbei schob. „Aber es ist so widerlich!“ Beklagte ich mich aufrichtig.
Insekten waren schon ekelhaft... aber verwesende Monster? Igitt, igitt!
„Das wolltest du, richtig?“ Er hob den Arm eines Monsters hoch, von dem ich keine Ahnung hatte, zu wessen der vielen Körper er wohl gehören mochte. Obwohl ich nichts lieber wollte, als einfach >nein< zu sagen, nickte ich stumm und verzog das Gesicht, sobald er ihn einfach abbrach. Das Außenskelett gab ein widerwärtiges Geräusch von sich, was mich erneut an den Bauch fassen ließ. „Tut... Tut mir leid...“ Hochkant ergriff ich die Flucht und hielt erst an, als ich um die Ecke war, fort von all den scheußlichen Bildern. Galle kroch meine Kehle hoch und mein gesamter Körper fühlte sich feuchtkalt an.
Einen Moment darauf, erschien Cirillo neben mir. In seiner Hand trug er den abgebrochenen Arm, welcher aussah, als wäre sie eine Klinge. Sie war schwarz und von etwas ledrigen überzogen. Zudem hatte der Engel es irgendwie geschafft, mit etwas anderem, was ich gar nicht so genau ansehen wollte, einen Griff zu formen. Gehalten wurde es scheinbar... von Haar?
„Igitt!“ Machte ich sofort, als Cirillo es mir auffordernd hinhielt.
„Bitte, gern geschehen. Jetzt müssen wir uns aber beeilen. Engel warten nicht gerne.“
Ernsthaft? Das war alles? Während er an mir vorbei rauschte, ließ er die kühle Waffe einfach in meine Arme fallen, ohne darauf zu achten, dass sie eigentlich viel zu schwer war. Ich verzog erneut das Gesicht, doch folgte diesem Verrückten einmal mehr.
Wenig später, winkte er mich in einen Käfig hinein, welcher aus nichts weiter, als silbernen Stäben bestand. „Bist du bereit?“
„Nein!“ Antwortete ich wahrheitsgemäß, während ich hinein stieg. Der Käfig war gerade einmal einen, mal einen Meter groß, doch ich konnte zumindest aufrecht darin stehen. Was ich von meiner Waffe nicht behaupten durfte. Sie musste ich zwischen den Stäben hindurch gleiten lassen, während ich mich suchend im Kreis drehte. „Wieso muss ich hier drinnen stehen?“
Cirillo deutete mit einem Finger über sich. „Weil du gleich dort hinauf gehoben wirst.“ Ich blickte hoch, wo sich doch tatsächlich keine Gitter befanden, doch wenn ich um das flache Dach vorbei schielte, erkannte ich tatsächlich eine Öffnung!
Nervös geworden, klammerte ich mich an den Käfigstäben fest. „Du wirst doch dabei sein, oder?“
Irritiert runzelte Cirillo die Stirn. Dann wandte er das Gesicht ab, doch nickte. „Viel Glück.“
Viel Glück? Viel Glück für den Arsch! Ich wollte ehrlich gesagt, nichts lieber als hier hinaus. Wieso tat ich mir diesen Scheiß überhaupt an? Bin ich vollkommen verrückt geworden? Was dachte ich mir hierbei denn? Diesem dummen Engel war ich doch nichts schuldig, richtig? Absolut gar nichts!
„Engel?“ Plötzlich geriet mein Käfig in Bewegung. Hilfesuchend, in der Hoffnung zumindest noch einen letzten, aufmunternden Blick von Cirillo zu ergattern, starrte ich seinen rotbraunen Rücken an. Er drehte sich nicht herum, während meine restliche Welt in Dunkelheit versank. Zumindest konnte ich hören, wie er wegflog. Ob er sich einen guten Platz suchte? Ich wollte hier nicht alleine sein! Ehrlich gesagt, war ich noch nie wirklich alleine unter tausend fremden Engeln gewesen. Stets, wenn es einen Besucher gab, war Cirillo dabei gewesen. Er war immer da gewesen und hatte aufgepasst...
Schwer schluckend schob ich meine Panik fort. Ich musste kämpfen. Deshalb war ich hier. Es wurde von mir erwartet, dass ich als >Vieh< meine erlangten Schulden beglich, indem ich kämpfe. Wie genau das funktionieren sollte, wusste ich jedoch leider überhaupt nicht!
Der Käfig hob sich immer höher und höher. Bestimmt an die vier oder fünf Stockwerke hoch, ehe es endlich zum Stillstand kam. Ich fand mich in einem lichterfüllten Raum wieder. Der Boden bestand aus hart getretenem, dunklen Sand, während von der Decke helle Lichter die ovale Arena beleuchteten. Sie war nicht so groß, wie ein Fußballfeld, doch an eineinhalb Turnsäle reichte sie ganz bestimmt heran. Die Wände waren, wie auch so ziemlich das gesamte Gemäuer, aus wunderschönen, gräulichem Marmor gehauen. Selbst hier in der Arena, zierten Zeichnungen von Erzengelflügel die Wände.
Ich kam kaum aus dem Staunen heraus, als mir bewusst war, dass ich nicht die Einzige war, welche eben mit dem >Gefängnislift< nach oben transportiert worden war. Schockiert fixierte ich den anderen Käfig. Was befand sich darin? Wieso war es dort so dunkel? War es das etwa in meiner Zelle genauso?
Plötzlich ertönte ein zischendes Geräusch. Es war nicht wie bei einer Raubkatze, sondern viel länger und dunkler... Kein Grollen, aber es ließ dennoch den Erdboden erzittern. Oder bildete ich mir das bloß ein?
Nein, der Erdboden zitterte tatsächlich, denn die Gitter in meinem Rücken begannen mit einem Mal sich vorwärts zu bewegen, kaum dass das Gitter vor mir, nach unten gesackt war. Erschrocken klammerte ich mich an meinem letzten sicheren Hafen fest. Ich wollte da nicht hinaus, nicht kämpfen!
„Bitte gebt eure letzten Wetten ab.“ Erklang es aus einem Lautsprecher, doch diese waren nicht in die Richtung der Arena gerichtet. Tatsächlich saßen gut zwei Dutzend, halb bekleidete Engel, rund um die Arena herum, auf massiven Stühlen, welche denen von Königen ähnlich waren. Jeder Engel saß weit entfernt von einem anderen, doch so unterschiedlich sie auch aussahen, besaß ein jeder ein und denselben Gesichtsausdruck. Pure Langeweile stand in ihren Gesichtern geschrieben.
Ich erzitterte unter ihren mächtigen Ausstrahlungen und wollte nun bloß noch dringlicher zurück in meine beschauliche, nichtssagende Zelle.
Kaum berührten meine barfüßigen Zehen, den warmen Sand, bemerkte ich, dass er sich seltsam... nass anfühlte. Mein Blick glitt durch die Arena, während ich langsam einen Schritt nach dem anderen vorwärtsmachte. Drei Schritte gesamt, doch mir kam es vor, als hätte ich Meilen zurückgelegt.
Mein Blick zuckte für einen Moment hoch, als ich mehrere Engel hoch über mir in der Luft >stehen< sah. Darunter auch Cirillo! Augenblicklich hüpfte mein Herz vor Freude. Er war da! Er sah mir zu! Nur ob er auch eingreifen würde? Nein... Ganz bestimmt würde der Engel nicht einen Finger rühren.
Nun erklang das Surren von der anderen Seite, aus dem Käfig der Kreatur. Augenblicklich konzentrierte ich mich auf eben jenes Wesen, welches langsam seinen pelzigen Vorderfuß auf den Sand abstellte. Gefolgt von dem Zweiten, so wie einem gewaltigen, unförmigen Kopf. Er wirkte so, als hätte man aus verschiedenen Richtungen auf ihn eingeschlagen, damit er so unförmig, wie nur möglich wurde. Ein Auge war nach vorne gerichtet, das zweite nach unten. Ein drittes hing an seinem Schlappohr und blinzelte mich... total gruselig an. Gemächlich, wie eine Raubkatze auf der Pirsch, schob es den Rest seines langen Körpers hinaus. Im Gegensatz zum vorderen Teil war der hintere schwerfällig und ungelenk, weshalb es diesen eher hinterherzog. In seinem länglichen Maul saßen zwei Reihen, dreckiger Zähne und sein ganzer Körper war mit Pelz besetzt. Zumindest alles, bis auf seine gerupften Hähnchenflügel. Die sahen, im Gegensatz zu meinen, in Richtung seines Kopfes und schienen nie dazu gemacht gewesen zu sein, um dieses schwere Wesen in der Luft halten zu können, geschweige denn zu gleiten.
„Wetten wurden eingereicht. Viel vergnügen.“
Mich schauderte es erneut. Scheiße! Das meine Cirillo also damit, wenn er sagte, ich müsse meine Schulden begleichen. Er wettet. Ich gewinne... „Du willst mich doch verarschen!“ Fluchte ich halblaut, was die Bestie dazu veranlasste mich wütend an zu knurren.
Okay. Dann eben das tun, was das Einzige ist, dass ich auch wirklich kann. Mich verteidigen! Bisher ist es mir in meinem Leben niemals schwergefallen, Attacken von anderen auszuweichen, dämliche Kommentare meinen Buckel runter rutschen zu lassen, oder gemeine Beschimpfungen abprallen. Nicht dass mir dies in einem richtigen Kampf jemals nützlich sein würde, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, als wäre es wichtig. Verdammt, was gäbe ich in diesem Moment für mein Schwert!
Noch einmal fühlte ich in mich, doch dort fand ich nichts, außer das ruhige und stete Pulsieren von Cirillo vor. Er kontrollierte mich also immer noch. Nicht nett! Innerlich klopfte ich gegen das störende Konstrukt. Komm schon! Er musste mir einfach meine Kräfte wieder geben!
Erneut zuckte mein Blick hoch zu Cirillo. Er schwebte zwar etwas abseits, doch zumindest aus dem Augenwinkel hatte ich ihn ziemlich gut im Blick.
Die Kreatur vor mir fauchte. Völlig unerwartet, denn ehrlich, ich hätte ihr dies niemals zugetraut, kam das Wesen auf mich zu. Seine Hinteren, zusammen gewachsenen Beine, mochten ja vielleicht zu nichts nutze sein, doch dafür waren dessen Arme umso kräftiger. Mühelos trugen sie diese über den leicht rutschigen Sand, während es in einem großen Bogen auf mich zu kam. Erschrocken stolperte ich rückwärts, bloß um mir selbst auf die Federn zu treten, und schreiend auf dem Hintern zu landen. „Scheiße!“ Fluchte ich. Das konnte doch nicht-... Ich konnte gerade noch meinen Speer heben, als die Kreatur auch bereits auf ihre, am Boden liegende, Beute zusprang. Mit einem Brüllen, dass keinem Tier gleich kam, stürzte es hochkant auf mich nieder. Sein triefend nasses Maul, hatte es weit aufgerissen, die langen, feuchten Zähne, funkelten auf eine abartige Weise, während das Licht der Scheinwerfer darauf fiel. So viel zu meiner Ausweichtechnik...
Erschrocken krabbelte ich zurück, was nur dazu führte, dass ich unter Schmerzen einige Federn einbüßte. Fluchend versuchte ich, von meinen Flügel hinunter zu kommen, doch kam überhaupt nicht dazu. Plötzlich war das Monster einfach da. Seine Zähne, bloß Zentimeter von meiner Hand entfernt, welche den Speer hielt und Blut lief in Strömen aus seinem Maul. Verdutzt hielt ich inne...
„Wa-Was...“ Ich konnte es kaum glauben! Nicht zwei Minuten in der Arena, schon hatte ich die Kreatur, dessen Arme links und rechts von meinen Beinen aufgestützt waren, aufgespießt. Mit offenem Mund bestaunte ich das unwirkliche Szenario, während das Monster immer tiefer und tiefer... „Scheiße! Hilfe!“ Sein schwerer Körper sank tot über mir zusammen. „Hallo? Hört mich wer? Hilfe! Das ist... schwer!“ Keuchte ich, während das Gewicht mir die Luft zum Atmen nahm. Himmel, das wog sicher über die hundert Kilo!
Raunen ging über meinem Kopf los, während ich flach auf dem Boden lag. Einerseits zwickte es höllisch in meinem Rücken, doch gleichzeitig konnte ich mich aufgrund der Masse auf mir kein Stück bewegen. „Hilfe! Ich... Bin immer noch hier!“ Rief ich lauter, als sich keiner der Engel die Mühe machte, um herabzustürzen und mich vor einem langsamen und sehr, sehr qualvollen Tod zu retten!
Einzig in Cirillo fuhr etwas, denn er riss sich zusammen, schloss den ungläubig geöffneten Mund und stürzte in einer mörderischen Geschwindigkeit auf den Boden herab. Kaum hatten seine Beine den Boden berührt, schob er auch schon das massige Vieh von mir und meinen armen, schrecklich leidenden Flügeln. „Scheiße... Das hat weh getan!“ Beklagte ich mich, während ich meine Beine hervorzog.
„Wie hast du das gemacht?“ Cirillo ging neben mich in die Hocke, während ich die ekelerregende Flüssigkeit auf meinem neuen Hemd bemerkte und für widerwärtig empfand.
„Was?“
Er schnaufte. „Ich-...“ Sein Blick glitt hoch zu den anderen Engeln, welche in einen heftigen Tumult ausgebrochen waren und scheinbar über mich sprachen. „Ich habe keine Zeit dafür. Los jetzt, du musst hier weg.“ Kurzerhand nahm Cirillo mich am Unterarm und zog mich auf meine Beine.
Ich gab schmerzerfüllte Laute von mir, da es noch immer heftig in meinem Rücken zog. Erschrocken bemerkte ich jedoch zudem, dass mein Bein wegknickte. „Autsch!“
Cirillo schien endlich zu bemerken, dass ich nicht ganz so fit war, wie er es sich wünschte, daher legte er meinen Arm um seinen Nacken, dann zog er mich neben sich her auf den Käfig zu. „Lauf schneller.“
„Es tut aber weh!“ Beklagte ich mich, auf einem Bein hüpfend und deutete auf Besagtes, welches, nachdem mein Adrenalin nachgelassen hatte, schrecklich weh Tat. Hatte ich es mir etwa beim Sturz vertreten? Wie war das passiert? Etwa, als die Kreatur darauf fiel?
Ich wusste es einfach nicht mehr, da alles so schnell vonstattengegangen war. „Wohin gehen wir?“ Erkundigte ich mich, als wir am Käfig ankamen und Cirillo einfach hinein stieg. Danach machte er einige kurze Handbewegungen, woraufhin das Gitter hoch fuhr und der Lift sich hinab bewegte.
Aneinandergedrängt, aufgrund des Platzmangels, lehnte ich großteils an Cirillo, welcher nichts dazu sagte. Er hielt mich einfach bloß aufrecht, in dem er mich an der Taille stützte, während sein Blick nervös nach oben huschte, als ob er etwas suchen würde.
Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich Bauch an Bauch, dem Engel gegenüber stand, der mich noch vor wenigen Stunden... Mir seiner Nähe unweigerlich bewusst werdend, drückte ich mich gegen die Gitterstäbe in meinem Rücken. Schlechte Idee, denn eine Feder verfing sich zwischen dem Gitter, so wie dem Stein und wurde brutal heraus gerissen. Schreiend wand ich mich.
„Was ist? Was ist los?“ Besorgt zog Cirillo mich wieder an sich, was ich dieses Mal jedoch zu gerne zuließ. Der Schmerz in meinem Rücken war beinahe unerträglich! Wieso tat das so weh? Tränen glitzerten in meinen Augen, während er mich fest und sicher hielt. Solche Schmerzen... Als ob ich mir ein Stück Haut heraus gerissen hätte! Keuchend ließ ich meine Stirn auf seine Schulter fallen und verteilte dabei großzügig die ekelhafte Masse von meinem Hemd, auf seinem blanken Oberkörper.
Seltsamerweise konnte ich in diesem Moment jedoch nicht an besagte, ekelerregende Flüssigkeit denken, oder um mein neues Shirt trauern. Stattdessen wurde mir etwas anderes bewusst.
Cirillo hatte mich tatsächlich kein einziges Mal berührt! Während ich so da stand, Körper an Körper gepresst, mir seiner seltsamen Hitze wohlauf bewusst und seltsam betört von Cirillo´s ganz persönlichen Geruch, bemerkte ich den Unterschied. Ja, er hatte meine Kleidung zweifelsfrei gegen meinen Willen entfernt und mich nackt gesehen, ohne wirklich hinzusehen. Dennoch... Die Berührung am unteren Teil meines Rückens brannte durch mein Shirt hindurch, direkt in meine Haut und brachte mein Blut in Wallung. Meine Hände lagen ebenfalls auf seiner Brust, an welcher ich mich abstützte und ich musste mich zwingen, sie nicht gleiten zu lassen.
Trotzdem konnte ich mir eines Vergleiches nicht erwehren. Calyle war... seine Haut besaß einen völlig anderen Ton, viel heller und cremiger, während Millionen von hellbraunen Sternen seinen Körper bedeckt hatten. Cirillo´s hingegen, glich exakt dem meinen. Nahtlos ging seine Hautfarbe auf meine, am Handrücken über, so als ob sie aus ein und derselben Quelle stammten. Seine Haut fühlte sich hart an, trainiert, doch gab unweigerlich bei jeder Bewegung ein winziges bisschen nach, was bewies, dass er nicht aus Metall bestand, wie ich bisher eher erwartet hatte. Sie war wunderbar rein und jeder einzelne Muskel zeichnete sich darunter ab, als seien sie aus Stein gehauen. Nein... Nicht einmal ein Steinmetz konnte so etwas Perfektes erschaffen. Etwas dass so rein und herrlich war.
Ich merkte überhaupt nicht, wie ich wohlig erschauderte, als mir ein völlig absurder Gedanke durch den Kopf schoss. „Ganz ruhig, ich sehe es mir unten an.“ Hauchte er, was mich dazu veranlasste, meinen Körper zu versteifen. Himmel, Cirillo´s Stimme war so... rau! Sein tiefer Ton vibrierte über meine Brust und sein Atem strich über mein Ohr, sodass sich meine Haare zart bewegten.
Plötzlich begann der Engel auch noch, sanft meinen Rücken mit dem Daumen zu streicheln, so als ob er versuchte, mich zu beruhigen. Wenn er wüsste, dass dies meine irrationalen Empfindungen bloß noch schlimmer machten, würde er mich sofort von sich fortstoßen. Davon war ich überzeugt! Immerhin ist er ein Throne. Throne... töten doch Nephilim, richtig? Sie verabscheuen sie...
Nur, dass ich nicht die Art von Nephilim war, wie er dachte. Mein Vater war kein abartiger Dämon. Er war... etwas ganz anderes. Etwas Reines, Machtvolles. Wie gerne würde ich ihm das sagen! Cirillo klar machen, dass ich keine Dämonenbrut war, sondern der Bastard eines Erzengels. Ob es die Sache besser machen würde?
Nein. Ganz bestimmt nicht, deshalb schwieg ich auch besser. Erst musste ich mehr erfahren.
„Kannst du noch laufen?“ Ich bemerkte erst jetzt, dass wir unten ankamen. Instinktiv wollte ich ja sagen und mir ein Stückchen Würde bewahren, doch als ich versuchte aufzutreten, nachdem wir den Käfig verlassen hatten, wurde ich eines besseren belehrt. Ich schüttelte den Kopf. „Na gut.“ Cirillo überraschte mich, als er seinen Griff änderte und mich blitzschnell auf seine Arme hob. Erschrocken, da mich die willkürliche Angst befiel, jeden Moment fallen Gelassen zu werden, klammerte ich mich mit beiden Armen an Cirillo´s Nacken. Erst, als er los eilte, wurde mir bewusst, dass der Engel nicht vorhatte mich fallen zu lassen. Er trug mich sicher in seinen Armen.
Irritiert davon, musste ich einfach nachfragen. „Hast du nicht erst gejammert, dass ich ungewöhnlich schwer bin, wegen meinen übergroßen Flügeln?“
Cirillo schnaufte und eilte weiter, ohne außer Atem zu kommen. „Die Muskeln der Flügeln haben kaum etwas mit der Kraft zu tun, welche in unseren restlichen Körpern steckt. Ich könnte körperlich noch drei von dir tragen, doch meine Flügel erlauben es mir nicht, großartig viel mehr, als mich zu tragen.“
„Wieso nicht?“ Die Frage entschlüpfte meinem Mund, ehe ich sie überdenken konnte.
„Es ist die Flügelform. Sie entscheidet worin deine Stärken im Flug liegen.“
„Und was sind deine Stärken?“ Himmel, ich konnte einfach nicht aufhören! Jemand sollte mir den Mund zukleben. Wieso frage ich ihn das alles?
Cirillo schwieg seinerseits für einen Moment, weshalb ich annahm, dass er nichts mehr dazu sagen würde. Stattdessen jedoch, fuhr er fort! „Ich bin sehr wendig, weshalb ich auch zwischen hier und der Erde reisen kann. Das ist die Voraussetzung, um ein Throne zu sein.“
War es das? Es kam mir so fürchterlich absurd vor. Um von einer Welt in die andere zu reisen, benötigte man wendige Flügel? „Was noch?“
Er erwiderte meinen neugierigen Blick für einen Moment. Darauf schien er wohl nicht eingehen zu wollen. „Seit wann bist du denn so neugierig?“
Ich deutete auf die Spucke, so wie das Blut auf meinem Hemd, so wie mein Bein. „Seit ich mit irgendeiner Ausscheidung eines Wesens beschmiert bin, das ich noch nie gesehen habe und mein Fuß so wehtut, als sei er gebrochen! Davor wurde ich in einen Sumpf voller ekelhafter Insekten gesteckt und musste mir ein Körperteil von irgend so einem Vieh leihen. Es ist nur natürlich, dass ich wissen will, wofür ich mir den ganzen Scheiß hier angetan habe!“
„Bist du dir eigentlich bewusst, dass du sehr angeekelt von genau diesen Wesen bist, zu denen du selbst gehörst?“
Ich zog einen Schmollmund. „Nur weil ich nicht attraktiv bin, muss ich nicht automatisch potthässlich sein.“ Murrte ich beinahe lautlos. Weder wuchs mir ein Schwanz aus diversen Körperstellen, noch wirkte ich wie ein gerupftes Huhn! Was dachte dieser Idiot überhaupt über mich? „Übrigens, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte... Ich habe überaus wenig mit diesen Wesen gemein, neben denen ich wohne!“
Cirillo schmunzelte überraschenderweise. „Was du nicht sagst.“ So wie er es aussprach, klang es eher, wie eine Beleidigung! Es verwirrte mich, wie Cirillo gleichzeitig amüsiert wirken konnte, doch darauf aufmerksam machte, dass ich ein verabscheuungswürdiges Wesen sei. War das normal? Sind alle Engel so?
„Klappe! Was ist eigentlich mit meinen Schulden? Sind die beglichen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Du hast gewonnen. Dadurch, dass alle auf deinen Gegner gesetzt hatten, gehen sämtliche Gewinne an mich. Das passt den anderen überhaupt nicht. Deshalb muss ich dich auch schnell zurück bringen, ehe einer der Erzengel ein Urteil fällt.“
Mein Herz klopfte aufgeregt. „Ein Erzengel? Es gibt weitere?“
„Natürlich gibt es Erzengel. Es gibt immer welche. Sie führen uns an.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, was ich meinte, war, wie viele es von ihnen gibt? Immerhin sind vor einigen Jahren doch erst welche gestorben. Michael, Uriel und so weiter... Wie werden Erzengel überhaupt ersetzt?“
Cirillo seufzte. „Es gibt immer mehrere dutzend Erzengel. Nicht bloß die handvoll, welche die Menschen kennen.“ Tatsächlich? „Davon einmal abgesehen, gibt es seit dem Verlust der letzten Erzengel, tatsächlich einen Mangel an Erzengel. Bisher war es stets ein ausgewogenes Verhältnis von Erzengel zu Engeln. Darunter dienten immer mindestens drei Throne. Mittlerweile jedoch, haben wir bloß noch drei Erzengel und viele tausende Engel...“
„Und den letzten Throne.“ Ergänzte ich, mitfühlend. Woran das wohl lag?
„Das macht unser Volk nervös. Veränderungen sind... nervtötend.“ Er stöhnte erschöpft. „Deshalb ist es auch besser, wenn die anderen nicht wissen, dass du deine Menschlichkeit großteils erhalten hast.“ Was bedeutete >großteils<? „Sprich nicht mit ihnen. Nie. Ich kann dich höchstens vor den Engeln beschützen, da es keiner wagen würde, sich mit einem Throne zu messen. Einem Erzengel kann ich mich jedoch nicht in den Weg stellen. Solltest du je in den Besitz eines kommen... wird das nicht gut für dich enden. Dagegen kann ich nichts machen.“
Also... beschützt Cirillo mich bereits die ganze Zeit über? „Wa-Was bedeutetet >nicht gut<?“
„Erinnerst du dich an meinem Bruder? Er wollte deine Flügel kaufen.“
Ich gab einen verstehenden Laut von mir. Das also bedeutete es. Man würde an mir experimentieren, um herauszufinden, was mich anders machte. Und dann... Ich dachte an meine Nephilim-Geschwister. Ihnen würde dasselbe Schicksal blühen! „Du-Du wirst doch nicht die anderen auch hierher holen, oder?“ Cirillo konnte meinem Gedankengang nicht folgen. „Ich meine, meine... die anderen, bei denen ich gelebt habe. Du wirst sie doch nicht auch hierher holen, oder?“
Cirillo schnaufte. „Natürlich werde ich das. Das ist die Aufgabe meiner Existenz. Ich beseitige diese abartigen Bastarde, nur wenn sie stark genug sind, nehme ich sie mit hierher, damit sich gelangweilte Engel für einen Moment an deren Kuriosität erfreuen können.“
Verdammt, das klang ja überhaupt nicht gut!

XXII – Geheiligt und verflucht

Sie wollte glatt laut loslachen. Er wirkte so fehl am Platz, als ob er eine Lieferung wäre, die man zufällig und unbeabsichtigt hier abgesetzt hätte, wo sie absolut nichts zu suchen hatte. Seine langen, schlanken Beine, welche nun Form angenommen hatten, hatte er locker überschlagen. Das schwarze Seidenhemd saß eng, um seinen Körper geschlungen. Ein silbernes Kettchen hing um seinen Hals und seinen Kopf umspielte eine dunkle Mähne. Das einzige, was nicht dunkel wirkte, waren seine hellen, rotbraunen Augen, welche seinen Anblick die nötige, dämonische Ausstrahlung verlieh, während seine vollen Lippen schelmisch verzogen waren.
„Was siehst du mich so an?“ Fragte sie, mit vor dem Oberkörper, verschränkten Armen. Sie hatte ihren Körper zur Hälfte von dem menschenähnlichen Wesen abgewandt, doch sein Blick schien sie, trotz allem, an jeden Zentimeter ihrer bedeckten Haut zu treffen.
„Ich bewundere dich bloß. Du bist wunderschön.“ Schleimte der Dämon, sich sicher, dass dieser Nephilim nur ihm alleine gehören würde. Noch gab sie nicht nach. Vielleicht würde sie das auch niemals vollständig, doch das war ihm einerlei. Nichts im Leben bekam man umsonst.
Olympia seufzte entnervt. „Na gut, ehe du noch beginnst ein Loblied auf meinen heißen Arsch zu singen, erzähl mir lieber von Edna Blackbird. Wie habt ihr euch kennen gelernt?“
Der Dämon legte nachdenklich den Kopf schräg. „Wen meinen? Im Moment kenne ich bloß ein heißes-“
„Stopp! Ich meine es ernst, Dämon.“ Drohte sie streng und ging in eine Kampfhaltung, in welcher sie jeden Moment ihre Sense beschwören konnte. Nicht, dass diese ihr auch bloß ansatzweise irgendetwas genutzt hätte. Sie konnte diesem Dämon einfach nichts antun.
Er zog einen Schmollmund. „Ja, ja! Edna... Edna Blackbird... Wie war das noch gleich?“ Er überlegte angestrengt, was Olympia beinahe rasend machte. War es denn wirklich so schwer, einfach das verdammte Maul aufzureißen und ihr zu sagen, was sie wissen wollte? „Ach, ja! Edna, dieser schnuckelige kleine Mensch. Diese Edna meinst du.“ Sie rollte mit den Augen, doch nahm wieder eine gemütliche Position ein, während es sich Luphriam am Sofa gemütlicher machte. „Ehrlich gesagt, bin ich ihr erschienen, kurz nachdem sie hierher gezogen ist. Damals ist sie abends überfallen worden. Sie war ausgelaugt, hatte schwarze Ringe unter den Augen und trug ein Neugeborenes im Arm, während sie den Einkauf schleppte. Raphael hatte mich gebeten, diesen ganz besonderen Menschen einfach nur im Auge zu behalten und das Neugeborene zu beschützen, auf dass ihr niemals etwas zustößt.“ Er lächelte stolz. „Tja, ist es auch niemals, richtig?“
Olympia begann mit dem Fuß auf den Boden zu tippen. „Also hast du dich ihr einfach vorgestellt und sie hat akzeptiert, dass du ein Dämon bist?“
Er winkte ab. „Ach, wohin! An diesem Abend hat der Knacki, sie und das Baby, mit einer Pistole bedroht. Ich bin ihnen zur Rettung geeilt, in der Gestalt eines gewaltigen Hundes. Der Vollidiot hat erst dreimal auf mich geschossen, ehe er sich in die Hose machte und weg lief.“
Das war überraschend, doch klang nicht unbedingt unaufrichtig für Olympia. Menschliche Waffen waren lediglich für niedere Dämonen eine Bedrohung und selbst dafür, mussten sie gesegnet sein. „Wie hat Edna darauf reagiert?“
„Sie war nervös und hat mich gefragt, ob ich der Gesandte von Raphael sei.“ Plötzlich begann der Dämonenfürst, amüsiert loszulachen. „Kannst du dir das vorstellen? Ich? Der Gesandte eines Engels? Natürlich habe ich sie sofort ausgebessert und ihr erklärt, dass Raphael mein Geliebter gewesen ist, nicht mein Boss. Danach hat sie mich zu sich eingeladen und mir zu Essen gegeben. Übrigens, keine Bolognese kam je an die von Edna ran!“ Fügte er hinzu, als sei dies überaus wichtig. „Nun ja, zumindest so lange, bis der Schuss in ihrer Schüssel eintrat.“
Nun war Olympia doch so sehr von der Geschichte gefesselt, dass sie den geklebten Stuhl abräumte und sich vorsichtig darauf setzte. „Man hat ihr bei uns ja nicht wirklich etwas davon angemerkt, doch ich weiß von meiner Mom, dass Edna ziemlich Gaga gewesen sein muss. Was hatte es damit auf sich?“
Ein gefährliches Lächeln zeichnete sich auf Luphriam´s Lippen ab. „Ach, möchtest du nun etwa deine Freundin ausspionieren? Für so bösartig hätte ich dich gar nicht gehalten.“
Sie kniff die Augen verärgert zusammen. „So ist es doch überhaupt nicht! Aber es wäre schon schön zu wissen, ob das meiner Mutter auch passieren kann, oder einer der anderen.“
Luphriam winkte achselzuckend ab. „Tja, wenn ich das bloß wüsste...“ Er seufzte theatralisch. „Weißt du, ein Dämon hat es so schwer im Leben. Wir existieren im Grunde lediglich auf der Grundlage, dass wir bösartig sind. Es ist meine Aufgabe das übelste aus dem Menschen heraus zu bringen...“
„Also ist sie wegen deiner Anwesenheit verrückt geworden!“ Schoss es Olympia durch den Kopf, doch bekam wieder einmal dieses nervige, freche Lächeln, welches ihr verdammtes Herz zum Stolpern brachte. Verdammter Dämon!
„Setz dich doch zu mir und finde es heraus.“ Bot Luphriam schelmisch an.
Angeekelt verzog sie das Gesicht und verschränkte abermals die Arme vor dem Oberkörper. Vor allem jedoch deshalb, um nicht sofort über den Tisch zu springen. „Ich verzichte. Sprich einfach weiter.“
Luphriam´s Blick wurde noch dunkler, während er eine Hand zu seinem artig zugeknöpften Hemd führte und damit begann, mit dem ersten Knopf zu spielen. „Sag bloß, es interessiert dich nicht, was mein Luxuskörper für dich zu bieten hat, Liebes.“
Olympia sah rot! Nicht bloß, da er dabei so verdammt sexy wirkte, sondern weil er einmal mehr auf ihrem Geduldsfaden herum trampelte. „Nenn mich nicht so! Ich habe absolut keinen Bezug auf dich. Und dein... ach so toller Luxuskörper, interessiert mich einen verdammten Scheiß!“ Hastig wandte sie den Blick ab, noch ehe der oberste Knopf aufgesprungen war.
„Wie schade... Dabei dachte ich eben, da wir uns ja offensichtlich so gut verstehen, das wir uns endlich näher gekommen wären.“
„Niemals!“ Beharrte Olympia, sich an ihrem letzten Funken Stolz festklammernd. „Außerdem interessierst du mich kein Stück. Ich stehe jetzt nur noch Frauen.“
Etwas in ihrem Augenwinkel änderte sich, als sie das Gesicht wieder Luphriam zuwandte, saß dort eine Frau, welche gut und gerne, seine Zwillingsschwester sein konnte. Halblanges, gewelltes Haar, lief ihr, körperbetont hinab, wie schwarzes Wasser. Das enge Kleid spannte sich um pralle Brüste, lief an der Taille eng zusammen und endete am Ansatz zu unfassbar langen Beinen.
„Zur Hölle, wie hast du das denn gemacht?“
Die Frau spielte verlockend an ihrem Brustansatz herum. „Für dich kann ich alles sein, was du willst, Baby.“
Angeekelt und im gleichen Maße schockiert, verzog Olympia das Gesicht abermals. Nun ja, wenigstens lenkte sie nun sein verdammter Körper nicht mehr so ab, wenngleich sie sich in ihrer Weiblichkeit angegriffen fühlte. Niemand konnte so perfekte Brüste haben! „Himmel, bist du ekelhaft. Aber es ist zumindest einmal ein Anfang. Jetzt erzähl endlich weiter. Was war mit Edna´s Verstand?“
Luphriam´s weibliche Version, zog einen beleidigten Schmollmund, mit ihren viel zu großen Schlauchlippen. Wer stand schon auf so etwas? „Wieso willst du nicht mit mir spielen, Olympia? Komm schon...“ Sie rutschte von der Bank und begann damit, sich auf dem Tisch zu rekeln, von dem Olympia stark annahm, dass er schon bald einknicken würde. Zu ihrer Enttäuschung jedoch, blieb er heil. „...ich könnte dir so viele lustvolle Stunden bereiten, ehe die Sonne aufgeht. Vergeuden wir diese doch nicht mit reden.“
„Nein! Ich will das wissen, Luphriam! Und... Und hör auf an deinen falschen Brüsten herum zu spielen! Das ist irritierend.“ Fauchte sie ihn ärgerlich an.
„Oh, gefallen sie dir? Oder sollen sie eher klein sein?“ Plötzlich veränderte sich die vollbusige Frau in ein Mädchen, in Olympia´s Alter. Die Haare waren immer noch pechschwarz, doch statt weiterhin lang und wellig über ihren Rücken zu fallen, bündelten sie sich zu zwei Zöpfen und über ihre Stirn ergossen sich ein Pony. Ihre Augen behielten dieselbe dunkle Röte bei, so wie das Gesicht gleich blieb, doch ihr hautenges Kleid, wechselte zu engen Shorts, einem großen Schlabbershirt und gespannten Hosenträger. Plötzlich ploppte eine Kaugummiblase aus ihrem Mund. Luphriam saß nur noch Zentimeter von Olympia entfernt, auf dem wackeligen Wohnzimmertisch, mit gespreizten Beinen und den Armen vor sich abgestützt. „Was sagst du zu dieser Gestalt? Sie passt doch viel besser zu dir, richtig?“
Olympia brachte vor Unglaube, kein einziges Wort heraus. So etwas war doch nicht... Wie machte der Dämon dies bloß? Er änderte einfach mühelos sein Aussehen! Das war... das war doch nicht normal!
„Oh komm schon, Olympia. Spiel ein bisschen mit mir.“ Die weibliche, junge Version von Luphriam, lehnte sich vor und streichelte zärtlich über Olympia´s Schenkel. „Du bist doch extra dafür hier geblieben. Die... ganze... Nacht.“
Olympia war wie paralysiert. Das Mädchen vor ihr, ähnelte Luphriam so abartig stark, dass sie ihm einfach nachgeben wollte, doch gleichzeitig stand da ein absolut fremdes Mädchen vor ihr, welches vorher noch zwei andere Gestalten gehabt hatte. Das war... einfach zu viel! Sie wusste nicht wohin mit ihren verwirrenden Gedanken und Empfindungen. Jeder Zentimeter Haut, welchen er mit seinen weiblichen Händen berührte, glühte! Ihr Kopf wurde überflutet von Reizen und als dann auch noch seine Lippen auf ihrem blanken Schenkel landeten... Sie stöhnte.
Seine Berührungen taten ihrer ausgehungerten Seele so gut. Nur in seiner Nähe konnte sie sich so gut fühlen, zumindest wenn ihr Kopf nicht gerade lauthals schrie, wie falsch das alles doch war. Seine zarten Hände auf ihrer Haut wurden größer. Die glatte Wange begann wohlig über ihre eigene, empfindliche Haut an der Innenseite der Schenkel zu kratzen und ein raues, stöhnen, ließ sie beinahe im Stuhl dahin schmelzen. „Du riechst so gut...“ Das war jedoch nicht mehr die weibliche, junge Stimme von vorhin, sondern die von dem Luphriam, welche sie als Erstes kennengelernt hatte. Erschrocken fasste sie in sein halblanges Haar und krallte sich hinein, als seine Zunge plötzlich in Kreisen über ihre Haut tanzte.
„Scheiße! Wieso bist du wieder...“
Zart kniff er sie in die weiche Haut ihrer Schenkelinnenseite. „Jetzt wo ich dich berühre, kann ich die Form annehmen, welche dich am meisten anspricht.“ Selbstzufrieden deutete er an sich hinab. „Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen.“
Schlagartig kehrten Olympia´s Sinne zurück. Sie sprang vom Stuhl, sodass er nach hinten umkippte und brachte so viel Abstand, wie nur möglich war, zwischen sie beide. „So! Das ist nahe genug. Ich habe bloß versprochen die Nacht hier mit dir zu verbringen. Bis morgen die Sonne aufgeht. Zu mehr werde ich mich niemals hinreißen lassen! Niemals!“
Wenngleich sie ihn dermaßen ablehnte, konnte Luphriam nicht anders, als selbstzufrieden zu lächeln. Einzig der Körperkontakt zu ihr, hatte gereicht, um ihre tiefsten Sehnsüchte und Ängste wahrzunehmen. Zuckersüß... Er leckte sich gierig über die Lippen. Von diesem Spiel konnte er niemals genug bekommen! „Liebste, ich bin ein Dämon. Was wäre ich unfähig, wenn ich nicht zumindest ein wenig mit dir spiele?“
„Du wärst zumindest ein angenehmerer Zeitgenosse!“ Schrie Olympia halblaut und hasste sich für diesen jämmerlichen Klang in ihrer Stimme. Sie musste sich dringend zusammen reißen, wenn sie diese Nacht überstehen wollte.
Für einen Moment schien Luphriam seine Optionen tatsächlich abzuwägen, doch schlussendlich winkte er dennoch ab. „Ach, wem bleibt schon ein >angenehmer< Zeitgenosse in Erinnerung? Ich will, dass du nachts wach liegst und dir den Kopf über mich zerbrichst.“ Er kam innerhalb eines Wimpernschlages auf sie zu und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. „Du musst endlich akzeptieren, dass das Schicksal zu meinem Gunsten entschieden hat, Liebste. Vielleicht mögen dir zweitausend Jahre lange vorkommen... jedoch für mich ist es nicht mehr,... als ein Atemzug. Heute bist du noch da... aber was wird morgen sein? Wenn dich einer meiner Artgenossen tötet? Oder du einem Throne zum Opfer fällst?“
Olympia´s Herz schlug wie verrückt. Ihr Blick war von seinen seidig weich wirkenden Lippen wie gebannt, welche sich wenige Zentimeter von ihr entfernt, bewegten. Bloß die Worte, welche daraus hervordrangen, gefielen ihr ganz und gar nicht! Sie und ein Dämon? Der Abkömmling eines Engels, so wie der, des Teufels...
„Ich spüre den Konflikt, dem du eben versuchst zu entkommen, Olympia. Hör auf damit. Lass es einfach zu. Dir kann nichts passieren.“ Konnte das wirklich sein? Einfach so, nachdem Olympia doch jahrelang nichts anderes getan hatte, als zu kämpfen und sich zu verbiegen? Für ihre früheren Schwärmereien hatte sie so getan, als sei sie nicht taff und mehr >mädchenhaft<. Für Calyle hatte sie sich überhaupt nicht verstellen müssen, doch sich so sehr, um seine Gunst bemühen, dass sie sich kaum vorstellen konnte, sich keine Mühe mehr für denjenigen zu geben, zu dem sie sich hingezogen fühlte.
Andererseits, wenn sie es anders herum betrachtete, in die Rolle des Dämons schlüpfte, tat er im Grunde nichts anderes, als sie. Stets waren da Erwartungen in ihrem Rücken gewesen. Sei stark. Lerne schnell. Alle Dämonen sind böse! Wie kam es dann... dass dieser Dämon kein bisschen >bösartig< auf sie wirkte? War das ein Zauber, den bloß er auf sein Opfer auferlegen konnte?
Bedauernd richtete sich Olympia´s Blick zu Boden. „Ich kann doch meine Gefühle nach belieben an und aus stellen, Luphriam. So ticke ich nicht.“
Sein Daumen strich zart über ihre Unterlippe, während seine andere Hand in ihren Nacken glitt. „Dann stell sie nicht ab, Olympia. Gib dich ihnen einfach hin. So schwer ist das nicht.“
Ein Dämon, welcher behauptete ein Profi für Gefühle zu sein? Beinahe hätte Olympia laut losgelacht. Das war absolut lächerlich! „Du bist ein Dämon, du kannst das nicht verstehen.“
Einladend deutete der Dämon in die Wohnung. „Dann lass uns erst einmal versuchen. Schätzchen, wir haben die gesamte Nacht zeit, schon vergessen? Heute Nacht kannst du sein, wer du möchtest, Sachen erfahren, über die ich niemals sprechen würde, oder mir selbst Dinge erzählen...“ Sein Grinsen wurde schmutziger. „Besonders über Dinge, die du im Bett magst, würde ich sehr gespannt lauschen.“
Angewidert stemmte sie die Handfläche in sein Gesicht, bloß damit er nicht noch näher kam.
„Würg! Aber wenn du es schon zur Sprache bringst, dann würde ich viel lieber über alldas sprechen, von dem wir offensichtlich keine Ahnung haben, selbst als Nephilim.“
Luphriam leckte über ihre Handfläche, weshalb sie diese hastig wieder einzog. „Na gut... Dafür verdiene ich jedoch etwas. Immerhin muss ich gegen meine Instinkte arbeiten!“
Olympia ahnte schon, worauf das hinaus führen würde... „Ich schlafe ganz bestimmt nicht mit dir!“
Luphriam lachte. „Keine Angst, Liebste. Das heben wir uns für einen passenderen Moment auf. Nicht dass bei deinem Geschrei noch die Nachbarn hinein platzen und ein Trauma bekommen.“
Hochrot wollte Olympia nichts lieber, als diesem Dämon ins Gesicht zu schlagen, doch ihre Faust weigerte sich einfach! „Gut. Was dann?“ Spie sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen aus.
„Einen schlichten und einfachen Kuss.“
In Olympia´s Magen rumorte es. Ein Kuss? Simpel und ohne Erwartungen. Ihr Blick fiel erneut auf Luphriam´s einladenden Lippen. Zum Teufel, dass würde nie und nimmer lediglich ein >Küsschen< sein! „Au-Auf die Wange!“ Entschied sie, im Wissen, dass alles andere ihr Untergang wäre.
Luphriam´s Gesichtsausdruck wurde trüber. „Kein Verhandeln mehr, Liebste. Ein Kuss und ich höre für die restliche Nacht bloß noch auf dein Wort.“
Überrascht zuckte Olympia´s Blick wieder hoch. Nur auf ihr Wort? Er würde alles sagen und tun, was sie befahl? Lediglich für einen simplen Kuss? „Einverstanden!“ So schnell war sie auch bereits einen Deal mit einem Dämonenfürsten eingegangen.
Luphriam strahlte über das gesamte Gesicht und entließ Olympia wieder aus seinem sanften Griff. „Sehr gut!“ Rief er begeistert aus und drehte sich um, um zurück zur Bank zu gehen.
„Mo-Moment, was tust du?“ Olympia war so verblüfft über seine plötzliche Entfernung, dass sie überhaupt nicht bemerkte, wie sehnsüchtig ihre Stimme klang.
„Ich mache es mir bequem.“
„Wozu?“ Sie folgte ihm zwar, doch ließ den kleinen Kaffeetisch zwischen ihnen, als Barriere.
„Nun ja, ich habe mir einen Kuss von dir verdient. Und wir wollen ja nicht, dass einem von uns die Beine schwach werden.“ Zwinkernd ließ er sich auf das Sofa fallen und machte es sich tatsächlich bequem. Dann klopfte er auffordernd auf seinen Schoß. „Na komm.“
Olympia verzog einmal mehr das Gesicht. Sie konnte nicht glauben, zu was er sie da nötigte. „Waren deine Worte nicht >simpel und einfach<? Was soll das also?“
Den Teufel würde sie tun und sich auf seinen Schoß setzen! Wie alt war sie denn? Fünf?
„Nichts, ich will doch bloß auf Nummer sich gehen, für den Fall, dass dich die Leidenschaft doch noch übermannt.“
„Luphriam!“ Brauste Olympia auf. Unsinn. Schluss mit dem Scheiß! Olympia würde mit Luphriam ein für alle Mal abschließen. Ein >Küsschen< und das wäre beendet. Körperliche Anziehung wird man los, indem man entweder auf sie eingeht, oder sie auf etwas anderes projiziert. Da Option >B< leider nicht zur Verfügung stand, gab Olympia nach. Sie schluckte ihren Stolz hinunter, ging um den Tisch herum und baute sich vor dem Dämon auf. „Setz dich ordentlich hin, ich werde mich nämlich nicht dazu herab lassen und auf dir herum krabbeln!“
Er zog einen Schmollmund. „Nicht einmal, wenn ich mein Hemd ausziehen würde?“ Bot er charmant an, was Olympia beinahe sich selbst gegen die Stirn schlagen gelassen hätte. „Das Hemd bleibt an!“
„Spaßbremse.“ Kicherte Luphriam, dann rutschte er vor und sah erwartend zu ihr auf. „Dann leg mal los, Liebste.“
Nur ein Kuss, sagte sich Olympia. Ein einziger, dann würde sie nicht mehr, als das Gespräch zu ihm suchen. Damit wäre das alles abgeschlossen! Sie strich ihre nach vorne fallende Haare zurück, schloss die Augen und ließ ihren Mund grob auf seinen fallen. Im Grunde hätte sie diesen >Zusammenstoß< niemals als >Kuss< bezeichnet. Olympia spitzte weder die Lippen, noch versuchte sie irgendetwas zu finden, während sie sich eisern dazu zwang, so schnell wie irgendwie möglich, wieder aus Luphriam´s Reichweite zu kommen.
Wie jedoch zu erwarten, rebellierte ihr eigener Körper gegen ihren wohl durchdachten Plan! Kaum waren ihre Lippen auf die von Luphriam geprallt, explodierte ein Blitz exakt an dieser Stelle, glitt knisternd über ihre Haut und verteilte sich bis hinab in ihre kleine Zehe.
Sie spürte ein Lächeln auf Luphriam´s Mund, als Olympia es nicht schaffte, sich von ihm zu lösen. Zärtlicher glitten seine Lippen über die ihren, ohne dass er sie auf irgendeine andere Weise berührte. Schnell breitete sich eine wohlige Wärme in Olympia aus. Diese erfüllte nicht bloß ihr rot werdendes Gesicht, sondern auch ihren Bauch und ihre Brust. Wie, gefüllt mit Millionen kleinen Flügeln, schauderte es in ihrem Magen, etwas das sie in dieser Weise noch nie erlebt hatte. Gedanken, welche sie niemals über einen Dämon hatte denken wollen, schossen ihr durch den Kopf. Nach was schmeckten seine Lippen? Wieso waren diese so weich? Woher kam dieser wohlige Geruch, welcher ihre Lungen durchströmte und sich unwiderruflich in ihr einbrannte. Was war das, was sie da empfand? Hatte tatsächlich das Schicksal Olympia und Luphriam als perfekt zusammen passend befunden? Und falls, ja... wieso hatte es dann Raphael zuvor in Luphriam´s Leben gegeben? Konnte man mehr, als bloß eine große Liebe haben?
Ehe sie es bemerkte, liefen Tränen Olympia´s Wangen hinab. Zärtlich fing Luphriam diese ab, sobald er die erste schmeckte, und zog ihren Leib auf seinen Schoß. So voller Kummer wollte er Olympia nicht erleben. Nicht, wenn sie sich doch bloß eine Sekunde zuvor, absolut überwältigt gefühlt hatte. Auf eine ausgesprochen gute weise. „Was hast du?“ Fragte er und streichelte tröstend durch das Haar, welches sich nie zu einem Zopf bündeln lassen wollte.
In diesem Moment kam Luphriam Olympia so menschlich vor, dass sie doch tatsächlich vergaß, woher diese Kreatur ursprünglich stammte. „Wie konntest du einen Engel liebe, Luphriam?“ Fragte sie und sah ihm dabei in die, verräterisch, rötlichen Augen. „Engel gehen doch nicht in die Hölle... Noch mischen sie sich hier in die menschlichen Belange ein. Wie also konntet ihr euch treffen? Und lieben trotz... trotz all der Widersprüche?“
Luphriam lehnte sich zurück und sortierte, scheinbar gedankenverloren, ihr Haar. „Das ist eine gute Frage... Aber vorweg, Engel mischen sich vielleicht nicht in die Probleme der Menschen ein, doch sie benutzen diese gerne, um ihre eigenen zu lösen, insofern es möglich ist.“
Olympia verstand, was er damit sagen wollte. Die Lebensdauer eines Engels ist begrenzt. Nicht so sehr, wie die eines Menschen, aber zumindest ein Nephilim konnte dem besagten Engel, ein wenig mehr Lebenszeit bescheren. „Das heißt... Mein... Mein Vater könnte die Kontrolle über meinen Körper übernehmen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Es ist bloß noch seine Energie da. Seine Macht und ein Teil seiner, ach so heiligen, Göttlichkeit. Dein menschlicher Körper wäre viel zu schwach, um einem Engel Zuflucht zu gewähren.“
Sie nickte verstehend. „Und Raphael? Wie habt ihr euch kennen gelernt?“
„Nun ja, wie du vermutlich weißt, können Engel nicht in die Hölle hinab steigen, oder Dämonen in den Himmel. Wenn sie einmal zusammen stoßen, führt das meist zu einer Umweltkatastrophe... Wir besitzen nämlich zwei extreme Energien... Wie Pole, welche einander abstoßen und bloß die Menschen können dazwischen leben. Kommen wir einander zu nahe... dann staut sich etwas in der Atmosphäre auf, was wir jedoch nicht beeinflussen können. Sobald einer von uns beiden stirb, reagiert die Natur darauf. Das kann von ungewöhnlichen Wetterphänomenen bis hin zu Überschwemmungen führen.“
„Das heißt, du und Raphael habt ebenfalls für solche Reaktionen gesorgt?“
Er lächelte. „Nein, natürlich nicht. Sonst würde dies ja bedeuten, dass einer den anderen umgebracht hat. Nein, zwischen Raphael und mir, gab es diese Abstoßung nie. Ganz im Gegenteil, wir hatten das Gefühl, als können wir einander vertrauen. Sämtliche Sorgen waren augenblicklich von uns abgefallen, obwohl wir erkannten, dass wir Gegner waren.“
„Also wandern Engel doch auf der Erde? Uns wurde gesagt, dass bloß Throne für Ordnung und Cherubim für Sicherheit sorgen.“
„Manchmal taten sie es. Früher häufiger, als heute... Aber das ändert sich immer mal wieder, je nachdem, was dort oben bei ihnen los ist. Wie auch bei Menschen und Dämonen, kommt es bei den Engeln genauso zu Krieg und Unstimmigkeiten. Dann überschreiten sie bereitwilliger die Grenzen, obwohl sie wissen, dass es nicht gut für diese Welt ist, wenn wir das alle tun.“
„Wieso nicht?“
„Du musst es dir... wie, zwei verschiedene Saucen vorstellen. Eine schmeckt nach Kirsch, die andere nach Zwiebeln . Jede Sauce für sich, schmeckt zum jeweiligen Gericht hervorragend. Mischt du sie aber, versauen sie einfach alles. Deshalb und unter anderem, können Dämonen genauso wenig in die Welt der Engel reisen, selbst wenn wir direkt vor einem Portal stünden, wie diese in unsere. Die Menschen, sind in diesem Beispiel das Gericht und können hinein in diese Welten reisen, oder etwas zu sich holen. Jedoch einen Engel, direkt neben einem beschworenen, höherrangigen Dämon zu rufen, würde unweigerlich dazu führen, dass der Kosmos implodiert.“ Er machte mit seinen Händen eine passende Geste, während er >Puff< sagte. Olympia verstand jedoch auch so, dass der Dämon einen Tick übertrieb.
„Was hat Raphael denn überhaupt auf der Erde gemacht?“
„Experimentiert.“ Antwortete Luphriam, nicht gerade aufschlussreich.
„An was?“ Zog sie ihm weiterhin aus der Nase.
„An... Dämonenmischlingen.“
Sie zog verblüfft ihre Brauen hoch. „Was sind das?“
„Nephilim, wie du einer bist.“
So ein Blödsinn... „Nein, Nephilim sind Kinder von Engeln und Menschen.“
„Oder Dämonen und Menschen. Nephilim ist lediglich ein Überbegriff... wie Menschenaffe. Bitte verzeih den Vergleich.“
„Also können Nephilim auch die Kinder eines Dämons sein... gezeugt mit... mit einem Menschen? Wie viele von ihnen gibt es?“
Luphriam zuckte mit den Schultern. „Ich selbst habe keine gezeugt. Dämonen prahlen damit auch nicht wirklich, doch es könnten schon ein paar Handvoll sein. Throne jagen deshalb auch sie, da sie Mischlinge sind. In deren Augen, muss alles rein bleiben. Eine Vermischung der Arten, verstößt gegen so etwas... wie ihre heiligen Gesetze, oder so. Jedenfalls, ist es eine Todsünde... Zumindest, für den entstandenen Nephilim.“
Throne, die Richter über das, was nicht rein ist. Manche Texte sprechen sogar darüber, dass ausschließlich Throne eine verfluchte Seele reinigen können und den Teufel austreiben. In Olympia´s Ohren klang das jedoch, ein wenig zu melodramatisch.
„Okay, weiß das die Kirche? Also, dass nicht alle Nephilim von Engeln abstammen?“
Luphriam zuckte unwissend mit den Schultern. „Im allgemeinen vermeide ich es, mich etwas das auch bloß ansatzweise ein heiliges Objekt besitzt, zu nähern.“ Dies wiederum, verstand sie bloß zu gut. Luphriam war nicht deshalb so alt geworden, weil er leichtsinnig ist. Ganz im Gegenteil... Als Dämon musste man dafür ziemlich viel auf dem Kasten haben.
„Woher wissen die von der Kirche dann, dass wir von Engeln abstammen?“
„Nun ja, du bist eine Engelswaffen schwingende Superheldin... Nicht geringeres erwartet man von einem geheiligten Nephilim.“
„Aber du wussten dies ja bereits, als wir noch nicht geboren waren. Woher kommt diese Sicherheit?“
„Erstens, ist die Dauer der Geburt eines verfluchten Nephilim, genauso schnell durch gemacht, wie die Geburt eines geheiligten Nephilim, lange andauert. Meist geschieht es innerhalb von drei Tagen. Die Mutter... überlebt im Grunde nie und wenn, dann hat sie ein mordsmäßiges Trauma. Das Neugeborene geht dann vermutlich an das Amt über, oder was weiß ich, wie die Bürokratie der Menschen funktioniert. Dann altert das Kind, wie jedes andere, auch so wie ihr. Das haben beide wiederum gleich. Während sich die Gaben den geheiligten Nephilim bereits im jungen Alter, zusammen mit der Pubertät bilden, treten die der verfluchen Nephilim, erst nach und nach, im zunehmenden Alter auf. Falls sie überhaupt so lange überleben, denn verfluchte Nephilim... Nun ja, sie ziehen das Unheil und den Kummer an, so wie ihr geheiligten... strahlt.“
„Wir strahlen doch nicht!“ Empörte sich Olympia. Was für ein bescheuerter Vergleich.
„Für uns Dämonen schon. Sobald eure Gaben auftreten, beginnt ihr hell zu leuchten und riecht...“ Er sog tief Olympia´s Geruch ein. „...einfach schmackhaft. Kein niederer Dämon kann sich von euch fern halten, sobald er eure Witterung aufgenommen hat. Dazu sind sie nicht fähig und sterben im besten Fall daran.“ Olympia war nie bewusst gewesen, dass sie so anziehend auf Dämonen wirkten. „Auf Cherubim haben verfluchte Nephilim übrigens einen ähnlichen Effekt.“
Verblüfft horchte Olympia auf. „Was? Wie das?“
„Wie gesagt, verfluchte Nephilim ziehen das Unheil an... Sie setzen sich und ihr Umfeld stets einem gewissen Risiko aus und Cherubim werden von diesen Energien angezogen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, oder Erinnerungen zu löschen, von Dingen, die Menschen nicht sehen sollten. Ein verfluchter Nephilim hat stets den Instinkt, den Cherubim auszulöschen, so wie ihr es bei uns Dämonen fühlt.“
Ohne sich darüber bewusst zu sein, sprach Olympia darauf los und wünschte sich nichts sehnlicher, als dies ungeschehen zu machen. „Aber bei dir hatte ich nie dieses Bedürfnis. Ich wollte dich töten, ja weil du ein Dämon bist... Aber... Aber du >fühlst< dich schon... irgendwie anders... an, als die anderen Dämonen zumindest.“ Zum Teufel, was sagte sie da bloß?
Selbstzufrieden lächelnd, streichelte er ihr Bein hoch und runter. „Ach und wie fühlt sich das an?“
Wieder verärgert, kniff Olympia die Augen zusammen und schob seine Hand fort. „Lass das! Wir sagten >reden<.“ Belehrte sie ihn augenblicklich.
„Schon gut, ich wollte bloß mal nachfragen. Scheinbar geht es dir ja wieder besser.“
Besser? Hastig wischte sie noch einmal über ihre feuchten Wangen. Stimmte ja, Olympia hatte plötzlich zu weinen begonnen. Nur warum noch einmal? Dumme Gefühle!
„Bleib beim Thema, Luphriam.“
„Na gut, was möchtest du denn noch wissen?“
„Hm... Zum Beispiel, was genau Raphael an den verfluchten Nephilim erforschte.“
„Wie sie erschaffen werden können, natürlich. Weißt du, auch Engel besitzen ein wenig von dem Talent der Schöpfung. Auch sie können Dinge >erschaffen< nur mit dem Unterschied, das dies stets in einem Desaster endet. Engel sind zwar ausgesprochen neugierig, doch leider... nicht sonderlich talentiert. Im Grunde besteht ihre Daseinsberechtigung... aus kaum etwas anderem, als den Tod zu bringen.“
„Meinst du damit, nicht eher Dämonen?“ Zog sie Luphriam auf.
„Nein, Dämonen bestrafen. Engel richten.“
„Das ist doch dasselbe.“ Widersprach Olympia.
„Wieder falsch, unwissender, kleiner Nephilim. Engel sind so etwas... wie die Jury der Himmelspforten. Wird ein Bewerber zurückgewiesen, landet er bei uns in der Hölle und wir dürfen die Strafen vollziehen. Das ist der viel lustigere Job.“
Was man daran als >lustig< definieren durfte, war wohl auch bloß einem Dämon verständlich. Olympia überging es getrost. „Wie auch immer... Zurück zu dem >Erschaffen<. Wie können Engel denn eine Lebensform erschaffen?“
Luphriam schenkte Olympia einen auffordernden Blick, so als sei die Antwort auf diese Frage ganz offensichtlich. Er bemerkte jedoch rasch, dass sie nicht einmal auf den richtigen Gedanken kam. „Oh. Na gut, wie erkläre ich das am Besten? Engel sind... sehr, sehr alte und schnell gelangweilte Zeitgenossen. Da ja bekanntlich jeder sein Hobby benötigt und Engel nicht, wie im allgemeinen menschlichen Aberglauben dargestellt, sie ihre Zeit rund um die Uhr damit verbringen, sich um die Menschen zu kümmern, haben sie damit begonnen, Lebensformen zu studieren.“
„Genetik?“ Stieß Olympia ungläubig hervor.
„Nicht alle, aber ein paar wenige Engel, so wie Raphael, waren ganz besessen davon immer mehr und mehr Wissen anzuhäufen. Im Grunde funktioniert es bei den Engeln so, dass die älteren Engel, ihr gesamtes Wissen, an die jüngeren weiter geben. Das bedeutet, dass diese niemals etwas neu entdecken können, oder zumindest immer seltener, was das Leben auf Dauer... langweilig macht, wie ich finde. Somit versuchten, wie ihr Menschen heutzutage ebenfalls, Engel neue Lebensformen zu erschaffen. Dafür musste jedoch erst einmal eine jede bis ins Detail studiert sein.“
„Klingt ja krankhaft.“ Murrte sie.
„Taha! Das findest du krankhaft? Dann solltest du einmal sehen, wie-...“
„Olympia? Olympia, bist du hier?“
Erschrocken fuhr Olympia von der Bank hoch, während Luphriam sich nicht einmal die Mühe machte, einen Finger zu rühren. „Lysander?“ Fragte sie ungläubig.
„Olympia!“ Er kam hinein gestürmt in das Wohnzimmer, bloß um atemlos, zwischen ihr und dem Dämon umher zu sehen. „Was geht hier vor?“ Fragte Lysander lediglich, anstatt auf den Dämon kurzerhand loszugehen.
„Ähm...“ Stammelte Olympia. „Also, siehst du... Haylee hat diesen Deal gemacht und... Ich musste hier bleiben... Nun ja...“
„Ist auch egal. Du musst sofort mit mir mitkommen!“
„Wieso?“ Fragte sie, schon halb am Weg zu Lysander. Wenn er schon so atemlos jemandem Druck machte, dann musste etwas wirklich Furchtbares geschehen sein.
„Halt!“ Luphriam war so schnell auf den Beinen, dass keiner der beiden überhaupt seine Bewegung wahrnahm. „Olympia geht nirgendwo hin. Sie hat geschworen die heutige Nacht mit mir hier zu verbringen. Also egal, um was es geht... Es kann warten. Niemand bricht den Deal mit einem Dämon!“
Lysander ließ sich jedoch nach einem kurzen Blickwechsel, mit Olympia, keinesfalls einschüchtern. Eine der wenigen guten Eigenschaften, welche Olympia auch wirklich sehr an Lysander schätzte, war die Tatsache, dass er bloß selten urteilte. „Dann muss das leider warten. Haylee hat Lucy erstochen und ist dann spurlos verschwunden.“
Olympia klappte ungläubig der Mund auf und zu. „Wi-Wie bitte? Haylee... hat was?“
Luphriam war es überraschenderweise, welcher ebenfalls Partei für Haylee ergriff. „Das würde sie niemals tun. Sie ist Michael´s Nephilim, was bedeutet, ihr liegen die Menschen genauso am Herzen, wie ihm. Selbst wenn sie wollte, könnt sie niemandem etwas antun.“
Lysander warf unwissend die Hände in die Luft. „Ja, was soll ich sonst noch sagen? Das einzige, was ich weiß, ist dass Haylee Lucy das Schwert durch den Körper gejagt hat und alle hysterisch sind. Ehe sie los ist, hat sie mir noch gesagt, wo ich dich finden kann und morgen früh abhole.“
Olympia schüttelte den Kopf. „Was? Wieso solltest du... Ich verstehe kein Wort. Weshalb sollte Haylee Lucy abstechen und dann verschwinden? Das ergibt überhaupt keinen Sinn! Und... so ungern ich Luphriam auch zustimme... Haylee würde Lucy niemals etwas antun wollen.“
„Was weiß ich? Ich war ja nicht dabei. Calyle sagte, sie sei verschwunden und Ryan erzählte irgendetwas von einem Throne. Aber... genug jetzt davon. Wir müssen sofort los!“
Olympia suchte Blickkontakt zu Luphriam, welcher lediglich widerwillig nickte. „Gut, wir vertagen deine Schuld, bis das mit Haylee geklärt ist. Aber dafür hältst du mich am laufenden, verstanden?“
Olympia nickte, dankbar dafür, dass der Dämon so einsichtig war. „Ich danke dir, Luphriam.“ Hastig verringerte Olympia den Abstand zwischen sich und Lysander, drehte sich herum und ließ ihren Blick bis zum Schluss auf den sichtlich geknickten Luphriam liegen. Dann wurde sie von Lysander auch bereits an ein anderes Ende der Welt verfrachtet, dorthin wo Dämonen wieder Ausgeburten der Hölle waren... und sämtliche Nephilim die Welt nicht mehr verstanden.

XXIII - Die Erstgeborene des Erstgeborenen

Schritte hallten durch das menschenleere, einstöckige Haus. Zersplitterte Fenster, so wie umgestoßene Möbel, waren das einzige, was darauf schließen ließ, dass erst noch vor wenigen Tagen Menschen hier absolut friedlich gelebt hatten. Es war eine kleine Familie gewesen. Mutter, Vater und drei Söhne. Sie hatten viel gespart, um sich hier in der Gegend ein Haus kaufen zu können, das wusste das Mädchen. Sie kannte die Preise nämlich nur zu gut. Während der Wohnungssuche hatten sie und ihr langjähriger Freund, in der Umgebung ein preiswertes Zuhause gesucht. Natürlich hätten ihre Eltern zu gerne etwas bei der Suche nach dem eigenen Domizil nur zu gerne, etwas bei gesteuert... Aber dies hatten beide zu vermeiden versucht. Immerhin war es ihr Leben, welches sie zusammen beginnen wollten. Fünf Sechstel des Jahres würden sie beide nämlich abseits ihrer Familie sein. Sie wollten zwar nahe genug, für einen Notfall bleiben, doch bedauerlicherweise hatte das Schicksal, so wie der Mangel an Ersparten, sie beide dazu gezwungen, weiter wegzuziehen, wo sie keinen Kredit aufnehmen mussten.
Überraschenderweise war es den beiden zu gute gekommen. Unter, selbstverständlich, ihrer Anleitung, hatten sie sich ein gemütliches Zuhause geschaffen. Eines, in welchem ihre beiden Charaktere, welche im Grunde sehr unterschiedlich waren, eins werden konnten und harmonierten. So wie sie beide.
„Vorsicht, Splitter, Schatz.“ Warnte sie den athletischen Adonis vor sich.
Mit einem zarten Lächeln auf den Lippen rollte er mit den Augen, ehe er dem bösartigen Splitter auswich. Auch wenn ihn dieser nicht töten konnte... so würde er ihnen beiden dennoch Schmerzen zufügen, sobald sich einer daran verletzte. Das Schicksal von Gefährten. Beide Seelen wurden eins. Körper verschmolzen nicht bloß im Bett zusammen, sondern selbst die eigenen Empfindungen stellten sich rasch aufeinander ein, bis man überhaupt nicht mehr wusste, welcher Körper zu wem gehörte. Sie konnte genauso gut seinen Körper übernehmen, wie er den ihren. Sehen, was er sah, fühlen, was er fühlte... Es war die reinste Droge! Nichts Schöneres gab es auf der Welt für sie beide, als miteinander verbunden zu sein.
Beide wussten. Würde jemals jemand es schaffen, dieses Band zu trennen... keiner der beiden würde es überleben. Der Schmerz wäre zu groß!
„Das Loch ist unten im Keller.“
„Es gibt doch überhaupt keinen Zugang.“ Bemerkte sie ein wenig verstimmt.
„Natürlich muss es den geben.“ Anders hätte man es wohl kaum betreten können. „Vielleicht wurde es vom Vormieter zugemauert?“ Schätzte er und fuhr sich durch das feuchte Haar.
„Das heißt aber, dass wir erst den Zugang öffnen müssten.“ Sie stöhnte genervt, das hatte ihr gerade noch gefehlt. Da wollte man schlicht und ergreifend einen Riss schließen, musste man sich auch noch als Bauarbeiter missbrauchen lassen. „Dabei weihe ich die Schuhe erst ein.“ Meinte sie und deutete dabei auf ihre braunen Sandaletten mit einem schlangenartigen Tiermuster darauf.
Ihr Gefährte streckte seine Hand nach ihr aus, zog sie an sich und küsste sie zart auf die Nasenspitze. „Baby, wenn du mich nicht hättest... Wie wäre es, wenn wir einfach den direkten Weg wählen, meine Schöne?“ Sein Blick glitt zu ihren Füßen, was sie zum Schmunzeln brachte. Tja, warum umständlich, wenn es doch auch einfach ging?
Sie streckte ihre Hand aus und beschwor den in Flammen stehenden Speer, welcher ihr rechtmäßig zustand.
„Das ist meine Katya.“ Lobte Tyrone, welcher um ihr besonderes Geheimnis natürlich wusste. Er hatte es schon immer geahnt. Katya war einfach zu Größerem bestimmt, als bloß die Tochter von Michael zu sein. Erzengel Michael war ein Niemand gewesen. Nichts weiter, als ein gütiger Erzengel, der bloß für das Wohl der Menschen bestimmt war. Katya hingegen, war viel mächtiger als dieser. Sie trug die Mächte des ersten Erzengels in sich. Des einzig, wahren Logos, einem Krieger, welcher Luzifer in nichts nachstand und viele Jahrtausende lang, als die Stimme der Engel gedient hatte, ehe sich die ersten Abtrünnigen gegen ihn wandten.
Strahlend hell, erschien der gläserne Speer, umhüllt von goldenen Flammen, welche er lediglich durch ihre Augen sehen konnte. Alle anderen dachten, dass sie ein Schwert besaß, vor allem deshalb, da sie ihn schwang wie eines. Messerscharf, an jeder seiner Seiten, rammte sie den vordersten Teil mit Gewalt in den Boden und ließ sich die Flammen ganz von selbst in einem perfekten Kreis, einen Weg durch den dunkelroten Laminatboden fressen. Kontrolliert stieß sie seine Spitze tiefer und tiefer, bis sie durch das Steinfundament hindurch war und er in die Leere glitt. Dann erst, vergrößerte sie das Loch, auf den Durchmesser eines Kanaldeckels.
„Lady´s First.“ Bot Tyrone galant an, während Katya die Engelswaffe wieder verschwinden ließ.
„Nein, danke mein Lieber! Ich habe schon die Schwerstarbeit erledigt, dir überlasse ich liebend gerne den Rest. Beeil dich aber, ehe es dunkel wird.“
Tyrone verzog das Gesicht. „Ach, ein Loch in den Boden zu brennen, war also die Schwerstarbeit? Ich muss immerhin einen Riss schließen.“
Sie küsste ihn auf die Wange. „Das machst du schon, mein Großer.“
Sein Herz schmolz davon. Wie konnte man diesem Augenaufschlag, auch je etwas ablehnen? „Du bist gemein.“
Ergeben sprang er hinab, zog sein Handy aus der Hosentasche und machte die Taschenlampe an. Der Keller war nichts weiter, als ein betonierter, staubiger Raum, dessen Treppenende von einer roten Ziegelsteinmauer unterbunden wurde. Hm... Offensichtlich hatte man den Fernseher direkt daran befestigt. Das nannte er mal ein schlechtes Händchen. „Hallo, kleiner Riss! Wo bist du?“ Spottete Tyrone, um sich selbst ein wenig von seiner Nervosität zu nehmen. Eines der wenigen Sachen, die niemand über ihn wusste, war, dass absolute Dunkelheit ihn >etwas< nervös machte. Natürlich wusste Katya es. Solange sie sich jedoch im freien aufhielten, war es bloß halb so schlimm. Hier jedoch... Dieser Raum, bedeckt von Staub, angesammelten Dreck, so wie verwaisten Spinnenfäden, ließen seinen Puls in die Höhe schießen.
Katya bemerkte es sofort und ließ ihren Geist in seinem Kopf erscheinen. So konnte sie ihm zwar in keinem Kampf beistehen, doch für Tyrone war es so, als ob sie sich direkt neben ihm befand und zügelte seine aufkeimende Panik. Nach einer genauen Kontrolle des Bodens konnte Tyrone einen scheinbar beiläufig, entstandenen Kratzer im Boden wahrnehmen. Bestimmt würde es niemanden stören, falls man ihn überhaupt bemerkte. Im schlimmsten Fall, einen Teppich darüber legen, doch die Aura, welche von diesem Riss ausging, war schlicht erschreckend. Dunkle Energie waberte in der Luft, direkt um den Riss herum und würde von Minute, zu Minute immer stärker werden, je näher die Dämmerung rückte. „Ich schließe ihn jetzt.“ Tyrone musste die Worte überhaupt nicht laut aussprechen, da Katya ohnehin fühlte, was er vorhatte, doch es machte Katya´s Anwesenheit für ihn ein Stück realer.
Innerlich schickte sie ihm eine tröstliche Umarmung, Tyrone beschwor eine seiner beiden armlangen Klingen, welche wirkten, als ob sie keiner Belastung standhalten konnten, und rammte ihn in den oberflächlichen Riss. Augenblicklich begann es zu zischen und Funken sprangen über. Einen Moment später, war es einfach vorbei. Der Riss war versiegelt. Die niederen Dämonen, welche kaum mehr Einfluss auf die reale Welt hatten, als ein Geist, würden diesen Durchgang nie wieder benutzen können.
Geschickt sprang Tyrone aus dem Keller, durch das Loch empor und wurde dort von Katya´s, mehr als stolzen Blick erwartet.
„Hi, Schatz.“ Säuselte sie und legte beide Arme um seinen Nacken.
„Danke, Baby.“ Erleichtert ließ er seine Stirn gegen die ihre sinken. Er war sich bewusst, dass Katya ihn nicht dort hinunter geschickt hatte, um ihren Gefährten zu quälen oder zu testen. Sie wusste einfach, dass Tyrone es problemlos meistern würde. Er schaffte, in ihren Augen, einfach alles, was er sich vornahm und dies beeindruckte sie ein ums andere Mal mehr. Dafür liebte sie ihn, wie er seine Ängste in die Hand nahm, sich darauf verließ, dass Katya stets an seiner Seite war, ohne auf ihre Hilfe in erster Linie angewiesen zu sein. Es war einfach dieses gegenseitige Vertrauen, so wie der Respekt, den sie aneinander mehr liebten, als jede noch so süße Geste, die ihnen einfallen konnte.
„Du machst mich einfach stärker.“
„Das muss ich überhaupt nicht.“ Antwortete sie wahrheitsgemäß. „Du weißt, dass ich weiß, dass es schon immer in dir gesteckt hat. Das hole ich lediglich aus dir heraus.“ Sie küsste ihn zart auf die Lippen. „Oder zweifelst du etwa an meiner Führerstärke.“ Zog Katya ihn auf.
„Das würde ich niemals, meine Königin.“ Neckte er sie zurück und rieb seine Nase an ihrer. Noch nie in seinem Leben hatte er so etwas empfunden. Natürlich war zwischen Katya und Tyrone bereits immer etwas da gewesen. Bereits seit sie das erste Mal aufeinander zu gegrabbelt waren, Katya ihm seinen Schnulli geklaut hatte, um ihn sich selbst in den Mund zu stecken. Wenn es Streit gab, standen sie meist instinktiv auf der Seite des anderen. Verletzte sich der eine, wusste es der andere auf irgendeine Art und Weise.
Noch zu genau erinnerte sich Tyrone daran, als er auf einem alten, verwaisten Bauernhof, in einen, durch ein Brett verschlossenen Brunnen gefallen war. Die Jahrzehnte hatten an dem robusten Material gejagt, die darüber aufgestaute Erde, hatte den Rest erledigt. Wieso genau sich Tyrone damals dorthin gewagt hatte, wusste er heute nicht mehr. Die Angst, die beinahe tödliche Panik und Kälte von damals, hatte sämtliche Erinnerungen an den Grund berschattet. Zwei Tage saß er darin.
Natürlich wollte man keinen der anderen Kinder, die gerade einmal sieben JAhre alt gewesen waren, beunruhigen in denen man ihnen sagte, dass Tyrone an der Grenze zum WInter, einfach über Nacht verschwunden war. Erst war er da... dann plötzlich fort, dies hätte das damals noch empfindliche Gleichgewicht der Nephilim durcheinander gebracht, meinten die Mütter. Sie suchten abwechselnd stundenlang, so wie es erst vor wenigen Monaten, bei Edna der Fall gewesen war.
Nur durch einen Zufall erfuhr Katya von Tyrone´s Verschwinden, da man ihnen weiß gemacht hatte, er hätte eigentlich die Masern, weshalb ihn auch niemand besuchen durfte. Sobald sie jedoch Bescheid wusste, änderte sich alles. Katya wurde rasend vor Sorge und sie lief hinaus in die kühle Oktobernacht, barfuß und im Pyjama. Die anderen Nephilim waren geistesgegenwärtig genug, um sich anzukleiden, doch Katya schoss mit ihrem eigensinnigen Kopf einfach davon.
Es dauerte keine halbe Stunde, da fand Katya ihren Bruder, halb erfroren und tiefblau, in einem Brunnen, der von Unrkraut und Erde längst verschluckt worden war. Nur eine kurze Zeit später, saß Tyrone im Krankenhaus, wo man von einem Wunder sprach, dass das Kind überhaupt noch lebte.
Die Mütter sprachen von Gaben.
Tyrone und Katya wussten es jedoch besser... Es war Schicksal gewesen! Katya hatte sich stets kalt gefühlt und in dieser Nacht sogar von einem Brunnen geträumt.
Damals schob man dieses Phänomen auf ihre göttliche Verbindung zueinander. Doch Katya war mittlerweile felsenfest davon überzeugt, dass ihr Herz schon immer mit dem von Tyrone verbunden gewesen sein musste, auch wenn es danach noch viele Jahre gedauert hatte, ehe die beiden zueinandergefunden hatten.
„Soll ich Pfarre Marcus anrufen, oder tust du es, Baby?“ Erkundigte sich Tyrone, nachdem er einen Moment, zusammen mit Katya, in einer gemeinsamen Erinnerung geschwelgt war.
„Ich mach schon.“ Sie entwand ihm das Handy, tippte seinen Code ein und wählte die Nummer von Pfarrer Marcu´s Büro. Natürlich befand sich der geistliche um diese Uhrzeit nicht mehr darin, weshalb sie ihm eine knappe Nachricht hinterließ.
„Guten Abend, Pfarrer Marcus. Es tut mir leid, Sie so spät noch zu stören, aber ich wollte Ihnen bloß bestätigen, dass Tyrone und ich die Flyer für den anstehenden Flohmarkt erfolgreich ausgetragen haben. Ich weiß, Sie sagten, es kann bis morgen warten, aber was erledigt ist, auf das muss nicht mehr gewartet werden, richtig? Ihnen und Ihrer Familie noch einen schönen Abend. Schlafen Sie gut.“ Dann legte sie auf und stahl sich noch einen innigen Kuss von ihrem Liebsten. Kaum berührten sich ihre Lippen, öffnete Tyrone seinen Mund und leckte zart über ihren Lipgloss mit Vanillegeschmack.
Sie grinste, da sie wusste, wie gerne er Vanille hatte, da fühlte sie auch bereits seine warme Zunge an ihrer. Geräuschvoll seufzte sie, fuhr mit ihren manikürten Fingern, durch sein weiches, ebenmäßiges Haar, welches er sich bloß für seine Gefährtin hatte etwas länger wachsen lassen. Er wusste ja, wie gerne sie durch sein Haar strich, sich daran klammerte oder es gar stylte.
Es waren lediglich Kleinigkeiten, doch solange es seinen Engel glücklich machte, würde er sich nicht daran stören.
Tyrone´s Handflächen strichen tiefer, von ihrem Rücken, über Katya´s wohl geformten, festen Hintern, zu ihren Hüften und über ihre Schenkel hinweg, bloß um unter ihr Shirt schlüpfen zu können.
Kichernd hielt sie Tyrone auf halben Weg auf, als dieser ihr Shirt über ihren Bauch schieben wollte. „Nicht hier!“ Schimpfte sie geschmeichelt.
Sie wusste aus seinem Kopf, dass Tyrone so gut wie zu jeder Zeit, an jedem Ort mit ihr schlafen konnte. Er begehrte ihren perfekten Körper, die entzückenden Grübchen an ihrer Wange, wenn sie lächelte, das Strahlen ihrer Augen, wenn ihre Blicke einander begegneten...
„Wieso nicht? Heute Nacht kommt ganz bestimmt keiner mehr ins Haus hinein. Die Eigentümer sind im Hotel...“ Sein Blick streifte über ihren zarten Hals, tiefer zu den sanften Wölbungen ihrer herrlichen Brust. „...und kommen so schnell nicht nach Hause.“ Tyrone lehnte sich vor und küsste Katya´s Schlüsselbein, während er, kehliger als zuvor, weiter auf sie einredete. „Außerdem sind wir bereits seit Wochen kaum alleine. Ständig stört uns jemand, oder wir mussten in den Wald verschwinden.“
Katya schrie erschrocken auf, als Tyrone sie schlagartig an der Taille packte und ihren Hintern auf dem Esstisch absetzte. „Tyrone!“ Schimpfte sie wieder, seinem Charme längst erlegen.
„Katya!“ Raunte er in der Stimmlage zurück, welche ein Feuer in Katya´s Mitte schürrte, von dem sie gedacht hatte, es eigentlich unter Kontrolle zu haben. „Du hast ja keine Ahnung, wie gerne ich deinen beinahe nackten Körper auf diesem Küchentisch vögeln will, bis er zusammen bricht.“
Katya war bereits drauf und dran, sich das Shirt über den Kopf zu ziehen, als sie seine Worte überdachte. „Fast nackt?“ Fragte sie Stirnrunzelt.
Sein Blick glitt ihre ewig langen Beine hinab, zu den neuen Sandaletten, welche sie sich geleistet hatte. „Du sagtest doch, du wolltest sie einweihen, oder?“
Schlagartig war ein Schalter in Katya umgelegt. Sie packte Tyrone im Nacken, da sie wusste, sie brauchte mit ihm nicht zimperlich umspringen, und küsste ihn hart auf den Mund. Stöhnend ließ er sich von ihren Beinen an ihren Schoß ziehen und rieb seine längst erhärtete Erektion an ihrer Skinnyjeans.
Dieser Körper, die Wärme, der Geruch, der Geschmack... All das gehörte zu Katya, wie es auch zu Tyrone gehörte. Sie musste nicht viel darüber nachdenken, was er mochte, wann er wo berührt werden wollte... Da klingelte auch bereits sein Telefon.
Stöhnend zog sie es aus seiner Hosentasche, wohin sie es nach dem Anruf selbst gesteckt hatte, warf es neben sich, auf die Kante des Tisches, weit von sich entfernt und ließ sich zurück auf den Rücken sinken. Tyrone nutzte diese neue Position, um ihr Shirt nun endlich hinauf zu ziehen, während er jeden Zentimeter, der frei gelegten Haut systematisch küsste und streichelte, als könne Katya von nichts anderen überleben, als von seinen Liebkosungen.
In einer fließenden Bewegung schob er den getigerten Bikinioberteil über ihre Brüste und umfasste diese viel gröber, als Katya´s restlichen Körper. Sie stöhnte zufrieden mit seinem Tun und begann rhythmisch ihr Becken an seiner Erektion entlang zu reiben, während er ihr eigenes Verlangen durch tausend Dinge gleichzeitig anfachte.
Da klingelte es schon wieder.
Tyrone schielte bloß einen Sekundenbruchteil darauf, doch Katya erkannte es im selben Moment, da sie sich in seinem Kopf befunden hatte. Es war dieselbe Nummer wie kurz zuvor.
„Etwas wichtiges.“ Stöhnte er frustriert, ließ von Katya ab und angelte nach dem verwaisten Handy. „Ryan? Kumpel, was ist los? Warte... Langsamer, was ist? Ich verstehe dich kaum, bist du in einem... Lucy hat was?“
Katya, welche problemlos mithörte, hatte sich bereits bei dem Wort >Krankenhaus<, das Shirt wieder gerichtet und war vom Tisch gerutscht. Sie arrangierte die zur Seite geschobenen Stühle mehr gewohnheitsgemäß, als dass es sie interessierte, nur um ihrem Gefährten einen Augenblick später hinaus in den warmen Sommerabend zu folgen.
Sie setzte sich hinter das Steuer, während Tyrone weiterhin beruhigend auf ihren gemeinsamen Bruder einredeten. Ja, Katya machte keinen hehl daraus, das sie Ryan, Lysander und schon gar nicht Olympia ausstehen konnte. Trotzdem waren sie Familie. Sie gehörten zu ihr, wie die Schönheitsflecken, die man nie gewollt hatte.
Ohne einmal ein Wort mit Tyrone zu wechseln, fuhr sie, so schnell es ihr möglich war, mit einigen zusätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitungen zum örtlichen Krankenhaus. Auf dem Flur strömte ihnen bereits eine geraume Anzahl an Nephilim entgegen. Ryan, allen voran, überschüttet mit Blut und tränenverschmierten Gesicht. Dahinter Calyle, der verstört und völlig durch den Wind wirkte. Olympia, welche bloß einen Moment vorher eingetroffen war, Lysander hockte mit einer Weinflasche, wusste der Geier woher er die schon wieder hatte, mit angezogenen Beinen auf einem Besucherstuhl und heulte salzige Tränen hinein. Sofort fiel Katya auf, dass Haylee an Calyle´s Seite fehlte. Und natürlich der Hauptgrund... „Wo ist sie? Wo ist meine Lucy?“ Fragte Katya hysterisch und ließ erst in diesem Moment die Tränen zu, welche sie bisher erfolgreich verdrängt gehabt hatte.
„Im Op. Sie Operieren noch.“ Erklärte Calyle, das Ryan kaum einen anständigen Satz zusammen brachte.
„Schon gut, Kumpel. Komm, wir waschen dich mal ein wenig, was?“ Tyrone warf Katya lediglich einen bedauernden Blick zu, doch nur da sich ihre Körper nun nicht mehr im selben Raum befinden würden, hieß das nicht, dass er nicht an ihrer Seite blieb und sie tröstete.
Während er mit dem völlig aufgelösten Ryan im Besucher WC verschwand, redete er abwechselnd auf diesen, wie auch auf seine Gefährtin ein. Für ihn war es nicht schwer, diese beiden Gespräche und Empfindungen zu unterscheiden. Anfänglich war es noch etwas schwierig geworden, vor allem, da Katya sich gerne mal einen Spaß daraus machte, ihn in peinliche Situationen zu bringen. Doch dieses ganze Geplänkel zahlte sich nun aus. Nun konnte er im Geiste für seine Frau da sein und körperlich für seinen Freund, seinen Bruder.
„I-Ich weiß überhaupt nicht, woher sie plötzlich kam.“ Beteuerte Calyle in diesem Moment, Katya gegenüber. „Ha-Haylee war so wütend auf mich... Wir haben... Wir haben uns gestritten und gekämpft. Dann war... Lucy auf einmal da. Sie bekam das Schwert in den Bauch und...“
„Das Schwert!“ Schrie Katya entsetzt auf und wurde von einer Krankenschwester misstrauisch gemustert.
Verlegen packte Calyle seine Schwester am Oberarm und zog sie zu Lysander in der Ecke, welcher mehr abwesend, wirkte, als je zuvor. „Haylee hat Lucy versehentlich mit dem Schwert erwischt. Sie hat es nicht mit Absicht getan, aber...“
„Wieso hatte sie überhaupt ihr Schwert gezogen?“ Fragte Katya ärgerlich, doch mit Tränen in den Augen.
„Weil wir gekämpft haben.“ Wiederholte Calyle. „Sie war wütend. Hat versucht mit weh zu tun, doch ich bin ihr natürlich ausgewichen...“
„Das heißt, Haylee ist dafür verantwortlich?“
„Nein!“ Beteuerte Calyle vehement.
„Sie hat das Schwert gegen dich erhoben, gegen ihren eigenen Gefährten und dann Lucy damit durchbohrt?“ Fasste Katya fassungslos zusammen.
Calyle schüttelte den Kopf. „Sie war nur sauer auf mich. Sie hätte mir nie etwas getan.“ Versicherte ihr der rothaarige Nephilim.
Das Schnaufen, welches von Lysander aus ging, war die erste Reaktion, welche Calyle seit dieser hier eingetroffen war, von seinem Waffenbruder wahrnahm. Ohne ein Wort zu verlieren, hatte sich Lysander mit einer Flasche Wein hierher teleportiert und war in der Ecke nach und nach mehr zusammen gesunken.
Katya überging Lysanders, geradezu beiläufiges Schnauben, als bedeutungslos abgestempelt. „Was hast du denn getan, dass sie so wütend auf dich wurde? Und wo ist sie überhaupt?“ Katya´s Blick schweifte erneut durch die Empfangshalle, doch entdecken konnte sie das brünette, neue Mädchen nicht.
„Das ist ja das Seltsame... Sie ist einfach fort!“
„Fort? Du meinst, das sie abgehauen ist?“ Katya explodierte beinahe vor Zorn, doch die nächsten Worte, schnürten ihr die Brust ab.
„Nein, ein Throne hat uns angegriffen.“
Hastig untersuchte sie Calyle nach irgendwelchen körperlichen Schäden, dann Lysander und überlegte ob sie bei Ryan, abgesehen vom vielen Blut, auch Wunden übersehen haben konnte. Niemand wies irgendetwas daraufhin auf. „Moment... Noch mal von vorne. Erzähle mir alles nach der Reihe.“
Das tat Calyle dann auch. Er erzählte, wie er mit Lucy wache am Schulgebäude gehalten hatte, während Katya und Tyrone das nahe gelegene Portal geschlossen hatten. Dann tauchte plötzlich Ryan auf, beharrte darauf, mit Lucy sprechen zu müssen.
Plötzlich war da einfach Haylee. Sie war wütend auf ihn, zog ihr Schwert und griff ihn an. Calyle hatte nicht vor, Haylee auch nur ein Haar zu krümmen und er hatte in ihren Augen gesehen, dass sie ihm nicht wirklich hatte weh tun wollen.
Sie war verletzt gewesen, hatte sich hintergangen gefühlt... Zurecht. Aber dies sagte er Katya nicht.
Stattdessen fuhr er weiter fort, dass dann plötzlich Lucy da stand. Haylee konnte überhaupt nicht reagieren, da sie nicht damit rechnete, jemanden zu treffen, da bohrte sich ihr Schwert auch bereits durch Lucy´s Leib. Die beiden Mädchen brachen voreinander auf die Knie, Ryan fing Lucy ab, damit sie sich nicht den Kopf anschlug, dann war plötzlich sein Nachbar aufgetaucht.
„Auf dem Schuldach?“ Wiederholte Katya ungläubig. „Er war ein Throne? Unmöglich! Wir kennen ihn doch bereits, seit wir kleine Kinder waren!“
„Der Throne muss seinen Körper wohl in Besitz genommen haben, oder so. Ich weiß es ja selbst nicht. Danach ging alles so schnell...“ Calyle stützte sich an der Wand hinter sich ab, als die Tränen in seinen Augen, zu brennen begannen. „Ich stürzte mich auf den Throne, um die anderen zu beschützen, doch er entwaffnete mich so schnell, dass ich kaum Zeit hatte zu reagieren. Ryan sprang ein, doch wurde genauso schnell umgehauen, wie ich.“ Er stöhnte frustriert. Katya verstand das. Keiner war Herr seiner Sinne gewesen und solche Wesen waren einfach überirdisch stark. Einer alleine schaffte es unmöglich, gegen diese Kreaturen anzukommen.
„Der Throne ging auf Lucy zu. Was er genau wollte, weiß ich nicht, doch HAylee sprang plötzlich auf. Sie versuchte ebenfalls Lucy zu beschützten, die beiden haben gekämpft, fielen übereinander her... Und rollten mit einem Mal über... über das Dach hinweg...“
„Oh nein!“ Katya fasste sich entgeistert an den Mund. Was sie da hörte, ließ ihr das Blut in den Andern gefrieren. Haylee hatte Lucy um jeden Preis versucht zu beschützen! Sie hätte ihr eigenes Leben dafür gegeben, genauso wie Katya selbst und jeder andere, ihrer Geschwister.
„Dann war da plötzlich dieser helle Lichtstrahl...“ Fuhr Calyle fort. „Er war weißlich und erhellte für einen Moment den gesamten Garten des Schulgeländes. Als ich hinunter sah, war da aber bloß noch der Körper von... Mister Harrison. Er lag tot am Boden, um ihn herum war alles verkohlt, bis auf sein eigener Körper und das was er an sich trug...“ Calyle stockte, denn zu mehr war er einfach nicht mehr in der Lage. Seine Gefärtin... Haylee... Wieso nur, hatte er so lange gezögert? Er hätte sie an sich binden müssen, damit sie seine Entscheidung, seinen Plan von der Zukunft, einfach besser verstand. Hätte Calyle nicht gezögert, würde Haylee alles genauso sehen können, wie er es tat, davon war der Nephilim überzeugt. Sie liebten einander doch. Haylee gehörte zu ihm...
Katya nahm Calyle in den Arm, als dessen Tränen die Überhand übernahmen. Schniefend erwiderte er ihre tröstliche Umarmung, voller Dankbarkeit. Noch nie in seinem Leben hatte er einen solchen Schmerz empfunden... Noch in einem Moment, war sie glücklich und lächelnd in seinen Armen gelegen. Sie hatten sich einander angenähert, hatten sich kennen gelernt... Schon jetzt wollte Calyle sich, Haylee nie wieder fort denken. Ihre Stimme, ihr Lächeln, ihre wohltuende Wärme. Nie hatte sie ihn gedrängt, oder ihn zu etwas machen wollen, was er nicht war. Haylee hatte sogar, wegen Olympia, gewusst, dass er ein schlechtes Händchen für Frauen besaß.
Ständig war er zu fordernd. Wollte das, was er nicht haben konnte. Aber Haylee war für ihn bestimmt gewesen. Wieso nur, hatte er es nicht früher zugelassen? Wenn er bloß ehrlich gewesen wäre...
Aber was hätte das schon gebracht? Calyle´s Mutter, Marie hatte recht damit gehabt, dass Haylee noch nicht lange genug ein Teil ihrer kleinen Familie gewesen war, um das zu verstehen. Statt sich an ihn zu binden, würde diese schreckliche Tat, Haylee bloß fort von Calyle tragen. Und was war geschehen? Woher hatte es Haylee überhaupt gewusst? Wie hatte sie davon erfahren können? Was zur Hölle, hatte ihre aufkeimende Beziehung bloß dermaßen erschüttert?
Calyle nahm Katya´s, tröstenden Worte, kaum war, war völlig in seiner Trauer und seiner Wut verloren gegangen.
Nicht bloß, dass Haylee ihn hasste, nun war sie auch verschwunden. Ob sie ausgelöscht worden war, oder einfach bloß verschleppt, wusste Calyle nicht. Er hatte absolut keine Ahnung, wo sie sein könnte, oder gar, wie er sie je wieder zurückbekommen konnte.
Und von eben diesem war er absolut überzeugt. Er wollte Haylee zurückhaben. Calyle brauchte sie.

 

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Marie brachte die Nephilim nach Haue. Einzig Odette blieb im Krankenhaus, um für ihre Tochter da zu sein und als Verbindung zu den anderen zu fungieren.
Zurück in Marie´s Haus, nahmen alle am Esstisch platz. Sie reichte Getränke und belegte Brötchen weiter, doch niemand, nicht einmal sie selbst, hatte Appetit. Die Ärzte meinten, dass die Operation noch bis in dem Morgengrauen dauern durfte und bald würde die Polizei sich bei ihnen einfinden.
Niemand wusste so genau, was sie sagen sollten... Wie konnten sie erklären, was da geschehen war?
Einzig Olive war geistesgegenwärtig genug, um den Anwalt, welchen ihnen von Rom aus, für eben solche Fälle zugesagt worden war. Leider befand sich dieser, derzeit nicht einmal in der Nähe ihres Heimes, wodurch es frühestens morgen Mittag so weit sein würde, dass er eintrifft.
Eben jenes sagten sie auch der Polizei. Olive entschuldige sich höflich dafür, aber niemand ihrer gesamten Familie würde eine Aussage machen, eben ihr Familienanwalt nicht anwesend wäre. Die Polizisten drängten sie zwar etwas, doch nachdem ihnen die stets charismatische Frau über den Mund gefahren war, zogen sie dennoch ab. Was an der Schule geschah, konnte niemand sagen, doch dass sich Dämonen in ihrer Nähe befanden, spürten alle Nephilim. Hilflos, da die Polizisten sich weigerten sich, allzu weit von der Familie zu entfernen, ließen sie die Dämonen treiben, zu was diese aufgelegt waren.
Schon am frühen Morgen erfuhren sie von Aufregungen in der Nachbarschaft, welche im Regionalsender durchgekaut wurden. Nicht bloß, dass sich ein alter, dementer Mann, vom Schulgebäude gestürzt hatte, auch wurde ein Mädchen, von einem bisher unbekannten Angreifer mit einem Schwert erstochen und schwebte in Lebensgefahr. Dazu gab es etliche streiterein, welche außer Kontrolle geraten waren. Diverse Verletzte bei Verkehrsunfällen auf der Autobahn, da, nach Angaben des Schuldigen, ein Höllenhund die Straße überquert habe. Zwei Menschen hatten mitten in der Nacht, völlig grundlos aufgehört zu atmen und eine Mutter hatte ihr Kind verloren. Sie war morgens aufgrund von Unterleibsschmerzen aufgewacht, eine Rötung an ihrem Bauchnabel festgestellt und im Krankenhaus wurde ihr diagnostiziert, dass ihr Bauch wirkte, als hätte niemals ein Baby darin gelegen, obwohl der Gynäkologe definitiv etwas anderes bewies.
Solche Vorfälle häuften sich, so als sei der ruhige Vorort, mit einem Mal durchgedreht.
Alles Dinge, welche die Nephilim hätten verhindern sollen... Doch der Grund, warum sie es nicht taten, war einfach. Lucy, ihre Schwester, lag im sterben und Haylee war unauffindbar.
Endlich, gegen neun Uhr vormittags, kam der erlösende Anruf!
„Sie ist aufgewacht.“ Schniefte Odette, mit den Nerven völlig am Ende, in das Telefon, woraufhin sich die gesamte Familie auf den Weg zum Krankenhaus machte. Einzig Calyle und seine Muter Marie blieben zuhause, da sie weiterhin auf den Anwalt warteten, welcher bald anreisen sollte.
„Mama, sei ehrlich... Hast du irgendetwas zu Haylee gesagt?“ Fragte Calyle nachdem er ihr mehrere Minuten lang, schweigend dabei zugesehen hatte, wie sie den Abwasch machte und die unberührten Brötchen verpackte, um sie im Kühlschrank zu verstauen. Später würden sie diese dann ins Krankenhaus bringen.
„Sie hat mich aufgesucht.“ Gab Marie zu, ohne sich ihrem Sohn zuzuwenden. „Und sie hat bereits alles gewusst. Woher weiß ich nicht.“
Calyle entglitten für einen Moment die Gesichtszüge. „Sie wusste es? Woher?“
Schulterzuckend tat sie die Frage ab. „Ist das denn wichtig, Calyle? Haylee ist beinahe eine Erwachsene... Spätestens, wenn ihr euch verbunden hättet, hätte sie es ohnehin erfahren. Ihr... Ihr verschwinden jedoch, beunruhigt mich sehr.“
Calyle sprang auf und drehte seine Mutter zu sich herum. Der Nephilim hatte vor gehabt sie anzuschreien. Ihr bewusst zu machen, was sie da eben von sich gegeben hatte, als er ihre Tränen bemerkte. Marie´s Augen waren ganz verquollen, die Tränen fielen geräuschlos auf den Schwamm, welchen sie in der Hand hielt.
„Mama...“ Hauchte Calyle und nimmt seine Mutter tröstend in den Arm. „Es wird schon alles gut. Mit Lucy...“ Begann er. „...und auch mit Haylee. Wir werden wieder eine Familie sein.“ Schwor er, mehr sich selbst, als ihr.
„Aber was ist, wenn Haylee nicht mehr lebt? Dann... Das mit Edna... Es war so schrecklich, dieser Unfall! Und wenn Haylee nun alleine wegen mir so kopflos-...“
„Pst!“ Machte Calyle und streichelte das rostrote Haar, welches dem seinem so ähnlich war. „Natürlich ist es nicht deine Schuld! Der Unfall war auch nicht deine Schuld, wir haben getan, was wir konnten, um sie zu retten. Aber du hast es doch selbst gesehen... Wir... Wir konnten nichts tun.“ Hauchte er traurig über den Verlust von Edna.
Calyle hatte sie nie wirklich kennen gelernt, doch im Gegensatz zu seiner Mutter, war er in diesem unglücklichen Moment, wesentlich gefasster gewesen, als sie. Er war auf die Idee gekommen, ihren Leib vor ein Auto zu werfen, so dass es wirkte, als ob sie gerade eben davor gelaufen wäre. Auch war es seine Idee gewesen, die Möbel umzuwerfen, um für Chaos zu sorgen und den wahren Tathergang zu verschleiern.
Das alles war so schnell gegangen, dass keiner der beiden richtig darüber nachgedacht hatte, wie es wohl Haylee damit gehen würde.
In dieser Zeit, hatte Calyle erkannt, dass Haylee nicht bloß seine Nephilimschwester war, sondern auch der Mensch, der ihm am wichtigsten in seinem Leben geworden war. Die Art, wie sie sich an ihn schmiegte, die Vertrautheit zwischen ihnen und diese Einfühlsamkeit, welche er sich selbst kaum zugetraut hätte.
Calyle war immer der Typ Mensch gewesen, der nicht zimperlich mit seinen Bedürfnissen umging. Wieso sollte er auch? Er wusste darum, dass ihn viele Mädchen attraktiv fanden. Es lag an seinen Genen, wie auch in denen, der anderen Nephilim. Menschen fiel es unfassbar schwer, derer natürlicher Anziehung zu widerstehen.
Doch Haylee? Sie sollte immun sein, gegen diese... trotzdem hatte Calyle häufiger ihren Blick auf sich gespürt, konnte sich nicht auf sein Buch konzentrieren, wenn sie sich im selben Raum befand oder ihre Stimme ignorieren, sobald sie sprach. Ständig hörte er sie. Egal was auch immer ihm in einem Moment wichtig erschienen war, es verblasste, sobald sie sich ihm nur näherte.
Haylee gehörte zu ihm. Sie war nicht sein Feind, seine Rivalin. Nur weil sie die Mächte von Michael und Luzifer trugen, machte es sie beiden nicht automatisch zu Feinden. Sie sind deren Kinder, nicht deren Wiedergänger.
Irgendwann, so schwor Calyle sich. Irgendwann würde Haylee es verstehen und ihm verzeihen. Haylee war seine Gefährtin und konnte somit auch überhaupt nicht anders!

 

- - - - -

 

Katya konnte es kaum glauben, als sie Lucy, munter und breit grinsend auf dem Krankenbett vorfand. Erst als Ryan, der gefasste und unnahbare Mannskerl, welcher stets so tat, als könne ihn nichts je berühren, Lucy um den Hals fiel, bemerkte auch der entzückende Blondschopf, dass etwas nicht stimmte.

„Oh Lucy!“ Schniefte nun auch Katya, kam von der anderen Seite und umarmte ihre beste Freundin so stark, als ob sie diese für immer an ihre Seite schweißen wollte. „Dir geht es gut! Du lebst!“ Schniefte sie und reichte nur einen Augenblick später, Ryan ein Taschentuch weiter, ehe sie sich selbst einen nahm.
Lysander nahm seinerseits zu Lucy´s Füßen platz und streichelte über ihr Schienbein. „Wie geht es dir?“ Fragte er, ohne auch bloß ansatzweise betrunken zu klingen.
Dabei sahen sie alle drei einfach beschissen aus. Dies konnte niemand von ihnen bestreiten.
„Als hätte mich jemand erst zusammen nähen müssen.“ Witzelte Lucy, während ihr Blick ungläubig auf Ryan haften blieb. „Was ist denn passiert? Wieso wurde ich überhaupt operiert...“ Ihre Stimmlage wurde leiser. „Und was hat Ryan?“
Katya boxte ihrer Freundin und Schwester sanft gegen den Oberarm. „Du blöde Kuh! Du warst halb tot! Deshalb heulen wir hier herum, was dachtest du denn?“
Lucy schob die Decke tiefer und hob das Krankenhausshirt, welches sie bekommen hatte. Darüber war, über einer orangenen Farbe, ein großflächiger Verband angebracht worden. „Deshalb?“ Erkundigte sie sich verblüfft.
„Hat dir denn noch niemand etwas gesagt?“ Ryan klang ungläubig.
„Nun ja... Ich bin aufgewacht, dann waren da lauter Ärzte, die mich abgetastet haben und den Verband kontrollierten. Dann... war Mama da und ich bin wieder eingeschlafen. Als cih mich vorhin aufgesetzt habe, seit ihr auch bereits durch die Türe gestürmt. Also nein... Mir hat noch niemand etwas gesagt.“
Katya fasste sich erleichtert an die Brust. „Gut, wenn dich ein Mensch fragt, dann sag, dass du dich nicht erinnerst. Der ganze Abend ist vollkommen dunkel.“
„Stell dich außerdem kränklicher!“ Tadelte Lysander ebenfalls.
„Odette wird mit den Ärzten sprechen, dass du sofort heim darfst, für eine Heimbetreuung.“ Vollendete Ryan die einstudierten Sätze, die Lucy zwar kannte, doch froh darüber war, dass man sie noch einmal an alles erinnerte.
Der blonde Nephilim, nickte bestätigend. „Sagt ihr mir dann auch mal endlich, wer mich verletzt hat?“
„Haylee.“ Fauchte Ryan bösartig, als sei dieser Name das personifizierte Böse.
„Unsinn! Sie hat es ja nicht mit Absicht getan!“ Korrigierte Katya hastig, um Lucy keinen falschen Eindruck zu vermitteln.
„Ja genau! Du warst doch überhaupt nicht dabei! Also hast du auch nicht gesehen, wie Irre sie geworden ist! Haylee ist auf Calyle los, als würde sie ihn in tausend Stücke reißen wollen und hat dir dann das Schwert in den Magen gestochen! Das ist doch nicht normal!“
Lysander war es, welcher Ryan nun über den Mund fuhr. „Pass auf, wie du über Haylee sprichst! Sie hatte ihre Gründe, auf Calyle loszugehen. Das mit Lucy, wird sie sich selbst niemals verzeihen können, obwohl es bloß ein tragischer Unfall gewesen ist!“
„Ein tragischer Unfall?“ Brauste Ryan auf und sprang auf die Beine. „Du inkompetenter Waschlappen! Sag bloß, du schleimst dieser verlogenen Schlampe etwa auch noch hinterher, wie Calyle es tut? Tut mir leid, dich aus deiner Illusionsblase zu holen, aber nicht jedes Mädchen, das nett zu dir ist, steht auch sofort auf dich!“
Lysander sprang eben falls auf und wirkte zum ersten Mal in seinem Leben beinahe so bedrohlich, wie Ryan es in diesem Moment tat. „Pass auf, wie du über Haylee sprichst!“
„Also habe ich recht? Du denkst mal wieder bloß mit deinem Schwanz und deinen Gelüsten, richtig? Was anderes kann-...“
„Ryan!“ Fuhr Katya ihm, mit einer Macht über die Worte, welche er der Prinzessin niemals zugetraut hätte. „Raus hier und hol dir ein Glas Wasser. Und wehe du kommst wieder rein, ehe dein Kopf abgekühlt ist, dann befördere ich dich gleich als nächstes in den Op-Saal.“
„Aber Lysander-...“
„Raus jetzt!“ Katya deutete auf die angelehnte Türe.
Ryan sah noch einmal feindselig von Katya zu Lysander, nur um im nächsten Moment von einer kühlen Hand an seiner eigenen berührt zu werden.
„Ryan...“ Lucy blickte so unendlich traurig zu ihm auf, dass dem sonst so gefassten Nephilim, für einen Moment die Worte fehlten. Eben noch hatte er die ganze Nacht geglaubt, sie verloren zu haben...
Als Ryan nicht vor Lucy´s Berührung zurückzuckte, so wie er es eigentlich gewöhnlicherweise tat, selbst wenn sie ihn lediglich versehentlich anstieß, fasste sie etwas mehr Mut und ließ ihre Finger an seine Handfläche gleiten.
Sanft umschloss er ihre blassen Finger, hob sie an und hauchte ihr einen Kuss auf die Knöchel. „Ich bin in zehn Minuten zurück.“ Krächzte er, seltsam kehlig, dann verschwand Ryan aus der Türe und ließ Lucy mit hochrotem Gesicht zurück.
Verlegen versteckte sie die Hand unter dem Tuch, doch Katya entging selbstverständlich das Verhalten ihrer FRreundin nicht. Nicht, nachdem Katya bereits seit einer solch langen Zeit, von Lucy´s Gefühlen für Ryan wusste.
Aufmunternd lächelte diese der Blondine zu und streichelte ihren Oberarm. „Keine Sorge, Ryan gehört dann ganz dir, sobald er zurück ist.“ Schwor sie, was Lucy nur noch verlegener machte.
„Ich stehe nicht auf Haylee...“ Murrte Lysander neben den beiden Mädchen, welche für einen Moment völlig vergessen hatten, dass der Allorts bekannte Playboy und Paradiesvogel auch noch anwesend war. „Wir waren nur gemeinsam im Engelsmodus.“
Lucy gab einen erkennenden Laut von sich, ehe sie Lysander wissend anlächelte. „Sie ist toll, nicht wahr?“ Fragte diese selig, als ob die beiden von einer extrem geheimen Eissorte sprachen, welche nur sie beide kannten.
„Was? Wie meint ihr das?“
Lysander nahm wieder platz neben Lucy, doch rutschte dieses Mal weiter auf, da der Platz nun frei geworden war.
„Kinder? Wo ist Ryan?“ Es war Odette, eine recht zerrupfte und ermattete Version vom Original, doch sie war zumindest noch entfernt erkennbar.
„Er musste raus, Luft schnappen.“ Erklärte Katya ein wenig schnippisch, doch Odette überging den Unterton.
„Lucy Liebes, wieso sitzt du denn aufrecht?“
Augenblicklich war Odette an der Seite ihrer Tochter und zwang dabei Katya, ein wenig zu weichen.
„Mir geht es gut Mama. Die Nähte ziehen, aber sonst fühle ich eigentlich kaum noch etwas.“
Lysander hob den Zeigefinger. „Darf ich mal kurz?“ Fragte er mit einem auffordernden Blick auf die Stelle, wo die Naht war.
„Ja?“ Lucy war verwirrt, als Lysander auf die Naht leicht druck ausübte. Der blondhaarige Nephilim, verzog nicht mal das Gesicht.
„Ganz klar...“ Verkündete Lysander. „Die haben sie mit Schmerzmittel vollgepumpt. Vermutlich hast du auch noch etwas zum Schlafen intus, aber das hat dein Körper schon abgebaut.“
Odette stöhnte, da sie wusste, welches mittel nun an der Reihe sein würde, von Lucy´s natürlichen Heilgabe abgestoßen zu werden. „Ich besorge noch stärkeres Schmerzmittel, ehe wir aufbrechen. Habt ihr Lucy schon...“
„Ja, natürlich. Sie weiß Bescheid.“ Bestätigte Katya, die das ganze Prozedere bereits kannte. Es war nicht allzu lange her, da waren sie aus ähnlichen Gründen, wegen Ryan im Krankenhaus gewesen. Zwar nicht in diesem, doch seitdem hatten die Mütter und Nephilim, einen guten Plan entwickelt, wie sie nervigen Fragen entgingen, was die Spontanheilungen angingen.
„Na gut, Liebes.“ Odette lehnte sich vor und küsste ihre Tochter auf die Stirn. „Wenn der Arzt gleich kommt, tust du, als ob du schlafen würdest, gut? Stell dich benommen!“
Lucy nickte bestätigend.
„Wir erledigen den Rest.“ Katya drückte noch mal Lucy´s Schenkel, da erschien auch bereits ein Arzt in der Türe, welcher besorgt um seine Patientin wirkte.

XXIV - Gärten der Engel

„Cirillo? Wo bist du? Cirillo!“ Eine weibliche, leicht hysterisch klingende Stimme, tönte so laut durch meinen Schädel, dass ich stöhnte. Nicht, weil es mir weh tat, sondern, da ich aus Schreck mein gebrochenes Gelenk bewegt hatte. Blinzelnd suche ich nach der Quelle des Lärms, doch der weibliche Engel rauschte so schnell an meiner offen stehenden Zellentüre vorbei, dass ich sie nicht richtig wahrnehmen konnte. Zudem ist die Sonne zum Großteil bereits untergegangen, wodurch mir kaum noch Tageslicht zur Verfügung stand. Ehe die nächtlichen Lichter angingen, würde ich wohl nicht besser sehen können.
„Cirillo, ich schwöre beim Ältesten...“ Die Stimme verklang abrupt. „Da bist du ja. Wo ist meine Gegenleistung? Du bist noch immer nicht für den Schaden in meinem Garten aufgekommen!“
Ich höre ihn genervt stöhnen. „Alitia, bitte! Siehst du nicht, dass ich arbeite?“ Entgegnete der schwarzhaarige Engel abweisend.
„Ist mir doch egal! Du hast gesagt, ich bekomme es, wenn du die Wette in der Arena gewonnen hast. Wo ist nun mein Anteil?“ Fragte sie provokativ. „Sag nicht, dass du es bereits wieder aus dem Fenster geworfen hast. Hattest wohl was besseres damit vor. Aber Rücksicht auf andere, nimmst du dabei nicht, was?“
Die Frau sprach so schnell, dass sogar mir schwindelig wurde. Bisher habe ich den Eindruck gehabt, dass Engel ruhig und bestimmend sind... Nun ja, bis auf Cirillo, wenn er seine Launen über mir ausließ. Aber vielleicht lag das auch alles bloß an meinen Schmerzen.
„Wie gesagt, ich arbeite! Sobald die Nephilim versorgt sind, werde ich mich auf der Stelle auf den Weg zum weißen Turm machen. Danach komme ich bei dir vorbei. Und lass es dir auf den Kopf fallen!“ Der letzte Teil, stieß er bloß noch gezischt zwischen den Zähnen hervor, was mich zum Schmunzeln brachte.
„Ja, mach das ruhig. Dann kann ich noch mehr von dir einklagen.“
Die Schritte kamen im Eiltempo näher. „Oh, du meinst, so, wie du dein Vermögen dein ganzes Leben lang, am laufenden Band vermehrt hast? Gratuliere! Bei mir gibt es nichts zu holen.“ Das klang überraschend... selbstbewusst! Ist Cirillo etwa sogar stolz darauf? Wie seltsam. Aber ich musste wohl kaum reden... Ich htte noch nie sonderlich viel Geld besessen.
„Das glauben alle Engel. Aber am Ende, wirst du deine Nephilim zu einem höheren Preis vermieten müssen, um deine Schulden zu begleichen.“
„Alitia! Zu den Ältesten, noch einmal! Ich zahle ja!“ Brauste Cirillo auf.
„Wann?“ Forderte sie, umgehend zu wissen.
Cirillo hielt direkt vor meiner Zellentüre und reißt sie auf, sodass sie einmal mehr gegen die Wand dahinter prallte. „Heute Abend! Gut? Ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Dann fliege ich, so schnell ich kann.“
Hinter ihm erschien ein buchstäblich farbloser, wunderschöner Engel. Nein... Eine Fee, oder Elfe, wenn ich es nicht besser wüsste! Ihre Augen erscheinen gräulich, die Haut silbern und an den Ohren trug sie sogar silbernen Schmuck! Engel tragen Schmuck! Was für eine Erkenntnis! Ihr Haar ist so schneeweiß, wie ihre Flügel und das Kleid, welches sie trug. Sie sah atemberaubend schön aus! Zierlich, langbeinig, mit unglaublich langen, silbrigen Wimpern und Brauen. Mich fröstelte es geradezu.
„Na gut. Ich gewähre dir den Aufschub.“ Dabei verschränkte sie die Arme vor dem Oberkörper und tippte ungeduldig mit den Zehenspitzen auf den Boden.
Erst, als Cirillo den Eimer neben mir auf den Boden abstellte, registriere ich, dass er überhaupt etwas bei sich trug, oder dass er sich in meiner Nähe befand. Sanfter, als ihm bei diesem hitzigen Austausch, zuzutrauen gewesen wäre, hob er mein Bein an und legte ein nasses Tuch darunter. Ich zischte vor Schmerz.
„Ähm... Was genau tust du da? Wieso wurde denn ein Engel hier eingesperrt?“ Fragte der silberne Engel. Alitia hatte er sie genannt, richtig?
Cirillo grunzte amüsiert. „Das ist ein Nephilim.“
Alitia schnaubte ihrerseits. „Ich habe doch Augen im Kopf. Das ist kein Nephilim. Sieh sie dir an.“
Cirillo, welcher mit einem Bein am Schenkel, vor mir kniete, hebt seinen Blick. Ich zucke überrascht zusammen. Sein Blick ist mit einmal Mal so intensiv, so forschend... Für einen Moment dachte ich tatsächlich, er würde in meine Gedanken eindringen, doch... sonderlich stören würde es mich überhaupt nicht.
Sein Blick glitt zu meinen Flügeln, meinen Schultern, hinab, bis über meinen Bauch und zurück zu dem geschwollenen Bein, welches er so sanft hält. „Jeder Nephilim sieht einzigartig aus. Das weiß sogar ein Engel, wie du einer bist.“
Alitia zischte missbilligend. „Ach, was für ein Engel bin ich denn?“ Forderte sie ihn heraus. Cirillo schloss das nasse Tuch um meinen Knöchel und ein wohliges Kribbeln glitt hindurch. Ich seufze erleichtert.
Als er nicht antwortete, stichelte Alitia einfach weiter. „Weißt du, von einem Throne, mit der Linie, von welcher du abstammst, hätte ich durchaus mehr erwartet. Immerhin wirst du auch nicht gerade besser behandelt, als ich. Zudem stemmst du die Arbeit von mindestens fünf Engeln, ganz alleine! Man blickt auf dich aber herab. Genauso, wie auf mich. Also tu mal nicht so überheblich, oder hältst du dich etwa für etwas besseres?“
Der Schmerz war vergangen, als Cirillo mein Bein auf dem Boden ablegte und verärgert aufsprang. Einen Sekundenbruchteil später, stand er bereits vor ihr, doch noch immer innerhalb meiner Zelle. „Natürlich halte ich mich für etwas besseres. Ich bin der Abkömmling eines Erzengels! Mein Name hat Bedeutung, im Gegensatz zu deinem. Nur, weil ich mit den Gaben eines Thrones gesegnet bin, stellt mich das bei weitem nicht auf eine Stufe mit dir. Ich stehe nicht minder, als eintausend über dir! Du bist garstig und gierig, im Gegensatz zu mir.“
Oh, oh! Ich bekam allmählich das Gefühl, als ob die Situation jeden Moment eskalieren würde. Mit zusammen gekniffenen Augen und hoch erhobenen Flügeln, drohte der silberne Engel dem dunklen, doch beißt so heftig mit ihren Zähnen aufeinander, dass ich sie bis zu meiner Position knirschen hören konnte.
„Sieh dich doch einmal an? Wer könnte schon einen Engel mögen, der so... so aussieht, oder sich gar so verhält, wie du es andauernd tust. Du stößt andere provokativ vor den Kopf! So etwas ist unhöflich.“
Bei Cirillo klang >unhöflich<, ähnlich wie >beleidigend<. So schnell ich konnte, kam ich auf die Beine, selbst wenn mir bewusst war, dass ich einen absolut dummen Fehler begehen würde. Aber aus irgendeinem Grund musste ich mich einmischen... So wie Alitia dreinsah... Was Cirillo ihr eben an den Kopf warf... Es berührte etwas in mir, an was ich überhaupt nicht mehr denken mochte. Eine Vergangenheit, welcher ich bereits seit über einem Monat entflohen war.
„Du kritisierst am laufenden Band, wie andere über dich sprechen, oder dich ansehen? Dann tu wenigstens einmal in deinem Leben etwas dafür, dass sich das ändert! Wieso sollten andere nett zu dir sein, wo du ihnen bereits mit Spott und Abneigung entgegen kommst? So etwas ist heuchlerisch und...“
Cirillo verstummte, als er meine Hand an seinem Oberarm wahrnahm. Sein Blick begegnete dem meinem und Verblüffung wechselte mit seinem Zorn. „Engel... du bist zu hart mit ihr.“ Belehrte ich ihn mit einer absolut ruhigen Stimme und stützte mich an seinem Arm ab, da das Gewicht meiner Flügel, so wie das stehen auf einem Bein, ziemlich wackelig wurde, auf Dauer. Er registrierte dies augenblicklich und stützte mich seinerseits, indem er seine Hand an meinen Rücken legte. Das fühlte sich... überraschend angenehm an... „Ich weiß natürlich nicht, was der Grund für euren Streit ist, aber ihr Aussehen kann es ja wohl kaum sein.“ Tadelte ich und begegne Alitia´s farblosen Augen. Ihre Iriden sind so hellgrau, sie gleichen einem dunklen Weiß. „Du siehst nämlich wunderschön aus, Alitia. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass du auf der Erde dem Ebenbild eines Engels am nächsten kommen würdest...“ Ich konnte buchstäblich beobachten, wie sich ihre blasse Haut an den Wangen verdunkelten. Als sei es das erste Mal, dass ihr jemand sagte, dass sie wunderschön sei.
„I-Ich danke dir.“ Hauchte sie verlegen. „Aber wie könntest du beurteilen, dass Menschen mich schön finden würden? Menschen gelten nicht gerade als, tolerant...“
„Weil Cirillo die Wahrheit gesagt hat. Ich bin ein Nephilim. Meine Mutter ist ein Mensch, doch mein Vater, etwas völlig anderes...“ Ob ich es sagen konnte? Ob sie es glauben würden? Vermutlich nicht... Mein Blick glitt zurück zu Cirillo und ich legte meine Hand auf die Mitte seines Brustkorbes. Seltsam... wieso tue ich das bloß? „Ich weiß, du würdest mir nicht glauben, wenn ich dir sagen würde, von wem ich abstamme, doch ich versichere dir... Ich bin euch ähnlicher, als du denkst. Und es tut mir schrecklich leid, dass ich dir Probleme verursacht habe, Engel... Deine Schulden... Sie sind doch aus der Nacht, als ich versucht habe, mich umzubringen, richtig? Als du mich aufgefangen hast, obwohl du das nicht gemusst hättest...“ Sein Herz schlug kräftig und schnell unter meiner Handfläche... Heiß pulsierte das Blut durch seinen Organismus und durchströmte jeden Zentimeter seines trainierten Körpers. „Außerdem, hast du dich danach um mich gekümmert. Irgendwie hast du es geschafft, dass ich mich endlich wieder lebendiger gefühlt habe.“
Cirillo rollte für einen Moment mit den Augen. „Du warst doch bloß zickig und hast dich geweigert selbst meinen besten Rat anzunehmen. Ich habe also im Grunde überhaupt nichts getan.“
Ich seufze tief und lächelte ihn dann dankbar an. „Doch, du hast mehr getan, als du dir vermutlich vorstellen kannst. Ich hatte vollkommen aufgegeben. Es war vermutlich nicht gerade deine charmanteste Art, doch im Endeffekt, hast du mich dazu gebracht wieder einen Grund zum Leben zu finden.“
Alitia stieß einen amüsierten Laut aus. „>Charme< ist ein Fremdwort für Engel.“ Spottete sie.
Cirillo überging es jedoch getrost. „Welchen Sinn hätte ich denn einem Nephilim geben können, weiter leben zu wollen?“
Betrübt senkte ich meinen Blick. „Da ist jemand, den ich sehen muss. Be-Bevor du mich mit genommen hast, hierher... habe ich jemanden schwer verletzt. Deshalb möchte ich jetzt alles daran setzen, zu ihr zurückzukommen. Sie, um Verzeihung zu bitten, selbst, wenn ich lediglich vor einem Grabstein stehe und mir die Augen ausheule. Das bin ich ihr schuldig, verstehst du?“
Unmerklich legte Cirillo seine freie Hand auf meine, welche an seinem Brustkorb ruhte. „Haylee, du bist ein Nephilim und damit eine Bedrohung für die Menschen. Es tut mir leid, dir das zu sagen, aber...“
Ich unterbreche ihn. „Mir wird es nicht erlaubt zurückzukehren, das habe ich mir bereits gedacht. Aber das ist bloß ein Hindernis... Kein Grund dieser Welt kann mich davon abhalten.“
Ich konnte regelrecht beobachten, wie es in Cirillo´s Kopf ratterte. „Dann weißt du auch, dass ich das niemals zulassen werde. Ich blockiere deine Kräfte, die unkontrollierbar sind, was bedeutet, du wirst niemals stark genug werden, um dir einen Weg durch eine ganze Himmelsarmee zu bahnen.“
Willkürlich zuckte ein Lächeln über meine Lippen. „Ist das eine Drohung, oder ein Versprechen?“ Woher ist das denn gekommen? Habe das eben wirklich ich gesagt?
„Ich werde dich an den Haaren wieder in die Zelle schleifen, egal was du auch versuchst... Du kannst nicht entkommen.“
Mein Herz flatterte seltsamerweise ganz aufgeregt bei seinen ernsten Worten. Sein Blick, dunkel und mysteriös, lag dermaßen mahnend auf mir, dass ich in diesem Moment bestimmt vor Angst einknicken hätte sollen. Aber ich tat es nicht. Eine seltsame... Gewissheit lag in meiner Brust, welche mich beinahe zum Lächeln gebracht hätte. Was ist nur los mit mir?
„Himmel, Cirillo! Das Mädchen will doch bloß nach Hause. Wieso hat man sie überhaupt hierher gesperrt? Sind die Zellen im weißen Turm etwa überladen, oder was?“
„Sie ist ein Nephilim!“ Entgegnete Cirillo erneut, dieses Mal mit einem Unterton, als ob er mit einem dummen Menschen sprechen würde... Äh, Engel. „Zum letzten Mal, sie ist ein Nephilim.“
Alitia zuckte gleichgültig mit ihren Schultern. „Sag, was du willst, ich kann keine Mutationen an ihr feststellen. Mädchen, egal was er dir einredet, lass dir nur nicht den Kopf waschen. Sobald du wieder frei bist, bist du herzlich eingeladen auf mein Grundstück, gut? Bis später, Cirillo. Am besten mit deiner Wiedergutmachung!“
Alitia rümpfte ihre Nase, warf das weiße Haar über ihre Schulter und ging davon.
„Dumme Frau.“ Fluchte Cirillo neben meinem Ohr. „Sie würde nicht einmal eine Frucht von einem Baum unterscheiden können, wenn diese direkt vor ihr liegen! Was denkt sie denn, wer sie ist? Ich bin nicht mein ganzes Leben lang umsonst als Throne unterrichtet worden.“
Erschrocken schnappte ich nach Luft, als Cirillo plötzlich unter meine Beine fasste und mich auf seine Arme hob. „Wa-Was tust du denn?“ Schrie ich verblüfft und gleichzeitig verlegen.
„Sichergehen, das du nicht sofort ausbüchst.“ Höre ich da einen Hauch von Spott aus seiner Stimme heraus?
Cirillo setzte mich auf demselben Platz ab, wo ich vorhin erwacht war, kontrollierte mit einem gekonnten Blick, mein Bein, dann schnappte er sich den Kübel mit Wasser und machte sich auf den Weg, zurück zur Türe.
Ehe er sie erreicht, sprach ich ihn noch einmal an. „Du weißt, dass ich es ernst meine... Ich will zurück in meine Welt. Bevor ich von dir verschleppt wurde, habe ich etwas schreckliches getan... Dafür muss ich mich entschuldigen.“
Cirillo erstarrte, doch wendete sich nicht in meine Richtung. „Was würde diese Entschuldigung von dir wiedergutmachen?“
Für einen Moment antworte ich nicht... Nichts würde es wiedergutmachen. „Es ist einfach nicht meine Art, anderen etwas anzutun. Besonders nicht meinen Freunden.“
„Wieso hast du es dann getan?“
„Es war keine Absicht... Ich war außer mir und wollte... wollte jemand anderem weh tun, der mich schwer verletzt hat. Dann war sie... war sie plötzlich da. Mein Schwert ist so schnell in ihrem Körper...“ Tränen sickerten wie siedend heißes Feuer über meine Haut. „Ich muss mich dafür entschulidgen, selbst wenn es meinen Tod bedeutet.“
Cirillo blieb noch einen Moment stehen. An was er dachte, oder was er vielleicht noch sagen wollte, konnte ich nicht einmal ahnen. Dann ging er einfach und schloss die Türe hinter sich, ohne noch einmal in meine Zelle zu blicken, was ich persönlich schade fand.
Was ging wohl danach in seinen Gedanken vor? Glaubte er mir? Dachte er, dass ich abscheulich bin? Was nur?

 

- - - - -

 

Kaum hatte Cirillo den Kerker verlassen, ging auch bereits wieder das Licht an. Ich starrte noch eine gefühlte Ewigkeit hinauf in den sternenklaren Himmel, über mir werde mir einmal mehr bewusst, dass ich, bis ich hierher kam, noch nie so viele Sterne gesehen hatte, und schlief irgendwann einfach ein.
Der nächste Morgen kam viel zu früh. Meine Augen waren noch ganz schwer, mein Hals ausgetrocknet und mein Nacken schmerzte höllisch. Anscheinend war ich, seitlich an der Wand lehnend, eingeschlafen und hatte mir fleißig auf die Schulter gesabbert... Igitt!
Mit zähen Schritten zog ich mich zur Wasserquelle. Ich konnte zu meiner großen Erleichterung mein Bein wieder belasten, was mir aber erst auffiel, als ich mich vor das dünne Rinnsal hockte und kaltes Wasser in mein Gesicht spritzte. Unauffällig wusch ich über meine Schulter, was leider mein geliehenes, teils zerrissenes Kleidungsstück feucht machte. Seufzend wusch ich auch gleich meinen zweiten Arm, auch wenn ich mir nicht so recht bewusst war, vor wem ich irgendetwas vertuschen wollte. Es hatte ja überhaupt niemand gesehen, was passiert ist. Oder würde mir irgendeine Art an Aufmerksamkeit schenken...
Betrübt betrachtete ich meine, ebenfalls noch schmutzige Kleidung. Allmählich stank es, doch daran war im Moment nichts zu ändern. Zwar wusste ich nun, wie man es anzieht, doch da die Sonne bereits aufgegangen war, wollte ich mich nicht vollständig entkleiden, bloß, um den Gestank heraus zu waschen. Nicht, dass ausgerechnet in diesem Moment irgendein Engel um die Ecke kam! Das wäre peinlich für mich.
Einmal von einem Engel nackt gesehen zu werden, reichte für mein restliches, erbärmliches Leben.
„Frühstück.“ Brummte Cirillo und schob ein Tablett in meine Zelle. Oh ja, ich war endlich wieder des Tabletts würdig geworden! Man glaubt es ja kaum.
Als ich jedoch jetzt zu ihm aufsehe, bemerkte ich die tiefen Ringe unter dessen dunklen Augen.
„Was ist los?“ Die Frage entschlüpfte mir, noch ehe ich mich daran erinnern konnte, doch eine Gefangene zu sein, keine Freundin, die auf besuch gekommen war.
Cirillo hielt in der Bewegung inne, ehe er tief grollte. „Diese verdammten Engel weigern sich mir meinen Lohn zu geben!“ Fauchte der Engel wütend.
Ich komme an das Gitter heran und lehne mich daran. „Was? Wieso denn?“
„Sie meinen ich hätte betrogen!“
Meine Stirn legte sich vor Verblüffung in Falten. „Wie bitte? Wie hättest du bei einem Kampf Nephilim, gegen Nephilim, mogeln können?“
„Sie haben erfahren, dass ich deine Kräfte blockiere, daraufhin gab es ein ausführliches Gespräch für das Warum, dann über deine Intellekt, dein Aussehen, was von Alitia bestätigt wurde, und nun soll dein Blut geprüft werden.“ Erneut stöhnte Cirillo genervt. „Als ob das irgendetwas bringt! Ich weiß ja, wo ich dich gefunden habe. Und du bist mutiert, wie alle anderen auch, die ich hierher gebracht habe! Wieso brauchen sie mehr Beweise?“ Cirillo ließ seine Stirn gegen die kühlen Stangen der Zelle fallen, während er sich mit beiden Händen an die Gitterstäbe klammert.
Ich kann seinen Frust gut verstehen, vor allem, da ihm niemand glauben möchte, dass ich tatsächlich ein Nephilim bin. Der Arme... das ist alles bloß einzig meine schuld! Erst die Sache mit meinem Selbstmordversuch, nun das... Nein, ich durfte es einfach nicht mehr länger leugnen! Cirillo muss einfach die Wahrheit erfahren, wer mein Vater ist, wenngleich mich das vielleicht sogar in Teufels Küche bringen mochte.
Andererseits... Wenn die Engel bereits jetzt so abgeneigt auf mich reagierten, weil ich angeblich der Abkömmling eines Dämons bin, wie werden sie erst reagieren, wenn sie erfahren, was mein Vater angestellt hatte, vor so vielen Jahren. Dass er... irgendwie noch immer in mir existierte und damit ganz bestimmt eine riesen Sünde begangen hatte! Besonders Throne war doch die Reinheit wichtig, nicht wahr? Cirillo wird mich hassen... Nein, viel schlimmer... Noch mehr verabscheuen, als er es ohnehin bereits tat!
Schweren Herzens, legte ich meine Handfläche sanft auf seine weiß hervortretenden Knöchel. Ich musste es aber! „Hör mal, Engel. Da ist etwas, das ich dir-...“
Plötzlich zieht Cirillo seine Hand unter der meinen hervor, als wäre er von etwas gestochen worden und springt gar einen Schritt rückwärts.
Etwas stach heftig in mein Herz hinein. Aber gestern hatte er nicht so auf meine Nähe reagiert. Was hatte er denn auf einmal?
Seltsam geschäftig, wandte sich Cirillo von mir ab. „Vergiss es, es ist nicht dein Problem. Ich stehe unter Zeitdruck und muss die anderen noch füttern.“ Er eilte davon, bis er außerhalb meiner Sichtweite war.
Na was habe ich gesagt? Ich bin ein Nephilim. Throne hassen Unordnung. Jede Rasse muss in ihren Augen, für sich bleiben. Ich bin nicht mehr, als ein Bastard, den er wie ein Tier betreuen musste.
Mit einer seltsam schweren Brust, sank ich zu Boden und griff nach meinem Obst. Oder ist es Gemüse? Ich nehme gerade den zweiten Biss, da sprach mich eine weibliche Stimme unvermittelt an.
„Guten Morgen, Haylee.“
„Alitia?“ Verblüfft kam ich wieder auf die Beine, indem ich mich die Gitterstäbe hinauf ziehe. Ob ich mich jemals an dieses blöde Gewicht in meinem Rücken gewöhnen würde? „Was suchst du hier?“
Sie rollte genervt mit den Augen. „Na was denkst du? Ist er da?“
Ich deutete den Gang hinab, wo der Engel verschwunden war. „Natürlich, aber er sagt, dass er in Zeitdruck ist, außerdem sah er schrecklich müde aus. Vielleicht... solltet ihr eure Meinungsverschiedenheit auf ein wenig später verschieben.“
Alitia stieß die Luft rasch aus und winkte ab. „Ach, Liebes. Wenn man so alt ist, wie ich, schert man sich nicht mehr um die Müdigkeit der Jugend. Cirillo ist selbst schuld an der miesere. Hätte er nicht das Spiel manipuliert, hättest du fair gewinnen können.“
Empört verschränkte ich die Arme vor dem Brustkorb. „Ich habe fair gewonnen!“ Das habe ich doch, oder? „Das Monster ist in meinen Speer gelaufen. Tod. Gewonnen. Das ist doch der Sinn des >Spieles< oder?“ Irgendwie fühlte ich mich persönlich bei dieser Unterstellung angegriffen. Es ist auch wirklich nicht fair zu behaupten, dass wir irgendwie gemogelt hätten.
„Abgesehen davon, dass Cirillo überhaupt nicht auf diese Spiele setzen darf, da er einen unfairen Vorteil besitzt, hat er niemanden darüber aufgeklärt, dass er deine Kräfte blockiert. Weshalb auch immer er das tut.“
Ich fühlte mich dazu verpflichtet Cirillo zu verteidigen. So wie Alitia auf ihn herabsah, erinnerte es mich an dieselbe Situation von gestern, lediglich mit vertauschten Rollen. „Ich erinnere mich ja nicht mehr an sonderlich viel, doch ich weiß noch genau, welche Schmerzen ich ganz am Anfang gehabt habe. Meine Augen brannten, mein Rücken, meine Gliedmaßen. Jeder Atemzug tat mir weh. Cirillo kann bezeugen, wie es mir ging, bestimmt besser noch, als ich selbst.“
Alitia legte interessiert ihren Kopf schräg. „Vielleicht liegt es ja daran.“
Ich runzelte die Stirn. „Was denn?“
„Na dein Aussehen. Alle Nephilim verwandeln sich in die bösartigen Kreaturen, welche in ihnen schlummern, sobald sie diese Ebene der Existenz betreten. Cirillo hat eventuell einfach in deine Verwandlung eingegriffen und du steckst nun zwischen deinem menschlichen und unmenschlichen Gesicht fest.“
Es klang seltsam einleuchtend, doch da Michael mein Vater ist, hatte ich nicht unbedingt das Bedürfnis, in bloß einem winzigen Teil von ihm zu stecken! Obwohl, was meine Flügel anging, kann ich wohl kaum bestreiten, dass sich etwas an mir verändert hat.
„Selbst wenn, bin ich ihm dankbar. Ich will bestimmt keine hirnlose verfressene Bestie sein.“
Alitia lächelte plötzlich. „Ich denke auch nicht, dass du eine wärst. Wer so schöne Flügel besitzt, ist mehr Engel, als eine Kreatur aus der Hölle.“
Erleichtert lächle ich zurück.
„Pass auf was du sagst, Alitia. Wenn dich die Höheren hören, werden sie dich noch für diesen Frevel in den Kerker werfen lassen.“
Cirillo kam um die Ecke und ich fragte mich, wie lange er wohl dort bereits gestanden hatte?
„Ach, da ist ja der Herr! Und? Was hast du jetzt vor? Wie willst du deine Schulden bei mir begleichen?“
Wie kam es, dass Alitia bei mir großteils ein entspanntes Gespräch führte, doch sobald es um Engel ging, die Prinzessin auf der Erbse mimte?
„Ist ja wohl nicht meine Schuld, wenn die so kleinlich sind.“
„Doch ist es wohl, du hast Haylee bewusst manipuliert.“
Mein Blick zuckte von einem Sprecher zum anderen, doch Cirillo erwiderte Alitia´s vorwurfsvollen Ton, alleine mit einem desinteressierten Ausdruck im Gesicht. Eben noch schien er völlig fix und fertig zu sein, doch nun setzte er eine Maske an Gleichgültigkeit auf? Das sah ihm nicht wirklich ähnlich.
„Tz.“ Machte Cirillo. „Du hast überhaupt keine Ahnung von der Arbeit mit Nephilim. Manche sind eben grausamer. Andere unkontrollierbar. Wieder andere, wie dieser hier, ertragen die Verwandlung einfach nicht. Was wisst ihr also schon, von der Arbeit eines Throne?“
Armer Cirillo...
„Genug, vergiss nicht, ich habe viele Throne gekannt, noch ehe du geboren warst.“
Engel werden also geboren?
„Was mir nur beweist, wie alt du bist. Werden Engel, die in die Jahre gekommen sind, nicht allmählich senil?“
Jetzt wurde er aber wieder persönlich. Seine Maske bröckelte.
„Du weißt, mein Verstand ist so klar, wie am Tag meiner Geburt! Außerdem wechselst du das Thema.“ Tat er das etwa? Mir war überhaupt nichts aufgefallen! „Manipulation hin und her. Da du deine Schulden ganz offensichtlich nicht begleichen kannst, wirst du sie abarbeiten müssen.“
Ich zog verblüfft die Brauen hoch. Obwohl Alitia Cirillo nicht ausstehen konnte, zwang sie ihn, für sich zu arbeiten. Engeln muss so etwas wohl wirklich wichtig sein...
„I-Ich?“ Stieß Cirillo mindestens genauso ungläubig hervor, wie ich es war. „Du willst ausgerechnet, dass ich für dich arbeite? Denkst du nicht, dass ich hier schon mehr, als genug zu tun habe? Nicht bloß die Arbeit hier in den Zellen. Nein, ich muss auch noch in die Menschenwelt pendeln und neue Nephilim einfangen. Wann denkst du, habe ich einmal genug Zeit, um irgendwelche dummen Erledigungen für dich zu machen?“
Moment... Cirillo flog noch immer in meine Welt? Aber das bedeutete ja, dass es möglich ist, dass noch jemand von meinen Nephilimgeschwistern hieher verschleppt wird!
„Also was Alitia sagt, ist bloß fair!“ Höre ich die Wörter aus meinem Mund schlüpfen, noch ehe ich es fertig durchdacht hatte. „Schulden müssen beglichen werden!“
Cirillo sah mich endlich an, doch sein Blick war finster, da ich ihm in den Rücken fiel. „Die in erster Hand, deine Schulden sind, ja!“ Erinnerte er mich vorwurfsvoll.
„He, es war nicht meine Idee, auf ihrem Grund zu landen, ich hätte das endgültige Ende des Sturzes bevorzugt.“ Wow, konnte ich gut heucheln.
Sein Blick wurde noch finsterer, doch ehe er den Mund aufmachte, kommt ihm Alitia zuvor.
„Ganz genau, hör auf Haylee. Sie wird dir nämlich dabei helfen müssen.“
Nun bin ich diejenige, die sich in den Rücken gefallen fühlte! „Wie bitte?“
Alitia lächelte mich verschwörerisch an. „Außer du bevorzugst es, hier in deiner Zelle zu vermodern?“
„Ich helfe natürlich sehr gerne!“ Stimmte ich augenblicklich zu und lächle zufrieden zu Cirillo zurück. Der Einzige hier, der nicht fassen konnte, was eben passiert war.
„Soll das... Soll das etwa ein schlechter Scherz sein? Nicht bloß, dass du mich zu Überstunden zwingst, erwartest du, dass ein unkontrollierbarer Nephilim auf deinem Grund herum streunert?“
Was bin ich denn? Ein verfilzter Straßenköter?
„Nein, ich erwarte, dass ihr beide eure angehäuften Schulden begleicht. Das Gericht wird Haylee erst in ein paar Tagen überprüfen. Bis dahin, werdet ihr es ja doch erledigt haben.“
„Wie stellst du dir das vor? Ich muss den ganzen Tag arbeiten und habe Kunden zu betreuen?“
Alitia´s Lächeln wurde bloß noch selbstgerechter. „Dann arbeitest du eben abends. Und gib Haylee unbedingt etwas anständiges zum Anziehen. Sie stinkt fürchterlich!“
Damit machte der weißhaarige Engel kehrt und stolzierte davon. Mein Lächeln jedoch verging, kaum dass sie aus der Türe... Äh, dem Tunnel war.
„Wieso unterstützt du ihren Wahnsinn auch noch? Denkt ihr beide wirklich, ich habe nichts Besseres zu tun, als hinter euch her zu rennen?“
Ich seufzte. Natürlich hatte Cirillo recht, doch alleine der Gedanke daran, Zeit außerhalb der Zelle zu verbringen und einen Teil der Welt der Engel zu sehen, ließ mich beinahe im Dreieck springen!

 

- - - - -

 

Geschlagen musste Cirillo nachgeben. All sein Protest prallte wirkungslos bei Alitia ab, als sie einen Abend später, noch ehe das Nachtlicht anging, vor meiner Zellentüre stand. Da sie bereits ahnte, dass Cirillo keine Kleidung für mich haben würde, hatte sie mir selbst etwas mitgebracht, worüber ich mich sehr freute.
Das Kleidungsstück ist schlicht gehalten, wie jedes andere, welche ich bisher bei den Engeln hatte sehen können. Weiß, von unten nach oben anzuziehen und in diesem Fall sogar etwas mit kurzer Hose.
Ich konnte meine Freude über die hübsche neue Kleidung kaum verbergen, auch wenn mir der Gedanke nicht gefällt, dass Cirillo mich keine Sekunde aus den Augen lassen würde, nachdem Alitia mir den Anzug durch die Stäbe hinein gereicht hatte.
„Cirillo, so etwas schickt sich nicht! Nephilim hin oder her, sie ist trotzdem ein weibliches Wesen!“
Das musste sie mir nicht sagen. Auch wenn ich Cirillo seine >Waschaktion< verziehen hatte, trieb mir alleine der Gedanke daran, die Schamesröte ins Gesicht!
„Nephilim ist Nephilim. Außerdem habe ich sie schon gewaschen und ihr beim Anziehen geholfen. Mit was sollte sie mich denn großartig überraschen?“
Ich wünschte mir sehnlichst, ihn dafür Ohrfeigen zu können, doch Alitia kam mir, gnädigerweise, zuvor.
„Du Ekelpaket! Wie kannst du nur?“
Perplex hält sich Cirillo die Wange. Danke Alitia! „Sie ist ein junges Mädchen und du belästigst sie einfach so schamlos? Was geht bloß in deinem verdrehten Kopf vor?“
„Du hast mich geschlagen!“ Brauste Cirillo nun seinerseits auf, was mich genervt schnaufen ließ. Werden die beiden es denn nie leid?
„Los, raus hier jetzt! Oder ich verpasse dir einen Schlag, der dir mehr, als einen blauen Fleck einbringt!“
Unsanft stieß Alitia Cirillo aus den Gang hinaus, wobei meine Zellentüre, auf geisterhafte Weise aufschwang.
Bestimmt hatte Alitia sie für mich geöffnet, ohne dass es Cirillo bemerkte.
Nun konnte ich mich endlich entkleiden, wasche mich grob und schlüpfe in die neue, seidig weiche Kleidung. Sie schmiegte sich, wie eine zweite Haut, an meinen Körper an, was mir fürchterlich unangenehm war! Obwohl der Stoff meinen Körper versteckte, betonte er dennoch meine Brüste, so wie die Hüfte. Zur Hölle, so werde ich nicht einmal meiner eignen Mutter vor die Augen treten! Wie peinlich!
„Äh... Alitia, kommst du bitte mal!“ Rufe ich halblaut, in der Hoffnung, sie hörte mich. „Alitia?“ Nun bin ich etwas lauter, nur um im nächsten Moment, tatsächlich dem weißhaarigen Engel gegenüber zu stehen.
„Na passt doch. Sehr gut, komm, du hast viel Arbeit zu erledigen.“
Ich deute meinen Körper hinab. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder? So?“
Alitia schien nicht wirklich ein Problem zu erkennen. „Was ist denn? Du siehst entzückend aus.“
Ich begann damit, an den >Problemstellen< meines Körpers herum zu zupfen. Das Kleidungsstück von vorher ist ja ebenfalls anliegend gewesen, bloß mit dem Unterschied, dass es nicht figurbetonend gewesen war. Dieses jedoch... Ich bekam das Gefühl, als ob sich jedes Härchen darunter abzeichnen würde!
Alitia zog die Türe weit auf. „Na komm schon, sonst müsst ihr Überstunden machen.“
„A-Aber so kann ich doch nicht hinaus gehen! Ich bin quasi nackt!“
Erst jetzt schien Alitia zu bemerken, dass mein Problem weder bei der Farbe, noch beim Schnitt des Kleides lag. „Stimmt, es ist figurbetonend, doch das passt schon so. Du hast einen umwerfenden Körper, wieso solltest du ihn verstecken wollen? Vielleicht ein wenig mager... Ich werde dir wohl zuhause etwas zum Essen machen müssen. Gibt dir dieser Trampel etwa nichts?“
„Ei-Eine Mahlzeit am Tag.“ Gab ich leise zu, während sie mich am Arm nimmt und einfach neben sich her zieht.
„Nur eine? Dieser Barbar! Sag mir nicht, du bekommst dasselbe Fiehfutter, wie die anderen Nephilim?“
Ich zuckte unwissend mit den Schultern, wenngleich es mir eigentlich schon klar war. Natürlich bekam ich dasselbe. In seinen Augen bin ich nichts weiter, als ein weiterer, abscheulicher Bastard!
„Also wirklich. Engel sind ja dermaßen frustrierend engstirnig, besonders Throne!“
„Können wir jetzt endlich los?“ Fragte Cirillo, kaum dass wir... An einer Klippe ankamen! Hilfe!
Erschrocken machte ich einen Satz zurück. Cirillo schwebte mit leicht schlagenden Flügeln auf einem Fleck, während der Wind an seiner Kleidung zerrte. Auch Alitia schwang sich in die Lüfte, mit kaum Bewegungen ihrer Flügel.
Ich jedoch, stand lediglich da, wie ein ängstliches Schweinchen vor der Schlachtbank! Sie... Niemand hatte mir gesagt, dass der Tunnel direkt an einer Klippe endete!
„Oh, kann sie denn überhaupt fliegen?“ Erkundigte sich Alitia, scheinbar erst jetzt.
„Fallen? Ja.“ Spottete Cirillo, wofür ich ihm einen ärgerlichen Blick zuwarf. Ha. Ha. Nicht lustig!
„Na gut, aber mit den Flügeln schlagen kannst du bestimmt, richtig?“
Die Frage galt mir, doch ich fühlte mich nicht wirklich angesprochen.
„Ich bin schon froh, wenn sie diese oben hält. Jetzt überfordere den Nephilim nicht gleich.“
„He!“ Ich stand immerhin direkt neben ihm. „Tut mir leid, wenn eine Zelle eben nicht unbedingt dazu einläd, wie eine Verrückte herum zu fliegen!“
Nun bekomme ich den ärgerlichen Blick von Cirillo zurück.
„Also wirklich, Cirillo zeigt dir auch wirklich überhaupt nichts.“
„He!“ Entkam es nun Cirillo. „Was bin ich? Ihr Mentor? Sie ist ein verdammter Nephilim, zu den Ältesten noch einmal.“
Tadelnd schüttelte Alitia den Kopf. „Los beweg dich! Liebes, du musst nichts weiter tun, als mit den Flügeln zu schlagen, denkst du das lassen deine Muskeln bereits zu?“
„Steck sie einfach in eine Kiste und wir tragen sie.“
„Das verrechne ich dir aber dann extra.“ Entkam es Alitia, wie einer schnappenden Schlange, ehe sie mich wieder anlächelte. „Streck einfach einmal deine Arme aus und bewege deine Rückenmuskeln mit.“
Ich versuchte, wie sie es mir sagte, doch die Flügel zu spreizen, ist mit abstand das schwierigste, was ich jemals in meinem Leben gemacht hatte!
„Genau so! Gut, Mädchen. Lass sie ausgestreckt, dann können wir dich schweben lassen, gut? Cirillo, hast du ein Seil, das wir ihr umbinden können?“
„Seil?“ Fragte ich schockiert.
Cirillo dachte angestrengt darüber nach, als er auch bereits im Eilflug über uns hinweg sauste.
„I-Ich weiß ja nicht, ob das so eine gute Idee ist, mit dem Seil.“ Versuchte ich, mich zu retten, doch da stand Cirillo auch bereits vor mir und band es mir geschickt um die Taille und die Beine.
„B-Bitte, ich will das wirklich nicht mit dem Seil. Kann ich nicht einfach... dorthin gehen?“ Wo auch immer dies sein mag.
Alitia lachte amüsiert. „Liebes, du bist hier im Reich der Engel! Diese Flügel haben wir nicht umsonst.“
Sie drehte sich einmal im Kreis, um ihre wunderschönen, reinweißen Flügel zu präsentieren, dann nahm sie das Ende des Seiles und zog es stramm.
„Na los, ist ja nicht so, als wäre es dein erste Mal, irgendwo hinunter zu fallen, richtig?“
Cirillo hielt mir seine Hand hin, als würde es bloß einen Schritt bedürfen und auf magische Weise erschien dann plötzlich ein sicherer Weg hinab zu Alitia´s Grundstück, bloß weil ich mein Vertrauen zu ihnen bewiesen hatte.
Blödsinn! So etwas existierte wohl oder übel lediglich in Filmen.
„I-Ich kann nicht...“ Ich deutete auf den Abgrund.
„Mit dieser Flügelhaltung ganz bestimmt nicht.“ Spottete Cirillo und schüttelte den Kopf. Er landete neben mir und ging hinter mich, während er mich sanft auf den Abgrund zu schob.
„Heb sie und streck sie so weit aus, wie du kannst.“
Ich schüttelte energisch den Kopf und stemmte mich gegen seine enorme Kraft. „Nie im Leben! Das ist viel zu hoch!“
Cirillo´s Finger fassten mit einem Mal zwischen meine Flügel, woraufhin ich sie instinktiv auseinanderfaltete und den Rücken durch wölbte. Zur Hölle, war das ein seltsames Gefühl!
Mit der anderen umfasste er meinen Körper, mit einem starken Griff. „Schon gut. Jetzt lass dich einfach gerade hinunter fallen. Dann werden deine Flügel dein Gewicht tragen und ich lenke.“ Schwor er.
Ich drückte mich noch enger an seine Brust. „Das klingt irgendwie logisch, aber ich habe Angst.“
Ich fühlte Cirillo´s nächsten Worte viel mehr an meinem Ohr, als dass ich sie verstand. „Habe ich dich nicht schon einmal im Fall gefangen? Was lässt dich daran zweifeln, dass ich dich jetzt nicht festhalte?“
Ich weiß, meine Worte waren absolut die Falschen... Aber sie entsprangen meiner panischen Angst und somit der Wahrheit. „Weil du gemein, zickig und überheblich bist... Oh und du kannst mich überhaupt nicht leiden. Außerdem hast du Schulden wegen mir und...“
„Haylee... Wenn du noch mehr Gründe aufzählst, lasse ich dich wirklich fallen.“
Erschrocken fasse ich mit beiden Händen nach seinem schützenden Arm an meinem Bauch. „Bitte nicht!“
Cirillo kicherte glucksend an meinem Ohr. „Dann los jetzt.“
Mir entkam ein entsetzter Schrei, als Cirillo mit mir einfach über die Kante sprang und ich in die Tiefe fiel. Jedoch nicht sonderlich lange, denn Alitia hielt, wie versprochen, das andere Ende des Seiles und Cirillo schlang nun auch seinen zweiten Arm um mich.
„Spreizen, Haylee!“ Schrie er hinter mir. Offensichtlich hatte ich meine Flügel instinktiv an meinen Rücken gezogen. „Spreizen, oder du ziehst uns beide mit hinunter!“
Okay... Spreizen. Ich musste doch bloß meine Flügel... Wie ging das noch einmal? Was hatte Alitia gesagt? Wenn ich meine Arme streckte, dann... dann müssen doch meine Rückenmuskeln die Bewegung nachahmen, richtig?
Ich zog meine Nägel aus Cirillo´s Unterarm und fühlte mich dabei bloß minimal schuldig, ihm weh getan zu haben. Dann streckte ich beide Arme von mir und hoffte, dass es mir meine Flügel nach machten. Cirillo und Alitia schlugen ihrerseits heftig mit den Flügeln, was uns gerade so in zirka einer Höhenlage hielt.
„Sehr gut!“ Kam es über uns, von Alitia. Ich sah mich nach meinen Flügeln um und tatsächlich! Sie waren ausgestreckt und es fühlte sich überraschenderweise nicht so anstrengend an, wie wenn ich senkrecht stehen lassen musste. „Schlage mit deinen Armen, wie mit den Flügeln. Versuch das!“
Mit den Armen schlagen? Also so, wie es Vögel machten, richtig?
Entschieden, da ich nun bereits die erste Hürde, sehr unfreiwillig überstanden hatte, bewegte ich die Arme sanft auf und ab, während Cirillo mich in einer waagrechten Position hielt. „I-Ich fliege!“ Stieß ich ungläubig hervor und wagte es nun endlich, meinen Blick auch ein wenig weiter schweifen zu lassen.
Zu meinem großen bedauern sehe ich nicht besonders viel mehr, als an jedem anderen Tag. Wolken. Egal wohin das Auge reichte... Überall sind verdammte, flauschige Wolken! So schön sie auch aussahen, nach über einem Monat, hatte ich sie nun doch satt.
Mein Herz schlug weiterhin wie verrückt in meinem Brustkorb. Mein Körper war zum Zerreißen gespannt und allmählich breitete sich Schweiß auf meiner Haut aus. Als ich das nächste Mal mit Armen und Flügeln schlug, weiß ich auch weshalb... Das Seil war nicht mehr gespannt!
Erschrocken sah ich zur Seite, um Cirillo aus dem Augenwinkel anzuschielen. „Alitia hat los gelassen! Sie hat losgelassen! Was mache ich denn jetzt?“ Schrie ich entsetzt, was ihm ein genervtes Stöhnen entlockte.
„Sie hat nicht losgelassen. Sie spart bloß Energie.“
Energie? „Was? Wieso das denn? Du kannst mich doch nicht alleine oben halten!“
„Für die Landung. Und danke, dass du mir so wenig zutraust. Immerhin habe ich dich bei deinem Fall persönlich wieder hinauf getragen! Denk also bloß nicht, dass ich so schwach bin, wie du.“
Deshalb musste er doch nicht gleich wieder zickig werden! Ehe ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte, ergreift Cirillo erneut das Wort.
„Außerdem sind wir mehr in einem Sinkflug unterwegs. Das verbraucht keine Kraft, da ich dich bloß waagrecht halte.“
Cirillo hatte recht. Nun fiel auch mir auf, dass wir langsam, nicht bloß weiter weg von dem schwebenden Felsen und seinen, im Inneren versteckten Zellen, flogen, sondern auch stets tiefer sanken!
Anblinzelnd gegen den Wind in meinen Augen, wischte ich eine Träne fort. „Wie lange werden wir denn sinken?“
„Wenn du es wieder im freien Fall versuchen willst, dann geht es bestimmt viel schneller.“
Zur Strafe, da er schon wieder gemein wurde, veränderte ich die Position meines Flügels, was uns beide schwer ins Straucheln geraten ließ und Cirillo zog mich wieder enger an seine Brust.
„Ach, ich dachte, du willst mich lieber fallen lassen?“ Spottete ich auf seine Reaktion hin dennoch, doch Cirillo ließ sich nicht beirren. Er brachte uns wieder auf Kurs, da erschien auch bereits Alitia neben mir.
Im Gegensatz zu meiner, eher fehlenden Eleganz, schlug sie in der Minute höchstens einmal mit den Flügeln, wenn ein Luftstrom sie versuchte von ihrem Kurs abzubringen. „Das sieht doch schon ganz nett aus.“ Lobte sie. „Wie geht es dir, bei deinem ersten richtigen Flug?“
Ich lächelte dem schneeweißen Engel dankbar für die Ablenkung zu. „Es zieht ein wenig.“ Gebe ich zu, da meine Augen fürchterlich brannten. Wie hielten Engel das bloß aus? Ob sie wohl wie Fische im Wasser, dem Gefühl des schneidenden Windes einfach entgingen, da es ihnen eine Toleranz solchen Dingen gegenüber in die Wiege gelegt worden war?
Oder besaßen sie gar ein zusätzliches Lid, wie Frösche... oder sind das etwa Echsen gewesen? Irgendetwas Glitschiges eben...
„Oh, stimmt. Cirillo blockiert dich ja. Cirillo! Zieh dein Schild gefälligst über Haylee!“ Während die ersten beiden Sätze noch besorgt ausgesprochen worden waren, klang der dritte schon wieder vorwurfsvoll und streng.
„Wieso? Sie hat den Status eines Kindes! Soll sie sich doch selbst helfen, wir alle mussten es so lernen.“
Die weiße Schönheit setzte erneut ihren bedrohlichen Blick auf. „Cirillo! Sofort! Du kannst sie nicht blockieren und sich selbst überlassen! Das hat dir schon bei den Spielen den Kopf gekostet!“
Autsch... Was für ein wohl platzierter Tiefschlag, von meiner neuen besten Freundin! Ich mochte Alitia´s Schlagfertigkeit tatsächlich sehr gerne.
Nur einen Moment später, fühlte ich, wie etwas unangenehmes über meinen Körper kroch. Erschrocken lehne ich mich nach oben, Cirillo entgegen und wollte nichts lieber, als mich loszureißen. Von Cirillo getragen zu werden, in seinen Armen zu fliegen, oder gar seine weichen Flügel zu berühren, war mit Abstand etwas gänzlich anderes, als das hier. Egal, was auch immer das gerade eben war... Es fühlte sich sehr, sehr unangenehm an, wie es, eiskalt über meine Haut kroch, bloß um einen Moment später einen Schutz an meinem Körper zu erzeugen.
„Himmel, was ist das denn?“
„Ich habe einen Schutz erzeugt, der ebenfalls deinen Körper nun umgibt. Er bleibt beständig, solange sich unsere Körper berühren.“
Gegen die willkürliche Reaktion meines Körpers konnte ich nichts ausrichten. Ein Stich traf mein Herz, während sich meine Wange rot färbten.
Als mich das letzte Mal ein Junge in den Armen gehalten hatte... mich schützend gewiegt und getröstet...
Cirillo reißt jäh meine Gedanken aus meinen trüben Erinnerungen, da er meine Aufmerksamkeit auf etwas lenkt. „Sieh. Dort ist eine Engelsstadt.“
Verblüfft sehe ich mich in mehrere Richtungen um, doch kann nichts, außer dicker weißen Wolkendecken erkennen.
„Wo?“ Frage ich interessiert nach. Ob es dieselbe war, die ich an meinem ersten Tag hier gesehen hatte?
„Rechts von dir. Im Sommer kann man sie besser erkennen. Sie ist der Grund für all diese dicken Wolken hier in der Umgebung. Überall anders, könnten wir meilenweit alles überblicken.“
Eine Stadt, welche Schuld an Wolken war? „Wie meinst du das? Wie kann eine Stadt für so viele Wolken sorgen?“
„Erinnerst du dich noch an die Stadt, welche an uns vorbei schwebte vor über einem Monat?“
Ich nicke. Wie könnte ich diese je vergessen?
„Da hast du den letzten Rest der Stadt des Lichtes sehen können. Davor ist sie mehrere Tage lang unter den Zellen vorbei geschwebt.“
„Tagelang?“ Fragte ich erschrocken. Seltsamerweise fand ich es bedauernd, dies verpasst zu haben!
„Genau. Die Stadt der Wolken ist so ähnlich, bloß dass der Bereich der Zellen und des Amphitheaters, zu ihnen gehört.“
„Du meinst damit die Arena, in welcher ich gekämpft habe?“ Fragte ich zur Sicherheit nach, während mein Blick über das wolkenreiche Himmelszelt glitt. Bedauerlicherweise erkannte ich rein gar nichts.
„Kämpfen würde ich das nicht gerade nennen. Du hattest Glück, dass du nicht aufgefressen wurdest.“
Ja, ja. Das Thema hatten wir doch bereits durch, oder nicht? Ich bin hingefallen. Schön und gut. Trotzdem lebe ich und das Monster ist tot!
„Wir sollten nicht weiter sinken.“ Mahnte Alitia plötzlich, während ihr Blick zu einem Ort glitt, den wir nicht sehen konnten. Na gut, vermutlich sah bloß ich ihn nicht, denn Cirillo legte sich stark nach links und begann damit, kräftiger mit den Flügeln zu schlagen.
„Beim Landen, hilfst du mir jedoch, sie zu tragen. Sonst ziehe ich dir die nächste Spur durch deinen geliebten Garten.“
Alitia gab einen abschätzigen Laut von sich, der genauso gut eine Beschimpfung hätte sein können. Dann spannte sich auch allmählich das Seil wieder um meinen Leib. Selbst Cirillo´s Arme packten mich kräftiger um den Leib. Irgendwie kam ich mir nutzlos vor und das gefiel mir nicht! „U-Und was soll ich tun?“
„Nichts, wir fangen dich schon ab, keine Sorge.“
Ich gab ein nervöses Lachen von mir. Ähm... Ja, das war nicht gerade beruhigend, als nur wenige Meter vor uns, eine grüne Rasenfläche auftauchte.
„Cirillo!“ Mahnte ich, da mir die Fallgeschwindigkeit kein bisschen zusagte!
„Alitia, du musst mithelfen!“ Keifte Cirillo über sich, den schneeweißen Engel an.
„Mache ich ja!“ Gab sie genauso gereizt zurück.
„Leute!“ Rief ich und zog instinktiv die Beine an. Ruckartig schnitt mir das Seil in den Leib, was ich im Nachhinein betrachtet, vermutlich hätte kommen sehen müssen, als Alitia uns beide eine guten Meter weiter hinauf katapultierte, noch ehe wir ihren, scheinbar heiß geliebten Boden, streifen konnten.
Irgendwie schaffte es Cirillo, uns auf einen Kiesweg zu lotsen. Ich selbst hatte mittlerweile meine Arme in Cirillo´s geschlagen, meine Beine bis hoch zum Bauch angezogen und meine Flügel angelegt. Dass der Engel dort hinter mir überhaupt noch irgendetwas sah, grenzte vermutlich an einem Wunder.
Doch als Cirillo´s Beine das erste Mal den Boden berührten, fühlte ich mich doch zu sehr, wie ein getragener Sack voller Kartoffeln, streckte meine Beine aus und versuchte im selben Tackt wie er zu laufen und gleichzeitig zu bremsen.
Dass wir der Länge nach hin fielen, war kaum weiter verwunderlich. Die Luft wurde mir unter seinem Gewicht aus der Lunge gedrückt und Kies kratzte messerscharf über meine entblößte Haut.
„Autsch...“ Murrte ich völlig ermattet, während Cirillo nur einen Augenblick später bereits von mir hinunter gesprungen war und den Staub von seiner Kleidung klopfte. Nur eine Sekunde danach, klopfte der Strick, an dem ich quasi gehangen hatte, unsanft über meinen Rücken, so wie meinen Kopf und blieb an meiner Schulter liegen.
Alitia hingegen, landete federleicht, ohne auch bloß einen einzelnen Kieselstein aus dem Gleichgewicht zu bringen. „Damit könnt ihr gleich anfangen!“ Ich wusste, der spöttische Ton galt nicht mir, sondern Cirillo, trotzdem konnte ich mir ein weiteres Murren nicht verkneifen.
„Danke. Mir geht es gut. Sind bloß ein paar Kratzer.“
„Sehr gut, dann können wir ja direkt beginnen.“ Entschied Cirillo für uns beide. Ich kam in eine sitzende Position hoch und begutachtete den Schaden an Händen und Knien. Wie gesagt. Es war oberflächlich und blutete kaum. Trotzdem juckte der Schmutz in der Wunde unangenehm, während ich einzelne, nun rot verfärbte Kieselsteine aus den Wunden zupfte. Hm... War mein Schmerzempfinden etwa ebenfalls toleranter geworden? Oder lag es an Cirillo´s, hoch gelobten Sumpfwasser? Ach, was wusste ich schon?
„Könnte ich mich vielleicht bitte noch vorher ein wenig waschen?“ Bat ich Alitia.
„Natürlich, Liebes. Komm, ich zeige dir das Bad. Cirillo kann derweilen ja die Gerätschaften aus dem Keller holen. Er weiß selbst am besten, was er brauchen wird, um meinen Garten wieder auf Vordermann zu bringen.“
Stöhnend kam ich auf und ignorierte das giftige Blickduell der beiden. „Ich beeile mich.“ Versprach ich Cirillo, welcher überhaupt nicht erst darauf einging. Als sein finsterer Blick auf mich glitt, zog sich seine Stirn ein wenig in Falten. Witzig... Also konnten Engel tatsächlich Falten bekommen?
Noch ehe ich auf den amüsanten Gedanken näher eingehen konnte, tat Cirillo etwas, mit dem ich nicht rechnete. Er strich mir über das Kinn! Erstarrt beobachtete ich, so gut es ging, seine Tat. Es war weder sanft... noch unsanft... Sein Daumen berührte die Unterseite meines Kinnes lediglich so lange, wie es nötig war, einen verirrten Kieselstein aus einer Wunde zu lösen, die mir überhaupt nicht aufgefallen war.
Dann nickte er. „Wird auch besser sein. Ich will so schnell wie möglich hier fertig sein und nicht morgen wieder kommen müssen.“
„Was?“ Frage ich völlig perplex und leicht atemlos. Seine Worte passten so gar nicht zu der fürsorglichen Tat.
Anstatt seine Worte näher zu erklären, die in diesem Moment einfach keinen Sinn für mich zu ergeben schienen, wandte sich Cirillo ab und marschierte den Kiesweg entlang, rund um das Anwesen herum, welches wir erreicht hatten.
„Na komm. Sonst wird er bloß ärgerlich und lässt alles an dir aus.“
An mir? Was denn?
Leise vor mich hin fluchend, fasste ich mir an den Kopf, während ich Alitia zur großen Eingangstüre folge. Sie war so riesig, dass zwei Engel, mit jeweils ausgestreckten Flügel, nebeneinander hinein oder hinaus gehen konnten, ohne Gefahr zu laufen, einander zu berühren. Zudem maß sie bis hinauf in den zweiten Stock und öffnete sich geräuschlos, nach außen hin, sobald wir die erste, marmorierte Treppe berührten.
„Wahnsinn!“ Stieß ich ungläubig hervor. „Dein Heim ist ja ein traumhaftes, kleines Schloss!“ Schwärme ich schamlos. Obwohl das Haus, von außen, bloß ein paar wenige richtige Fenster zu besitzen schien, dafür jede Menge, prächtige Balkone, mit ebenso farbenprächtigen Pflanzen in Töpfen darauf, glich es stark ein menschliches Gebäude. Natürlich waren die Öffnungen viel größer und so breit, dass man hinein fliegen konnte, trotzdem glich die Fassade, so wie der Aufbau oder das gewöhnliche Dach, einem Barockgebäude. Aus welchem Jahrhundert konnte ich nicht natürlich bestimmen. So gut kannte ich mich bei weitem nicht in Architektur aus. Aber dem Barockstil, würde ich es definitiv zuordnen.
Das Innenleben war kaum anders, als draußen. Alles war hell gehalten, selbst die Fassade war hellgrau gewesen, die Vorhänge schneeweiß, der Boden makellos rein, die Wände teils mit einer hellblauen, beinahe weißlichen Substanz gestrichen, oder beklebt. Das konnte ich nicht erkennen, doch durfte ich glasklar erfahren, dass sie hier drinnen, in Alitia´s eigenen vier Wänden, ihrer, scheinbar ungewöhnlich hellen Hautfarbe einen Ehrenplatz geschaffen hatte. Plüschig weiche Kissen waren auf einladenden Sitzgelegenheiten gebettet, Teppiche, gehalten in ähnlich hellen Farbnuacen, wie die Wände, luden dazu ein, sich auf den Boden zu kuscheln. Sanftes Licht leuchtete überall auf, wohin man den Blick wandte, als ob die Sensoren der, hier verwendeten Kristallen, nur darauf warteten, beachtet zu werden.
Treppen gab es keine, dafür die einen oder anderen Löcher in der Decke, welche wiederrum von Geländern umzäunt waren. Kein Holz der Regale, war dunkel genug, um sich großartig von der weißlichen Reinheit ihres Heimes großartig abzuheben. Sie wirkten poliert und glänzten regelrecht.
Überall konnte ich Pflanzenkübel ausmachen. Irgendwo rauschte ein Wasserfall... innerhalb des Haues! Zudem roch, gefühlt jeder Zentimeter, den ich durchquerte, völlig anders.
„Hier ist das Gästebad.“ Einladend deutete Alitia auf eine milchige Wand, die beinahe transparent zu sein schien, welche sich, wie eine Schiebetüre, auf ihre Bewegung hin, nach innen verzog.
„Danke.“ Hauchte ich, ohne aus dem Staunen hinaus zu kommen. Wie zur Hölle, konnte eine Frau alleine, die eine riesige Vorliebe zu Pflanzen hegte, bloß so reinlich sein?
Hinter mir schloss sich die milchige Glaswand wieder, während ein sanftes Kristalllicht den Raum erhellte. Er war nicht großartig viel größer, als eine Toilette in einem Hotel oder eher Restaurant. Während neben der Türe, eine ganze Zeile an Regalen aufgestellt waren, gab es lediglich ein Waschbecken, so wie eine Toilette.
Willkürlich jauchzte ich vor Freude. „Eine Toilette!“ Sie sah vielleicht nicht so aus, wie die bei uns zuhause. Sie war viel flacher, glich eher einem Liegestuhl und fuhr sich ganz von selbst, in eine bequeme Position, sobald ich es mich darauf setzte. Zu meinem Bedauern, musste ich im Moment nicht auf die Toilette, doch den Luxus, welche eine mit sich brachte, hatte ich sehnsüchtig vermisst.
Seltsam welche Vorlieben man entwickelt, wenn man etwas seit einem Monat nicht mehr hatte benutzen können, obwohl es einem so selbstverständlich erschienen war.
Nach einem, vermutlich eher peinlich, intimen Moment mit meiner Sehnsucht nach einer richtigen Toilette, setzte ich mich wieder auf und ging zum Waschbecken. Daneben lagen viele, zu einem Turm gewickelte Tücher, welche an Weichheit einem der Teppiche glich, an denen ich vorbei gekommen war. Es war sogar schon richtig schade darum, als ich es auswickelte, befeuchtete und dann mit meinem farbigen Blut beschmutzte. Ob Engel ebenfalls rotes Blut besaßen? In vielen Geschichten war es weiß, silbern, oder gar Gold beschrieben worden. Was wohl davon zutraf?
„Kann ich dir etwas bringen, Haylee?“ Erkundigte sich Alitia, welche noch immer vor dem Bad stand, oder bereits wieder? Wie lange war ich schon hier drinnen?
Räuspernd schaltete ich den Hahn ein... Zumindest wollte ich es, doch scheinbar genügte auch bei diesem, zur Blüte gebogenen, silbernen Hahn lediglich ihn anzusehen, damit auch bereits klares Wasser heraus lief. Ich befeuchtete das Tuch. „Nein, nein. Tut mir leid, ich weiß, ich sagte ich beeile mich.“
Entschuldigte ich mich, dann wusch ich hastig meine Knie ab und krümelte noch etwas Dreck aus meinen Unterarmen.
Ich war gerade erst fertig und warf das Tuch in einen Korb, in welchem bereits ein benutztes gelegen hatte, als mir auffiel, dass das reinweiße Becken nun Schmutzkrümel von mir aufwies. Selbst der Boden! Ich fühlte mich seltsamerweise schlecht. Weshalb fühlte ich mich dafür bloß so schlecht?
Ich nahm noch ein Tuch, spülte das Becken aus, trocknete es, aus einer Laune heraus, dann bückte ich mich, um dort die größeren Krümel aufzuwischen, zumindest so gut, wie es mir nun einmal möglich war. In meinem Leben hatte ich mich noch nie in einem solch reinen Heim befunden und kam mir noch schmutziger vor, als jemals zuvor in meinem Leben.
„I-Ich denke, ich bin fertig.“ Ließ ich Alitia wissen, woraufhin die Türe wieder hinein in den grauen Stein glitt. Hm, hier drinnen gab es wieder grauen Stein, so als ob das gesamte Bad aus einem Stück geschlagen worden war. Ich konnte nirgendwo eine Fuge erkennen, aber vielleicht war sie mir auch einfach nicht aufgefallen.
Alitia lächelte, als sie mich erblickte. „Hier, Handschuhe, damit du dir deine zarten Hände nicht rissig machst.“
Verblüfft nahm ich sie entgegen. Sie waren, wie so gut wie alles hier, reinweiß und, obwohl sie hauchdünn aussahen, fühlten sich seltsam robust an. Beinahe wie Hartplastik... nur viel flexibler! Was war das für Material?
„Da-Danke, aber ich denke nicht, dass ich sie verwenden sollte. Danach sind sie doch ganz schmutzig.“
Alitia lachte amüsiert. „Das stört doch niemanden. Sie werden ohnehin weggeworfen, nachdem sie einmal benutzt wurden.“
„Also sind es Einweghandschuhe?“ Frage ich interessiert, während ich, dankbar für ihre freundliche Geste, in den ersten schlüpfte. Bestimmt würde dieser Stoff in meiner Welt, vielfältig verwendet werden können.
„Ein-Weg?“ Fragte sie nachdenklich und schwebte neben mir her, ohne den makellosen Boden zu berühren. „Ja, ich denke, so könnte man sie ebenfalls nennen.“
„Wie nennt ihr sie denn?“
„Arbeitshandschuhe. Man kann den Stoff so gut wie für alles benutzen. Weder fühlt man Hitze, noch Kälte durch ihn hindurch. Zudem reißt der Stoff so gut wie unter keinen gegebenen Umständen. Sie sind sehr geschätzt unter den durchschnittlichen Engeln.“
„Du bist kein durschnittlicher Engel, richtig?“ Erkundige ich mich und bewundere den angenehmen Stoff auf meiner Haut. Es fühlte sich glatt an... ein wenig ölig, als sei die Innenseite mit einem pflegenden Film für die Haut belegt. Oder war das ein Bestandteil des Handschuhs, damit er beständig blieb?
„Nein, ich bin leider ein geächteter, aufgrund meiner Hautfarbe.“
Erneut betrachtete ich Alitia´s scheinbar makelloses Äußeres. „Das kann ich mir kaum vorstellen. Wenn du ein Mensch in meiner Welt gewesen wärst... wärst du Model gewesen, auf den Titelseiten von vermutlich allen Zeitschriften und begehrt bis zum Umfallen.“ Witzelte ich. Trotzdem erzeugte das Thema >meine Welt< einen seltsamen Nachgeschmack in meinem Hals, welcher sich wie ein Kloß in meiner Kehle einnistete.
„Du meinst, ich wäre... beliebt?“
Ich lachte. „Ja, und wie! Du gingest bestimmt als das neueste Modeidol durch. Du bist wunderschön. Darauf wäre jede Frau neidisch und jeder Mann würde dir die Türe einrennen.“
Ihre Wangen wurden eine Spur dunkler. „Das musst du wirklich nicht sagen... Ich fühle mich mittlerweile in meiner Haut wohl. Die Komplexe der anderen, sind mir egal.“
„Das sollten sie auch sein!“ Bestätigte ich sie lautstark. „Ich kann nicht verstehen, wie sie ein Aussehen wie deines verabscheuen, anstatt zu vergöttern.“
Verlegen wandte sie das Gesicht ab, als ob es ihr peinlich wäre, so gelobt und bestätigt zu werden. Ob mein Verhalten, wohl etwas völlig Neues für sie war?
„Engel sind eben die Schöpfung von makelloser Schönheit, das Abbild der Perfektion höchst selbst und begnadete Krieger. Wenn du nur einem dieser Kriterien nicht entsprichst... wirst du verstoßen. Engeln, wie mir zum Beispiel, ist es auch streng verboten, sich fortzupflanzen, damit die Erblinie nicht weiter beschmutzt wird. Da ich jedoch ohnehin keinem Erzengel entsprungen bin, oder gar einer meiner Elternteile, spielte es ohnehin nie eine große Rolle für irgendwem, was ich tue. Ich hatte nie ein besonderes Erbe, dass ich beschmutzt hätte, also baute ich mir mein eigenes, perfektes Reich auf.“
Zufrieden und voller Hingabe, betrachtete Alitia die Einrichtung, an welcher wir vorbei gingen. „Es ist auch traumhaft hier. Ich wage nicht einmal etwas zu berühren, da ich angst habe, es dreckig zu machen.“
Ihre Hand berührt sanft meine Schulter. Ich erwidere ihren dankbaren Blick mit einem freundschaftlichen Lächeln und erst da wird mir richtig bewusst, was meine Worte ihr bedeuteten. „Danke, Haylee. Ich wünschte, wir könnten uns in Zukunft noch viel häufiger sehen... unter besseren Bedingungen.“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, als mir ihr Bedauern in der Stimme bewusst wurde. Ich hatte ihren Garten ruiniert und war buchstäblich Cirillo´s Besitz und somit seine Bürde. Er hatte meine Kräfte blockiert, wodurch mein Sieg als nicht rechtens galt... Nichts davon war ihre Schuld. „Du weißt ja nun, wo du mich findest.“ Witzelte ich, um sie wieder zum Lachen zu bringen.
Wir erreichten den Eingang, wo Alitia stehen blieb und um die Ecke wies. „Folge einfach den Pfad. Wenn du Cirillo nicht auf Anhieb findest, rufe ihn. Im Grunde sollte er bereits bei meinen Büschen sein.“
Die Büsche, welche mein Körper umgerissen hatte... Zum Glück besaß ich keine Erinnerung mehr daran, die Landung und das Brechen durch das Unterholz musste mörderisch gewesen sein.
„Danke, Alitia. Bis später.“
Sie winkte mir anmutig, bis ich um die Ecke bog und dem gewundenen Pfad durch etliche Blumenfelder folgte. Manche krochen über den Boden, ander ragten weit in die Höhe. Jede roch ganz einzigartig und besaß prächtige Blüten, welche im Moment geschlossen waren. Die Vielfalt der Blumen hier war einfach... einfach unfassbar! Es war hier beinahe, wie auf einem kleinen Inselparadies und je weiter man nach hinten kam, umso höher wuchsen die Sträucher und Bäume... Beinahe so, als ob sie Alitia nach ihrer endgültigen Größe geordnet hätte, doch das konnte ich mir kaum vorstellen.
Je weiter ich jedoch ging, umso deutlicher konnte ich das Arrangement verschiedener Blütendüfte wahrnehmen, welche perfekt miteinander harmonierten. Der eine Duft war stärker, ein anderer wieder wurde erst durch die Blumen daneben richtig hervorgehoben.
„Haylee! Steh dort nicht so herum, beweg dich.“
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wie ich mit geschlossenen Augen stehen geblieben war und tief den Duft dieser prächtigen, doch leider bereits verschlossenen Blumen einatmete.
„Tut mir leid, ich habe mich beeilt.“ Schwor ich, doch in Cirillo´s Gesicht erkannte ich ganz deutlich, dass >Eile< für ihn bei weitem nicht schnell genug war.
„So lange wie ich auf dich warten musste, hätte ich bereits die Hälfte erledigt gehabt.“ Warf er mir streng vor.
Mein Blick wanderte über die vielen Gartengeräte, welche sehr stark denen der Menschen glich, wenn man einmal von der außergewöhnlichen Farbe, so wie dem Material woraus sie bestanden, absah. Da war eine kleine Schere, eine Heckenschere, eine Handschaufel, ein Spaten, ein Rechen, Tücher, wenn ich auch nicht genau wusste, wozu die gut sein sollten, so wie einige Flaschen in kristallenen Gefäßen. Offenbar gab es hier auch endlich mal etwas zu trinken! Dem Himmel sei Dank!
Nur... Weshalb war von jedem Gerät bloß ein Stück da?
„Tja, dann hättest du mal ohne mich begonnen.“ Gab ich nach einem Moment zurück, was ich jedoch sofort bedauerte.
Sein Blick wurde mahnend finsterer. „Nimm das Werkzeug, du wirst es brauchen.“
Ich? Alleine? „Und was ist mit dir?“
Er lehnte sich leicht vor, vermutlich um bedrohlich zu wirken, was auch ganz gut funktionierte, doch in dem Moment, in welchem Cirillo´s Gesicht näher kam, schien sich ein Regel in meinem Kopf umzulegen und es war vorbei mit meiner Fähigkeit zu denken. Ich erstarrte und erzitterte am gesamten Körper. „Vielleicht werde ich mich nun einmal auf dieselbe Weise >beeilen<, wie du es stets tust.“
Wie er >beeilen< aussprach, klang es wie ein erfundenes Wort, das völlig lächerlich klang.
Sofort verärgert über seinen Hohn, erwachte ich aus meiner irrationalen Starre, streckte ihm die Zunge heraus und ging auf >mein< Werkzeug zu. So gut es ging, bepackte ich mich mit dem Kram, doch das meiste musste ich hinter mir her schleifen, was einen Laut auf dem Kies erzeugte, der gelinde gesagt... grausam war.
Cirillo war bereits ein Stück vorausgegangen, doch stoppte nun, als er es hörte, seufzte und schüttelte den Kopf. Peinlich berührt, lächelte ich entschuldigend. „Ups.“ Machte ich, legte alles wieder ab und stapelte es anders, sodass nun die langen Geräte über meiner Schulter lagen, den Rest zwängte ich ein, so gut ich konnte. Die Tücher steckte ich mir sogar ins Hemd, wo sie sofort bis zu meinem Bauch durch sanken, doch dank der Enge dort, hängen blieben. Hätte auch bestimmt lächerlich gewirkt, wenn sie an meinen Beinen wieder hinaus gehangen hätten, oder während des Gehens, fielen...
Cirillo führte mich zu einer Ebene mit wunderschön geformten Büschen. Wunderschön... Bis auf eine Reihe von sieben Bäumen, welche entweder geknickt oder aus der Erde gerissen waren! Zudem gab es eine meterlange Bremsspur in der Wiese, welche die Erde zusammen geschoben hatte und verdorrte Grasflecken lagen herum.
Hm, ob das wirklich >Gras< war, wie ich es kannte? Es war grün, so wie die Blätter an den Bäumen oder an Blumen. Trotzdem sahen sie eher aus wie weiche Nadeln, eines Nadelbaumes.
„Sieh zu, dass du nichts niedertrampelst. Die alten Büsche, die heraus gerissen oder geknickt sind, kommen weg, die werfe ich über die Klippe. Die Erde muss geebnet werden, die Brocken dort, wieder dorthin einpflanzen, wo es gewesen war und anschließend müssen wir alles ebnen. Hast du verstanden?“
Als ob ich taub wäre! „Wieso sollen wir das verdorrte Gras dort drüben, noch einmal einsetzen?“ Es war seltsam weißlich geworden, anstatt Braun, wie es bei uns der Fall gewesen wäre.
„Weil ich es bewässere, danach wird es in wenigen Tagen aussehen, als wäre nichts geschehen. Lymphengewächs ist überaus tolerant.“
Ich schmunzelte einen Moment über Cirillo´s >Bewässern<, doch riss mich auch genauso schnell wieder ein. „Womit fange ich an?“
„Damit, zu ebnen.“ Er deutete auf die lange Bremsspur. „Es muss alles exakt wieder so dort liegen, wie es zuvor gewesen ist.“
Ich runzelte die Stirn. „Das ist unmöglich!“
„Nephilim... Beweg dich einfach! Je schneller wir fertig werden, umso besser.“ Maulte der schwarzhaarige Engel gereizt, ehe er sich daran machte, die Sträucher, samt Wurzel, wohl gemerkt, aus der Erde zu ziehen und sie auf einen Haufen zu sortieren.
Ich sah gar nicht lange dabei zu, denn sonst würde er bloß wieder schimpfen und machte mich daran, die aufgewühlte Erde zurück an ihren angestammten Platz zu befördern. Das Gras ließ ich, so gut es ging, erst mal an der Seite liegen, mit eben diesem, würde ich dann später puzzeln. Auch, wenn ich puzzeln schon immer gehasst hatte. Ich besaß einfach keine Geduld dafür, außerdem verstand ich den Spaß nicht daran. Man machte es im Endeffekt ja ohnehin wieder kaputt.
Einmal hatte ich mit Jemma gepuzzelt! Ich erinnerte mich daran, als sei es erst gestern gewesen. Es war... ein romantisches Bild gewesen, mit Rosen und im Hintergrund ging die Sonne, entweder gerade auf, oder unter. Darüber hatten wir uns nicht einigen können. Es hatte aus tausend Steinen bestanden. Ich war sogar etwas geknickt gewesen, als sie sagte, sie würde es dann alleine wegräumen, sobald ich gegangen sei... Nun hatte es uns so viel Mühe gemacht, wir hatten stundenlang geredet, während wir ein passendes Teil, nach dem anderen, mühsam eingesetzt hatten... Und dann zerstörte sie es, innerhalb eines Momentes wieder.
Um mich wieder auf andere Gedanken zu bringen und der aufkommenden Trauer zu entkommen, sprach ich Cirillo an, welcher eben den letzten Busch weggeworfen hatte. „Alitia hat mir erzählt, dass sie aufgrund ihres Äußeren nicht gemocht wird. Wieso ist das so bei euch Engeln? Sie sieht doch wunderschön aus, oder?“
Cirillo gab einen abweisenden Ton von sich, den ich kaum deuten konnte, doch wusste, dass er mein Kommentar lächerlich hielt. „Was soll an diesem Engel schon schön sein? Sie ist einfach... farblos. Das ist doch nicht normal.“
Seltsamerweise fiel mir bei Cirillo´s Worten, etwas an Gewicht ab, von dem ich nicht gewusst hatte, dass es da gewesen war. Was war das denn nun wieder? „Bei den Menschen, würde ihre Besonderheit gefeiert werden.“ Entgegnete ich, wofür ich denselben abgeneigten Laut erneut erhielt.
„Bestimmt nicht.“ Gab Cirillo zurück.
„Was meinst du mit >bestimmt nicht<? Alitia wäre ein Modeidol!“
„Toll, dann laufen bei euch Millionen Freaks herum, die so tun, als würden sie abartig aussehen, wie sie. Im schlimmsten Fall, halten sie diese Abnormalität auch noch für göttlich, dann zieht der nächste Krieg bei euch auf und mehr leiden, als sie es bisher bereits tun. Es gibt einen guten Grund, weshalb Engel niemals auf die Erde dürfen. Solange sie keine Erzengel, Cherobim oder Throne sind, würde deren Ego einen göttlichen Ausmaß annehmen und alle ins Verderben stürzen.“
Göttliches Ego... Da klingelte doch etwas. „Du meinst, wie bei Metatron? Der hatte doch auch so einen Gottkomplex, richtig?“
Erschrocken wirbelte Cirillo herum. „Was weißt du über die gefallenen Erzengel?“ Forderte er zu wissen.
Ich schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern sonnte mich darin, ihn endlich einmal aus der Fassung gebracht zu haben. Seit mehr, als dreißig Tagen, bestimmte Cirillo nun über mein Leben. Es war nur fair, etwas davon zurückzugeben. „Die Menschen haben eben viele Geschichten über eure Erzengel.“ Zudem war es ein gutes Druckmittel, um selbst etwas mehr über die Engel heraus zu finden.
Bisher hatte ich es vermieden Fragen zu stellen, doch seit Alitia aufgetaucht war... Irgendwie hatte sie mir den Anstoß gegeben, den ich gebraucht habe, um mehr über dieses Volk wissen zu wollen. Sichtlich belanglose Dinge, waren für mich, so gut wie, unmöglich zu glauben.
„Was für Geschichten? Die sollten doch in Vergessenheit geraten.“
„Sind sie ja auch.“ Stimmte ich Cirillo zu und stieß den letzten Erdhaufen in das entstandene Loch und trat es mit dem Fuß zusammen.
„Was denn jetzt? Was weißt du über Metatron?“
Ich zuckte mit der Schulter. „Er ist ein Erzengel.“
„War. Seine Zeit ist längst vorrüber.“ Korrigierte Cirillo zischend.
„Hm... Stimmt... So ungefähr... fünfzig, fast sechzig Jahre, wenn ich mich nicht täusche, richtig?“
Ich konnte die Unruhe in Cirillo geradezu mit den Händen greifen. Während ich, scheinbar höchst konzentriert auf die Arbeit, die Erde platt trat, wo ich später das Gras hinein sortieren würde, lief er unruhig neben mir her und drängte mich weiter zu sprechen.
„Woher weißt du das?“
„Geraten.“ Antwortete ich, stellte fest, dass ich bereits am Ende angekommen war und drehte um, bloß um mich dem schwebenden Engel gegenüber zu finden. Seufzend drückte ich gegen seinen Brustkorb, damit er zur Seite >trat<. „Du bist im Weg. Außerdem, wolltest du dich nicht beeilen, damit wir schnell fertig sind?“
Cirillo kniff verärgert die Augen zusammen, doch ließ sich kommentarlos wegschieben, während ich die Spur wieder zurückging und dabei weiter die Erde nieder trampelte und damit ebnete. „Du hast bereits vor der Arena, die Symbole der Erzengel erkannt, richtig? Ich erinnere mich, dass du eines benennen konntest.“
„In der Arena?“ Frage ich, bleibe stehen und tue so, als ob ich angestrengt nachdenke. „Oh ja, da waren doch diese hübschen Verzierungen in den Wänden. Ja, die sahen schon toll aus.“ Dann ging ich weiter und >vergaß<, ihm die Antwort zu geben, die er sichtlich hatte haben wollen.
Ruckartig packte Cirillo meinen rechten Oberarm und drehte mich in seine Richtung, sodass ich weit auf, in seine dunklen Augen sehen musste, da ich leider ein ganzes Stück versetzt unten am Boden stand. „Haylee, sprich. Sag mir, was du über die Erzengel weißt.“
Ich runzelte überrascht die Stirn. „Ach, ich dummer, einfältiger Nephilim, soll irgendetwas über Erzengel wissen?“ Zog ich Cirillo weiterhin auf, was ihn bloß noch wütender werden ließ.
„Ich kann dich auch einfach über die Klippe werfen und du kannst niemanden mehr irgendetwas, über die vergangenen Erzengel erzählen.“
Für einen Moment entgegnete ich seinem dunklen Blick, alles, was ich nur konnte, doch als ein sanfter Windstoß mein offenes Haar in Bewegung brachte, kitzelte es über seine starre, harte Brust. Mit einem genervten >Arg< entließ Cirillo mich endlich, was mich jedoch ins Taumeln brachte. Wann hatte ich mich ihm denn entgegen gelehnt?
„Du tust bloß so und weißt überhaupt nichts über die Vergangenen.“
„Ja, so wird es wohl sein.“ Murrte ich verärgert zurück. Jetzt war ich nicht bloß eine dumme Kreatur, sondern auch noch eine Lügnerin? Nett! Engel hielten offensichtlich nicht gerade viel, von der menschlichen Abstammung.

 

- - - - -

 

„Zeit für eine Pause!“ Flötete Alitia, nachdem ich bereits zwei Stunden gearbeitet hatte, fröhlich vor sich hin und präsentierte uns einen kleinen Korb, den sie mitgebracht hatte.
„Danke, aber wir haben keine Zeit dafür.“ Lehnte Cirillo ab, was ich jedoch bei weitem nicht so sah!
„Danke, Alitia!“ Ich joggte ihr ein ganzes Stück entgegen, nur um endlich weg von der blöden Schufterei zu kommen. Cirillo hatte mich dazu verdonnert, die Erde bei seinem Aufgabengebiet ebenso fest zu trampeln, da, wie er es formulierte, meine Füße ohnehin bereits dreckig wären, also weshalb sollte er sich schmutzig machen?
„Haylee, ich sagte, wir arbeiten weiter.“ Befahl der Engel streng.
Ich nahm etwas entgegen, was wie Brot aussah, in der Form eines Sternes. „Was hast du gesagt? Ich kann dich mit richtigem Essen in der Hand, nicht verstehen.“
Dafür erhielt ich natürlich noch einen giftigen Blick, doch es war mir egal. Für einen Moment erwog ich, mich zu erkundigen, ob das >Brot< oder was auch immer es darstellen sollte, vegan sei, doch verwarf all meine Voruteile und biss herzhaft in das würzig, warme Material. „Mh!“ Machte ich genießerisch. So etwas hatte ich in meinem Leben noch nie geschmeckt!
„Schmeckt es dir? Ich habe leider, noch nie für jemanden gekocht, deshalb wusste ich nicht, wie ich es zubereiten sollte und habe es einfach nach meinen Bedürfnissen gewürzt.“
Ich schlang den letzten Rest, des handflächengroßen Bissens hinunter und angelte nach dem nächsten. „Kann ich dich als Köchin einstellen? Das schmeckt einfach himmlisch.“
Vor Begeisterung leuchteten Alitia´s Augen. „Es schmeckt dir also?“
„Ich habe in meinem Leben, noch nie etwas besseres gegessen!“ Lobte ich, nur um mir noch das letzte zu stehlen, ehe sie damit zu Cirillo gehen konnte.
„Ich esse nichts.“ Murrte der grummel. „Sonst stellst du mir das auch noch in Rechnung.“
Oh... Auf diesen Gedanken war ich noch überhaupt nicht gekommen! Mist, bedeutete das denn nun, dass ich noch mehr arbeiten musste?
„Stimmt, >dir< würde ich es auf jeden Fall in Rechnung stellen. Dann verhungere eben. Haylee schmeckt es auf jeden Fall.“
„Muss ich auch dafür zahlen?“ Fragte ich, mit einem bedauernden Blick, auf die letzten Reste des leckeren Essens hinab.
Alitia lachte. „Natürlich nicht! Du bist meine Freundin, für dich mache ich das kostenlos.“
Berührt fasste ich mir ans Herz. So etwas Nettes hatte schon sehr, sehr lange niemand mehr zu mir gesagt. „Danke, das ist so lieb von dir. Du bist auch meine Freundin, Alitia!“
Begeistert schwebte sie wieder auf mich zu und drückte mich dann. „Dann auf eine lange und gute Freundschaft, liebste Haylee!“
„Das wünsche ich mir au-...“
„Sie ist ein Nephilim!“ Warf Cirillo wahrheitsgemäß ein. „Du kannst nicht mit einer niederen Lebensform befreundet sein. Das ist abartig.“
Autsch, das traf... Andererseits hätte ich Cirillo´s Abneigung kommen sehen müssen.
„Ich habe keine Ahnung, was du gegen sie hast, Cirillo. Wenn du mich fragst, ist Haylee eine intelligente, einfühlsame und engelsähnliche Lebensform. Ich kommuniziere mit ihr, wie mit jedem andern Engel, bloß dass sie toleranter ist, als ihr alle zusammen. Dementsprechend sehe ich absolut kein Problem, mit ihr befreundet sein zu können.“
Hört. Hört. Und das von einem Engel! Andererseits hat Alitia auch nicht wirklich die große Auswahl, richtig? Diese Tatsache dämpfte meine Freude, denn für einen Moment hatte ich tatsächlich gehofft, sie möge mich um meinetwillen. Tatsächlich jedoch, war ich bloß eine der wenigen, die Nettigkeiten von sich gab, ihr gegenüber.
„Wie gut also, dass sich niemand um deine Meinung schert. Haylee ist ein Nephilim. Jetzt lass sie in Ruhe und zieh ab mit deinem Essen.“
„Alitia...“ Begann ich hastig dazwischen zu funken, ehe Alitia Cirillo erneut wegen mir angehen konnte. „...wie wäre es, wenn wir ihn für fünf Minuten ignorieren? Ich könnte wirklich eine Pause vertragen. Wollen wir uns dort vorne hin setzen?“
Ich deutete auf eine, aus stein gefertigte Bank, auf welcher Polster ausgelegt waren.
Sie nickte und deutete mir, voraus zu gehen.
„Haylee, ich befehle dir, dass du hier bleibst!“
Ich sprach mit leiser Stimme, während ich so tat, als würde ich schreien. „Was? Tut mir leid, ich bin so weit weg und kann dich kaum verstehen!“
Alitia kicherte immer noch, als wir uns nebeneinader auf der Bank nieder ließen, natürlich unter der gründlichen Beobachtung von Cirillo, welcher übrigens, trotz geforderter Eile, nicht mit der Arbeit fortfuhr.
„Es ist schön, zu sehen, dass du endlich ein wenig aufblühst. Cirillo ist ja wirklich ein schwieriger Zeitgenosse. Wie behandelt er dich denn, in den Zellen?“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es... Es geht.“ Meinte ich, ausweichend. „Cirillo kümmert sich um das Nötigste und spricht bloß selten mit mir. Eigentlich beklagt er sich nur bei mir, wenn ihn wieder irgendetwas aufregt. Außerdem wollte er bisher nicht, dass irgendjemand etwas von meiner Existenz mitbekommt. Geschweige denn von meiner Intelligenz.“
„Das verstehe ich jedoch nicht. Man würde ihm sehr viel für etwas exotisches wie dich bieten.“
Ich erinnerte mich unfreiwillig an seine Worte. „Nein, niemand ist an mir interessiert. Wenn, dann wollen sie bloß meine Flügel kaufen, um sie zu erforschen. Cirillo lässt es jedoch nicht zu.“
Da ich völlig fixiert auf den Inhalt des Körbchens war, überraschte mich Alitia´s verblüffte Frage en wenig. „Er beschützt dich? Wieso?“
Ich horchte auf. Ja wieso? Mögen tat er mich ja offensichtlich nicht, doch es gab etwas, das wesentlich näher lag. „Aufgrund meiner Schulden. Er will sie erst beglichen haben, schätze ich.“
Das leuchtete dem weißen Engel natürlich ein. „Also wird er deine Flügel erst nach deinem Tod in der Arena verkaufen wollen. Das sehe ich ein. Es bringt ihm viel mehr nutzen.“
Moment... Das klang ja, als ob sie davon ausginge, dass ich noch einmal antrat! „Ich bin aber nicht gestorben in der Arena!“ Korrigierte ich das Offensichtlichste.
„Deshalb bist du auch nutzvoll für ihn. Er wird dich wieder antreten lassen, auf dich wetten, oder dagegen, je nach Gegner und viel dadurch verdienen. Du musst wissen, dass Cirillo sehr viele Ausgaben hat. Mehr, als Einnahmen. Von seinem Erbe wird vermutlich nach all diesen Jahren, nichts, bis beinahe nichts, mehr übrig sein.“
„Engel erben ebenfalls, nachdem ihre Eltern gestorben sind?“
Alitia lachte amüsiert auf. „Nein, nein. Ein Erbe ist etwas, dass einem in die Wiege gelegt wird. Von Mutter und Vater im gleichen Maße. Sobald sie Erwachsen sind und die Kinderkrippe verlassen, können sie darauf zugreifen und Land erwerben, während sie ihrer Arbeit nach gehen.“
„Also... ziehen Engel ihre Kinder nicht selbst auf?“
„Wieso sollten wir?“ Erkundigte sich Alitia abgeneigt. „Es wäre mühsam, außerdem ist die Landschaft unsicher. Sie würden andauern bloß abstürzen und sterben.“
Es klang ja einerseits logisch, was Alitia sagte... Dennoch war es falsch. „Aber Kinder gehören doch zu ihren Eltern. Zudem könnte man Treppen, Geländer und Mauern anbringen.“
„Mauern?“ Fragte Alitia abgeneigt. „Niemand hier mag Mauern. Sie sind hässlich, außerdem stets im Weg. Irgendwann wären die Kinder groß und stark genug, sie zu überwinden, doch können noch immer nicht fliegen. Nein, nein. In ihren Krippen sind sie rund um die Uhr beschützt und gehütet von den niederen Engeln.
Klang einsam für die Kinder... Aber immerhin hatten sie immer noch einander. Wie eine Stadt aus lauter Waisenkinder. Moment... „Wie viele Engelskinder leben denn in solchen Krippen?“
„Es gibt bloß eine Krippe.“ Korrigierte sie mich. „Dort leben alle Engelskinder in einer wohl geschützten Insel, mit unüberwindbaren Mauern, die sehr dick sind. Sie besitzen gesicherte Gärten, leben mit ihren Brüdern und Schwestern gemeinsam, bis sie groß und Stark genug sind, um zu fliegen. Meist sind es... um die tausend, bis eintausendfünfhundert Kinder, in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung.“
Mir verging der Appettit. Wer kümmerte sich schon freiwillig um so viele Kinder? Das klang wie ein Internat! „Ab welchen Alter, besuchen eure Kinder denn die Engelskrippe?“
„Meist zwischen ihrem ersten und dritten Lebensjahr, wenn ihre Flügel beginnen zu wachsen und sie laufen können.“
Wow, das waren ja ganz schön hohe Ansprüche für so winzige Lebewesen! „Altern Engelskinder denn, wie die der Menschen?“
Sie zuckte unwissend mit den Schultern. „Das kann ich dir nicht beantworten. Ich habe nie viel Interesse an Menschen gehabt. Cirillo wird es aber bestimmt wissen.“
Aber den würde ich bestimmt nicht danach fragen. Wer wusste schon, wie er dann wieder reagiert.
„Mit welchem Alter, bist du in die Krippe gekommen?“
„Ich war von Anfang an darin. Kaum dass ich auf der Welt war, haben sie mich abgegeben. Meine Eltern wollten mich aufgrund meiner Hautfarbe nicht und weigerten sich, mir etwas zu hinterlassen.“ Ich vernahm in ihrer Stimme kaum Trübung, sondern Alitia verhielt sich, als würde sie mir vom Wetter in dieser Welt berichten.
„Als ich dann endlich volljährig war, reiste ich hierher, in die Welt der Wolken. Hier gibt es genug unbewohnte Länderein, da sie niemand wirklich will. Entweder leben alle in der Stadt, oder ziehen in schönere Gebiete.“
„Das heißt, du hast einfach die erste Insel behalten, die du gefunden hast?“
Sie lachte. „Nein, natürlich nicht! Jede Insel gehört dem Rat der Erzengel. Jedes Grund, jede Wohnung, jedes Haus. Man muss es sich erst ersteigern, ehe man es besitzen durfte. Darum lernte ich auch wie eine Verrückte die Gesetze. Ich wusste, für alles, was man verbricht, muss man eine Strafe bezahlen. Dadurch kam ich auf die Idee, mich von den anderen Anpöbeln zu lassen und dann meine Rechte einzufordern.“
Ihre Stimme klang an dieser Stelle nun doch etwas erschöpft. „Ich nehme an, das hat nicht auf Anhieb geklappt, was?“
Sie nickte mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen. „Ich bin abnorm. Sie meinten, aufgrund meines Aussehens, gälten die allgemeinen Bußstraßfen nicht. Leider aber, gab es auch kein Gesetz dafür, dass die Meinung des Richterengels befürwortete. Dementsprechend verklagte ich ihn auf ein schönes Sümmchen bei einem anderen Richterengel, da er sich geweigert hatte, seinem Amt nachzugehen.“
„Und hast dafür gleich doppelt kassiert. Nicht schlecht!“
Sie grinste stolz. Anfänglich war es schwer... Ehe sich meine naturgegebenen Kräfte vollends entwickelt hatten, konnten gemeine Engeln, meist mit Masken auf, damit ich sie nicht erkannte, alles mögliche auf meinem Grund anstellen. Sie luden ihren Mist ab, warfen meine selbst gebaute Hütte um und zerstörten alles, was ich mir auch bloß ansatzweise Hübsches leistete.“
Ich streichelte ihre Schulter, als ob ich das Leid von damals, von ihrer Seele abwischen wollte. Natürlich war dies unmöglich. „Nun ja. Wie du siehst, bin ich älter geworden. Sehr alt sogar. Bald ist das letzte Millennium meines Lebens erreicht, dann wird das alles hier verfallen. Schade darum, doch wenigstens konnte ich mir mein eigenes, kleines Paradies aufbauen.“
„Millennium?“ Frage ich. „Was bedeutet das?“
„Das bedeutet, dass mein Körper zu alt wird, um noch meine Macht in mir zu tragen. Irgendwann... in absehbarer Zeit, werde ich mich einfach auflösen, wie alle anderen Engeln vor mir.“
Schrecklich! Das hatte ich ja noch überhaupt nicht gewusst! „Was? Aber... Wieso? Du siehst noch so unfassbar Jung aus!“ Reif, aber bei weitem nicht alt. Vielleicht Mitte zwanzig, aber älter bestimmt nicht!
„Jeder Engel lässt die körperliche Alterung so fortschreiten, wie er möchte, musst du wissen. Wir Messen unser Alter nicht, wie ihr Menschen, am Aussehen, sondern an der errungenen Macht. Die Körper zum Beispiel, von Erzengeln, sind viel stärker. Doch bloß die wenigsten werden zu Erzengeln erkoren. Mir war es nicht zuteil, aber das ist auch gut so. Mir hätte niemand freiwillig einen Sitz im Rat gegeben. Dafür habe ich die Idioten dort oben, viel zu sehr geärgert.“ Witzelte sie und und legte ihre Hand auf die meine. „Sieh mich nicht so an, Haylee. Für uns Engel, ist es eine große Ehre, das letzte Millennium zu erreichen. Das bedeutet, dass wir aufsteigen, uns aus unseren Körpern erheben und zu etwas viel reinerem werden.“
Das kam mir bekannt vor... Einige Religionen waren auf dieser Glaubensbasis, einem Leben nach dem Tod, aufgebaut. Mein Blick wanderte zu Cirillo. „Was ist mit Cirillo? Ist er ebenfalls schon am Ende seines Lebens?“ Vielleicht hatte ich sein Alter, aufgrund seines Äußeren, ebenfalls falsch eingeschätzt? Na gut, er hatte die Andeutung gemacht, dass Alitia sehr, sehr alt sei. Aber mit so einer Tatsache hatte ich bei weitem nicht gerechnet.
Alitia´s Blick glitt von mir zu Cirillo. Sie schwieg einen Moment, ehe ihr Blick wieder auf mich zurücksprang und sie amüsiert lächelte. „Keine Sorge. Unser gastfreundlicher und so unbeschreiblich charmanter Cirillo, wird dir noch viele Millennien erhalten bleiben.“ Spottete sie, woraufhin ich lachte. Ja, ja. Cirillo war schon ein Engel für sich. „Er ist blutjung und erst seit sehr kurzer Zeit hier als Throne zugeteilt worden.“ >Kurz<... Ob dies in der Sprache der Engel, eine ähnliche Wortbedeutung besaß, wie bei uns Menschen? Wie durfte ich mir >kurz< vorstellen? Zwanzig Jahre? Oder eher zweihundert? Zweitausend?
„Wie wurde er denn zum Throne?“
„Es ist ihm in die Wiege gelegt worden. So wie es jedem Erzengel und Cherubim gelegt wird. Unsere Gaben bestimmen darüber, wozu wir später geeignet sind. Wenn du so möchtest... ist es eine schicksalhafte Fügung.“
„Gilt das auch für gewöhnliche Engel?“
„Natürlich. Alle Engel sind dazu geboren, zu dienen. Viele dienen anderen Engeln. Wieder andere, dienen dem Wohl, des Volkes.“
„Und Nephilim? Wozu werden wir geboren? Bloß um böse zu sein, in der Arena zu kämpfen und zu sterben?“
Sie zuckte unwissend mit den Schultern. „Mit dem Glauben der Throne bin ich bedauerlicherweise nicht so vertraut.“ Antwortete und wirkte dabei aufrichtig traurig. „Aber wenn du darüber etwas wissen möchtest, dann frage Cirillo. Throne sind sehr verschwiegen, aber ich denke, da du ein Nephilim bist, wird es keinen Grund geben, dir nichts darüber zu erzählen.“
„Ja... verschwiegen.“ Spottete ich amüsiert und mein Blick gleitet wieder zu Cirillo. Noch immer stand er, mit vor den Oberkörper, verschränkten Armen, am selben Platz wie vorher und starrte uns grimmig an. „Und hartnäckig.“ Fügte ich schlussendlich noch an und ergab mich meinem Schicksal. „Danke noch einmal für das Essen.“
„Gerne jederzeit wieder.“
„Und auch für deine offenen Worte. In den letzten Wochen, die ich bereits hier bin, habe ich nicht so viel über diese Welt hier erfahren, wie in den letzten zehn Minuten.“ Zumindest nahm ich an, dass er zehn vergangen waren.
„Wenn du möchtest, komme ich dich gerne besuchen, oder versuche einen neuen Grund zu provozieren, damit du vorbei kommen kannst. Dann unterhalten wir uns weiter.“
Wir umarmten uns einen Moment, dann stand ich auf. Im selben Augenblick setzte sich Cirillo in Bewegung und kam mir mit großen Schritten entgegen. „Bist du endlich fertig? Ich hoffe du hast es genossen, denn morgen bekommst du nichts von mir zum Essen.“
Ich tat es ihm gleich, wir trafen uns auf halben Weg und ich verschränkte unter seinen Worten, ebenfalls die Arme vor dem Brustkorb. „Ja danke, es war vorzüglich. Besser, als deine komische Pflanze, die ich jeden Tag hinunter schlingen muss.“
„Dann werde ich wohl deine Fütterung auf nur noch jeden zweiten Tag ausweiten.“
Empört stampfte ich mit dem Fuß auf. Das konnte er doch nicht machen! Fütterung? Was für eine Frechheit! „Weißt du... Weißt du was? Schön, dann esse ich eben wieder, nie wieder etwas! Und... Und deinen Dreck kannst du selbst wegräumen. Ich rühre keinen Finger mehr!“ Zwar fühlte ich mich bei diesen Worten, wie ein bockiges kleines Kind, aber was sollte ich denn sonst sagen? Gewinnen lassen wollte ich ihn nicht erneut. Darauf hatte ich keine Lust mehr. Mir reichte es.
Dieser eine Moment, in der Arena, als diese Bestie über mir auftauchte, mit aufgerissenen Maul und spitzen Krallen, hatte ich bereits gedacht, mein Leben sei vorbei. Ich dachte, nun sei es entgültig aus, doch dabei musste ich doch nach Lucy schauen. Es war meine Pflicht, mich vor ihr Grab zu knien, und um Vergebung zu bitten. Falls sie noch lebte, dann würde ich alles in meiner Macht stehende tun, um meinen Fehler wiedergut zu machen. Ich würde ihr mein gesamtes Leben verschreiben!
Aber nicht Cirillo! Er hatte nicht eine solche Macht über mich, das wurde mir einmal mehr bewusst. Ihm war ich nichts mehr schuldig. Ja, ich hatte in Alitia´s Garten für Unordnung gesorgt. Das tat mir leid. Doch ohne Cirillo wäre ich gar nicht erst in diese Situation gekommen!
„Das ist dein Chaos! Du wirst das richten!“
Erneut streckte ich ihm meine Zunge heraus. „Zwing mich doch.“ Damit stampfte ich an ihm vorbei, zu den Gerätschaften und sammelte alles ein. Einiges säuberte ich, um keinen Dreck in Alitia´s Heim zu hinterlassen, doch von dem pflegebedürftigen Grasflecken, rührte ich nichts mehr an.
Ich wandte mich demonstrativ ab, während ich sehr wohl Cirillo´s giftige Blicke in meinem Rücken spürte. Zwar ließ ich mir bedächtig zeit mit der Reinigung, erkundigte mich bei Alitia, wohin das ganze Zeug kam und ordnete es an seine angestammten Plätze zurück. Trotzdem dauerte es noch weitere drei Stunden, bis Cirillo endlich den letzten, von Alitia neu angeschafften Büschen, ihrem Wunsch entsprechend, gesetzt hatte. Zuschneiden, sagte sie, würde sie diese selbst. Sehr zu Cirillo´s Erleichterung, wie es mir schien.
Dann jedoch, kam der Tiefschlag, mit welchem Cirillo offensichtlich nicht gerechnet hatte. „Dann sehen wir uns die Tage, Haylee. Wie versprochen.“ Verabschiedete sie mich und drückte mich freundschaftlich an sich.
„Was? Du sagtest, du würdest sie mit mir zusammen wieder hinauf transportieren?“
Alitia hob mahnend einen Finger. „Nein. Ich sagte, ich würde dir helfen, sie hierher zu bringen. Mehr bin ich dir, für die Mühe die du auf dich genommen hast, wirklich nicht schuldig. Nun verzeiht, der Schönheitsschlaf wartet sehnsüchtig auf mich.“
„Alitia! Ich kann sie nicht alleine wieder hinauf tragen!“ Beklagte er sich lautstark, beinahe hysterisch.
Langsam bekam ich das Gefühl, ihm würde gleich ein sehr, sehr gereizter Nerv reißen. Und was dann geschah, wollte ich wirklich nicht erfahren!
„Du bist ein starker, junger Krieger, Cirillo. Ich bin überzeugt, dass du >deine Kreatur<...“ Spottete sie. „...auch wieder alleine dorthin bekommst, wo sie deiner Meinung nach hingehört. Immerhin wäre es ja nicht das erste Mal, richtig?“
Cirillo´s Gesicht, welches im Licht der Laternen eher etwas blass gewirkt hatte, lief nun rot an. „Das waren doch ganz andere Voraussetzungen! Ich konnte ein Hoch nutzen, um mit ihr hinauf zu fliegen! Heute jedoch, ist es absolut windstill! Wie soll ich das deiner Meinung nach schaffen?“
Desinteressiert, so als ob alles genau nach Plan laufen würde, betrachtete Alitia ihre makellosen Nägel. „Natürlich könntest du sie auch bei mir lassen, deinen Nephilim. Ich bin überzeugt, dass wir einen vernünftigen Preis Aushandeln können. Du wärst deine Last los und ich hätte eine Hilfe im Haus gewonnen.“
Das war der Punkt, an welchem der Faden deutlich vor meinen Augen riss. Anstatt jedoch an die Decke zu gehen, wurde er schlagartig wieder ruhig, was mindest dreimal so beängstigend war!
„Du bist absolut durchgeknallt! Nicht mehr zurechnungsfähig!“ Kopfschüttelnd wandte er sich mir zu. Also ich persönlich, war mehr als begeistert von der Idee, bei Alitia bleiben zu können, doch bekam ich unter Cirillo´s Blick, nicht gerade den Eindruck, als ob er über diesen Punkt mit sich verhandeln ließe. Sein Blick glitt wieder zurück zu Alitia. „Nur, um das ein für alle mal klar zu stellen. Haylee gehört alleine mir. Ich entscheide über ihr Leben. Sie ist mein Nephilim und absolut unverkäuflich! Jetzt und in aller Zeit, die sie noch zu existieren hat. Ist das deutlich genug?“
Er wartete nicht ienmal mehr auf eine Antwort von der überrumpelten Alitia. Über so konsequente Worte war sie mindestens so schockiert, wie ich es war und fand kein Argument mehr, welches mir weiterhelfen konnte.
Grob riss er mich mit sich, bis wir die Klippen von Alitia´s Grundstück erreichten. Da er selbst wenige Meter vor dem Abgrund, keine Anstalt machte, mich zum Transport auch bloß ansatzweise irgendwie anders zu nehmen, bekam ich allmählich Panik.
„Cirillo!“ Versuchte ich durch seine Wut durchzudringen. „Cirillo, ich...“ Begann ich und sträubte mich gegen seine Kraft. „Ich kann nicht fliegen. Cirillo! Stopp!“
Hysterisch war wohl das Wort, welches man benutzen musste, um mich zu beschreiben. In diesem einen Moment hatte ich wirklich Angst, dass er mich einfach schubste und nicht auffangen würde... Cirillo stieß mich tatsächlich eiskalt über den Rand hinweg... Ich fiel, haltlos, wirbelte schreiend in kreisen und suchte nach Halt, am viel zu weit entfernten Stein, ehe auch dieser aus meiner Nähe verschwand.
Panische Angst umfing mich und ich sah erneut meine Mutter an mir vorbei gleiten. Alle Momente, welche wir miteinander geteilt hatten. Die Schönen. Die Frustrierenden... Ich hatte sie geliebt. Aus tiefsten Herzen geliebt, auch wenn ich angenommen hatte, sie sei krank gewesen und hatte mich bloß geboren, um mein Leben zerstören zu können.
Dann packte mich plötzlich etwas an der Schulter. Ich klammerte mich wimmernd an den einzigen Halt, den ich finden konnte, während Tränen bitter in meinen Augen brannten.
Es war vielleicht bloß eine Sekunde gewesen, eventuell auch zwei, doch mir war dieser Sturz wie eine Ewigkeit vorgekommen. Nun da ich Cirillo´s Arm ertastete, zog ich mich an ihn heran, klammerte mich mit Armen und Beinen an seinen Körper, wie bereits einen Monat zuvor und vergrub mein tränennasses Gesicht, an seiner Schulter.
Mein Halt...
Ich schniefte, sog tief seinen natürlichen, herben Geruch ein, der auch mit etwas Schweiß vermischt war. Also schwitzten die ach so perfekten Engel, genauso wie wir dreckigen Menschen und Nephilim?
Ich fühlte, wie er einen Arm um meinen unteren Rücken schloss und fest an sich zog, während sich sein gesamter Körper anspannte. Ich legte meine Flügel eng an, sodass sie so wenig Luftwiederstand, wie nur möglich erzeugten, während sein zweiter Arm, durch mein Haar fuhr. Erst dachte ich noch, er würde mich trösten wollen, wollte wütend werden, da er doch der Grund war, weshalb ich heulte, doch stattdessen schob er bloß mein Haar zur Seite. Vermutlich bließ der Wind es ihm ins Gesicht...
Doch anstatt sie wieder wegzunehmen, bettete er die Handfläche an meinen Hinterkopf und flog so mit mir eine ganze Weile lang.
Ich wagte es nicht, über seine Schulter hinweg zu sehen. Lieber blieb ich weiterhin in seiner schützenden Umarmung, an seine Schulter gekuschelt und weinte stumme Tränen.
Gingen die Seelen von Nephilimmütter nicht in den Himmel? Ob sie hier von irgendwo auf mich herab sah? Auf mich achtete?
Ich wusste zwar, dass Cirillo seine Umarmung bestimmt nicht tröstend meinte, doch solange er flog, tat ich so, als sei es so. Für diese Zeit, ließ ich mich in der Illusionsblase, dass der Engel mich an einen sicheren Ort brachte. Über mich wachte. Mich tröstete und beschützte.

XXV - Der vermisste Nephilim & andere Problemchen

Nun waren bereits drei Tage, seit Haylee´s Verschwinden vergangen und noch keiner der Nephilim hatte bloß ansatzweise einen Plan, was sie diesbezüglich tun sollten.
Lysanders Mutter Fiona, so wie die von Ryan waren bereits zurückgekommen aus Rom, bloß Sabrina war, aufgrund von Verhandlungen, dort geblieben. Da die anderen beiden, leider bloß bedingt Italienisch sprachen, musste ohnehin Sabrina sämtliche Gespräche führen.
Ryan war bisweilen keine Sekunde von Lucy´s Krankenbett gewichen und hatte sogar, auf einem Stuhl, neben ihrem Bett gewacht. Wenn sie auf die Toilette musste, brachte er sie, doch ließ zumindest beim Baden, mit sich sprechen, dass er vor der Türe wartete. Während dies im Grunde alle recht niedlich fanden, störte sich Lucy stark daran. Nach all diesen Jahren, war sie es einfach gewohnt, auf Abstand zu Ryan zu gehen. Selbst wenn sie es bloß nett meinte und ihm beim familiären Abendessen eine Schüssel weiter gereicht hatte, war er giftig geworden, oder überging sie schlichtweg. Dass sie nun dermaßen mit Aufmerksamkeit von ihm überschüttet wurde... Es war auf jeden Fall nicht ganz so normal, wie sie es sich wünschte.
„Ryan, bitte!“ Flehte sie genervt an der Treppe, als dieser Anstalt machte, sie auf die Arme heben zu wollen. „Ich kann das alleine! Ich bin doch nicht behindert. Seit gestern schmerzt noch nicht einmal die Wunde mehr! Ich schaffe das also ganz alleine!“ Fuhr sie ihn gereizt an.
„Das ist eine schlechte Begründung! Du brauchst lediglich stolpern, schon reißt die Naht wieder auf und es tut weh, wie am Anfang. Willst du das?“
„Nein, natürlich nicht.“ Gab sie zu, doch kaum hatte Lucy diese Worte ausgesprochen, fand sie sich auch bereits in einer entwürdigenden Prinzessinnenposition, auf Ryan´s Armen wieder.
Der Himmel stehe ihr bei! Lucy ertrug Ryan´s übergriffige Sorge kaum noch. „Weißt du, ich mochte dich lieber, als du noch ein Arsch warst!“ Murrte sie und verschränkte die Hände vor der Brust, während sie ihr Gesicht von ihm abwandte. Seine Nähe... Es brachte ihren Puls in Wallung und ihre Finger zitterten nervös.
Noch vor wenigen Tagen hatte sie sich für jede Reaktion ihres Körpers, auf Ryan´s Nähe oder Stimme, fürchterlich geschämt. Lucy hatte sich nach ihm verzehrt und war manchmal so verzweifelt gewesen, dass sie kaum atmen konnte.
Doch jetzt? Sie hatten sich ausgesprochen, ja... Natürlich hatten sie das. Ryan war so wütend gewesen, über Lucy´s ungewollten Gefühle, doch richtig sprechen darüber, hatten sie auch noch nicht gekonnt. Lucy wagte es nicht, noch ein Wort darüber zu verlieren. Ryan selbst, hatte ebenfalls kein Wort darüber verloren. Ob es Ryan egal war und dieser darauf zählte, dass Lucy´s Gefühle schon von selbst verklangen, oder es ihm vielleicht einfach zu unangenehm war, konnte sie bloß raten.
„Quatsch, du mochtest mich lieber, als wir noch beste Freunde gewesen sind.“ Korrigierte Ryan wahrheitsgemäß, was Lucy ein kleines Lächeln entrang. Damit hatte der Nephilim immerhin nicht ganz unrecht.
„Guten Morgen, mein Engelchen.“ Odette kam Lucy entgegen, kaum dass ihre Beine den Boden berührten, und küsste ihre Tochter auf die Stirn. „Wie fühlst du dich heute?“
„Die Schmerzen sind weg. Mit Yoga und Dehnübungen sollte ich aber vermutlich noch immer nicht anfangen.“ Scherzte sie, um die Besorgnis ihrer Mutter zu dämpfen.
„Davon gehe ich aus!“ Schimpfte ihre Mutter halb ernst, während sie Lucy zum voll gedeckten Esstisch schob. Katya und Tyrone saßen bereits dort und wünschten ihren beiden Geschwistern einen guten Morgen.
„Na, konntest du deinen Bodyguard noch immer nicht los bekommen.“ Witzelte Tyrone, erleichtert Ryan wieder halbwegs rational agieren zu sehen. Den stets gefassten und berechnenden Ryan dermaßen aufgelöst gesehen zu haben... es hatte etwas in Tyrone erschüttert, von dem er keine Ahnung hatte, was es bedeutet. Vielleicht wurde Tyrone sich einmal mehr der Sterblichkeit bewusst, der sie ausgesetzt waren, oder aber es lag schlicht daran, dass ihm die Bilder im Geiste quälten, was wenn es Katya anstatt von Lucy gewesen wäre, die dalag? In dessen Blut er geradezu schwamm?
Bei diesen Gedanken legte sich eine Hand auf seinen Schenkel und streichelte ihn beruhigend. Tyrone´s Blick glitt zu Katya, welche seine Besorgnis bloß zu gut wahrnahm. Dankbar dafür, dass es seiner geliebten Prinzessin gut ging, legte Tyrone den Arm um Katya´s Rückenlehne und küsste zart ihre Schläfe.
„Nein, es grenzt an einem Wunder, dass er mich überhaupt alleine anziehen lässt.“ Klagte Lucy, die bereits wieder putzmunter war.
„Sei froh, dass Ryan sich um dich kümmert.“ Belehrte Odette ihre Tochter. „Josephine!“
Alle wandten sich gleichzeitig der Türe zum Esszimmerbereich zu, wo eine hagere Frau, ummantelt vom Geruch nach Zigaretten stand und erschöpft ihren Koffer fallen ließ.
„Schön, dass ihr zurück seid. Möchtest du einen Kaffee?“
„Ja, danke.“ Bestätigte Josephine, da sprang Ryan auch bereits auf. „Hi, mein Großer.“
„Hallo, Mama.“ Kurz umarmte er seine Mutter, bloß um einen Moment später mit ihr zu schimpfen. „Ihr seid früher zurück. Wieso habt ihr nichts gesagt, dann hätte ich dich und Fiona vom Flughafen abgeholt.“
Josephine winkte ab und drängte sich an ihrem Sohn vorbei zum Esstisch. „Wir haben einen früheren Zug erwischen können und dann direkt am Flughafen umgebucht. Danke, Odette.“ Josephine nahm den Kaffeebecher entgegen und stellte ihn vor sich auf den Tisch.
Ryan umrundete den Tisch seinerseits und nahm wieder neben Lucy platz, wobei sein Arm auf ihrer Lehne zum liegen kann. Josephine setzte eben dazu an, sich eine Semmel aus dem Körbchen zu angeln, als ihr auffiel, wie sich Lucy irritiert, von Ryan´s Nähe, zur Seite lehnte.
„Habe ich noch was, abgesehen von dem Unfall verpasst?“ Fragte Josephine ungläubig. Sie kannte ihren Sohn natürlich gut genug, um zu wissen, wie sehr dieser von Lucy´s damaligen Abweisung gekränkt worden war. Ihr geglaubter Todesstoß konnte doch nicht etwa gar so viel in Ryan´s Stolz gerüttelt haben, dass er Lucy den Verrat einfach so wieder verzieh, richtig?
Tyrone fiel natürlich auf, was Josephine meinte und grinste breit. „Kurz vor dem Unfall haben sich Ryan und Lucy ausgesprochen.“ Verkündete dieser, welcher es auch bloß aufgrund von Katya´s Gedanken wusste. Lucy und seine Gefährtin hatten erst gestern über Ryan´s seltsames Verhalten gesprochen.
„Und jetzt ist wieder alles gut, zwischen euch?“ Fragte Josephine ungläubig.
„Klar.“
„Nein!“
Katya verschluckte sich an ihrem Lachen, Tyrone grunzte amüsiert und Odette schnaufte über die Unstimmigkeit zwischen ihrer Tochter, so wie Ryan.
„Wieso nicht?“ Erkundigte sich Ryan. „Wir haben uns ausgesprochen, das passt doch.“
Lucy reichte es jedoch bei weitem nicht. „Ryan, wir waren jahrelang zerstritten. Ich war total arschig zu dir und du hast mich die letzten Jahre wie Dreck behandelt... Das willst du einfach so vergessen und weiter machen, wo wir vor vier Jahren, unsere Freundschaft beendet haben?“
Ryan erwiderte einen langen Moment, Lucy´s herausfordernden Blick. Dann nickte er. „Klar, wieso nicht?“
Missbilligend schnalzte Lucy mit der Zunge. Etwas, dass sie sich von ihrer Mutter, unbewusst, angeeignet hatte. „Katya, unterstütz mich mal!“ Bat der junge, blonde Nephilim ihre beste Freundin.
„Keine Chance, das Gehirn der Männer ist nicht dazu gemacht, über Gefühle zu sprechen. Das ist ein Mädelsding.“ Bestätigte Katya, ein Jahrtausend Jahre alten Mythos, dadurch dass sie sich selbst im Kopf eines Jungen befand. Zumindest von Zeit zur Zeit.
„He!“ Entgegneten Tyrone und Ryan gleichzeitig.
„Ist aber wahr.“ Murmelte Josephine über den Rand ihrer Tasse hinweg, worauf die Mädchen einvernehmlich kicherten.
„Man muss ja nicht alles bis ins kleinste Detail durch quatschen.“ Beklagte sich Ryan, während er nach einem Weckerl griff und es aufschnitt. Die untere Hälfte beschmierte er gedankenverloren mit Butter und Erdbeermarmelade.
„Stimmt. Aber glaube mir, dass dein Leben wesentlich einfacher wird, wenn du so tust, als sei es in Ordnung für dich!“ Belehrte Tyrone seinen vermeidlichen Bruder. „Deine Frau macht dir keinen unnötigen Stress und sobald alles durchgekaut ist, gibt auch sie eine Ruhe, oder belohnt dich vielleicht auch noch für deine Geduld.“ Daraufhin grunzten die beiden Männer, während Katya ihren Gefährten unter dem Tisch trat.
Lucy beobachtete derweilen unbeteiligt, wie Ryan ein Gebäck mit etwas beschmierte, was er eigentlich überhaupt nicht mochte. Danach schnitt er es in Streifen und tauschte seinen Teller, mit dem von Lucy. Den oberen Teil behielt er für sich, so wie früher immer...
„Ryan...“ Murmelte Lucy, ohne das Frühstück angerührt zu haben. „Ich will wieder nach oben.“
„Natürlich!“ Ryan sprang auf die Beine, half Lucy ungefragt vom Stuhl hoch und nahm sie dann auf seine Arme. „Vorsicht, dein Kopf.“ Warnte er noch, als er sie durch die Zimmertüre trug.
Mit dem Fuß, stieß Lucy die Türe hinter ihnen zu, dann wurde sie auch bereits auf ihre eigenen Beine gestellt.
„Brauchst du etwas? Soll ich dir dein Frühstück hoch bringen?“
„Setz dich kurz, Ryan.“
„Wozu?“ Fragte er und wollte schon in dem bequemen Sitzsack platz nehmen, welchen er bisher quasi bewohnt hatte, da deute Lucy auf das Bett.
„Setz dich lieber dort hin.“
Ergeben tat er, was sie verlangte, nahm am Bettrand platz und wartete darauf, dass sich Lucy neben ihn setzte.
Was sie jedoch tat, überraschte den überfürsorglichen Nephilim. Lucy trat direkt vor Ryan hin, legte ihre Arme um seinen Nacken und ließ Sicht mit gespreizten Beinen, auf seinen Schoß sinken.
Instinktiv lehnte sich Ryan zurück. „Lucy... was tust du da?“ Fragte er und wollte sie schon von sich hinunter schieben.
„Versuchen dir etwas klar zu machen.“ Stellte Lucy fest. Ehe Ryan reagieren konnte, zog Lucy das lockere Trägershirt über ihren Kopf, sodass sie bloß noch in einem BH auf seinem Schoß saß.
„Okay, versteh das jetzt nicht falsch, aber egal was du vorhast, denk daran, dass du erst vor kurzem von eine Schwert durchbohrt worden bis-...“
„Sieh es dir an, Ryan.“
„Was?“ Fragte er nervös.
„Meine Wunde, gottverdammt!“ Langsam wurde Lucy sauer. War Ryan schon immer so begriffsstutzig gewesen, oder war das auch so ein Männerding?
„Tut sie wieder weh? Hast du dich etwa doch übernommen? Dann hole ich Odette, dass sie-...“
Lucy gab Ryan einen Klaps auf den Hinterkopf. „Verdammt, stell dich doch nicht so dämlich! Sieh dir die Wunde einfach an, Ryan.“
So hatte Lucy noch nie mit Ryan gesprochen, doch in ihrem eindringlichen, hellblauen Blick, erkannte er, dass er besser tun sollte, was sie verlangte.
Vorsichtig löste Ryan das großflächige Pflaster an einer Ecke und zog es dann von Lucy´s angespannten Bauchmuskeln, bis er beinahe vollständig frei lag.
Verblüfft betrachtete der Nephilim die gut geheilte Wunde. Nicht mehr, als eine blassrosa Narbe war zu sehen, welche knapp über Lucy´s Bauchnabel, diagonal verlief. Sie war nicht mehr, als drei Finger breit und wirkte, als sei sie bereits mehrere Wochen alt.
Sanft nahm Lucy Ryan´s Hand in ihre und legte sie sich auf die noch etwas empfindliche Narbe. „Mir geht es wieder gut, Ryan.“ Hauchte Lucy, während sie mit der anderen Hand, über seinen Nacken streichelte. „Es ist alles verheilt und auch der Schmerz ist weg.“ Versicherte sie ihm.
Geradezu andächtig, streichelte Ryan über die vermeidlich tödliche Wunde. Sie war einfach so verheilt... Ungläubigkeit stand in seinen Augen.
„Das bedeutet auch, dass du dir keine Sorgen mehr um mich zu machen brauchst. Du musst nicht mehr auf mich aufpassen, oder mir mein Frühstück bringen, denn ich bin fit genug, um es selbst zu tun, okay?“
Stumm nickte Ryan, welcher größte Mühe hatte, keine Regung von sich zu geben. Die Wunde war verheilt. Lucy ging es wieder gut... Ryan hörte zwar, wie seine ehemals beste Freundin diese Worte sagte, doch so richtig ankommen, wollten sie noch immer nicht. Als ob sich sein Geist weigerte das Gesagte zu akzeptieren.
Denn ehrlich, wenn Ryan sich nicht um Lucy kümmern musste... was sollte er sonst tun? Ihre Freundschaft war vor so vielen Jahren einfach zerbrochen, an einem überaus dummen Pubertätsscheiß... Was im Grunde bedeutete, dass sie beide nun keine Freunde mehr waren. Aber auch keine richtigen Geschwister... Wie also, sollte sich Ryan Lucy gegenüber verhalten? Ryan verstand sich selbst kaum noch.
„Ryan?“ Ryan hatte seine Stirn auf Lucy´s Schulter fallen lassen, zog sie mit beiden Armen, noch fester an sich, bis ihr zarter, weicher Körper, an seinem durchtrainierten anlag. Lucy fühlte sich so warm und vertraut an. Ihr Geruch hatte sich kaum verändert, doch die Länge ihres Haares, kitzelte mittlerweile an seiner rauen Wange.
Lucy umschlang mit ihren Armen ihrerseits Ryan, fühlte seinen Schmerz beinahe, als sei es ihr eigener. Traurigerweise wusste sie, dass Ryan etwas völlig anderes für sie empfand, als es umgekehrt der Fall war. Lucy sah Ryan an, dass dieser wieder seine beste Freundin zurückwollte. Das Mädchen, mit welchem er jede Nacht gesprochen hatte, bis sie gemeinsam einschliefen. Das Mädchen, welches ihm beim Lernen half, da es ihr viel leichter von der Hand ging, als ihm. Das Mädchen... dass nicht bloß seine kleine Schwester, sondern auch seine beste Freundin gewesen war.
Doch Lucy war älter geworden. Reifer. Nicht bloß Lucy´s Körper hatte sich mittlerweile verändert, auch ihre Empfindungen. Egal, wie sehr sie es sich wünschte, den lieben und netten Ryan von früher, konnte sie nicht mehr in diesem muskelbepackten Körper sehen. Da war mittlerweile jemand anderes, jemand der ihr Herz zum Rasen brachte, Schmetterlinge in ihrem Bauch lostrat und sie ab und an, nervös stammeln ließ.

 

- - - - -

 

Im Garten von Marie hatten sich mittlerweile sämtliche Nephilim mit ihren Müttern eingefunden. Lediglich Lysander und Ryan hielten einen ungewöhnlichen Abstand zueinander, der bisher nicht hatte überwunden werden können.
Vollkommene Stille herrschte, während sämtliche Blicke, abwechselnd von Marie, zu Calyle wechselten.
Marie hatte alle anwesenden darum gebeten, sich bei ihnen auf der Terrasse einzufinden. Zwar quälte die große Sommerhitze die vielköpfige Familie, doch sämtliches Stöhnen und Jammern war lediglich aufgrund eines Satzes verstummt.
„Wir sind schuld an Ednas Tod.“
Marie sog scharf die Luft ein, griff nach der Hand ihres Sohnes und schüttelte konsequent den Kopf. „Nein, Calyle, das ist nicht richtig. Nur ich bin schuld daran. Du hattest nichts damit zu tun!“
„Ich habe dich gedeckt und alle belogen. Das ist mindestens genauso schlimm!“ Widersprach Calyle, woraufhin ihm erst in diesem Moment bewusst wurde, dass es das erste Mal war, dass er und seine Mutter sich über den Vorfall unterhielten.
„Halt!“ Unterbrach Olive Marie, ehe diese erneut ihrem Sohn widersprechen konnte. „Was zum Teufel, meint ihr damit, dass... dass es eure... oder deine Schuld ist? Was hat das zu bedeuten, Marie?“
Marie´s dunkelblaue Augen, füllten sich mit Tränen. „I-Ich habe versucht Edna aufzuhalten... Dabei ist sie gestürzt und... und brach sich das Genick.“
„Aufhalten?“ Fuhr Odette aus der Haut. „Wovon wolltest du sie denn abhalten? Edna war ein unfassbar einfühlsamer Mensch! Wovon hättest du sie denn abhalten müssen, um so etwas zu rechtfertigen?“ Tränen standen in diesem Moment, jedem einzelnen in den Augen.
Ryan legte sogar seinen Arm um Lucy´s Schultern, als diese erschrocken eine Hand vor den Mund schlug. Tyrone streckte instinktiv seine Arme aus, sodass Katya auf seinen Schoß rutschen konnte, um ihm so nahe wie möglich zu sein. Lysander griff nach der Schulter seiner Mutter Fiona, hinter welcher er am Geländer gelehnt hatte und drückte diese aufmunternd. Olympia wechselte einen traurigen Blick mit ihrer Mutter, ehe die beiden nach ihren Händen griffen und sie unter dem Tisch aufbauend drückten.
„Sie hat erfahren, dass du Luzifers Kind bist.“ Entwischte es Olympia so schnell, ehe sie sich zusammen reißen konnte. Einen andern Grund konnte es für diese Tat wohl kaum geben.
Luphriam hatte es bestätigt. Ihr und Lysander war es in den letzten Tagen, mehr als deutlich bewusst geworden, dass sie beiden die Einzigen waren, welche um dieses Geheimnis noch wussten.
Odette und Olive fuhren erschrocken zu Olympia herum, ehe sie ihre Blicke zurück auf Calyle´s schuldbewussten Blick lenkten. „E-Es ist nicht bloß deshalb geschehen...“ Rechtfertigte sich Marie.
„Edna war dabei, einen Keil zwischen uns zu treiben.“ Verteidigte sie sich weiter.
Josephine schnaufte, zeitgleich mit Fiona und Celiné.
„Wie hätte sie das gekonnt?“ Fragte Fiona. „Dann ist eben Calyle Luzifer´s Sohn, was ändert das schon?“
„Das ändert alles!“ Fuhr Marie Fiona an. „Ihr hättet ihn mit anderen Augen gesehen und euch gefragt, wieso wir es verheimlicht haben!“
„Mama...“ Versuchte Calyle seine aufgebrachte Mutter zu beruhigen.
„Das ist ja auch eine gerechtfertigte Frage, oder sehe ich das etwa falsch?“ Entgegnete Odette.
„Nein. Aber erinnert euch doch! Es war meine Idee gewesen! Ich habe gesagt, dass wir Luzifer´s Kind, noch in der Wiege töten müssen, damit es...“ Ihr Blick glitt traurig zu ihrem Sohn. „...Ich könnte es einfach nicht ertragen, ihn auch noch zu verlieren.“
Olive sprang nun auf die Beine. „Das ist doch Schnee von vor beinahe zwanzig Jahren! Sieh ihn dir an! Calyle ist ein erwachsener und bodenständiger, junger Mann! Hast du wirklich geglaubt, dass dir irgendjemand einen Vorwurf gemacht hätte? Woher hättest du es dann wissen sollen? Lucy´s Vision war eindeutig. Dachten wir zumindest.“
Lucy wandte sich irritiert an ihre Mutter Odette. „Aber wenn Calyle nun Luzifers Nachkomme ist... Wessen ist dann Haylee?“
Lysander fixierte Katya mit einem durchdringenden Blick, welcher aber lediglich Ryan auffiel, da dieser seinen bisher besten Freund nur zu gut kannte.
„Das ist jetzt nicht wichtig.“ Entgegnete Odette, die dieses Thema im Moment nicht vertiefen wollte, sondern lieber beim Hauptgrund der Versammlung blieb.
„Es war ja nicht nur das! Edna hat sich in den Kopf gesetzt, dass mein Calyle nicht mehr in die Nähe von Haylee darf! Edna wäre... Edna wäre vielleicht sogar mit ihr abgehauen, nur damit die beiden niemals eine Verbindung eingehen.“
„Jetzt übertreibst du aber!“ Entgegnete Olive. „Edna hat dich geliebt. Vielleicht war sie sauer, ja gut. Aber so weit wäre sie doch nie gegangen! Sie hat doch an Katya und Tyrone gesehen, wie wichtig diese Verbindung ist.“
„Du hättest mal hören müssen, wie dieses Miststück meinen Sohn angeschrien hat!“ Fuhr Marie nun ebenfalls aus der Haut und stützte sich, aufrecht, genauso über den Tisch, wie Olive. „Sie sagte, Calyle würde Haylee nichts, als Unglück bringen und ihre heiß geliebte Haylee mit in den Abgrund ziehen! Dabei wollte sie nicht einmal hören, was Gott für Pläne für die beiden hatte!“
Olive´s Ärger wich Verwirrung. „Was? Gott?“
„Ja! Lucy hat Calyle vor einigen Jahren eine Vision geschickt. Eine Vision von einer Zukunft, von der wir bisher noch nicht einmal geträumt haben! Unsere Kinder!“ Marie deutete auf alle sieben anwesenden Nephilim. „Sie werden, wie Götter verehrt. Die Schleusen zwischen unserer Welt und die zu den Engeln und Dämonen, haben sie verschlossen!“ Marie fasste sich stolz ans Herz. „Reinkarnation ist dann endlich frei möglich. Edna, mein geliebter Ehemann, eure verlorenen Liebsten... Sie alle würden wieder geboren werden. Wir könnten sie wieder treffen und einen Neuanfang beginnen. Stellt euch das mal vor! Jeden den wir an diese verdammte Zeit verloren haben...“
Marie sah von Mutter zu Mutter, an diesem Tisch. Jede einzelne von ihnen, hatte schwere Verluste, aufgrund der Zeit zu verschreiben. „Wir alle haben so viel geopfert. Wir waren vier Jahrzehnte lang schwanger, haben uns versteckt und von der Außenwelt abgeschottet. Die Kirche behandelt unsere Kinder wie ihre persönlichen Wachhunde. Ohne deren Einverständnis können wir im Grunde überhaupt keinen Schritt tun!“ Marie warf wütend die Arme in die Luft. „Aber so wird es nicht immer bleiben. Diese Welt.“ Marie deutete auf den Boden vor sich. „Unsere Welt, erträgt den Sog, zu den anderen beiden nicht mehr viel länger. Wir haben die Pflicht, sie zu schützen, mit allem, was uns zur Verfügung steht. Gott hat uns auserkoren... Unsere Kinder, als die modernen Gottheiten zu gebären...“
Marie klang in Lysanders Ohren, beinahe fanatisch. Wie eine Satanistin, die versuchte alle anderen von ihrem Glauben zu überzeugen. Wie ein Prophet, der vom Weltuntergang predigte!
Selbst Olympia runzelte verblüfft die Stirn, da sie Marie noch niemals hatte so reden hören.
Katya und Tyrone hingegen, waren augenblicklich Feuer und Flamme. Sie konnten kaum glauben, zu was sie bestimmt waren und sonnten sich bereits jetzt in der Aussicht, einmal in die Geschichtsbücher einzugehen.
Lucy war skeptischer. Genauso, wie ihre Mutter, erwartete sie Fakten, richtete sich nach einem logischen Entscheidungsschluss. Doch wieso eine ihrer Visionen, einen Mord, sei es auch unbeabsichtigt gewesen, begründen sollte, war Lucy noch unverständlich.
„Mama, das ist ja alles schön und gut, aber ich kann es nicht ohne Haylee. Du weißt, ich brauche sie dafür. Sie ist meine Gefährtin. Meine andere Hälfte...“ Sein Tonfall klang beinahe schon gepeinigt, so sehr vermisste er sie. „Ich weiß nicht, wie ich ohne sie überhaupt mit alledem anfangen soll.“
Marie ging vor ihrem Sohn auf die Knie und streichelte sanft dessen Bein. „Liebling... Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Haylee gehört zu dir. Lucy´s Visionen bewahrheiten sich immer. Vertraue darauf, dass Gott deine Gefährtin zurück in deine Arme leiten wird. Vielleicht wird sie wütend sein... Aber irgendwann versteht sie es. Wir alle haben Edna geliebt. Wir wollten ihr niemals etwas Böses, das wird sie einsehen, sobald sie sich erst mit dir verbunden hat.“ Liebevoll trocknete sie eine seiner verlorenen Tränen. „Denk immer daran, was du in deiner Vision gesehen hast, Liebling. Wie haben sie euch genannt?“
„W-Wir sind... Wir werden die Bezwinger der Dämonen genannt...“ Hauchte Calyle halblaut. „Haylee, meine rechtmäßige Frau, wird an meiner Seite über einen ganzen Kontinent wachen, während die... die restlichen aufgeteilt sind. Wir... Wir werden, als Götter bezeichnet, die den wahren Frieden über die Welt brachten. Es gibt keinen Himmel, keine Hölle. Keinen Ort mehr, wohin die Seelen entweichen könnten, weshalb sie in absehbarer Zeit, stets in einen neuen Körper fahren werden. Reinkarnation. Unsterblichkeit, auf eine ganz andere Art und Weise, wie sie Engel und Dämonen kennen.“
Lucy fasste nicht, was sie da hörte. Laut dieser Vision sollten sie, die Nephilim, die gesamte Weltordnung in eine Flasche packen, kräftig schütteln und sie dann nach ihren persönlichen Vorstellungen neu sortieren? Abgesehen davon, dass große Veränderungen auch große Opfer benötigen, war es unvorstellbar, wie man so etwas jemals erreichen sollte.
Natürlich waren besondere Fähigkeiten, in einem solchen Aufwand ausgesprochen nützlich. Aber Wunder waren selbst Nephilim nicht möglich, zu wirken.

 

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Olympia kratzte sich an der Nase, während sie mit ihrer beschworenen Sense einmal im Kreis wirbelte, den Griff dann auf den Boden aufkommen ließ und sich daran stützte. „Wie siehst du das ganze, Lysander?“
Fragte sie den Nephilim, welcher, trotz seiner Gesprächigkeit, den ganzen Tag noch kein einziges Wort von sich gegeben hatte. Als ausgelost wurde, wer mit wem zu welcher Wache, an diversen Orten der Vorstadt ging, hatte Lysander sich ohne Umschweife für sie entschieden.
Dadurch dass Lysander eingeweiht war in, einfach so gut wie alles, was bisher geschehen war und auch kein Wort, über den Dämon an Olympia´s Seite verloren hatte, war er auch im Moment der Einzige, dem sie wirklich vertraute.
„Es ist dunkel. Ich sehe fast überhaupt nichts.“ Murrte dieser und wirkte seltsam eingefallen. Seine Mundwinkel hingen hinab, die Augen waren ganz trübe und seine Haare waren auch ungepflegt. Bisher hatte sie ja nichts sagen wollen, da Lysander sich ohnehin nichts sagen ließ...
Da eben keine weitere Welle an Dämon auf die beiden wartete, ließ sich Olympia auf die Bank neben Lysander sinken und den Blick über das dicke Dickicht des Parkes wandern. Er hatte recht. Man sah kaum die Hand vor Augen. „Was ist los Lysander? Du bist schon seit einigen Tagen so... abwesend.“
Lysander schenkte Olympia ein gefühlloses Lächeln. „Mir geht es gut.“ Er log so schlecht, dass Olympia sich nicht einmal die Mühe machte, darauf zu reagieren.
„Ist es wegen Ryan? Streitet ihr noch immer.“
„Auch.“ Murrte Lysander kraftlos. Olympia hatte beim besten Willen keine Lust darauf, diesem dummen Kerl alles aus der Nase zu ziehen. Trotzdem fuhr sie fort. „Bist du eifersüchtig, weil er dich für Lucy stehen lässt?“
„Nein.“ Kam es wieder eintönig.
„Hat dir jemand die Suppe versalzen?“ Auf diese spöttische Frage hin, hob Lysander den Blick, um Olympia wütend an zu starren.
Andererseits war Olympia im Moment die Einzige, welcher er sich anvertrauen konnte. „Es ist einfach ein bisschen von allem.“ Entgegnete er schlussendlich. „Haylee ist fort, wir wissen nicht einmal ob sie noch lebt. Ryan ist wütend, weil ich hinter Haylee stehe, anstatt ihn zu bestätigen, dass sie das personifizierte Übel ist.“ Ein sarkastischer Ton legte sich in Lysander´s Stimme, welche Olympia beinahe erleichtert aufatmen ließ. Da kam endlich wieder der richtige Lysander zum Vorschein. „Dann die Tatsache, dass wir uns getäuscht haben könnten. Haylee ist Michael´s Tochter. Das bedeutet, dass Katya uns unser... quasi leben lang angelogen hat. Tyrone genauso, denn er war doch in ihrem Kopf!“
Olympia runzelte die Stirn. So hatte sie das ganze eigentlich noch nie gesehen. „Marie ist eine Mörderin. Calyle ein Betrüger und Lügner...“ Er seufzte tief. „Olympia, mein ganzes Leben lang, habe ich mir Beleidigungen anhören können. Ich musste ertragen, wie ich...“ Er stockte. „...Das einzig beständige in meinem Leben war, dass ihr meine Familie seid. Dass nichts uns jemals auseinanderbringen würde. Aber nun? Calyle spricht von einer glorreichen Zukunft ohne Dämonen, in welchen wir Götter sein sollen. Aber wenn ich an Haylee denke...“
Olympia runzelte die Stirn. „Stehst du etwa wirklich auf sie?“
Erneut ein vorwurfsvoller Blick. „Natürlich nicht! Aber als ich in ihrem Kopf gewesen bin, sah wie sie, genauso ausgeschlossen, wie ich, hat leben müssen und dann sind da trotzdem noch diese Gedanken...“ Er wusste nicht, wie er es in Worte fassen sollte, doch etwas an Haylee´s Denkweise, hatte ihn berührt und verändert. Ihre Fürsorge, das Einfühlungsvermögen, die Treue und diese Überzeugung...
„Welche Gedanke denn?“
Er schmunzelte leicht. „Du würdest mich ja doch für verrückt halten.“
Olympia sah das ein. Sie hielt Lysander immerhin jetzt bereits für verrückt, doch das konnte man leicht ändern. Sie legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel und schenkte ihm ein aufforderndes Lächeln. „Dann zeig es mir einfach.“
Er erwiderte ihr Lächeln.

 

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Um Ryan aus dem Weg gehen zu können, hatte sich Lucy tief unter der Erde, inmitten von Büchern verschanzt. Dafür hatte sie zwar ihren Pfarrer um den Schlüssel zur Kirche bitten müssen, doch fühlte sich zum ersten Mal seit langem endlich wieder ruhiger.
Natürlich hatten die Mütter bereits Sandra in Rom erreicht. Diese hatte erzählt, dass der Papst sich bereit erklärt hatte alles >heilig zu sprechen< was er nur konnte und dafür sogar eine kleine private Pilgerreise plante. Sandra würde ihn begleiten und einer von uns Nephilim, das würde bestimmt Katya übernehmen, würde als Vermittlerin mitreisen.
Zu dieser Gelegenheit hatte man auch Sandra von der geheimen Vision eingeweiht, welche sofort aus dem Häuschen gewesen war.
Lucy hingegen sah dieser >Tatsache< mit gespalten Gefühlen gegenüber. Natürlich wünschte sich Lucy nichts mehr, als dass die Dämonen für immer verschwanden. Zeitgleich jedoch, fragte sie sich nach dem Opfer. Jede Religion hatte Opfer gefordert, Blut vergossen und Lebewesen unterdrückt, um ihren eigenen Glauben durchzusetzen. Was würden sie, als Nephilim tun müssen, um als Götter gefeiert zu werden?
Lucy´s Blick fiel einmal mehr auf das erhabene Gesicht des Erzengels, welcher ihr seine Kräfte überlassen hatte. „Wieso hast du sie mir gegeben?“ Fragte sie das Bildnis, doch erwartete natürlich keine Antwort. „Was für einen Zweck haben sie, wenn sie nicht klar sind, wenn ich sie selbst nicht sehen kann und...“ Lucy stockte. „Ich wünschte, du hättest mir mehr sagen können.“
Ein warmes Gefühl durchflutete sie, beinahe wie eine Umarmung. Für einen Moment schloss Lucy die Augen, genoss das imaginäre Gefühl und seufzte tief. Bestimmung war ein Wort, das Lucy nicht so häufig in den Mund nahm, wie alle anderen. Für sie war es keine Bestimmung, wenn ein Auto von der Straße abkam und gegen einen Baum prallte. Es war viel eher das Erzeugnis von Aktion und Reaktion. Es gab immer einen Auslöser, der selbst einen Auslöser besaß, ähnlich einer Kettenreaktion. Dominosteine fielen immerhin auch nicht willkürlich um.
Also musste auch die Wahl, welche Uriel getroffen hatte, Teil eines größeren Puzzles sein. Ob er seine Visionen hatte sehen können? Sie verstand, im Gegensatz zu Lucy? Das fragte sie sich einmal mehr, während sie über die filigrane Zeichnung seiner Flügel strich.
Ob Haylee wohl Teil dieses Puzzles war? Oder war ihr Verschwinden bloß die Reaktion auf verschiedene Aktionen gewesen, welche schlussendlich genau dort geendet hatten? Und falls ja... Dann war ihr Verschwinden doch auch bloß wieder eine Aktion, die weitere Reaktionen hervorrief, richtig?
Wann nahm das alles endlich ein Ende? Was würden sie noch tun müssen? Wen verlieren?
Marie hatte nicht ganz unrecht mit dem, was sie sagte. Lucy war nicht begeistert von der Art, wie Marie es rüber brachte, doch im allgemeinen wünschte sich Marie nichts weiter, als das, wonach sich jeder Mensch sehnte. Eine Ewigkeit an der Seite von demjenigen, den sie liebt. Sie wollte ihren Mann zurück, die große Liebe ihres Lebens, welche sie aufgeben musste, um das Kind eines Erzengels auszutragen. Sie hat es zwar aus Überzeugung getan, doch an dem Schmerz, welcher sie seitdem stets begleitete, hatte es absolut gar nichts geändert.
Manchmal... Spielte das Leben schon seltsame... „Hoppla!“ Lucy war so in ihren grüblerein versunken gewesen, dass ihr doch glatt das Buch vom Schoß gerutscht war.
Sie bückte sich danach, hob es auf und öffnete es erneut. Die Seite welche sie jedoch willkürlich dabei aufschlug, ließ sie irritiert die Stirn runzeln. „Anrufung eines Engels...“ Hauchte sie nachdenklich.
Nein, es konnte doch unmöglich so einfach sein, nicht wahr?
Erneut durchflutete sie die Wärme von vorhin und ein Funken an Gewissheit entfachte in ihr. „Danke, Vater.“
So schnell es ihre Beine zuließen, lief Lucy die Treppe hoch, hinaus aus dem Gebäude und verschloss es für die Nacht. Dann machte sie sich auf den Heimweg, mit einer Idee, die so simpel sie auch klang, einigen Aufwand erforderte.

 

- - - - -

 

Calyle war so aufgeregt, dass er Lucy gleich ein paar Mal dazwischen funkte. Auch wenn sie schwor, dass sie alles bekommen hatte, was man für die Anrufung eines Engel benötigte, wollte es niemand so richtig glauben.
Calyle hatte das Weihwasser besorgt, zusammen mit einem Artefakt der Engel, welches bisher gut versteckt in dem geheimen Keller geruht hatte.
Lysander brachte verschiedene Substanzen, welche er nun gewissenhaft so auflegte, wie es im Buch beschrieben worden war.
Olympia sorgte zusammen mit Katya für eine genügende Menge an Kerzen aus den verschiedensten Kirchen ihrer Umgebung. Wie die Mütter diese so schnell zusammen getragen hatten, war den Nephilim jedoch ein Rätsel.
Schlussendlich wurde noch von Tyrone der Raum mit brennenden Kräutern gereinigt und sie warteten, dass die Sonne so tief im Westen stand, dass sie gerade erst den Horizont küsste, von ihrer Position aus. Nun blieb ihnen bloß noch eine Stunde, um die Anrufung durchzuführen und rechtzeitig zurück bei ihren Schichten zu sein, um Dämonen abzuwehren, die stets mehr zu werden schienen.
„Haben wir es?“ Fragte Calyle, welcher eigentlich nichts getan hatte, als nervös im Kreis um alle herum zu gehen.
„Ryan, schmeiß ihn raus, oder ich tue es.“ Murrte Lucy, welche dies jedoch nicht ernst meinte.
Zwanzig Minuten später, war es dann so weit. „Okay, wir können loslegen.“ Verkündete Lysander und nahm den Platz im Kreis ein, welcher noch nicht besetzt war.
So bildeten sie nun zu siebent einen perfekten Kreis. Lucy hatte Markierungen am Boden gezeichnet, damit niemand zu nah an jemand anderen daran stand, sie einander noch an den Händen nehmen konnte, aber trotzdem genug Platz für eine Engelsgestalt blieb. Insofern etwas erschien, verstand sich.
„Und jetzt?“ Olympia runzelte irritiert die Stirn.
„Ich weißt nicht... Da stand bloß der Ritus, wie man den Weg für den Engel ebnet... aber...“ Sie stockte einen Moment. „Wir versuchen einfach verschiedenes, dann werden wir schon sehen, was geschieht.“
Einheitlich wurde genickt. „Vielleicht... beten wir einfach?“ Schlug Calyle vor.
„Im Namen des Vaters...“ Alle fassten sich einheitlich an die Stirn, um dort ein kleines Kreuz zu zeichnen. „...des Sohnes...“ An der Nase wiederholten sie das Zeichen. „...und des heiligen Geistes.“ Über den Lippen machten sie das letzte.
Nichts geschah, daher versuchte Lucy es einfach weiter. „Bitte, erhöre unser flehen, Haylee. Nachfahrin des heiligen Erzengel Michaels. Fahre ins unsere Mitte und erhelle uns... mit deiner Anwesenheit.“ Improvisierte sie.
Nichts geschah.
„Vielleicht ein anderes Gebet?“ Schlug Katya vor. Sie versuchten die nächsten dreißig Minuten die verschiedensten Gebete durch, malten mit dem Daumen oder Zeigefinger Kreuze an ihre Körper und knieten zum Schluss sogar.
Als Calyle, einfach bloß noch wütend und frustriert, mit der Faust auf den Boden einschlug, löste sich die Gruppe allmählich auf. Zwei Nephilim blieben zurück, der Rest rückte aus, um zu kämpfen.
Marie, welche sich zutiefst schuldig fühlte, für das, was sie getan hatte, studierte die ganze Nacht die Bücher unter der Kirche und beriet sich mit Sandra, welche nun im direkten Kontakt mit dem Papst stand.
Am nächsten Abend versuchten es die Nephilim erneut. Dieses Mal, nicht zuhause im Wohnzimmer von Odette, sondern an einem heiligen Ort, der Kirche höchst persönlich.
Erneut erschufen sie einen gezeichneten Kreis, so wie einen, den sie mit ihren eigenen Körpern schufen. Reinigten zusätzlich noch die Umgebung und bauten alles erneut so auf, wie im Wohnzimmer, bloß das ihnen nun viel mehr Platz zur Verfügung stand.
Pfarrer Marcus erklärte sich sogar bereit, als Diener Gottes, die Gebete zu übernehmen, trug seine Trachtenkleidung, mit Scherpe, Kreuz und allem drum und dran. Er versprühte bei jedem Wort Weihwasser, bis eine kleine Pfütze in ihrer Mitte entstand. Ging sogar mit den Nephilim in die Knie...
Nichts geschah.
„Ich wünschte, in einem der Bücher stünde, mit welchen Worten sie damals die Engel gerufen haben.“ Murrte Lysander genervt, als sie eben eine Pause einlegten.
„In den Übersetzungen steht leider nichts davon.“ Meinte Lucy und deutete nickend auf das Buch, welches auf dem Altar lag.
Katya schnellte aus ihrer liegenden Position hoch. „Natürlich! Sind wir dämlich!“
Die Blicke von sechs Nephilim und einem Pfarrer richteten sich auf sie. „Woran denkst du?“ Fragte Tyrone, welcher seinen eigenen Gedanken nachgehangen war und darum nichts von Katya´s Ide mitbekommen hatte.
„Es sind >übersetzte< Rituale und Geschichten!“ Meinte Katya vieldeutend, damit auch die anderen von selbst darauf kamen.
Es blieb jedoch absolut still im Raum. Nur die mehreren Dutzend Kerzen, welche im gesamten Raum verteilt standen, sorgten für Beleuchtung. Die Sonne von draußen bewirkte nämlich beinahe überhaupt nichts mehr. Gleich würden sie aufbrechen müssen...
„Wir sprechen in der falschen Sprache!“ Ging es nun auch Calyle auf, welcher auf den Pfarrer deutete. „Marcus, haben Sie auch Latein drauf?“
Die Gesichter von allen hellten sich auf. Natürlich hatte er dies!
Erst war es bloß eine Erwärmung des Raumes, welche niemand so richtig bemerkte. Immerhin war es Hochsommer und da war eine erdrückende Hitze, etwas Alltägliches. Dann jedoch, wurde einem nach dem anderen klar, dass sie sich in einer uralten Kirche befanden. Hier erwärmte sich beinahe niemals irgendetwas, weshalb manchmal sogar im Sommer die Sitzheizungen angemacht werden mussten.
Die Flammen begannen zu flackern, das Licht begann einen goldenen Ton anzunehmen. Der Rauch, welcher bisher ungesehen direkt über der Kerze verschwunden war, begann allmählich so etwas, wie feste Substanz anzunehmen und lief, wie magnetisch davon angezogen, hinein in den gebildeten, inneren Ring des Beschwörungskreises.
„Es geht los!“ Calyle´s Stimme klang andächtig, während der Pfarrer weiter auf Latein nuschelte und dabei die Augen aus einem Grund geschlossen ließ, den sich keiner der anwesenden Nephilim erklären konnte.
Dann war es bloß noch ein Wimpernschlag. Es war, wie ein Blitz, welcher von allen Kerzen gleichzeitig ausging, er fuhr in den inneren Ring und erzeugt so starke Rauchschwaden, dass sich innerhalb eines einzigen Wimpernschlags, etwas öffnete, dass keiner der Nephilim je gesehen hatte.
Erst waren es verschwommene Bilderfetzen, welche aufglommen. Dann jedoch, als sich der Rauch in eine silbrige Kugel verwandelte, war das plötzlich Haylee´s Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Atmung ging ganz hektisch.
„Haylee! Haylee, kannst du mich hören? Ich bin es, Calyle. Geht es dir gut?“
Lucy schloss sich besorgt Calyle´s Drängen an. Dann Lysander und Olympia. Sie alle konnten nicht glauben, dass sie Haylee doch tatsächlich gefunden hatten. Sie lebte! Schlief, aber war am Leben!
Dann brach es ganz plötzlich ab.
Pfarrer Marcus brach zusammen, kollabierte und zuckte am gesamten Körper. Damit war es vorbei...

 

- - - - -

 

Stunden später saß Lucy noch im Krankenhaus und fühlte sich schrecklich schuldig. Zum Glück war es nichts Gröberes gewesen, doch im ersten Moment hatte Lucy wirklich gedacht, dass bloß aufgrund ihres dummen Einfalls, sie einen Pfarrer am Gewissen hätte.
Die Ärzte diagnostizierten lediglich, dass er stark unterzuckert sei und deshalb kollabierte. Anscheinend hatte der Mann den ganzen Tag keinen Gramm Zucker zu sich genommen! Wie das möglich war, konnte sich kein Arzt erklären, vor allem da Pfarrer Marcus beteuerte, dass seine Frau ihn immer artig mit Essen versorgte, da er selbst darauf ständig vergessen würde.
Odette meinte, die Kraftanstrengung musste dies verursacht haben. Und so kurz, wie die Verbindung angedauert hatte, schien man mehr als einen Katalysator für eine stabile Verbindung zu den Engeln zu gebrauchen.
Olympia verstand von alldem kein Wort, bis Lucy ihr erklärte, dass diese Anrufung seine Kosten hatte. War derjenige erschöpft, welcher den Engel anrief, so brach auch die Verbindung schlagartig ab.
Vorerst schliefen die meisten, doch Lucy fand einfach keine Ruhe, obwohl ihre Augen brannten, als hätte sie sich Salz hinein gekippt.
Heute Abend wollte Calyle es unbedingt erneut versuchen. Er musste wissen, ob es Haylee gut ging. Wo sie war und was geschehen war.
Lucy wollte all das auch wissen. Sie vermisste ihre Freundin, selbst wenn sie bisher noch nicht allzu viel freundschaftliche Bindung hatten schmieden können, fühlte Lucy dennoch eine Verbundenheit zu ihrer neuen Schwester. Auch wenn sie sich nicht mehr an viel des bedauerlichen Unfalls erinnerte... so wusste Lucy, dass Haylee nicht versucht hatte, Lucy zu töten! Eigentlich konnte Lucy sogar die Wut in Haylee zu gut verstehen. Wäre es anders herum gewesen, wäre Josephine diejenige gewesen, welche Lucy´s Mutter tötete...
Nicht einmal Ryan könnte sie mehr halten. Und wenn er ihr das, egal ob zerstritten oder eng befreundet, verheimlicht hätte und seine Mutter sogar noch dabei deckte... Sie würde ihn nie wieder mit denselben Augen ansehen können, wie sie es heute tat.
Ihr Blick fiel auf Ryan. Bedauerlicherweise war die Beziehung zwischen Calyle und Haylee wesentlich komplizierter, wie Lucy wusste. Zwangsläufig würde Haylee ihm vergeben müssen. Seinen Entschuldigungen und seiner Schuld nachgeben... Aber wenn Haylee das nicht müsste. Wenn sie sich einfach bis in alle Ewigkeit gegen die Verbindung zwischen ihnen beiden wehrt?
Was würde dann aus Lucy´s Vision werden? Die, in welcher sie selbst erstochen werden sollte, kurz nachdem sie ihre Kräfte erhalten hatte, war ja nun doch in Erfüllung gegangen. Jahre später, aber immerhin. Lucy hatte geblutet und Haylee war schuld daran gewesen.
„Was wird nun geschehen?“ Lucy bemerkte nicht einmal, dass sie ihre Worte laut aussprach, erst als Ryan von der Zeitschrift aufsah, wurde es ihr bewusst.
„Nun ja, wir könnten heim und schlafen, wenn du möchtest. Calyle wird >es< heute Abend erneut versuchen wollen.“ Aufgrund der vielen Besucher welche die beiden herum saßen, entschied sich Ryan dazu, nicht zu offen über das, was in der Kirche vorgefallen war, zu sprechen.
„Natürlich, das ist ein guter Einfall. Olive ist bei Pfarrer Marcus. Und ihm geht es gut... Schauen wir, dass wir ebenfalls nach Hause kommen.“
Viel Schlaf fand Lucy jedoch nicht. Jede Zelle ihres Körpers war dermaßen mit Spannung gefüllt, dass sie wie verrückt herum zappelte. Heute würden es nämlich Ryan und Tyrone versuchen. Sie tranken schon den gesamten Tag, kaum etwas anderes, als Zucker, was die beiden Jungs gequält stöhnen ließ. Sich von Süßkram zu ernähren, war ja schön und gut, doch wenn man dazu gezwungen wurde, konnte so ein Genuss ganz schnell zur Qual werden.
Katya teilte den Schmerz von Tyrone, in dem sie ihm gut zuredete und etwas von seinen Bauchschmerzen nahm. Dass Odette und Lucy am laufenden Band meckerten, was sie beide doch für Idioten seien und falsch machten, wurde einfach übergangen.
Die Dämmerung brach einmal wieder viel zu früh herein. Lucy fühlte sich noch nicht bereit. Ein... Gefühl des schlechten Gewissens plagte sie und sie bildete sich ein, etwas Schlimmes zu tun, obwohl ihre Gruppe sich doch lediglich um Haylee sorgte. Nun ja, zumindest ein Großteil. Ryan hatte sich am laufenden Band, negativ über Haylee ausgesprochen, da diese, egal welcher Herkunft, dennoch Lucy erstochen hatte, völlig ohne Grund. Dass es ein Unfall gewesen war, sah er jedoch nicht ein. Katya blieb offen, genauso wie Tyrone. Die beiden hatten sich noch keine Meinung gebildet, obwohl Lucy bereits so eine Vorahnung beschlich. Haylee und Calyle waren das einzige andere Gefährtenpaar in ihrer Familie... Natürlich würden Tyrone und Katya alles daran setzen, dass diese beiden dasselbe Glück erhielten.
Über die Tatsache, dass Calyle jedoch Luzifers Nachkomme war, schien niemand sprechen zu wollen.
Lysander und Olympia hatten sich ihrerseits für Haylee ausgesprochen und schworen bei ihrem eigenen Leben, dass Haylee Lucy niemals etwas mutwillig antun wollen würde, was bei Ryan natürlich auf Sarkasmus und Abweisungen stieß.
„Gut. Wir beginnen.“
Lucy stand gegenüber von Calyle, welcher bereits dicke Augenringe trug, sein Zopf war ganz wirr, so als ob er ihn bloß zusammen gebunden hätte, ohne sich vorher zu frisieren. Sein Blick wirkte gehetzt und er zappelte nervös, während Ryan und Tyrone mit dem fremdartigen Singsang begannen. Zwar hatten sie den gesamten Nachmittag, an Marie´s Seite, damit verbracht, die Worte zu lernen, doch einige davon, hatten die beiden noch nicht so ganz drauf, weshalb sie immer wieder ins stolpern kamen.
Wäre die Situation nicht so ernst, hätte die Gruppe das Gestammel ein wenig witziger gefunden, doch im Moment waren alle vor Aufregung vollkommen angespannt.
Olympia drückte Lucy´s Hand sanft, woraufhin Lucy der schwarzhaarigen einen fragenden Blick zuwarf.
„Es wird alles gut. Du wirst schon sehen. Haylee wird dir genau dasselbe Sagen, was wir dir schon die ganze Zeit versichern.“ Flüsterte sie leise, woraufhin Lucy das Lächeln dankbar erwiderte.
„Ich weiß, ich bin in ihrem Kopf gewesen.“
Olympia nickte. „Lysander hat es mir gezeigt. Ich fand ja vorher schon, dass sie eine totale Nervensäge ist. Aber jetzt weiß ich auch, dass sie eine nette Nervensäge ist.“ Witzelte Olympia, woraufhin Lucy leise kicherte.
Einen Moment später wurden die beiden von Calyle´s mahnenden Räuspern zum Schweigen verdonnert, was vermutlich auch besser so war, denn kurz darauf, begann sich erneut Rauch zu einer Kugel zwischen ihnen zu formen.
Dieses Mal jedoch, zeigte sie etwas anderes, sobald sie sich verfärbte. Man erkannte ganz klar, Haylee´s ängstlichen Blick, als ob gerade eben etwas absolut Schreckliches geschah.
Ihre Augen waren vor Schreck geweitet, sie sah sich panisch in alle Richtungen um und Tränen liefen über ihre Wangen, als sie zu schluchzen begann.
„Was ist da los?“ Fragte Lucy besorgt.“
„Haylee? Haylee, kannst du uns sehen? Was ist los? Wo bist du? Wir kommen dir helfen!“ Überfiel Calyle sie regelrecht.
Haylee erstarrte und schien sich erst da Calyle´s Anwesenheit richtig bewusst zu werden. „N-Nein!“ Rief sie, und schien rückwärts zu gehen. „Geh weg von mir! Lass mich in Ruhe!“ Fuhr sie ihn an, oder vielleicht war es auch bloß etwas, dass nun vor ihr erschienen war. Ein wenig wirkte es immerhin, als sehen sie eine Vision. Zumindest hatte Olympia es auf eine ähnliche Weise erlebt.
„Haylee, bitte habe keine Angst. Wir kommen dich retten!“
Haylee schien mit dem Rücken irgendwo anzustehen und brach in Tränen aus. „Ich will dich aber nicht sehen! Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“
Das Bild verblasste schlagartig.
Etwas irritiert wechselten die Nephilim einen verwirrten Blick. Keiner verstand so richtig, was da eben geschehen war. Hatte Haylee sie alle bemerkt? War die Nachricht angekommen? Oder hatte sie gar Calyle so angefahren?
„Sie sah so abgemagert aus.“ Bemerkte Lysander da plötzlich und klang unglaublich traurig.
Alle wandten ihm den Blick zu und bekamen plötzlich einen mitfühlenden Ausdruck im Gesicht. Er hatte recht. Haylee sah aus, als hätte sie seit Wochen schon nichts mehr richtiges zum Essen bekommen, ihr Haar war ein Nest und ihre Augen hatten gehetzt gewirkt.
„Sie war zu mager.“ Meinte Katya dann plötzlich.
„Was meinst du?“ Erkundigte sich Lysander.“
„Hast du nicht gesehen, wie abgemagert sie ist? Das geschieht nicht innerhalb weniger Tage.“
„Haylee ist ja auch schon beinahe eine Woche fort.“ Meinte Lucy. „Und wer weiß, was die ihr antun?“
Katya stimmte ihr zu, während sie gedankenverloren über die Schultern ihres Freundes streichelte. Tyrone und Ryan hatten den Kontakt viel länger aufrecht halten können, als der Pfarrer, trotzdem waren sie mindestens genauso erschöpft.
„Gut, wird sollten aufbrechen. Katya du kümmerst dich um die beiden und beziehst dann deinen Posten, gut?“
Katya nickte Calyle zu, welcher scheinbar diesen Ort so schnell wie irgendwie möglich verlassen wollte.
Calyle konnte einfach nicht anders, als sich persönlich angegriffen zu fühlen. Haylee hatte so... mitgenommen gewirkt und etwas in ihm sagte ihm, dass Haylee doch tatsächlich direkt mit ihm gesprochen hatte. Sie wollte ihn nicht um sich haben. Sie hasste ihn noch immer...
Sein Herz krampfte schmerzhaft und er kämpfte mit den Tränen. Calyle hatte selbst bemerkt, wie der Umgang seiner restlichen Familie steif geworden war. Seit seine Mutter Marie sich dazu entschlossen hatte, allen die Wahrheit zu sagen, ehe irgendwelche Missverständnisse auftauchten, war nichts mehr wie zuvor.
Natürlich wunderte es Calyle nicht. Er hatte es doch erwartet. Doch anstatt eines Streites und Vorwürfen... war etwas anderes entstanden. Eine Art Blase, in welcher sich alle Anschuldigungen sammelten, die niemand vermochte auszusprechen. Eine Stille, die zum Greifen war.
Es war bloß eine Frage der Zeit, bis sie alles überflutete.

 

- - - - -

 

Die Dämonenattacken nahmen stetig zu. Waren es noch in der ersten Nacht erst vier gewesen, so in der nächsten bereits acht, sechzehn und so weiter.
Am neunten Tag, von Haylee´s Abwesenheit, kam endlich Sandra nach Hause. Tyrone umarmte seine Mutter sofort herzhaft und diese erwiderte dies, mit der großen Erleichterung, dass es allen gut ginge.
„Es ist bloß noch eine Frage der Zeit. Bald haben wir unseren sicheren Hafen wieder.“ Bestätigte Sandra stolz.
Olive war zwar nur selten der Überbringer von schlechten Nachrichten, doch in diesem fall, war es unabdingbar.
Ein sicherer Hafen nutzte nichts, wenn die gesamte Welt in Gefahr war. Die Entweihung des heiligen Bodens, schien so etwas, wie der Startschuss für alle Dämonen gewesen zu sein. Sie wurden mutiger und rissen täglich mehr und größere Portale in diese Welt. Jeder noch so winzige Riss, war innerhalb weniger Tage ein Portal, das groß genug war, um etwas Größeres in diese Welt zu lassen.
Nun liefen sogar bereits Dämonenhunde durch die Gassen, am Himmel sah man gigantische Wesen über den Himmel gleiten und beim ersten Sonnenstrahl verschwinden.
„Es tut mir leid, aber das reicht nicht mehr, Sandra... Es wird von Tag zu Tag schlimmer.“
Olympia, welche sich einen komplizierten Bruch vergangene Nacht zugezogen hatte, humpelte mit einer Bandage um den Körper, hinein ins Wohnzimmer von Olive, wo sich alle versammelt hatten.
„Aber, was sollen wir dann tun? Unsere Kinder können nicht Nacht für Nacht... Es ist einfach zu gefährlich. Sie riskieren ihre Leben, sobald die Nacht herein bricht!“ Beteuerte Odette.
„Wir könnten den Papst bitten, eine große Ebene zu weihen. Diesen Ort hier zum Beispiel. Und dann einen weiteren und immer so weiter.“ Schlug Tyrone vor. „So lange, bis so gut, wie alles heiliger Boden ist.“
„Nette Idee.“ Stimmte Sandra mit einem bedeutenden Unterton zu. „Aber solange es ein Dämonenportal gibt, kann das Gebiet nicht geweiht werden. Dann ist da noch die Sache, dass man nicht einfach einen Kreis ziehen kann und der Ort ist geweiht... Es muss jede Räumlichkeit geweiht werden. Stell dir das mal bei einem Dorf, oder einer Stadt vor! So etwas ist unmöglich, mein Schatz.“
„Geschweige denn, dass nicht jeder Bürger mitspielen würde. Und der Papst ist auch nicht mehr der jüngste.“ Fügte Odette hinzu.
„Was sollen wir sonst tun?“ Erkundigte sich da Calyle und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, welche er die letzten Tage tunlichst vermieden hatte. „Ohne Haylee sind wir nicht vollständig. Und selbst dann, stünde es acht zu einer Milliarde.“ Gab er zu bedenken.
„Nun ja, es gibt... Dämonen, die auf unserer Seite wären.“
Dass Olympia nun mit fragenden Blicken taxiert wurde, wunderte sie eher weniger. Die letzten Tage hatte es Luphriam mehrfach angeboten. Er wollte ihr helfen, sie beschützen. Lieber stellte er sich gegen seine eigene Heimat, als weiter zuzusehen, wie Olympia angegriffen wurde.
„Luphriam... ein Dämon und Freund von Edna hat mir seine Hilfe angeboten.“
„Oh nicht doch...“ Nuschelte Lysander, welcher sich noch sehr wohl an den Dämon erinnerte, den er in Haylee´s Wohnung angetroffen hatte. Bisher hatte er es nicht angesprochen, doch man brauchte kein Genie zu sein, um die Anziehung zwischen den beiden bemerkt zu haben.
„Wer? Wie kommt Edna denn...“ Stammelte Olive völlig fassungslos.
So begann Olympia zu erzählen, was die letzten Jahre bei Edna und Haylee geschehen war. Wie Edna es geschafft hat, Haylee´s Mächte zu unterdrücken und Luphriam die göttliche Aura überdeckte, um sie unsichtbar zu halten.
Auch dieser Dämon Luphriam war es gewesen, welcher den... >Unfall< mehr zufällig, als mit Absicht beobachtet hatte und Olympia ließ lediglich ihre eigene Verbindung zu diesem Wesen aus.
„Er nannte es >Michael´s Fluch<.“ Erklärte Olympia. „Scheinbar hat dieser Edna´s Zustand verursacht. Sie konnte sich an alles erinner, doch hat dafür nach und nach ihren Verstand eingebüßt. Ihr blieben ihr keine zwanzig Jahre mit Haylee.“ So viel hatte Olympia bereits erfahren.
„Das heiß... Hätten die Engel sich dazu entschieden, uns unsere Erinnerungen zu lassen, dann hätten wir alle so-...“
Olympia hob ihre Hand, um Odette zum Schweigen zu bringen. „Nein. Also ja, natürlich hättet ihr so enden können, aber es hatte eigentlich weniger mit Michael, als mehr den Cherubim zu tun. Sie löschen sämtliche Erinnerungen an eine göttliche Begegnung.“ Erinnerte Olympia sie daran. „Oder anderen Dingen, die auch nur ansatzweise mit den beiden Welten zu tun haben. Michael hat Edna... in Gewisser Weise, mit dem Fluch belegt, dass sie nicht vergessen kann und wurde dann über eineinhalb Jahrzehnte, beinahe Täglich von den Kräften der Cherubim beeinflusst. Bestimmt war es nicht mutwillig, es ist...“ Olympia fehlten die Worte, um es zu beschreiben.
„Du meinst, so etwas, wie zwei Faktoren welche einander aufheben?“ Half Odette interessiert nach.
„Genau! Michael hat in Edna´s Kopf bewirkt, dass sie sich erinnern muss, während die Nähe zu den Cherubim sie quasi gezwungen hat, erlebtes zu vergessen, was natürlich nicht funktioniert hat.“
„Klingt schrecklich!“ Bemerkte Sabrina traurig.
„Woher weißt du das überhaupt?“ Sprach Katya das offensichtliche an.
„Unter anderem, von Luphriam. Er... Er hat mich die letzten drei Tage jede Nacht aufgesucht, in meinen Pausen.“
„Also lauert er uns auf? Das ist ja wirklich überhaupt nicht suspekt!“ Murrte Ryan abweisend.
„Ryan hat recht.“ Stimmte Olive zu. „Er ist ein Dämon, das einzige was ihn interessiert, ist mehr Macht. Wir dürfen so einer Kreatur nicht vertrauen.“
„Er war nie feindlich uns gegenüber!“ Verteidige Olympia Luphriam. Sie mochte ihn noch immer nicht so richtig... aber ihr Vertrauen hatte er längst gewonnen. Zumindest einen kleinen Teil davon.
„Also misstraut ihr auch Olympia´s Gespür?“ Lysander´s Frage überraschte jeden im Raum. Niemand wollte diese Frage bejahen, doch richtig abstreiten ebenso nicht.
„Olympia ist eine der Ersten, die einem Dämon die Eingeweide heraus schneidet, insofern sie welche besitzen. Denkt ihr also nicht, dass sie dasselbe längst bei diesem Wesen getan hätte, wenn er ihr keinen Grund dazu gegeben hätte, ihm einen Vertrauensvorschuss zu geben?“
Calyle schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, so dumm wäre natürlich niemand von uns Lysander, aber wir sprechen hier von einem Dämon. Egal was er gesagt hat oder beteuert... Es sind alles Lügen.“
Olympia grunzte spöttisch. „Oh ja, weil man Nephilim wesentlich mehr vertrauen darf, als einem Dämon.“
Calyle hielt in seiner Bewegung inne, als er merkte, woraufhin Olympia anspielte. „Ich habe euch die Wahrheit gesagt und alles gestanden.“ Versicherte Calyle.
„Nachdem wir jahrelang belogen wurde. Sehr toll. Tut mir ja leid, wenn das nicht in deine Weltanschauung passt... Aber Luphriam war bisher immer ehrlich zu mir. Er kann mich überhaupt nicht belügen, ohne dass ich es bemerken würde.“
„Also hattest du bereits häufiger Kontakt zu ihm?“ Erkundigte sich Katya irritiert, welcher die ungünstige Wortwahl von Olympia keinesfalls entgangen war.
„N-Nein... Ich meine, ja. Er hat mich bereits häufiger aufgesucht. Von ihm wusste ich auch, dass das Haus am See entweiht worden war. Er hat Haylee und mir erzählt wer Edna getötet hat und-...“
„Ja, er hat es dir Monate später erzählt!“ Fuhr Katya wieder dazwischen und stellte sich damit auf Calyle´s Seite. „Und nur deshalb denkst du jetzt, dass er dich niemals belügen würde?“ Sie lachte erheitert. „Wie naiv!“
„Katya!“ Mahnte Olive streng.
„Was denn, Mama? Es stimmt doch, oder nicht? Olympia ist dafür geradezu berüchtigt nicht die besten Entscheidungen zu treffen.“
„Sagt diejenige, die behauptet Michael´s Tochter zu sein.“
„Mädels!“ Fuhren Celiné und Olive gleichzeitig dazwischen, ehe Katya die nächste Bemerkung gegen Olympia´s Kopf werfen konnte.
„Konzentriert euch auf das wesentliche!“ Mahnte Sandra. „Wir werden uns von so einem Schwachsinn jetzt nicht auseinander bringen lassen. Olympia... Danke Luphriam für sein Wohlwollen... Aber wir dürfen uns keinesfalls auf Dämonen verlassen. Sie sind unsere Feinde.“
„Nicht alle von ihnen!“ Erinnerte Olympia die anderen. „Sie alle werden von jemanden der über ihnen steht, einem mächtigeren Dämon dazu gezwungen sich uns quasi... als Kanonenfutter anzubieten. Luphriam ist ein sehr mächtiger Dämon. Er muss sich nur wenigen unterwerfen, weshalb er ein ganz eigenes Bewusstsein besitzt. Er denkt anders, als die!“
„Ach, woher diese Macht wohl hat?“ Nuschelte Katya, gut hörbar, an Tyrone gewandt, welcher vielsagend die Brauen hob. Er sah es genauso wie seine Gefährtin.
„Und was, wenn er uns im entscheidenden Moment in den Rücken fällt?“ Warf Ryan dazwischen. „Stellt euch vor, wir kämpfen nun mit seiner Legion, an seiner Seite, mit seinen Untergebenen, gegen... was auch immer die nächsten Tage da noch aus der Hölle krabbeln wird. Was, wenn wir jemanden besiegen, der diesem Lusian schon immer ein Dorn im Auge gewesen ist? Wie schnell denkst du, wird er sich gegen uns wenden, sobald das erledigt ist?“
„Sein Name ist Luphriam.“ Gab Olympia lediglich dagegen.
„Und was, wenn es nicht so ist?“ Kam es überraschend von Odette. Selbst ihre Tochter Lucy, welche auf dem bequemen Teppich saß, sah fragend zu ihrer Mutter auf.
„Was?“ Fragte Sabrina überrascht. „Du willst doch wohl nicht eine Kooperation in Erwägung ziehen, oder?“
„Eine Kooperation? Nein. Aber Dämonen müssen sich an klare Regeln halten. Sie existieren unter... unter komplizierten Regeln ihrer ganz eigenen Hierarchie. Was ist, wenn wir uns diese zu nutzen machen? Wenn wir ihn und seine Gefolgschaft an uns binden lassen.“
„Du willst einen Deal mit einem Dämon eingehen?“ Olive klang, als würde sie aus allen Wolken fallen.
Noch ehe Odette achselzuckend darauf reagieren konnte, da sie lediglich einen Vorteil darin sah, einen mächtigen Dämon an sich zu binden, warf sich Olympia einmal mehr dazwischen. „Ich werde es tun. Ich binde Luphriam mit einem Deal an mich, den er nicht ausschlagen kann. Dann haben wir seine Legionen auf unserer Seite und sind im Vorteil.“
„Das ist doch verrückt!“ Stellte Calyle fest. „Wir müssen gegen die Dämonen kämpfen, nicht uns mit ihnen verbünden! Wenn, dann sollten wir eher Throne und Cherubim auf unsere Seite bringen. Nicht diese... Diese abartigen Kreaturen.“
Olympia verschränkte entschieden die Arme vor dem Oberkörper. „Insofern dir nichts Besseres einfällt, werde ich heute Nacht den Deal machen. Viel Glück damit, einen Throne, um einen Gefallen zu bitten.“
Katya schlug sich die Hand gegen die Stirn. „Ihr seid doch bekloppt.“
Lysander griff nach Olympias Knie und drückte es sanft unter dem Couchtisch. „Das ist sehr mutig von dir.“
„Tz.“ Meinte Ryan lediglich abweisend und starrte Lucy ungläubig an, als diese Olympia zuversichtlich zunickte.
„Wir brauchen Hilfe. Alleine schaffen wir das nicht mehr, Ryan. Es werden jeden Tag mehr und mehr. Außerdem suchen wir auch noch nach Haylee, das laugt uns aus.“
Er wandte den Kopf ab, ein deutliches Zeichen für Lucy, dass er nicht mehr weiter darüber sprechen würde, doch ihren Standpunkt verstehen konnte, egal wie sehr es ihm auch missfiel.

 

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„Einen Deal?“ Prustete der Dämon ungläubig los, kaum dass Olympia ihre Bitte ausgesprochen hatte.
„Ja. Ein Deal zwischen einem Dämon und einem Mensche-... Menschlichen Lebewesen.“ Besserte sie sich selbst aus. „Das steht doch bei euch an der Tagesordnung, oder?“
Luphriam hob amüsiert die Brauen. „Du meinst diese Sache, von wegen wir werden beschworen und müssen alles tun, was unser Meister befielt? Das klappt bloß bei niedrig rangigen Dämonen, die sich alles so drehen, wie sie es brauchen. >Ich< jedoch, bin ein Dämonenfürst, Liebes.“ Erinnerte er sie und tippte ihr mit der Fingerspitze, verspielt auf die Nase, woraufhin Olympia hastig seine Hand wegschlug.
Sie war müde und gereizt... Heute Abend hatte sie Ryan´s Platz bei der Beschwörung eingenommen und hatte das Gefühl, auf der Stelle einschlafen zu können.
„Gut, was verlangst du, damit du uns deine Legionen unterstellst und an unserer Seite kämpfen lässt. Sagen wir... erst mal für eine Woche? Was würde mich das kosten?“
Luphriam verging der Humor so schlagartig, wie er in Lucy´s Zimmer erschienen war. Um sich einen Moment sammeln zu können, räusperte der Dämon sich, richtete seine ohnehin faltenfrei sitzende Kleidung und nahm neben Olympia, auf dem Bett platz. „Liebes... Wenn du von einem Dämonenfürsten etwas willst... musst du es ihm im selben Maße vergelten.“
Olympia kaute frustriert an ihrer Unterlippe. Sie besaß keine Legion an erfahrenen, oder niederen Kreaturen, die sie als Pfand anbieten könnte. „Können wir... Können wir dir nicht bei irgendeinem Feind helfen, der dich schon seit Ewigkeiten nervt, oder so etwas in der Art?“
Luphriam schüttelte bedauernd den Kopf. „Unsere Spielregeln funktionieren etwas anders... Willst du, dass ich dir mein Reich zur Verfügung stelle, musst du mir auch das deine zu dieser Zeit leihen. Verstehst du?“
„Ich habe aber nichts zu verleihen.“
Luphriam rollte mit den Augen. „Okay, um es noch einfacher zu formulieren... Es ist so etwas, wie ein Ehevertrag. Du willst mich, meine Mächte und meinen Einfluss nutzen, dann musst du mir dasselbe zugestehen.“
Olympia fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, doch verwarf diesen unsinnigen Gedanken augenblicklich wieder. Dämonen waren immer noch Dämonen, egal wie menschlich sie sich auch versuchten in manchen Dingen zu geben. „Aber es ist nicht so ein... Bis der Tod uns scheidet... Ding, nehme ich einmal an?“
Er nickte. „Natürlich nicht. Du darfst es mit einer arrangierten Ehe vergleichen. Nur... das die guten Zeiten überwiegen werden, denn jedes negative, endet auf vielfältige Weise, mit dem Tod.“
„Mit dem Tod?“ Wiederholte Olympia erschrocken.
„Mit unser beider Tod, sollte sich einer von uns nicht an die Regeln halten. Stirbst du in dieser Zeit, werde auch ich dir folgen. Mein Schmerz wird dein Schmerz. Die Folgen deiner Sorgen, auf mich zurückfallen... Nun ja, ich nehme an, du verstehst, weshalb ich es dir nicht empfehlen werde.“
„Muss ich sonst noch etwas wissen? Muss ich meine Brüder und Schwestern auch dazu verkaufen, oder wie?“
„Sind sie deine Leibeigenen?“
Olympia schüttelte den Kopf.
„Dann haben sie nichts mit unserem Deal zu tun und ich werde bloß auf sie hören, wenn mir danach ist. Der Deal wäre nämlich speziell nur zwischen uns beiden. Kein anderer kann dazwischen irgendetwas beeinflussen.“
„Nicht einmal, wenn ich dir sage, du musst auf die Person hören?“
Luphriam hob mahnend einen Finger. „Würdest du denn wollen, dass ich dich dazu zwinge auf einen meiner Geschäftspartner zu hören und dieser befielt dir, jemanden zu töten?“
„Wäre das Opfer ein Dämon?“ Luphriam warf Olympia einen vielsagenden Blick zu und sie zog ihre Frage zurück. Sie kamen hier wohl oder übel vom Thema ab. „Wie dem auch sei, Luphriam. Wir haben hier gravierenden Probleme, wir bräuchten... viel mehr Nephilim, denn deine Vettern spielen derzeit total verrückt!“
Luphriam zuckte mit einer Schulter, als sei dies völlig nachvollziehbar. „Die Engel sind selbst schuld.“
„Die Engel?“
„Sie haben ein menschliches Wesen auf ihre höhere Ebene geholt. Das hat die Tore für uns Dämonen ein ganzes Stück aufgestoßen. Es wird von Nacht zur Nach-...“
„Luphriam!“ Fuhr Olympia den Dämon an und packte ihn an den Schultern. „Was zur Hölle, noch eins, meinst du damit, dass die Engel ein menschliches Wesen in ihre >höhere< Ebene geholt haben?“
Luphriam deutete über sich an die Decke, doch meinte damit viel eher eine weitere Daseinsebene, als die, in welche er hinein geboren wurde. „Die Kleine von Edna. Sie ist zum Teil menschlich. Wäre sie zur anderen Hälfte eine Dämonin, hätte es überhaupt keine Rolle gespielt. Aber sie haben zugelassen, dass ein gesegneter Nephilim aufsteigen konnte. Das war das letzte Siegel, welches die Portale zwischen dieser Welt und meiner noch in Schach gehalten hat.“
Olympia klappte der Mund auf und zu. Sie verstand zwar die Worte, welche aus Luphriam´s Mund kamen, doch ergaben diese absolut keinen Sinn... „Was zum Teufel?“

 

- - - - - 

 

Verfluchte Nephilim.

Gesegnete Nephilim.

Throne.

Entführungen.

Engel.

Dämonen.

Portale die bloß durch Siegel festgehalten worden waren...

„Das wird ja immer verrückter!“ Stieß Calyle hervor, auch wenn es für ihn auf unerklärliche Weise Sinn machte und ihn gleichzeitig mit tiefer Trauer erfüllte.
Ein Teil in ihm rief, dass es völlig gleich war, ob die Dämonen über die Erde einher fielen, denn ihm war es viel wichtiger, endlich Haylee zurückzubekommen. Es war wie ein innerer Zwang... Calyle brauchte sie. Sie war wichtig und gehörte einfach an seine Seite. Mittlerweile war sie bereits viel zu lange von ihr getrennt gewesen! Jeder Tag fühlte sich leerer an, als der davor.
„Das heißt, Haylee ist wirklich dort? Bei den Engeln? Aber... wie?“ Erkundigte sich Lucy.
„Der Lichtblitz, den ihr beschrieben habt... Das war der Moment, in welchem der Throne mit ihr zurück in seine Welt gereist ist. Oder Dimension... Wie auch immer. Anscheinend haben bloß Throne die Gabe, zwischen den Dimensionen zu wechseln... Oh, und Erzengel, aber von denen gibt es jedoch, wie wir ja alle wissen, bedeutend weniger.“ Erklärte Olympia, mit tiefen Augenringen. Es hatte sie die ganze Nacht, so wie einige Tassen Kaffee gekostet, um sich möglich alles einprägen zu können, was Luphriam ihr erzählt hatte.
„Wie bekommen wir sie von dort wieder zurück?“
„Du kannst dich ja von einem Throne kidnappen lassen.“ Witzelte Lysander, wesentlich gelassener als alle anderen.
„Lysander, hör auf Witze zu reißen.“ Tadelte Fiona ihren Sohn. „Das ist eine ernste Sache, falls es überhaupt der Wahrheit entspricht. Außerdem finde ich, dass dieses neue Wissen hier niemanden wirklich etwas nützt. Die Portale wurden anscheinend weit aufgerissen. Darauf sollte unser Fokus liegen!“
„Toll, dann viel spaß dabei, sie zu finden, während wir uns tagsüber erholen.“ Murrte Lysander, wofür er sich einen giftigen Blick von seiner Mutter einhandelte.
„Stimmt, wir können nicht nach Portalen suchen und gleichzeitig-...“ Olympia verstummte mitten im Satz. „Stimmt, wir können nicht suchen, aber ich bin überzeugt davon, dass ich Luphriam davon überzeugen kann, mir eine Liste mit den Portalen zu geben, welche er kennt und nachts aufspüren kann, während wir kämpfen. Was sagt ihr?“
Die erschöpfte und großteils lädierte Gruppe, welche zusammen saß, dieses Mal beim Mittagessen, in Odette´s Haus, wechselte einen nicht gerade zuversichtlichen Blick.
„Es ist immer noch ein Dämon!“ Sprach Ryan das aus, was so gut wie jeder dachte. „Außerdem ist es echt schräg, dass du ihm überhaupt so lange zugehört hast. Ich hätte diese Kreatur einfach zerfetzt.“
„Und wärst im Nachhinein noch genauso dumm wie zuvor!“ Giftete Olympia. „Immerhin erfahre ich neue Dinge, auch wenn sie dir nicht passen.“
„Und es ist eine Erklärung, weshalb sich die Dämonensichtungen täglich häufen.“ Fügte Lucy hinzu, welche diese Diskussion längst überdrüssig geworden war. „Ich sage ja nicht, dass wir ihm trauen dürfen. Aber wenn Olympia ihn wirklich überreden kann, ihr eine Liste zusammen zu stellen, mit den Standorten... Dann können wir sie tagsüber überprüfen. Wir könnten die Portale schließen. Im... Im schlimmsten Fall, haben wir einfach nur eine Liste mit Orten, ohne Portale. Tagsüber kann uns da überhaupt nichts passieren.“
„Außer, dass wir vor Ermüdung zugrunde gehen.“ Motzte Tyrone, welcher bloß lustlos in seinem Essen herum stocherte. Er hatte mehrere Prellungen von einem Sturz von einem Haus. Zudem war Katya überreizt von all dem Kämpfen und dem Schlafmangel, dass es allmählich auf ihn überzugehen schien.
„Gut, dann eben nicht. Ich frage Luphriam heute Nacht nach einer kleinen Liste. Morgen früh suche ich sie persönlich auf und wenn auch bloß eine davon eine Finte war, verwerfe ich den gesamten Plan. Gut?“ Bot Olympia an, obwohl sie überhaupt keine Lust dazu hatte. Die kurzen Dolche der Jungs eigeneten sich einfach viel besser dazu, solche Übergänge zu versiegeln, als ihre unhandliche Sense.
„Leute! Mal abgesehen davon-...“ Begann Calyle, doch wurde je wieder unterbrochen.
„Ja, ja! Nichts davon bringt uns Haylee zurück.“ Motzte Ryan genervt. Er konnte diesen Namen schon beinahe nicht mehr hören.
„Einen Schritt nach dem anderen.“ Fügte Lucy schlichtend hinzu. „Wenn Haylee bei den Engeln ist, wird ihr schon nichts passieren. Wir sind quasi ein Teil von ihnen.“
Doch das wollte Calyle gar nicht erst hören. „Und wenn der Throne entscheidet, da sie ein Mischling ist, ausgelöscht zu werden? Du hast doch die letzten Anrufungen genauso wahrgenommen, wie ich. Haylee hatte große Angst. Wir sollten uns erst um sie kümmern, dann sind wir stärker. Dann sind wir vollständig!“
Olympia grunzte, doch versteckte ihr Augenrollen hinter ihrem Pony.
Lysander war weniger diskret. „Vielleicht lag das weniger an den furcherregenden Engeln?“ Gab dieser zu bedenken.
„Wie meinst du das?“ Fuhr Marie Lysander an, welche zum ersten Mal an diesem Tag überhaupt den Mund öffnete. Seit der Offenbarung ihrer Schuld, wirkte sie viel älter und trauriger, als das die anderen die lebensfrohe Rothaarige je gesehen hatten.
„Mama, lass es gut sein.“ Bat Calyle, doch Lysander überhörte ihn genauso, wie Marie.
„Also, wenn einer von euch meine Mutter umgebracht hätte... ich würde euch auch nicht mehr um mich haben wollen.“
„Lysander!“ Zischten Lucy und Fiona gleichzeitig.
Olympia wollte es gleich gar nicht mit anhören. Nicht bloß dass sie erst ihre Energie für eine weitere lächerliche Anrufung verschwendet hatte, die genauso wenig brachte, wie jede andere zuvor, so war sie die gesamte Nacht wach geblieben und durfte sich zum krönenden Abschied noch einen Familienstreit geben.
War das Leben in einer Großfamilie nicht wunderbar? Ihr war der Appetit vergangen und sie ging zurück nach oben, um sich hinzulegen.
Lucy versuchte, wie die meisten Erwachsenen den Streit zu schlichten, welcher aufkam, doch bereits nach einer Stunde, hatte Lysander alle so weit gebracht, dass keiner mehr miteinander sprechen wollte.
Lysander sah sich im Recht. Calyle missverstanden. Ryan war einfach bloß noch verärgert. Einerseits hasste er Haylee dafür, was sie getan hatte und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie sich entschuldigte. Andererseits schien Lucy das alles überhaupt nichts auszumachen, was Haylee ihr angetan hatte.
Lysander wiederum wollte, dass endlich der Dampf aus dem vollgefüllte Topf weichen konnte und hatte deshalb den Streit provoziert.
Dass jedoch zu Marie´s großer Lüge und Calyle´s Beihilfe auch noch ganz andere Sticheleien und Ausbrüche von Problemen dazu kamen, war so nicht geplant gewesen...

 

- - - - -  

 

 Dieses Mal hatten sich Katya und Tyrone gemeinsam dazu entschieden, als Katalysatoren zu dienen, während der Beschwörung. Olympia hatte sich einen Platz neben Calyle gesichert, auch wenn er im Moment fürchterlich wütend auf sie war. Doch ihr war es wichtiger, herauszufinden, ob Haylee tatsächlich vor etwas floh, oder vor Calyle´s Anblick abgeschreckt war.
Es geschah erneut. Erst der Rauch, dann wurde er weißlich und schlussendlich erschien Haylee´s ermattetes Gesicht darin. Als ob sie es spüren würde, dass die Beschwörung erneut begann, hob sie ihre Hände vor das Gesicht und begann bitterlich zu weinen. „Nein! Nein! Bitte geh weg! Lass mich endlich in Ruhe!“
„Haylee... Bitte sag mir endlich wo du bist. Ich will dich nach Hause holen.“
„Ich will aber nicht!“ Antwortete der vermisste Nephilim, wütend geworden. „Ich will dich nicht sehen!“ Schrie sie, als das Bild auch schon von etwas anderem überlagert wurde.
Haylee´s Blick wurde weicher, als zwei Hände erschienen und sie sanft im Gesicht berührten. „Haylee, wach auf. Du hast schon wieder einen Albtraum.“
Als würde sämtliche Wut und Trauer in einem gewaltigen Schwall von ihr Abfallen, seufzte Haylee erleichtert.
„Ich hasse ihn, Engel... Ich kann nicht mehr...“ Schniefte sie.
Ein dunkler Schatten legte sich über Haylee, schloss sie anscheinend in eine Umarmung, dann verschwamm das Bild auch schon wieder.
Jeder schwieg und selbst Olympia, welche Calyle zu gerne unter die Nase gerieben hätte, dass sie recht behalten hatte... gab sich mit dem errungenen Wissen zufrieden.
Haylee wollte nicht zurückkommen. Nicht zu Calyle. Das hatte sie schon versucht die ganze Zeit zu sagen, doch niemand hier hatte es wirklich hören wollen, oder gar verstehen.
Haylee gehörte zu ihnen. Sie war ein Nephilim. Ihre Schwester. Aber so auch Calyle´s... Und dessen Anblick ertrug sie einfach nicht.
„Was war das Dunkle?“ Fragte Katya, völlig außer Atem während sie an dem Altar gelehnt dasaß.
„Sie hat es Engel genannt.“ Meinte Lysander, welcher in ihrer Nähe hockte und versuchte genauso leise zu sein.
„Räum-...“ Calyle räusperte seine kehlige Stimme. „Räumt ihr hier weg.“ Sagte er zu den beiden erschöpften Nephilim. „Wir müssen an die Arbeit gehen.“ Damit verschwand er auch schon und lief geradezu aus der Kirche hinaus. Er floh...
Olympia nickte den anderen dreien zu, damit sie sich in Bewegung setzten. Lysander ging, wie immer ganz leichtfüßig. Anscheinend hatte er diesen Streit heute Nachmittag unbedingt gebraucht, um sich wieder freier zu fühlen. Ryan hatte seine Hände tief in den Taschen versteckt und hielt so viel Abstand zu Lucy, wie vor ihrem Unfall.
Nun ja, Lucy war auch nicht einsichtig gewesen und hatte entschieden, dass Ryan ein Vollidiot sei.
Ob das mehr an den unerwiderten Gefühlen lag, oder Ryan´s unumstößlichen Sturkopf, konnte Olympia nicht sagen, aber dass die beiden Idioten waren, wusste mittlerweile jeder.
„Ich werde Luphriam aufsuchen.“ Meinte Olympia an Lysander gewandt, sobald sie ihn eingeholt hatte. „Trefft ihr euch wieder in Lucy´s Zimmer?“
Sie nickte. „Pass ein bisschen auf Calyle auf. Er ist zu abgelenkt, um zu kämpfen.“
Lysander nickte zurück, dann teleportierte er bereits los. Olympia beeilte sich, um zu Odette´s Haus zu kommen. Auf halben Weg jedoch, wurde sie von einer starken Hand, in eine dunkle Hausecke gezogen und quietschte überrascht. Ehe sie jedoch ihre Sense beschwören konnte, legten sich weiche, warme Lippen auf ihren Mund und verschlangen ihren erschrockenen Ausruf.
Erst als Luphriam sie aus dem Kuss entließ, wurde ihr klar, was er getan hatte und boxte ihn dafür in den Magen. „Arsch! Du widerlicher Arsch!“ Sie schlug ihn ein zweites Mal. „Wieso küsst du mich? Du weißt, dass ich das nicht will!“
Luphriam lächelte selbstzufrieden. „Das ist eben meine Bezahlung, von letzter Nacht. Wissen ist eben nicht gratis.“ Witzelte er, woraufhin Olympia erneut die Faust ballte, doch sie wieder sinken ließ.
Stimmt... Es war bloß ein Kuss gewesen. Ein... wahnsinnig toller... aber bloß ein Kuss! „Gut, wenn du dich dann besser fühlst, bitte schön. Jetzt sag mir lieber, weshalb du mich in diese Ecke gezogen hast.“
Luphriam deutete auf den Nachthimmel über ihnen. „Eine wunderschöne Frau... in einer sternenreichen Nacht... So etwas ist einfach poetisch.“
Olympia schenkte ihm ihren ungläubigsten Blick, ehe sie seine Schleimerei abtat. „Vergiss es, ich wollte ohnehin zu dir. Kannst du mir eine Liste machen?“
Luphriam runzelte die Stirn. „An Baumaterial, oder...“
„Nein! Ich meinte eine Liste mit den Standorten der Portale, durch die die ganzen Dämonen kommen. Es wäre hilfreicher, wenn wir tagsüber die ganzen Übergänge schließen könnten, anstatt uns Nacht für Nacht im Kampf auszulaugen.“
Luphriam gab einen erkennenden Laut von sich. „Natürlich, Liebes.“ Er schnippte mit den Fingern, da erschien auch bereits ein vollgeschriebenes Blatt Papier in seiner Hand. Olympia nahm es ihm ab und drehte es herum. Dahinter waren noch mehr Straßennamen und Nummern.
„Das sind... einige.“
„Alles für dich, mein Liebling.“ Er hob mahnend einen Finger. „Das kostet dich jedoch wieder etwas.“
Olympia überging ihn. „Okay, danke dir, Luphriam, ich werde die Adressen morgen gleich testen. Und was die andere Sache mit dem Pakt angeht... Wenn die Liste hier richtig ist, dann will ich, dass wir trotzdem, zumindest für eine Woche diesen verrückten Deal eingehen. Oh! Außerdem werde ich noch mehr Standorte benötigen, am besten überall auf der Welt, vielleicht-...“
„Olympia!“ Seit sie Luphriam kannte, hatte sie ihn noch nie so streng mit ihr sprechen gehört. „Ich bin ein Fürst, nicht dein Handlanger.“ Das Papier in Olympia´s Hand löste sich in Luft auf. „Wenn du meine Regeln nicht befolgen willst, hast du Pech gehabt, denn das musst du, solange ich ein Dämon bin. Ich liebe dich abgöttisch, obwohl du mir den letzten Nerv raubst. Aber wenn du mir nichts gibst, im Entgegenzug zu dem, was du forderst, geht das an meine Substanz. Es schadet mir körperlich und macht mich schwächer. Verstehst du das endlich?“
Olympia nickte. Dies war mehr als deutlich gewesen. „Ja, entschuldige... Was willst du für die Liste?“
Luphriam seufzte und lehnte sich über Olympia, welche sich mit einem Mal viel kleiner fühlte. Machte sich der Dämon etwa größer, als er eigentlich war?
„Ich gebe dir einen Gegenstand, also fordere ich einen zurück.“ Sein Blick glitt ihren Körper hinab, welcher in einem elastischen Rock steckte. „Ein Höschen von dir, wäre nicht schlecht.“
Olympia ballte erneut die Fäuste. „Als ob ich jetzt heim renne nur, um dir ein blödes Höschen zu bringen!“ Oder überhaupt so etwas! Das war einfach... zu intim!
Sein Lächeln wurde nur noch größer. „Wer sagt denn, dass ich eines von dort will? Ich möchte genau das, was du trägst.“
Sie legte schützend ihre Hände auf den Rock. „Nein! Sicher nicht!“
Luphriam ließ erneut das Dokument in seiner Hand erscheinen. „Zum ersten... Zum zweiten... Und...“
Olympia knirschte mit den Zähnen, während der Zettel begann, sich erneut aufzulösen, bloß dieses Mal erheblich langsamer.
„Okay, okay!“ Sie hatte zwar keine Ahnung, was so ein verdammter Dämon mit ihrer schmutzigen Unterwäsche anfangen konnte... oder viel eher, wollte sie es überhaupt nicht wissen, doch da sich Olympia ohnehin am Rückweg befand, würde sie einfach eine frische anziehen.
Luphriam reichte Olympia den unversehrten Zettel, sie schnappte ihn sich, faltete diesen und stopfte ihn in ihren BH, in der Hoffnung, Luphriam ließe ihn nicht auch von dort verschwinden.
Dann wartete Luphriam auffordernd, während Olympia mit sich selbst kämpfte. „Dämlicher.... perverser... Dämon!“ Fluchte sie leise und schlüpfte aus ihrer Unterhose. Anstatt sie ihm jedoch zu reichen, ließ Olympia diese einfach liegen und stampfte gedemütigt davon.
Diese Kreatur brachte sie noch an den Rande des Wahnsinns!
Nach dieser Nacht suchte Olympia direkt das erste Portal auf ihrer Liste auf.
Niemand hatte sich erkundigt, ob Olympia die Liste erhalten hatte, denn die größere Sorge galt Calyle, welcher am Ende mit seinen Kräften wirkte.
Er sprach nicht einmal mehr mit irgendjemanden, sondern versank im Selbstmitleid, was Lucy beinahe das Herz zerriss.
Sie kannte dieses Gefühl. Sie hatte es selbst viel zu lange ertragen müssen... Von der Person, die einem am meisten beudetete, dermaßen gehasst und verabscheut zu werden... Das war nichts, was man so einfach wegsteckte.
Lysander hingegen war mehr, als froh darüber, dass er Olympia helfen konnte, indem er sie zu den besagten Orten teleportierte. Vor Ort verschlossen sie die Risse.
„Was hast du ihm eigentlich für die Liste versprechen müssen?“ Erkundigte sich Lysander beim dritten Punkt.
Olympia grollte Unverständliches, woraufhin er einsah, es besser ruhen zu lassen.
„OKay, das ist der fünfte Ort, den wir zufällig von der Liste gewählt haben!“ Beteuerte Olympia, am Ende mit ihren Kräften und halb am Einschlafen, während sie mitten auf einem verwüsteten Feld eines Farmers standen. „Bisher hat uns Luphriam nicht angelogen. Ich denke, ich werde den Deal mit ihm machen.“
„Du willst das wirklich durchziehen?“
„Wenn wir die Portale überall schließen wollen? Dann müssen wir das durchziehen. Je schneller, umso besser.“
Lysander hob fragend die Brauen. „Was verschweigst du, Olympia?“
Olympia schwieg einen langen Moment, denn sie wollte wirklich nicht darüber sprechen. Wollte nicht erklären, weshalb es so wichtig war, diese Portale zu schließen... „E-Es gibt da... Okay, hör zu. Ich vertraue nur dir das an, weil ich weiß, dass Haylee dir wichtig ist... und da ich dir und nur dir vertraue!“ Lysander nickte. „Die Zeit... läuft zwischen den Dimensionen ein wenig anders.“
„Wie anders?“ Erkundigte sich Lysander ein wenig nervös geworden.
„Bei den Dämonen... dauert es jedes Mal eine kleine Ewigkeit, bis sich die Portale öffnen. Für sie vergehen Jahre, was für uns lediglich ein halber Tag war.“
Lysander schluckte schwer. „Das hat dir dein Dämonenfürst geflüstert?“
Sie nickte bestätigend mit dem Kopf. „Und bei den Engeln ist es ähnlich... Nicht... Nicht gar so schnell, aber Luphriam schätzt, was für uns bloß eine Woche gewesen ist, kann für Haylee bereits über einen Monat sein, wenn nicht sogar mehr.“
Lysander taumelte ein wenig und musste sich am Zaun zur Kuhweide abstützen. „Nicht dein Ernst! Haylee ist bereits über einen Monat fort?“
„In etwa, ja.“
„A-Aber das... Das bedeutet ja, dass sie denken könnte, dass wir sie vergessen oder so etwas? Vielleicht weiß sie überhaupt nicht-...“
„Lysander!“ Olympia nahm ihren Freund in den Arm. „Schon gut, bestimmt weiß sie es. Und wenn erst die Risse zwischen den Dämonen und uns geschlossen sind, können wir uns immer noch darum kümmern, sie zurückzuholen. Aber vorerst, brauchen die Menschen uns, ja? Wir sind bloß zu siebent. Wir können nicht an so vielen Orten gleichzeitig kämpfen!“
Er nickte. Natürlich konnten sie das nicht. Außerdem hatte niemand eine Ahnung davon, wie sie in die Welt der Engel gelangen konnten. „Ein Problem nach dem anderen.“ Stimmte er zu.
Olympia nickte. „Genau. Eines nach dem anderen. Aber jetzt, ab nach Hause. Wir müssen schlafen.“
Schlafen, um danach weiter zu kämpfen, Deals einzugehen, die unumstößlich waren und gebrochene Herzen zu kitten...

XXVI - Vertrautheit

„Ich lande jetzt.“ Verkündete der Engel an meinem Ohr, wobei seine Lippen dabei über meine Haut strichen. Erschrocken wollte ich von der Berührung zurückzucken und kam mir gleich darauf völlig naiv vor.

Was hatte ich mir da bloß eingeredet? Für diesen Throne, war ich nichts weiter, als ein Nephilim. Eine Abscheulichkeit, die bloß für die Arena geeignet war. Nichts da, von wegen Engel, die beschützenden Begleiter der Menschen. Das war alles bloß ausgemachter Scheiß!
Ich fühlte, wie Cirillo´s Beine auf einen harten Grund aufkamen und er noch ein wenig auslief. Schniefend brachte ich etwas Abstand zu ihm, sobald ich meine Beine auf dem losen Kies abstellen konnte und wischte mein nasses Gesicht ab, während ich versuchte so zu wirken, als sei alles okay mit mir.
Moment... Kies?
Ich hob meinen Blick und entdeckte, dass wir auf einer kleinen Insel standen. Sie war vermutlich halb so groß, wie die von Alitia und wenn ich mich recht erinnerte, waren wir nicht so lange geflogen, wie auf dem Weg her. Von meiner Position aus, konnte ich den Abgrund in allen Richtungen sehen, bloß das stete Geräusch von Schafen, oder Ziegen, irritierte mich ein wenig.
„Wo sind wir?“ Frage ich und wische auch mein wirres Haar aus dem Gesicht. Der Wind in meinem Rücken, hatte ganze Arbeit geleistet. „Oh, verdammt!“ Als mein Blick auf Cirillo landete, welcher eine halbe Armlänge von mir entfernt stand, bemerke ich die ekelige Rotzspur auf seiner Schulter. „Igitt, das tut mir so leid!“ Eilig wischte ich meine Hinterlassenschaft fort, doch er fing meine Hand einfach ab. „Schon gut. Ich hatte ohnehin vor, mich sofort zu waschen, sobald ich zuhause bin.“
„Zuhause?“ Wiederhole ich und lasse die Hand, wie gewünscht, wieder sinken, während ich mich im Kreis drehe. „Du wohnst hier?“
Cirillo klang sofort wieder ärgerlich. „Ich weiß, es ist nicht Alitia´s Anwesen.“ Verglich er giftig. „Aber ich protze eben nicht so wie die anderen mit meinem Gehabe.“
Schön für ihn... Das hatte ich zwar eher weniger erwartet, doch um ehrlich zu sein, war ich nie auf die Idee gekommen, mir vorzustellen, wie Cirillo wohl leben mochte. „I-Ich habe nicht gemeint, dass es nicht hübsch ist.“ Entgegne ich hastig und folge ihm zu der schiefen Holztüre. Ob sie aus den Angeln hing, oder einfach schief gebaut war, konnte ich jedoch nicht in der Dunkelheit erkennen. Bloß ein einziges Licht ging auf der Seite des Hauses an. Mehr nicht.
„Ich bin eben bloß selten hier. Im Grunde bewohne ich es überhaupt nicht.“
Mit eiligen Schritten, folge ich Cirillo in das kleine Haus, das nicht einmal einen Balkon brauchte und schloss die schiefe Türe hinter mir. Zumindest versuchte ich es halbherzig. „Eigentlich schade.“ Sage ich dann und sehe mich in dem geräumigen Häuschen um. Es hatte etwas von einem Hexenhaus im Wald, bloß dass es auf einer einsam schwebenden Insel stand. Es war länglich aufgebaut, man ging auf der linken Seite des Hauses hinein, direkt ins Wohnzimmer. Ganz am Ende konnte ich eine Türe in ein weiteres Zimmer erkennen, doch dazwischen fand ich eine Küche vor. Eine sehr geräumige Küche. Als ich meinen Blick hebe, erkenne ich sogar ein weiteres Zimmer direkt unter dem Dach, doch das es das Schlafzimmer sein soll, kann ich bloß erraten, da es hier fehlt. Vielleicht aber auch die Dusche und das Bad?
„Wieso?“ Fragt Cirillo misstrauisch und bleibt auf halben Weg zu der anderen Türe stehen, um mich zu mustern.
Ich lächle begeistert. „Weil es sehr heimelig ist.“
Neugierig drehe ich mich im Kreis. Nie hatte ich erwartet, einmal im Haus von Cirillo zu stehen. Ja, es war karg eingerichtet und besaß bloß das nötigste, doch wenn ich einmal alleine in einem Haus leben sollte, oder zusammen mit meinem zukünftigen Mann, dann sollte es genau so etwas sein!
Über der Eingangstüre entdecke ich da die Zeichen eines Erzengels. Es waren dieselben Schlieren und Kreise, wie die, welche ich aus dem Buch unter der Kirche kannte und an den Wänden der Arena. Nur zu welchem Erzengel gehören sie? Ehe ich nachfragen kann, höre ich Cirillo die Türe öffnen.
„Komm jetzt, ich will mich endlich waschen.“ Also befand sich dahinter tatsächlich das Bad.
„Mach ruhig. Ich warte hier, bis du fertig bist.“
Cirillo grunzt genervt. „Als ob ich dich hier alleine lassen würde. Komm jetzt, dann geht es schneller.“
Verwirrt folge ich ihm, während ich rede. „Wieso soll ich mit hinein kommen? Ich kann ja schlecht abhauen, oder? Wir sind auf einer schwebenden Insel, der einzige Ausweg, führt abwärts.“
Er runzelt irritiert die Stirn. „Ich rede vom Waschen. Ich betreibe den Mechanismus manuell, weshalb ich dich nicht alleine duschen lassen kann.“
Schlagartig werde ich rot. „I-Ich soll mit dir... Nein! Auf keinen Fall!“ Ich konnte den Satz nicht einmal zu Ende bringen. Was bildete der Engel sich nur ein?
Mit einer Handbewegung lässt Cirillo Wasser aus einer Öffnung über einem besonders glatt verarbeiteten Stein kommen und erwärmt es, bis es dampft. „Stell dich nicht so an. Ich habe dich bereits einmal gebadet.“
„Gegen meinen ausdrücklichen Willen!“ Keife ich ihn sofort verärgert an. Wie konnte er dieses Detail der Geschichte bloß andauernd weglassen? Der Engel spinnt doch!
Cirillo seufzte genervt, während er aus seiner Hose schlüpft und ich mich hastig abwende. Wieso musste er sich nun auch noch entkleiden? „Keine Angst, ich berühre dich auch nicht. Ich sehe dich nicht einmal an, nur stell dich darunter und wasch dich. Du bist vollkommen dreckig und stinkst.“
Ich verschränke abweisend meine Arme vor dem Oberkörper. Nein! Dazu würde er mich bloß über meine Leiche bekommen.
Oder gegen meinen Willen. Ich hörte überhaupt nicht, wie Cirillo von hinten an mich heran trat, sondern wurde erst auf ihn aufmerksam, als er einen Arm um meinen Bauch schlang und kurzerhand rückwärts unter die Dusche schob.
Entrüstet schnaufe ich durch. Nun stand ich, voll bekleidet, unter einer Dusche! „Cirillo!“ Rufe ich, konnte nicht glauben, dass er das wirklich getan hatte.
Ein fieses Lächeln lag auf seinen Lippen, was ihn seltsam... sympathisch aussehen ließ. „Ich sagte doch, ich werde dich schon nicht anfassen. Du kannst alles selbst waschen, was du musst. Zu mehr zwinge ich dich überhaupt nicht.“
Nichts außer sein Arm war nass. Da es die einzige Rache war, die ich aufbringen konnte, ließ ich etwas Wasser in meine gewölbten Handflächen von meinem Kopf fließen und bewarf sein Gesicht damit.
Er kniff die Augen zusammen, hebt die Hand und lässt mit einem Mal, einen kalten Schwall auf mich herabregnen. Schreiend bringe ich mich außerhalb dessen Reichweite, doch Cirillo fängt mich, überheblich lachend ab. Erst da merke ich, dass Cirillo... versuchte, witzig zu sein! Dann stehen wir beide unter dem nassen Schwall, welcher von oben auf uns herab regnet und lachen einfach.
Nun verstand ich es auch... Cirillo hatte mich zu sich nach Hause gebracht, weil er einfach zu erschöpft war, um mich noch weiter hinauf tragen zu können. Die dunklen Ringe unter seinen Augen fielen mir tatsächlich erst nun auf, da wir in einem voll beleuchteten Raum waren. Sie waren ganz klein geworden und in die Tiefe gewandert, so als ob er kaum noch seine Lider offen halten konnte.
Und dann kam Alitia auch noch mit diesem hinterhältigen Seitenhieb, er müsse mich alleine zurück zu den Zellen tragen, nachdem ich ihm bereits die gesamte Arbeit überlassen hatte.
Ohne dass ich es recht bemerke, landen meine Finger an seiner Wange und ich fahre zart die dunkle Zeichnung nach. „Du bist todmüde.“ Eine Tatsache, die er bloß schwer noch vertuschen konnte.
„Tja, einen ganzen Garten alleine zu bearbeiten, laugt eben aus, wenn man nicht gerade schmollend daneben steht und blöd zusieht.“
„Das hattest du verdient.“ Meine ich wahrheitsgemäß und grinse frech. „Manchmal kannst du eben echt ein Arsch sein. Dann muss ich dir kontern.“
Seine Hand an meinem Rücken, wann auch immer sie wieder dorthin gekommen war, packte mich etwas fester, als ich mich abwenden wollte. „Du bist meine Kreatur. Du musst gehorchen.“
Ach, so sah er das also? Ich lehne mich vor und stützte meine Hand gegen seinen Brustkorb. Dass er noch immer nackt war, hatte ich seltsamerweise vollkommen verdrängt. „Du bist weder mein Vormund, noch mein Herrchen. Ergo, kannst du mir gar nichts befehlen.“ Damit stoße ich mich ab und drehe mich herum, um nach Seife oder etwas ähnlichem Ausschau zu halten. Nun war ich ja ohnehin bereits nass, bis auf die Knochen. Wieso also nicht die Zeit nutzen, die mir zur Verfügung stand. Ein heißes Bad, werde ich so schnell nicht mehr bekommen.
„Natürlich, du bist mein Nephilim. Du gehörst mir. Bist mein Besitz.“ Seine Stimme klang mit einmal mal seltsam... knurrend. Viel tiefer, als noch einen Moment zuvor. Ob ich ihn erneut verärgert hatte?
Ich bücke mich nach einem Körbchen, welches ich schon einmal im Fluss gesehen hatte und tatsächlich! Darin befanden sich kleine Seifensteinchen! „Du bist bloß ein Holzkopf, der nicht akzeptieren will, dass zwischen Mensch und Engel noch etwas existiert. Sogar Alitia hat das bei unserer ersten Begegnung bemerkt.“
Ich nehme eines heraus, in einer hübschen blauen Farbe, doch sobald ich es unter den Duschstrahl halte, zerfließt es einfach. Entrüstet sah ich dem Stein hinterher... Er war einfach fort!
„Sie lösen sich im Kontakt mit Wasser auf. Du musst Schwämme dafür benutzen.“ Belehrte Cirillo mich.
Ich werfe ihm über die Schulter einen giftigen Blick zu, welcher mich bloß wieder daran erinnerte, dass er nackt war. Rot werdend, wende ich mich augenblicklich wieder ab, ehe ich mehr sehe, als ich sehen dürfte. Kennen Engel denn wirklich kein Schamgefühl? „Danke, das weiß ich nun auch.“
Seufzend greife ich mir einen fluffigen Schwamm. Einen, wie den Cirillo letztens erst benutzt hatte, um mich gegen meinen Willen zu reinigen. Dann lege ich einen Seifenstein darauf und lasse ihn im Wasser schmelzen. Augenblicklich saugt sich der Schwamm damit an. „Cool!“
„Reich mir ebenfalls einen.“
„Zauberwort!“ Fordere ich daraufhin. Offensichtlich hatte ich mein Glück heute noch nicht genügend strapaziert.
„Was denn für ein Zauberwort?“ Fragt Cirillo irritiert.
Ich seufze. Na gut, dann eben ohne ein einfaches >Bitte<.
„Welche Farbe darf es denn sein?“ Erkundige ich mich, da sich nicht bloß blaue, sondern auch anthrazitfarbene, purpur, flamingorosa, hellgelbe, moosgrüne und viele, viele mehr befanden.
„Unwichtig, sie riechen alle gleich.“ Ich nahm zwei verschiedene Farben in eine Hand und rieche daran. Tatsächlich! Sie rochen identisch!
Schulterzuckend lege ich meinen Schwamm beiseite, nehme einen neuen, platziere ein Steinchen darauf und reiche es Cirillo weiter, während es im Duschstrahl zerläuft.
„Danke.“
Ich grinse, ohne dass Cirillo es sah. Oh, als ging es ja doch.
„Du solltest dich ebenfalls endlich entkleiden. Ich will nicht ewig hier drinnen stehen und darauf warten, dass du dich wäscht.“
„Aber du bist immer noch da!“
„Und?“ Fragt er gleichgültig, mit dem Rücken zu mir.
„Ich werde mich bestimmt nicht freiwillig vor dir entkleiden. Ich komme aus einer Kultur, die ihre Privatsphäre hoch schätzt!“ Erkläre ich eingehender. Hoffentlich verstand er dies nun endlich.
„Selbst beim Baden? Wie unpraktisch.“ Murrt er, als ob er dies überhaupt nicht gewusst hätte.
„Da verbringst du so viel Zeit auf der Erde und so etwas weißt du nicht?“
„Ich achte doch auf so etwas nicht. Mich interessieren nicht die Gepflogenheiten der Menschen. Nur die Nephilim.“
Seufzend gab ich nach, aber auch bloß, da ich darauf vertraute, dass er sich auch wirklich nicht umwandte. „Gut, aber schwöre, dass du dich nicht umdrehst! Nicht einmal, wenn ich hinfalle und mir den Schädel zertrümmere!“
Er hob eine Hand, als er sich unter der Achsel wusch. „Wie auch immer.“
Misstrauisch beäuge ich seinen Rücken, doch Cirillo wusch sich unbeirrt weiter.
Ich nahm dies als Zustimmung und schob erst mal bloß die Träger über meine Schultern, wusch mich an der frei gelegten Haut und seufzte genießerisch. Wie lange war es her, seit ich mich so richtig gewaschen hatte? Selbstständig!
Ich ließ die Kleidung vom Wasser hinunter zu meinen Beinen waschen, schrubbte meine Haut, bis ich das Gefühl hatte, knallrot zu sein.
Cirillo beachtete ich überhaupt nicht mehr. Rekelte mich dem Wasser entgegen, damit es auch wirklich jeden Zentimeter meiner erkalteten Haut berührte und wurde zum ersten Mal, seit einer viel zu langen Zeit, wieder herrlich warm.
„Wasch mir den Rücken, wenn du schon trödelst.“
Für ein einfaches Bitte, war er sich wohl einmal mehr zu fein! „Aber wehe, du spannst!“ Fauche ich mahnend und lege meine linke Hand, um meine Brüste, während ich in der rechten den Schwamm hielt und ihn Cirillo in den Rücken klatschte.
„Au!“ Beklagte sich dieser. „Habe ich nicht vorhin deutlich gesagt, dass es mir gleich ist, wie du aussiehst? Ich kenne die Anatomie eines jeden Nephilim.“
„Danke, das stärkt natürlich enorm mein Selbstwertgefühl, als Frau.“ Besonders der Fakt, dass er mich noch weit geringe, als ein Haustier ansah. Noch nicht einmal als Nutztier! Ich stand tief unter diesen beiden Kategorien.
„Nephilim benötigen kein Selbstwertgefühl.“
Ich beginne damit, Kreise über seinen Rücken zu malen, während das Wasser den Schaum stetig abtrug. „Holzköpfe auch nicht, trotzdem trifft es dich, wenn man dich beleidigt.“
„Mich kannst du nicht mit Nephilim vergleichen. Wir sind uns nicht ansatzweise ähnlich.“
Damit hatte er recht. Wir waren uns nicht sonderlich ähnlich... Äußerlich, ja. Da gab es diverse Gemeinsamkeiten. „Stimmt, du bist ein Ekel und ich bin im Gegensatz zu dir, tolerant.“
„Das sind Charaktereigenschaften!“ Widersprach Cirillo streng. „Ich spreche von den äußerlichen Gemeinsamkeiten. Wir sind grundverschieden. Während in meinem Körper pure Macht fließt. Gnade, die mir ermöglicht Magie zu wirken, fließt in dir die reine Bosheit.“
Ach so? In meinen Adern floss Bosheit? Ich endete mein Tun, lasse den Schwamm zu Boden fallen und lege nun beide Hände, auf seinen überraschend maskulinen Rücken. Ich begann damit seine Schultermuskeln zu massieren, wie Adam es gerne bei mir getan hatte. Cirillo seufzte genüsslich. „Ja... die reine Bosheit.“ Zog ich ihn daraufhin auf und spüre sofort, wie er sich versteift. Trotzdem massiere ich ein wenig weiter. Es fühlte sich seltsam angenehm an, jemanden zu massieren. Bei Adam hatte ich mich geweigert, da ich der Meinung war, ich würde ihm ohnehin bloß schmerzen zufügen. Ich hatte einfach kein Gefühl für so etwas.
Doch Cirillo schien es geradezu zu genießen, deshalb tat ich einfach weiter. Adam hatte stets von irgendwelchen verspannten Knoten gesprochen, doch davon ertastete ich absolut nichts. Ich wüsste ja noch nicht einmal, wie sich so einer anfühlte. Als ich wenig später, seinen Nacken mit eben derselben Technik bearbeitete, wie ich es noch im Kopf hatte, kippte Cirillo beinahe um.
Stöhnend hielt er sich an der Wand fest und stützte sich. „Danke... Aber ich denke, wenn du damit weiter machst, schlafe ich einfach hier ein.“
Da fiel mir auch auf, dass das Wasser aufgehört hatte, zu laufen.
„Gern geschehen. Falls du... es wieder einmal brauchen solltest, dann bitte mich einfach darum. Du musst nicht mit Anweisungen herum werfen.“
Ich drehe mich weg, deshalb wusste ich auch nicht, wie er auf meine Worte reagierte. Als ich mich nach meiner Kleidung bücke, merke ich jedoch, dass ich dies in den nächsten Stunden nicht wieder würde anziehen können.
„Hier.“ Etwas Weiches umschlang meine Schultern und legte sich über meine nasse Haut. Erfreut schlang ich das goldene Handtuch um meinen Leib.
„Danke.“ Ich binde es fest, ehe ich mich ihm zuwende. Cirillo war bereits in eine Hose geschlüpft.
„Leider kann ich dir nichts, außer einer Hose anbieten. Morgen früh, werde ich aber gleich als erstes, deinen Anzug vom Wasser befreien.“ Mittlerweile waren Cirillo´s Augen winzig geworden. Heute würde er also ganz bestimmt keine Magie mehr wirken können.
„Schon gut... Ich werde es überleben diese Nacht.“
Sichtlich erleichtert darüber, dass ich keinen Aufstand machte, nickte er mir zu, nahm das nasse Kleidungsstück und wrang das nötigste aus. Danach hing er es auf ein Gestell, wo vorhin noch ein Handtuch gehangen hatte und ließ es abtropfen.
„Wo... Wo schlafe ich denn?“
Cirillo deutet über sich. „Das obere Geschoss ist vollständig mit Kissen ausgestattet. Dort wirst du schon einen Platz finden.“
Abgeneigt betrachtete ich den Ausguck dort oben. „Schön und gut... Nur wie komme ich dort hinauf, ganz ohne Leiter?“ Ich erreichte die Unterseite ja noch nicht einmal vom Boden aus, wo ich stand! Vielleicht mit einem Stuhl? Nur ob mein Handtuch dann auch wirklich hielt, konnte ich bei weitem nicht beschwören!
„Halte das Tuch.“ Wies Cirillo mich an, doch ehe ich mich nach ihm umdrehen konnte, schnappte er mich und schlug kräftig mit den Flügeln.
Erschrocken halte ich nun nicht nur oben das Handtuch, sondern auch an meiner Hüfte, bis Cirillo mich im oberen Stockwerk abgelegt hatte. Kniend kam ich auf der weichen Unterlage an. Cirillo hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Hier oben gab es deutlich mehr Raum, als man von unten ausmachen konnte, was mir viel Abstand, zu ihm einbrachte.
„Du schläfst in der Ecke.“ Sagte er noch und deutete auf den hinteren Teil des Bettes, wo es in einer Sackgasse endete. Viele Dutzend Decken und Polster machten das Bett hier oben, unglaublich gemütlich. Selbst mit ausgestreckten Armen, Beinen und Flügeln, hatten zwei Personen noch immer genug platz, um Einernader nicht zu berühren.
Beigestert krabbelte ich in meine >Ecke< und ließ mich, der Länge nach, auf den Bauch fallen. „Ein Bett! Ein richtiges Bett!“ Jauchze ich voller Freude und rollte mich herum. Stets darauf bedacht, das Tuch am richtigen Platz zu belassen. Doch Cirillo´s Kopf berührte gerade einmal das erstbeste Kopfkissen, als die Lichter bereits ausgingen. „Gewöhne dich aber nicht daran. Das ist eine Ausnahme!“
Augenblicklich sitze ich wieder aufrecht, wickel mich in eine Decke, die ich ertastete und nehme das Tuch ab, um meine Haare einigermaßen zu trocknen. Mittlerweile war ich es ja gewohnt, dass sie verknotet waren und ich sie lediglich mit meinen Fingern bürstete. Genau dies, tat ich nun auch. Ich war viel zu aufgekratzt, um zu schlafen.
„Nicht einmal, wenn ich dir verspreche, dich jeden Abend zu massieren, bevor du einschläfst?“ Scherze ich.
Cirillo antwortete eine Zeit lang nicht, weshalb ich davon ausging, dass er nun endlich selig schlief, doch als er dann doch sprach, klang er ziemlich entschieden. „Nein, du bist ein Nephilim und gehörst in die Zellen.“
Willkürlich musste ich schmunzeln. Cirillo hatte tatsächlich einen Moment darüber nachgedacht! Es war ein winzig kleiner Trumpf, aber dass er überhaupt darüber nachgedacht hatte! Eventuell gab es dann doch noch Hoffnung auf ein wenig mehr Menschlichkeit, die ich zurückerlangen konnte. Und irgendwann... Irgendwann, würde ich gut genug fliegen können, um nach Hause zurückzukehren!
„Aber ein Nephilim, der einiges auf dem Kasten hat.“ Entgegne ich, lege das feuchte Tuch fort und krabble zurück an Cirillo´s Seite. Natürlich hielt ich die umgewickelte Decke dabei ganz fest. „Immerhin arbeitest du ja den ganzen Tag alleine.“ Rede ich weiter, lasse mich neben ihn fallen und nahm meine Arbeit an seinem Nacken wieder auf.
Er seufzte tief.
„Und ich sitze bloß in dieser langweiligen Zelle, ohne irgendetwas zu tun zu haben. Was bedeutet, dass du eine Hilfskraft völlig verschwendest.“
Er grunzte. „Was, zu allem Unheiligen, willst du mir schon helfen können?“
„Keine Ahnug, sag du es mir. Wäre es nicht praktisch für dich, wenn ich arbeite und dabei Muskeln aufbaue, anstatt wie Frischfleisch in die Arena geworfen zu werden? Nächstes Mal, habe ich vielleicht weniger Glück mit meinem Gegner. Der läuft nicht so einfach in meinen Speer hinein.“
Für einen Moment höre ich auf damit, Cirillo´s Nacken zu massieren, da ich versuchte, die Decke so zu binden, dass sie nicht gleich wieder hinunter rutschte, doch der Stoff war etwas anders, als der des Handtuches. Dafür jedoch, war auch mehr davon da, daher band ich mir die Ecken um den Nacken und machte eine Tunika daraus. Nun hatte ich beide Hände frei, um Cirillo... Nun ja >verführen<, war in diesem Fall, das am wenigsten passende Wort, doch ich gab mir extrem große Mühe, ihn von meinen Vorteilen bei der Arbeit zu überzeugen. „Cirillo?“ Frage ich nach einiger Zeit, da er einfach nicht antwortete. Doch das einzige, was ich noch vernahm, waren flache, gleichmäßige Atemzüge.
Schmunzelnd ließ ich meine Hände von seinen Schultern gleiten, doch vermisste sogleich seine Wärme. Auch hier im Haus, war es genauso kühl, wie in den Zellen. Ich fröstelte zwar nicht, aber nachdem die Hitze der Dusche bereits nachgelassen hatte, fühlte sich mein Körper leer und kühl an.
Seufzend zog ich meine Beine unter meinen Po und meine Flügel enger an meinen Rücken, damit zumindest dieser sich endlich ein wenig erwärmte. „Wieso ist es hier überall so verflucht kalt?“ Fluche ich leise und sehe mich im halbdunklen des Raumes um. Scheinbar brannte irgendwo unter mir noch ein schwaches Licht, den zumindest Schemen und Schatten konnte ich noch ausmachen, während außerhalb des Hauses, absolute Dunkelheit herrschte.
Da raschelte plötzlich etwas und weiche, warme Federn, landeten auf meinen Schenkeln.
Verblüfft riss ich die Arme hoch und wollte bereits den Flügel wieder von mir schieben, als mir bewusst wurde, dass Cirillo, trotz Schlafes, meine Worte wohl wahrgenommen haben musste. Oder es war einfach bloß ein dummer Zufall? Eventuell wollte er mich damit auch bloß dazu drängen, ihn weiter zu massieren?
Genüsslich rekelte sich der Engel, drehte das Gesicht in Richtung Abgrund und schnaufte tief durch.
Verleitet davon, seine Wärme weiter spüren zu wollen, ließ ich meine Handflächen durch das dichte Federkleid wandern und ertastete jede Länge und Unebenheit. Flügel waren so... beeindruckend, schön. Etwas geradezu Magisches ging von ihnen aus und ich wollte nichts lieber, als sie anzufassen.
Ich fasste hinter mich und zog einen Teil meines Flügels vor, damit ich dessen Flauschigkeit vergleichen konnte. Jedoch war, bis auf das organische Material, aus dem unsere Flügel bestanden, nicht mehr Ähnlichkeit vorhanden. Seine waren viel kürzer und rundlicher, während meine beinahe spitz zuliefen und an einigen Stellen eineinhalb Handflächen, bis eine Unterarmlänge maßen.
Sie unterschieden sich aber auch drastisch an der Farbe und meine wirkten wesentlich ungepflegter, während Cirillo ein dichtes Daunenkleid besaß.
Neugierig geworden, beugte ich mich vor und roch heimlich an seinem Gefieder. Es roch eigentlich überhaupt nicht eigen. Sondern einfach nach... Cirillo. Sein Geruch herrschte im gesamten Haus vor, doch diesen herrlichen Eigenduft... Ich wusste nicht genau, was es war, aber er besaß einen Duft, der für meine Sinne einfach unverwechselbar war. Ich könnte ihn blind wieder erkennen.
Plötzlich schüttele Cirillo seinen Flügel erneut auf. Ich lehnte mich etwas zurück, doch der Flügel legte sich trotzdem auf meine Seite und drückte mich nach unten.
Da ich annahm, es sei bestimmt unangenehm für ihn, wenn ich an seiner Seite bliebe, wollte ich darunter vor rutschen, doch der Flügel schien ein Eigenleben zu besitzen. Er drückte mich einfach wieder an Ort und Stelle und wog mit einem Mal, so viel wie ein Fels.
Kichernd ließ ich mich von ihm hinab drücken und bettete meinen Kopf auf den unteren Teil von Cirillo´s Rücken. Als mein nasses Haar ihn berührte, erschauderte er einmal kurz, doch erwachte nicht wieder. Ich hatte es mir gerade einmal bequem gemacht, da fächerte sich sein Flügel weiter auf und bedeckte meinen zusammen gerollten Körper, bis über die Schulter.
Vor Nervosität klopfte mir mein Herz beinahe aus der Brust. Es war, abgesehen von Adam, das erste Mal, dass ich auf dem Körper eines anderen ruhte. Ich würde ja gerne >eines anderen Jungen< sagen, doch Cirillo war bei weitem kein Junge... Er war ein männlicher Engel, attraktiv, aber auch ein Scheusal... Er war gemein, herrisch und Einfühlungsvermögen war ihm schlichtweg fremd!
Trotz allem besaß er einen durchaus maskulinen Körper, einen wohligen Geruch und... es lag sich seltsam bequem auf seinem Rücken.
Nun hatte ich bloß noch das Problem, mit meinem rechten Flügel. Ich hatte mich ja daran gewöhnt entweder auf meiner linken, oder rechten Seite zu liegen, während einer der Flügel, meinen Körper bedeckte und wärmte.
Nun war da aber bereits ein Flügel... Seufzend ließ ich ihn auf den von Cirillo sinken, wodurch ein warmer Kokon entstand und mich augenblicklich ins Reich der Träume beförderte.

 

- - - - -

 

Meine Träume jedoch, waren bisher nicht besser geworden. Es gab Tage, da erinnerte ich mich überhaupt nicht mehr an sie, doch mein Körper zitterte, sobald ich erwachte, und meine Augen brannten von all den Tränen.
Feuer...
Blut...
Tod... Ich fühlte, wie etwas hart an meinem Körper riss. Meine Schulter wurde gequetscht und jemand schrie mich an. Schrie meinen Namen... Mama! Ihr Blick war gehetzt, so voller Trauer und Ungläubigkeit. Dann fiel sie. Ehe ich sie packen konnte, fiel sie die Klippe hinab, in den bodenlosen Abgrund, so wie ich gefallen war. Dicke Rauchschwaden schnappten nach ihren mageren Körper und verschluckten sie in einem Happen.
Meine Flügel rissen und ich stürzte hinterher... Haltlos fiel ich ins schwarze Nichts hinein.
Nein... Ich fiel nicht... Keuchend schnappte ich nach Luft, blickte sogar hinauf, in das tiefe Schwarz, ehe ich spürte, dass sich etwas Feuriges in meine Brust bohrte. Ein Feuerschwert... Es punkte mein Herz und schnitt es in zwei Teile.
Als ich mein Gesicht zur Seite wende, sehe ich in zwei hellblaue, wunderschöne Augen, die mich voller Liebe anlächeln. Der Sonnenaufgang befand sich hinter seinem Rücken, während sich seine wohl geformten Lippen, zu irgendwelchen Worten bewegten, die ich nicht verstand. Sie... schienen meinen Namen zu bilden. Wollten mir sagen, wie sehr sie mich vermissten und liebten...
Aber ich kannte diesen Mund. Wusste, dass daraus Lügen hervorgekrochen waren. Dass diese sanften Hände, meine Mutter vor ein fahrendes Auto geworfen hatten. Das diese wohlige Stimme mir ein schreckliches Geheimnis vorenthalten hatten!
Ich riss mich herum, fasste schreiend an meinen Kopf und begegnete wieder diesem dunklen, unheilvollem Schwarz. Schützend zog es mich an sich, umfasste mich mit so einem kräftigen Druck, dass ich dachte, darunter brechen zu müssen, doch es war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, welchen ich beim Anblick von Calyle empfand. Diese Schwärze, die Dunkelheit, bedeutete für mich Sicherheit, während die Sonne, das Licht mich nur verletzte.
Wimmernd fand ich mich beim Aufwachen in Cirillo´s Armen wieder. Wann er sich herum gedreht hatte, wusste ich nicht, doch die Sonne erleuchtete, trotz der schneeweißen Wolken, das Haus angenehm.
Als ich meinen Kopf hebe, erkenne ich eine seltsam rote Spur auf Cirillo´s Oberkörper, von denen ich sicher war, dass sie mir noch nie aufgefallen waren.
Als ich mich hastig daraus befreite und meine tränenschweren Augen wach reibe, bemerke ich, dass sich dieselbe rote Flüssigkeit unter meinen Nägeln befand...
„Oh mist!“ Stoße ich erschrocken hervor... Ich hatte doch nicht...
„Bist du endlich wach? Geht es dir besser?“
Cirillo´s Frage verwirrte mich. Ob es >mir< gut ginge? Schockiert fasse ich an seine Haut, doch achte darauf, nicht die frische Wunde zu berühren. „Ich? Was ist mit dir? Ich habe dich gekratzt, das tut mir schrecklich leid!“
Eigentlich biss ich mir meine Nägel gerne bis hinab zum Nagelbett ab, doch seit ich hier war, hatte meine stete Anspannung allmählich abgenommen. Ich ärgerte mich nicht mehr so, wie früher immer und hatte wohl unbewusst meinen Tick an ihnen zu kauen, abgelegt. Nun rächte sich das.
„Das ist bloß ein Kratzer.“ Tat er wahrheitsgemäß ab, doch ich fühlte mich durch seine Worte nicht weniger schuldig. „Sag mir lieber, wovon du so schreckliche Albträume hattest.“
Albträume? Woher wusste er davon?
Ich betrachtete meine zittrigen Finger, nahm das Brennen in meinen Augen erneut wahr und sehe mich im zerwühlten, übergroßen Bett um...
„I-Ich habe das getan, richtig?“ Mir reichte sein stummer Blick, als Antwort. „Es tut mir so schrecklich leid, Cirillo... I-Ich... Ich träume jede Nacht von... schrecklichem...“ Ich konnte es einfach nicht aussprechen. Wollte meine Albträume nicht durch Worte wahr werden lassen, auch wenn es vermutlich lächerlich war!
Cirillo berührt mich an der Schulter, um mich dazu zu bringen, ihn wieder anzusehen. „Was siehst du in deinen Albträumen?“
„Blut...“ Keuche ich atemlos. „Jemand stirbt. Alles brennt... Federn fallen... Es ist immer etwas anderes, doch im Grunde ein und dasselbe. Einmal... Einmal sehe ich, wie meine Mutter stirbt. Dann meine Nephilimgeschwister... Ich verliere sie. Dann wieder mich selbst. Alles ist voller Rauch und Feuer. Manchmal aber auch bloß eines davon. Feuer... Blut... Tod...“ Wiederhole ich stammelnd. „Immer dasselbe. Feuer... Blut... Tod...“ Meine Stimme erzittert noch mehr, bis ich kaum noch einen Ton hervor bekomme. Doch im Grunde sind es bloß noch diese drei Worte, die ich nuschle.
Feuer...
Blut...
Tod...
Feuer...
Blut...
Tod...
„Haylee...“ Seine so sanfte Stimme riss mich aus dem SIngsang, in den ich versunken war. Mein Blick klärte sich wieder und der Schmerz in meinem Kopf ließ rapide nach. Ich war wieder wach.
„Du hast diese Träume jede Nacht? Wieso hast nie etwas darüber gesagt?“
Ich lache humorlos auf. „Ich soll dir etwas über meine Albträume erzählen? Du würdest mich doch bloß auslachen, oder überhaupt nicht erst zuhören.“ Meine Worte klangen Bitter, doch sie entsprangen der reinen Wahrheit. „Ich bin bloß ein Nephilim...“ Murre ich, während ich mich abwende. Dank meines Albtraumes fühlte ich mich wieder erschöpft und noch ausgelaugter, als Stunden zuvor. Ich musste weiter schlafen.
Cirillo sagte nichts mehr dazu. Mir war es auch gleich, zu tief saß noch die Erschütterung, welche der Albtraum mit sich gebracht hatte. Ich rollte mich in meiner Ecke, zu einer Kugel zusammen, bedeckte mich mit meinem Flügel und schlief beinahe sofort wieder, lauthals gähnend, ein.
Dieses Mal waren meine Träume einfach nur schwarz und als ich erwachte, fühlte ich mich ausgeruht und zufrieden.
Zwar klebte der getrocknete Angstschweiß meines Albtraumes noch an mir, doch den würde ich einfach rasch an meinem kleinen kalten Bach abwaschen, wie an jedem anderen Tag.
Als ich mich jedoch aufsetze, finde ich mich Auge in Auge, mit einer holzartigen, hellen Wand wieder.
Für einen Moment war ich wirklich verwirrt, doch als ich die Decke um meinen Körper bemerkte, erinnerte ich mich wieder an alles. Ich befand mich doch in Cirillo´s Haus! Richtig!
Nachdem ich mich nach ihm umgesehen hatte und auch keine Geräusche wahrnahm, krabbelte ich zum Anfang des großen Bettes und schielte nach unten. Hm... Wie kam ich da nur wieder hinunter?
„Engel! Bist du da?“ Frage ich ins leere Zimmer hinein, doch wie zu erwarten, reagierte niemand. Ich war alleine.
Alleine... in Cirillo´s Haus!
Nur saß ich hier oben bedauerlicherweise total fest... Wenn ich sprang?
Mit mehr Mühe, als Geschick, kletterte ich über das niedere Geländer, stützte meine Beine gegen den Rahmen des Fensters und ließ mich so weit hinunter, wie es nur ging. Wie zu erwarten, erreichte ich trotzdem nicht den Boden. Jedoch konnte ich mich aus dieser Höhe einfach fallen lassen und kam plumpsend am Boden auf!
„Geschafft!“ Rufe ich begeistert aus und freute mich übermäßig. Noch einmal überprüfte ich den Halt meiner selbst gemachten Tunika, doch solange kein starker Windstoß kam, würde mir niemand unter die Decke sehen können.
Da entdeckte ich auch bereits, perfekt gefaltet, meine Kleidung, die ich von Alitia erst erhalten hatte. Sie war sauber, roch nach derselben Seife, mit welcher ich mich gewaschen hatte und war absolut trocken. Cirillo hatte nicht zu viel versprochen! Eilig verschwand ich damit, hinter der cremefarbenen Türe, welche stark Alitia´s ähnelte, doch vom Design doch eher plumper war. Dann schloss ich sie hinter mir und erledigte zum ersten Mal, nach viel zu vielen Wochen, mein Morgengeschäft auf einer richtigen Toilette, während ich die Decke abwickelte und hinein in die, mehr oder weniger, frische Kleidung schlüpfte.
Danach suchte ich direkt den Spiegel auf... Er war groß, reichte vom Boden, bis hoch zur Decke und nahm, im Gegensatz zum Bad, oder der Toilette, ein ganz schönes Stück der Wand ein. Davor war eine Wanne eingelassen, in einer halbrunden Form und verleitete zum Baden ein.
Bedauerlicherweise, brauchte ich gar nicht erst nachzufragen, um zu wissen, dass ich das Bad, ohne Cirillo´s Hilfe, nicht würde bedienen können. Zumindest ging die Toilette automatisch, sobald man aufstand. Und meine Hände wusch ich in einer Pfütze, die sich von gestern gesammelt hatte, neben der Dusche.
So fühlte ich mich zumindest ein wenig sauber, während ich mein seltsam entfremdetes Gesicht musterte. Heute besaß ich die tiefen Furchen unter meinen Augen. Mein Gesicht wirkte eingefallener, als gewöhnlich und an meinen Armen, so wie den Rippen, fand ich mehr Haut, denn Fette.
Ein wenig erschreckte mich dieses Äußere... So war ich... nicht mehr wirklich ich. Das Mädchen dort drinnen war mir absolut fremd. Die Traurigkeit in ihren blassen Augen, die spröden Lippen und dahinter die hängenden Flügel...
Ich hatte zu viel Gewicht, Lebensfreude und Mut verloren. Ein wenig wirkte ich, als käme ich aus dem Krieg... Kein Wunder also, dass ich viele Bewegungen, die ich früher andauernd gemacht hatte, heute schrecklich mühsam fand. Meine Beine waren mittlerweile an das Gewicht der Flügel gewöhnt... Das konnte ich nicht mehr beklangen. Trotzdem ähnelte ich einer abgemagerten Version, eines kränklichen Engels... Nein, noch schlimmer, vermutlich.
All meine Rundungen von früher waren fort, meine gesunde Hautfarbe war verblasst und mein Haar einfach nur noch... ein grauenhaftes Nest.
Mit Tränen in den Augen griff ich nach einem Kamm, der neben der Spüle lag und kämmte damit grob durch mein Haar, bis ich sie büschelweise ausriss und es zu schmerzhaft wurde. Dann erst, wurde ich wieder sanfter, trocknete einige der bitteren Tränen und kämmte vorsichtiger.
Ich sah aus wie meine Mutter, an ihren schlimmsten Wochen! So viel Ähnlichkeit, wie in diesem Moment, hatte ich noch nie zwischen ihr und mir entdeckt. Ja, wir besaßen einen sehr ähnlichen Körperbau, doch vom Gesicht ähnelten wir uns kein Stück. Ihr Haar war auch einige Nuancen dunkler, als das meine und lichtete sich zu den Enden hin nicht.
„Haylee!“ Cirillo´s verärgerte Stimme erklang mit einem Mal in der Türe, welche es gerade so schaffte, in die Wand zu fahren, ehe er durch sie hindurch brach. Mit einen giftigen Blick taxierte er mich, doch als er meine tränenunterlaufenen Augen bemerkte, wurden seine Gesichtszüge weicher.
Zittrig sah ich auf den Kamm, den ich halb ruinierte und die Büschel darin. „Tut mir leid... Ich mache ihn wieder sauber!“ Versprach ich weinerlich, doch konnte nichts gegen den Klang in meiner Stimme unternehmen.
Erneut fing ich meinen Blick im Spiegel auf. Wie aus einer Irrenanstalt... Ich wirkte, wie eine Geisteskranke. Ob ich das auch wahr? Eventuell... mit ein wenig Glück, dann hatte meine Rationalität, in dem Moment als mein Schwert den Bauch von Lucy durchbohrte, den Kontakt zu mir gekappt und seitdem lebte ich unter herrlichen Drogen, in einer Psychiatrie? Ob sie nun ihre Wirkung verloren?
Cirillo´s Spiegelbild erschien neben dem meinen und überragte mich ein ganzes Stück. Ich sah so klein... zerbrechlich, neben diesem Gargoyle aus. Das Schwerste an mir, war vermutlich meine Trauer und mein Selbsthass, neben meinen Flügeln, denn aus mehr bestand ich doch überhaupt nicht mehr.
„Habe ich dich so verschreckt? Oder weshalb weinst du schon wieder?“
Schon wieder? „Habe... Habe ich letzte Nacht etwas auch wieder geweint?“
Er nickte stumm, da entdeckte ich auch bereits die bereits verheilten Kratzer an seiner Brust. „Du warst außer dir... Etwas muss dich richtig traumatisiert haben, denn du sagtest, du träumst jede Nacht davon.“
Mein Herz wurde ganz schwer, als seine Worte, meinen Albtraum von letzter Nacht hervorriefen. Ich hatte ihn schon wieder völlig verdrängt gehabt, genauso wie unser Gespräch am frühen Morgen.
„Feuer. Blut Tod.“ Wiederholte ich wispernd die drei Worte, welche sich am stärksten in meinem Unterbewusstsein manifestiert hatten. „Was ist da passiert?“
Mein Blick verfing sich in Cirillo´s Spiegelbild. „Nichts... Nichts davon ist passiert, es sind bloß Albträume. Mein Unterbewusstsein versucht bloß das zu verarbeiten, was mit meiner Mutter, Lucy und Ca-...“ Ich stockte bei diesem Namen und Übelkeit sammelte sich in meinem Hals.
„Du hasst ihn abgrundtief. Den Namen, den du nicht aussprechen kannst.“
War das etwa so offensichtlich? „Habe ich das etwa über ihn gesagt?“
„Du hast geschrien, dass du sein Feuer hasst. Du willst ihn leiden lassen und nie wieder in seiner Nähe sein, da du es nicht erträgst. Er soll niemals nach dir suchen.“
Ich fasste mir an meine schmerzende Brust und fühlte mich mit einem Mal atemlos. So etwas... So etwas sagte ich im Schlaf? „In meinem Leben, haben mir bereits viele Leute Angst gemacht, waren gemein zu mir oder haben mir sogar ins Gesicht gespuckt, nur weil ich mich von ihnen nicht ärgern ließ. Sie zogen über meine geistig kranke Mutter her. Machten sich lustig über uns beide. Aber nichts... Nichts davon konnte mich bloß ansatzweise so sehr treffen, wie das, was >er< getan hat. Was... Was >sie< getan haben.“ Besserte ich mich aus. Immerhin war Marie im Grunde schuld an allem, doch mein Hass galt trotzdem mehr Calyle, denn ihr. Ihn hatte ich geliebt... Dachte ich zumindest...
„War es einer deiner Nephilimbrüder? Der... mit dem du gekämpft hast?“
Erschrocken wandte ich mich Cirillo zu, doch alleine an meinem Blick schien er zu erkennen, dass er richtig geraten hatte. „Seine... Seine Mutter hat meine getötet. Und er hat... Er tat so, als ob er mich lie-... Als ob ich ihm etwas bedeute. Doch ihm war einzig wichtig, was seine Mutter ihm einredet! Er hat sie lieber gedeckt, anstatt mir die Wahrheit zu sagen. Das kann ich ihm nicht verzeihen! Niemals!“ Spie ich voller Wut aus.
„Das kann ich nachvollziehen.“ Mit diesen Worten überraschte Cirillo mich. Wie er dies wohl meinte?
„Du... Du verstehst das?“
Er runzelte die Stirn. „Selbstverständlich. Menschen betrügen einander andauernd.“
Seufzend rolle ich mit den Augen. „Du bist so ein Klischee. Nicht alle Menschen sind bösartig.“
Cirillo verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. „Sagtest du nicht eben, dass du dein Leben lang vorurteilbehaftet und unfair behandelt wurdest?“
Ja... Ich wich seinem intensiven Blick aus. „Aber ich habe auch sehr gute Menschen in mein Leben gelassen. Wie meinen Exfreund Adam und meine beste Freundin Jemma. Dann... Katya und Lucy... Selbst mit Olympia konnte ich mich anfreunden, was an einem Wunder grenzte... Und Lysander...“ Ich dachte ja nicht, dass ich das einmal sagen würde, doch ich vermisste dieses Ekelpaket wie wahnsinnig. Unsere Annäherung hatte erst begonnen... doch ich war überzeugt davon, dass wir allmählich Verständnis für einander entwickelt hatten.
„Genug jetzt davon.“ Unterbrach Cirillo meine Gedanken. „Jeder hat sein eigenes Laster zu tragen und ich für meinen Teil, finde Menschen fast genauso undankbar, wie Dämonen abartig sind.“ War ja zu erwarten, dass so etwas kommen musste. „Jetzt zu einem wichtigeren Thema. Als du aufgewacht bist, war ich aus einem bestimmten Grund nicht mehr da.“
Ich hob interessiert die Brauen. Dass mir Cirillo einmal etwas von sich aus erzählte, grenzte regelrecht an einem Wunder. „Ich habe den Rat deinen Fall vorgetragen und sie haben bestimmt, dass du unter bestimmten Voraussetzungen... unter meinen Anweisungen arbeiten darfst.“
Für einen Moment schien ich noch auf der Leitung zu stehen, denn seine Worte ergaben für mich absolut keinen Sinn. Doch dann leuchteten meine Augen regelrecht auf. „D-Du meinst... Ich muss nicht mehr in der Zelle schlafen und darf etwas anderes tun, als blöd in den Abgrund zu starren?“
Sichtlich genervt von meiner Euphorie nickte Cirillo schlicht.
Ich sprang vor Freude beinahe im Dreieck, doch beschränkte mich in Cirillo´s Nähe darauf, einen unterdrückten Jubelschrei auszustoßen und begeistert auf meinen nackten Fußsohlen auf und ab zu wippen.
„Außerdem wirst du im Tempel der Throne wohnen, damit ich dich im Auge behalten kann, selbst wenn du schläfst. In zwei Wochen, falls es dein Zustand zulässt, wirst du erneut gegen eine Kreatur antreten. Im Vollbegriff deiner Fähigkeiten.“
Schlagartig legte sich meine Begeisterung. Ich hatte ja gewusst, dass ich erneut in die Aren musste... Doch es nun in absehbarer Zeit zu erfahren... „Oh.“ Machte ich. „Moment, was meinst du damit, dass du mich auch beim Schlafen im Auge behalten wirst?“
„Wir teilen uns ein Wohnquartier, in dem du auch dein eigenes Bett bekommen wirst.“
„Ich will mir kein Zimmer mit dir teilen.“ Sagte ich gerade heraus. Und als Anschauungsprojekt dienen, noch weniger.
„Gut, dann verrotte bis in zwei Wochen, in deiner Zelle. Deine Entscheidung.“
Ich sah ihm deutlich an, dass es die ganz bestimmt nicht war! Aber was sollte ich sonst tun? Ich musste doch stärker werden. Mein Drang, nach Hause zurückzukehren, wurde immer stärker.

 

- - - - -

 

Meine Fingerspitzen strichen im Vorbeigehen, über die marmorierten, ebenmäßigen Wände. Die Farbe schwankte zwischen irgendetwas von Hellbraun, bis beige und wechselte sich in einem cremigen Farbenspiel miteinander ab. Ein wenig erinnerte es mich dabei an sahnigen Cappuccino, was mein Herz voll mit Heimweh füllte. Jemma hatte stets nach dem süßen Kaffeegetränk gerochen. Mittlerweile vermisste ich meine Freundin, welche ich nun bereits seit Monaten weder gesehen, noch gesprochen hatte, so sehnsüchtig, dass meine Brust beinahe platzte.
Meine Fußsohlen tapsten währenddessen unbeirrt vorwärts. Sie trugen mein unnatürliches Gewicht, mittlerweile mit einer Sicherheit, welche ich mir zu Beginn keinesfalls zugetraut hätte. Meine Rückenmuskulatur hatte sich an das ungewöhnliche Gewicht bereits gewöhnt, doch noch immer wollten sie meine Flügel nicht beständig erhoben halten.
Nicht, dass es mich großartig interessierte... Nur von Cirillo musste ich mir diesbezüglich am laufenden Band, dumme Kommentare oder Befehle anhören. Anscheinend war es geradezu frevelhaft, seine Flügelspitzen auf dem Boden schleifen zu lassen. Noch schlimmer war es geworden, seit ich hier in der Festung der Throne lebte. Hauste... Was war wohl der richtige Begriff dafür?
Ich besaß weder meine eigene Kleidung, noch durfte ich mich frei bewegen. Lediglich in den Momenten, in welchen Cirillo sich im Bad befand, oder früh eingeschlafen war, wie in diesem Moment, konnte ich einige Schritte in völliger Einsamkeit durch das weitläufige Gebäude machen.
Die Festung der Throne befand sich ein ganzes Stück entfernt von Alitia´s Haus und befand sich in die entgegengesetzte Himmelsrichtung von den Zellen aus gesehen. Welche Himmelsrichtung genau, konnte ich nicht beurteilen, dafür war ich hier oben in der Luft, einfach zu orientierungslos. In der Großstadt konnte ich mich zweifellos darauf verlassen, mich nicht zu verlaufen und den kürzesten Weg zu finden. Aber so? Woran sollte ich mich orientieren?
Schlussendlich verklangen meine Schritte und ich fand mich vor einem dunklen, seidenen Vorhang wieder. Mit dem Handrücken drücke ich ihn zur Seite und trete durch den vier Meter hohen Durchgang, hinaus ins Freie, auf die Terrasse.
Die kühle Nachtluft zerrte und riss an meinem dünnen Nachthemd, doch ich hatte natürlich vorgesorgt und meine Decke gleich mit genommen. Nun schlang ich sie enger um meinen Körper, was die Kühle der Nacht ein wenig ausschloss.
In meiner Zelle war es stets kalt gewesen. Nie hatte ich mich erwärmen können, doch hier im Freien zu stehen und von den mörderischen Winden attackiert zu werden, war noch einmal etwas ganz anderes.
Es war meine vierte Nacht hier in der Festung. Die Throne lebten anscheinend, als enge Gemeinschaft, wie Brüder, hier auf einer abgeschotteten Insel. Ihre Bewohner bestanden jedoch im Moment nicht aus mehr, als ein paar Dutzend, flauschiger, fliegender Schafe. Und Cirillo. Nun da ich auch da war, zählte man mich vielleicht ebenfalls mit, doch ich konnte das nicht. Ich fühlte mich nicht, wie eine Mitbewohnerin. Auch nicht wie ein Gast. Selbst ohne Ketten und Zellentüre, war ich noch immer eine Gefangene. Nur mit dem Unterschied, dass mir >erlaubt< worden war, stundenlang mit den fliegenden Flauschschafen zu kuscheln und eine endlose Reihe von diesen seltsamen süß, sauren Früchten zu ernten.
Oh, meine Ernährung hatte sich ebenfalls endlich geändert! Im Gegensatz zu den bedauerlichen Kreaturen in den Zellen, erhielt ich keine seltsamen Früchte mehr, sondern etwas, was meine Muskeln und den Körper aufbaut, behauptete zumindest Cirillo.
Wieso er mir das gab, anstatt mich einfach in der Arena sterben zu lassen, sagte er nicht. Überhaupt sprach er sehr wenig. Eigentlich sollte ich es ja gewohnt sein, doch da ich nun, im Gegensatz zu meiner Zelle, beinahe rund um die Uhr neben Cirillo her dackelte und alles tat, was er an Arbeit auftrug, bemerkte ich es umso mehr. Da war jemand... Ständig. Und doch fühlte ich mich einsamer den jäh.
Natürlich erwartete ich nicht von Cirillo, dass er ganz plötzlich mein bester Freund wurde und wir zusammen >abhingen<, insofern dieses Wort im Reich der Engel überhaupt existierte, doch ein wenig >Menschlichkeit<, trotz unserer offensichtlichen Unterschiede, konnte ich mir dennoch herbeisehnen. Oder sah ich das falsch?
Ein besonders starker Windzug riss mein Haar von einem Moment, auf den andern, in die gegensätzliche Richtung und peitschte sie mir dabei, durch die Augen. Fluchend, da ich einmal wieder mein Haarband vergessen hatte, ein Geschenk von Alitia, pustete ich es fort.
Eingewickelt in die wärmende Decke, gefüllt mit weichem Schafsfell, ließ ich mich neben dem Durchgang an der Wand entlang, nach unten sinken. Mein Blick war dabei gänzlich auf die große Weite vor mir gerichtet. Hier, weit abseits der Stadt der Wolken, fand man wesentlich weniger davon vor. Endlich konnte ich wieder die Sterne sehen und ihren Anblick einfach genießen.
Würde Cirillo mich so sehen, könnte ich mir bestimmt wieder etwas anhören, immerhin solle ich nicht seine Seite verlassen. Es war mir verboten worden, vom Rat, aber ich sah das alles viel lockerer. Wohin sollte ich schon gehen? Ich wüsste nicht, wo ich mich verstecken könnte, selbst wenn meine Flügel dazu fähig gewesen wären, mich zu tragen.
Unter der Decke schlang ich meine Flügel um meinen Körper und erschuf dadurch meinen herrlich, warmen Kokon. Fast schon frohlockte es mich, hier einfach an Ort und Stelle einzuschlafen. Mein Hintern schien sich bereits so an Stein gewöhnt zu haben, dass ich schläfrig wurde, sobald ich mich lediglich hinsetzte.
Dumm, nicht wahr? Ich war ja so dumm!
Es war nicht mehr, als das rauschen, der, sich im Wind bauschenden, Vorhänge. Eine einzige, winzige Veränderung ihres Klanges, doch ich nahm es trotzdem wahr. Er war einmal mehr, lautlos an mich herangetreten, doch das Geräusch, welches die Vorhänge an seinen Flügeln verursachten, konnte er nicht verschleiern.
„Ich weiß. Du musst schlafen.“ Nahm ich ihm die Worte aus dem Mund, welche ihm bestimmt längst auf der Zunge gelegen hatten.
„Es wäre mir eine Freude.“ Gab Cirillo, hörbar missbilligend zu.
„Engel, ich habe es dir schon oft genug gesagt... Schlaf einfach. Wo sollte ich denn überhaupt hin?“
„Du könntest wieder fallen, dieses Mal ohne, dass ich es mitbekomme.“
War ja klar gewesen, dass ich mir das noch einmal würde anhören dürfen! Ich öffnete meine Augen und schielte zornig zu ihm hinüber. „Und dann bekommst du ärger, vom Rat. Ich weiß, ich weiß. Gib mir noch ein paar Minuten.“
Morgen Früh würde Cirillo mich wieder in Herrgotts frühe aus dem Bett jagen, wie er es immer tat. Er war so... so konsequent und jede seiner Routinen war einfach einstudiert.
„Erzähl mir etwas.“ Bat ich da, um mich auf andere Gedanken zu bringen, während ich wieder die Augen schloss und einfach die kühle Abendluft, tief in meine Lungen aufnahm.
„Ich kann dir lediglich erzählen, dass du gefälligst ins Bett gehen sollst.“ Das war ebenfalls klar gewesen.
„Nein, etwas anderes. Etwas, worüber ich noch nichts weiß.“ Bat ich wieder und zwang mich zu einer ruhigeren Atmung. Wenn ich ins Bett ginge, dann möchte ich augenblicklich einschlafen können.
„Woher soll ich denn wissen, worüber du noch nichts weißt. Außerdem kann ich keine Geschichten erzählen. Ich bin ein...“
„Throne.“ Beendete ich seinen Satz und setzte mich wieder richtig auf. „Komm hierher.“ Ich rutschte ein Stück nach links und gab Cirillo damit einen Teil der Wand frei, an welche er sich mit dem Rücken lehnen konnte.
Jedoch anstatt sich zu setzen, trat der dumme Engel lediglich einen Schritt aus dem Türrahmen heraus.
„Jetzt mach schon. Setz dich einfach zu mir.“
Misstrauisch beäugte er mich, unter seinem dunklen, schwarzen Haar, hervor schielend. Im schwachen, weit, weit entfernten Mondlicht, falls das überhaupt ein Mond war, den ich dort oben am Himmel, silbrig scheinen sah, wirkten Cirillo´s Flügel sogar noch dunkler und furchterregender.
„Wieso?“
„Weil ich nicht hinein gehe, ehe du nicht neben mir Platz genommen hast.“ Mahnte ich.
Cirillo verschränkte abweisend die Arme vor dem blanken Brustkorb. Bisher hatte ich noch keinen einzigen, männlichen Engel, mit Kleidung am Oberkörper gesehen. Aber gut, sonderlich vielen war ich ja auch noch überhaupt nicht begegnet. „Ich könnte dich auch einfach am Bein schnappen und hinein zerren.“
„Und dann würdest du die ganze Nacht gegen mich ankämpfen müssen, weil ich mich weigern würde, dich schlafen zu lassen, nur weil du dir zu fein warst, dich einen Moment neben mich zu setzen.“
Cirillo grummelte. „Ich würde dich einfach bewusstlos schlagen.“ Das sagte er zwar hochnäsig, doch was er tat, war genau das Gegenteil. Er ließ sich neben mich auf den kalten Marmorboden sinken, oder aus welchem Stein es auch immer bestehen mochte und verschränkte die Beine vor seinem Körper, wie er es vor der Brust mit seinen Armen tat.
Schmunzelnd über den winzigen Sieg, zog ich die Decke von meinem Körper und breitete sie stattdessen, über uns beiden aus.
Verblüfft, als könne Cirillo nichts mit dieser Geste anfangen, besah er die Decke. „Was tust du da, Nephilim?“
„Ich decke dich zu, damit dir wegen dem Wind nicht so kalt wird.“ Erkläre ich sachlich, da die Decke ohnehin riesig war, sodass sie sogar über meine Flügel hinweg reichte. So wie Cirillo jedoch, mit verschränkten Beinen dasaß, berührte sein Knie meinen Schenkel, was mir als Wärmequelle diente.
Gut... Ich gab es ja zu, es war reiner Eigennutz gewesen, ihn neben mich zu zwingen. Cirillo´s Körpertemperatur war wesentlich höher, als meine, weshalb er mir ausgezeichnet, wie eine Wärmeflasche aushalf.
„Ich bin ein Engel!“ Erinnerte Cirillo mich. „Außerdem gebiete ich über das Element Wasser. Mir wird nicht so schnell >kalt<.“ das Wort klang aus seinem Moment, wie eine fremdländische Bezeichnung, welche er zum ersten Mal in seinem Leben ausgesprochen hatte.
„Okay, siehst du! Darüber könntest du mir schon einmal etwas erzählen. Einmal habe ich gesehen, wie du alleine mit deinen Armbewegungen das Wasser so geformt hast, dass es, um dich herum fließt und sich deinem Willen beugt. Wie machst du das?“
„Wasser ist eben mein Element.“ Murrte Cirillo, absolut nichtssagend!
„Toll ich kann die Luft ein und ausamten, aber das trotzdem nicht dasselbe, was du kannst. Erkläre es mir. Was für Elemente gibt es noch?“
„Die klassischen.“
„Also Wasser, Erde, Feuer und Luft?“
„Nein, Luft wird nicht manipuliert. Das ist etwas verbotenes.“
Na endlich einmal ein wenig Information. Da stocherte ich sofort nach. „Wieso ist es verboten?“
„Weil die Winde zu mächtig sind. Niemand kann sie beherrschen. Wir können uns lediglich von ihr tragen lassen oder auf ihnen reiten. Aber niemals in irgendeiner Weise manipulieren.“
„Verstehe. Wie habt ihr dann diese ganzen... Inseln zum Schweben gebracht?“
„Das war schon immer so.“
Ich stöhnte. Wenn Cirillo noch weniger Informationen ausspuckte, konnte ich auch gleich weiterhin mit der Wand reden! „Wenn ihr die Inseln nicht zum Schweben bringt, wieso sind sie dann hier oben? Also... Was genau hält sie hier?“
„Wieso schwimmen in deiner Welt Inseln?“
„Auftrieb?“ Riet ich, da ich mir bisher noch nie Gedanken darüber gemacht hatte.
„Unsinn, sie sind nichts weiter, als besonders große oder hohe Felsen, welche aus dem Wasser reichen. Sie sind stets mit dem Erdboden verbunden, selbst wenn dieser Kilometer unter dem Wasserspiegel liegt.“
„Aber eure schwebenden Inseln >hängen< nicht am Erdboden fest.“
„Trotzdem sind sie großteils mit dem Erdboden verbunden. Nur selten gibt es welche, die wirklich von einem Windwirbel herum getragen werden.“
Ich drehte mich herum, sodass ich zu Cirillo sah und rutschte dabei näher an ihn heran. Nun lagen meine beiden Beine an seinem Schenkel an und herrliche Wärme durchflutete meinen gesamten Körper. „Du weichst meiner Frage ganz bewusst aus, richtig?“ Es war lediglich ein Tipp ins Blaue...
„Natürlich. Selbst wenn ich es dir erkläre, du würdest es nicht verstehen. Es gibt eben Dinge in der Natur, die ihr Menschen einfach noch nicht ergründet habt.“
„Danke, so nett wurde ich noch nie >dumm< genannt. Aber gut, dann behalte es eben für dich. Was ist dann mit dem >Boden< was ist da unten?“
„Felsen. Die Wolkendecken sind viel zu dicht, um irgendetwas wachsen zu lassen. Deshalb besteht unsere Welt, teils aus Steinen, teil aus Wasser.“
Ich gab einen verstehenden Laut von mir. „Deshalb lebt ihr so hoch oben... Es liegt nicht bloß an euren Flügeln, oder weil ihr irgendetwas kompensieren wollt.“ Scherzte ich, doch zu meinem Glück verstand Cirillo die Anspielung nicht.
„Alles Leben findet hier oben statt. Menschen leben doch auch nicht ausschließlich unter der Erde. Wir sind dazu geboren, zu fliegen. Es ist unsere Natur hoch hinaus zu wollen.“
Deshalb also dieser übertriebene Ehrgeiz. Es war mir schon früher, bei Alitia aufgefallen, doch so richtig bewusst, ist es mir erst bei Cirillo´s Haus geworden. Dein Stand wurde hier besser, je mehr du verdienst und je höher du lebst. Sie steigen buchstäblich in Höhenmeter, zusammen mit dem sozialen Status und dem Vermögen auf. Das war doch krank...
„Also ich kann das nicht nachempfinden. Hätte ich ein Haus, wie deines... Eines, in dem ich das Bett selbstständig erreichen könnte!“ Fügte ich schmunzelnd an. „Dann denke ich, wäre ich schon überglücklich. Ich wollte eigentlich nie mehr... Nur ein sicheres, eigenes Zuhause, in der Nähe meiner Freunde.“
„Ein sicheres?“ Fragte Cirillo, zum ersten Mal interessiert an meinem Leben.
„Äh...“ Begann ich stockend. „Meine... Meine Mutter, litt unter einem Fluch. Früher dachte ich... Wir alle dachten, sie sei psychisch krank. Sie hatte so schübe, in denen sie Dinge sah, die nicht da gewesen sind. Aber sie waren da, das weiß ich nun. Nur konnten diese Dinge Menschen nicht verstehen. Ich konnte es auch nicht verstehen, denn ich wusste nicht, dass ich ein Nephilim bin. Nicht, bis vor wenigen Monaten. Meine Mutter verdiente nicht gut, weil sie ständig ihre Jobs während, oder aufgrund, ihren Psychosen verlor. Wir konnten uns nie viel leisten. Alles was ich zuhause habe, gehörte zuerst jemand anderen... A-Aber sie hat sich immer gut um mich gekümmert. Auf ihre Weise. Trotzdem, konnte sich meine Mom nur... eine kleine Wohnung in einem herunter gekommenen Teil der Stadt leisten. Dort waren drogenabhängige und Gangs unterwegs. Oft... sind sie bei uns eingebrochen. Ich musste ständig angst haben, wenn ich nach Hause ging, dass wieder einmal die Türe aufgebrochen war. Und nachts schlief ich schlecht, weil die Wände so dünn gewesen sind.“
Ich seufzte, da mir dies alles mit einem Mal, so weit entfernt, aus einem gänzlich anderen Leben, vorkam. Doch wie viele Monate waren vergangen? Bestimmt nicht mehr, als drei, seit meinem Abgang von der Schule.
„Unter welchem Fluch, litt deine Mutter denn?“ Fragte Cirillo halblaut, als ob er mich nicht aus meinen Erinnerungen reißen wollte.
„Das spielt keine Rolle mehr. Nicht der Fluch hat sie dahin gerafft, sondern ihre beste Freundin.“ Ich spie das Wort voller Hass aus. Wie konnte jemand, den man bereits seit einer solch langen Zeitspanne kannte, bloß dermaßen in den Rücken fallen?
„Ein Dämon?“
„Die Mutter eines anderen Nephilim.“ Korrigierte ich. „Aber ja... Für mich ist sie ein Dämon, dem ich bloß noch vor die Füße spucken möchte. Danach mich abwenden und nie wieder einen Gedanken an sie, oder ihren-...“ Betroffen wende ich das Gesicht den Sternen am Himmel zu. Wie, als würden die Wolken auf meinen Kummer reagieren, schob sich eine besonders große und dunkle in mein Sichtfeld und verhinderte, dass ich weiterhin die Sterne bewundern konnte.
„Handeln davon deine Albträume? Von diesem Nephilim, welcher an dem Tag, auf dem Gebäude, vor dir lag?“
„Lucy? Nein, sie war eine gute Freundin... Ist es hoffentlich noch... Ich wünschte, ich wüsste, wie es ihr geht. Jeden Tag frage ich mich, ob ich sie getötet habe, oder ob sie noch lebt. Und... Und falls sie es durch ein Wunder noch tut, wie ich mich je dafür...“
Tränen verhinderten, dass ich weiter sprechen konnte. Schniefend wischte ich mein Gesicht an der Decke ab und und holte tief Luft, ehe mich der Kummer wieder einmal übermannte. Vor Cirillo wollte ich wirklich nicht weinen! „Weißt du was, entschuldige, dass ich dich so lange wach halte. Lass uns schlafen gehen.“
Ohne ein Wort zu verlieren, folgte mir Cirillo, als ich auf die Beine sprang, die Decke um meinen Leib schlang und einfach hinein ging. Was er wohl über mich dachte?
Ich blendete diese Gedanken aus, denn es reichte mir, dass ich wusste, was ich selbst über mich dachte... Nicht bloß, dass ich schrecklich weinerlich war, nein, jetzt schüttete ich auch noch Cirillo meine gesamte Vergangenheit aus! Wie dumm war ich denn eigentlich? Hatte ich etwa bereits seit einer solch langen Zeit niemanden mehr richtig zum Reden gehabt, dass ich mich nun dem nächstbesten anvertraute?
Schaudernd zog ich die Decke enger. Vor allem Cirillo´s Teil war besonders warm, weshalb ich meine Finger an der Stelle vergrub. Ein wohliger Geruch durchdrang meine Nasenflügel und legte sich tief hinein, in meine Erinnerungen. Ja... Das war Cirillo´s Geruch. Mittlerweile rochen wir ziemlich ähnlich, da wir die Badezusätze teilten. Nur sein Eigengeruch... Dieses sanft, herbe... Es war etwas, dass ich lediglich selten aufschnappte. Nur dann, wenn wir wieder zusammen flogen.
Die Türe zu unserem gemeinsamen Schlafzimmer schwang ganz von selbst auf. Es war beinahe gespenstisch, wie die Türen stets wussten, für wen sie sich öffnen sollten und wann. Nur ein schwacher Leuchtkristall, auf Cirillo´s Seite des Zimmers, erhellte den Raum. Er tauchte diesen in einen, etwas bedrückenden, blauen Schein, welcher mir noch immer nicht behagte.
Eingerollt, wie eine Raupe, ließ ich mich auf das federweiche Bett fallen, in welches ich geradezu hinein versank und robbte mich ein eine bequeme Schlafposition.
Wie lange ich wachlag, wusste ich nicht. Mein Zeitgefühl war mir vollkommen abhandengekommen, doch Cirillo´s Atem wurde beinahe augenblicklich ruhig und gleichmäßig.
So einen Schlaf hätte ich nur zu gerne.
Schlussendlich überwog jedoch auch meine Müdigkeit irgendwann. Meine Augen fielen langsam zu, während mein Blick auf Cirillo´s Schatten im anderen Bett, fünf Meter entfernt, gerichtet war.
Feuer...
Blut...
Tod...
Wovon ich träumte, wusste ich am nächsten Morgen nicht mehr, doch das getrocknete Blut, über Cirillo´s linker Braue, sagte mir, dass ich schon wieder etwas angestellt hatte.
Was habe ich schon wieder getan? Wieso musste ich dabei ständig Cirillo verletzten? Und die wichtigste Frage... Wurden meine Albträume etwa schlimmer?
„Nicht schon wieder...“ Seufzend trat ich an Cirillo´s Bett heran. Er saß am Bettrand und hatte sich eben erst genüsslich gestreckt, da war mir der bereits verheilte Kratzer aufgefallen.
Kopfschüttelnd ging ich vor ihm in die Hocke und stützte mich an seinem Knie ab. „Engel...“ Sagte ich tadelnd. „Du solltest mir endlich ein eigenes Zimmer zugestehen, dann kann ich dich auch nicht mehr verletzen.“ Seltsamerweise fühlte ich mich nicht bloß schuldig, nein, schlimmer noch... Ich mir durchfuhr nun zum vierten Mal ein stechender Schmerz in der Brust, weil ich sah, dass ich ihn verletzt hatte.
Zart rieb ich an der Kruste, doch wie geahnt, war da nichts mehr, als eine hellrosa Stelle. Die Wunde hatte sich geschlossen und in wenigen Stunde würde man auch diesen Makel nicht mehr erkennen können. Ich entfernte den Fleck vollständig, dann erwiderte ich Cirillo´s forschenden Blick mit gerunzelter Stirn.
„Ich habe die Order, dass du an meiner Seite bleibst unter höchster Beobachtungsstufe. Ich kann dir kein eigenes Zimmer zuteilen.“
„Dann... Schaff zumindest... Irgendetwas zwischen uns. Einen Wall, oder so etwas. Vielleicht einen Wasserfall, der mich weckt, sobald ich hindurch marschiere und über dich herfallen will!“ Schlug ich vor.
Nun war es Cirillo, welcher seine perfekte Stirn runzelte. „Du denkst... dass du mich angreifst, während deiner Albträume?“
Ich deute auf die neuste Wunde. „Ist es etwa nicht so?“
„Nein.“ Meine Cirillo, zu meiner großen Verblüffung völlig ruhig und nahm auch noch meine halb erhobene Hand zwischen seine. „Es stimmt, ja du hast Albträume nachts. Du schreist, weinst und fürchtest dich. Deshalb versuche ich auch, dich stets zu wecken.“
Mein Blick gleitet verlegen auf Cirillo´s Hände, welche die meine eingeschlossen hatten, während ich mich mit der linken, noch an seinem Knie abstützte. „Das heißt, wenn du versuchst mich zu wecken, dann greife ich dich erst an?“
Er nickt zustimmend, als ich wieder aufsehe.
„Wieso lässt du mich denn dann nicht einfach weiter schlafen? Ich hatte diese Albträume auch schon in der Zelle und habe es überlebt.“
Cirillo antwortete nicht darauf, stattdessen wirkten seine matten Lippen, mit einem Mal richtig blass. Fragend lege ich den Kopf schief. „Was sagst du mir nicht? Ich kann es verkraften, ehrlich. Bin ich... Bin ich hysterisch oder... oder schreie ich wie am Spieß?“
Für einen Moment entspannen sich Cirillo´s Lippen, was mich seltsam erleichterte. Nun sahen sie nicht mehr so gepresst und hart aus, sondern... weich und...
Hastig wende ich den Blick ab, im selben Moment, in welchem Cirillo sich erhebt und ich gezwungenermaßen zur Seite weichen musste. „Nichts davon. Du bist einfach unruhig, wenn du einen Albtraum hast, und das stört meinen Schlaf. Deshalb hole ich dich heraus, damit ich schnell weiter schlafen kann.“
Erleichtert stoße ich die angehaltene Luft aus. Wann hatte ich denn aufgehört zu atmen? „Das macht Sinn... Tut mir leid, dass ich dir so zur Last falle.“
„Schon gut. Jetzt geh duschen, ich bereite das Frühstück vor.“
Was? Beinahe hätte ich Cirillo gefragt, weshalb ich alleine duschen soll, doch verkniff mir diese absolut dämliche Frage, denn sie erfreute mich unbeschreiblich. Bisher durfte ich nur duschen, wenn sich Cirillo im Raum befand, natürlich mit dem Rücken zu mir! Zum Glück gab es aber Duschkabinen, mit wasserabweisenden Vorhängen.
Ich kramte in der silbernen Kiste, welche sich am Fußende meines Bettes befand, nach frischer Kleidung, die nicht vollkommen durchgeschwitzt war. Nun hatte ich einmal mehr, die Qual der Wahl... Kurze Ärmel mit langen Hosenbeinen, oder lange Ärmeln, mit kurzen Hosenbeinen? Jedes davon, zog man von unten über den Körper, am Rücken besaßen sie einen tiefen Ausschnitt und wurde im Nacken entweder durch ein Band, oder einen Klipp gehalten.
Sobald ich mich, heute zumindest, für etwas kurzärmeliges entschieden hatte, machte ich mich auf den Weg, den endlos langen Flur hinab, bis zur Gemeinschaftsküche. Sie war riesengroß und schloss direkt an einen Essenssaal an.
Dort aßen Cirillo und ich nie, da ich es fürchterlich deprimierend fand. Früher einmal mussten hier gut eintausend Throne platz gefunden haben, miteinader gescherzt und gestritten. Sich von ihren Wunden erholt und die Tagesplanung durchgesprochen haben.
Vor sehr langer Zeit musste es hier einmal ausgesprochen lebhaft gewesen sein...
Ich hatte Cirillo gefragt, wie viele Throne denn normalerweise hier lebten. Er hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass es eine Menge gewesen seien.
Wieso er nun alleine war... wagte ich nicht, zu fragen.
Statt in die Küche, bog ich zum Gemeinschaftsbad dieses Flügels ab und wurde vom steten Rauschen des schmalen Wasserfalls begrüßt. Mittlerweile kannte Cirillo meine Vorliebe, was die Wassertemperatur anging und solange ich ihn nicht ärgerte, verstellte er die Temperatur auch nicht um mich zu bestrafen!
„Fünf Minuten.“ Kam es vom EIngang, was bedeutete, er wollte mir schon wieder Stress machen. Wie immer!
„Ja, ja. Gleich.“ Entgegne ich und schäume mich mit der wohltuenden, sich sofort im Wasser auflösenden, Seife ein. Mein Haar ließ ich nach oben gebunden, da ich es erst gestern gewaschen hatte.
Nachdem ich fertig war, warf ich das nasse Handtuch in den Wäscheschacht. Später am Abend, würde ich die Wäsche waschen und Cirillo sie schnell trocknen, damit ich sie wegräumen konnte.
„Du hast lange gebraucht.“ Klagte Cirillo, woraufhin mir auffiel, dass er heute gesprächiger war, als die vergangen Tage zuvor. Außerdem bewegte er sein rechtes Knie nervös.
Zwar hatte Cirillo gegenüber von sich, auf dem hageren Tisch in der Küche gedeckt, doch ich nahm stattdessen neben ihm platz und zog mir die Schüssel, samt Untersetzer, herüber.
Für einen Moment beäugte er mich misstrauisch, doch diesen Blick konnte ich bloß zu gerne zurück geben. Cirillo verhielt sich eigenartig und das machte zeitgleich mich ebenso nervös.
Stumm stocherte ich mit der goldenen Gabel in der schneeweißen Schüssel herum. Sie besaß lediglich zwei Zinken und war viel schmaler, als die auf der Erde. Löffel waren ebenfalls viel gebogener, aus einem elfenbeinfarbenen Material, genauso wie das restlichen Besteck. Die Griffe waren entweder mit Federn oder irgendwelchen Runen verziert. Was sie bedeuteten, verriet Cirillo mir natürlich einmal mehr nicht.
In der Schüssel selbst, stapelte sich buntes Obst oder aber auch Gemüse? Ich konnte es nicht richtig definieren. Selbst die Früchte, welche mich an irgendetwas von der Erde erinnerten, waren entweder von der Farbe oder aber auch von der Konsistenz ganz anders, als ihre Fetter. Das verwirrte mich mehr als einmal, doch im Grunde schmeckte mir alles, was Cirillo mir vorsetzte. Ob es Talent war, oder ob jeder Engel so lecker kochte, wusste ich nicht. Jedenfalls zum Seufzen konnte ich bei keiner Mahlzeit aufhören! Dafür war es einfach viel, viel zu schmackhaft! Sogar das Brot. Die Semmeln? Ach, was wusste ich schon. Es war von einer gelblichen Farbe und war oben eingeschnitten, damit es besser auseinanderreißen konnte. Es war saftig, wurde stets warm serviert, mit harter Kruste und süßem Innenleben. Hin und wieder mischte Cirillo Fruchtstücke hinein. Ich fand es zwar zu süßlich, aber verschmähen würde ich es dennoch nicht.
„I-Ich...“ Dass Cirillo plötzlich das Wort an mich richtete, ließ mich erschrocken zusammen fahren. Ich war zu vertieft in das leckere Frühstück gewesen. „Du weißt schon... Alitia hat dir doch bereits ein wenig über Engel und... Kinder erzählt, richtig?“
Hellhörig drehte ich mich ihm ein wenig zu und nicke. „Ja, sie erzählte mir von der Krippe und wie sie abgeschoben wurde nur wegen ihrer Hautfarbe.“ Ich wollte ja nicht herablassend klingen, doch diese Art der Engel, machte mich, einfach stink wütend! Das war nicht fair dem Kind gegenüber!
„Genau. Also...“ Stammelte der sonst so wortkarge oder gar stumme Engel weiter. „...Engel bekommen im Durchschnitt nicht mehr, als ein Kind. Männliche Engel hingegen... müssen mindestens zwei Nachkommen zeugen, um... um den Artbestand aufrecht zu halten.“
Da dieses Thema für mich absolut aus dem Nichts kam, runzelte ich lediglich verwirrt die Stirn. Worauf wollte Cirillo damit hinaus? Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich! „Verstehe ich.“ Sagte ich daher vorsichtig. Nicht dass ich ihn gleich wieder kränke, oder gar ärgere und dann überhaupt nichts mehr von meinem Engel erfuhr.
„Mein Vater hat aber fünf Kinder gezeugt.“
„Ist das verboten?“ Frage ich, aufrichtig interessiert.
„Es ist ungewöhnlich, ja. Aber nicht verboten, nein.“
Ja? Nein? Cirillo verwirrte mich. Wohin würde dieses Gespräch nur führen?
„Ich bin das jüngste, von fünf Kindern.“
„Hattet ihr dieselbe Mutter?“
Er lachte humorlos auf. „Nein! Natürlich nicht. Wir binden uns doch nicht auf solche Weise an eine einzige Person.“
„Oh.“ Sagte ich lediglich und fühlte, wie mir der Appetit verging. Natürlich taten dies Engel nicht, was hatte ich mir nur gedacht? Dafür waren sie einfach zu eitel und schafften es nicht über den eigenen Horizont hinaus zu sehen. Eitle Kotzbrocken!
„Trotzdem zählt man die Kinder eher am Vater, als der Mutter, vor allem... wenn der Vater ein Erzengel gewesen ist.“
Mir fiel die Gabel, vor Schreck, aus der Hand. „Ei-Ein Erzengel?“ Wiederhole ich ungläubig.
„Throne werden eigentlich, im Normalfall lediglich in Throne, Familien hinein geboren. Doch keiner meiner Eltern wies einen Verwandtschaftsgrad zu einem auf. Deshalb musste ich ein sehr strenges Training nachholen. Es ist... selten, aber kommt eben vor.“
„Als Throne bist du doch... unglaublich stark und geschickt. Außerdem genießt ihr doch ein gewisses Ansehen, oder nicht? Ich bezweifle, dass gewöhnlichen Engeln, ein solches Grundstück zur Verfügung gestellt wird, wie dieses hier.“
Cirillo´s Blick zuckte für einen Moment zu mir. Er war nicht zu deuten, doch seine Iriden wirkten einen Hauch dunkler, als gewöhnlich.
„Nicht, wenn du einen Erzengel, als Vater hattest. Dann erwartet man von dir eine steile Karriere und dass du wichtige Aufgaben im Familiengeschäft übernimmst.“
„Hattest?“ Mir war die Vergangenheitsform keinesfalls entfallen. Er war also bereits tot!
„Er... starb vor einigen Jahren, doch obwohl es eigentlich logisch gewesen wäre, hat keiner von uns, seinen Platz eingenommen. Also...“ Er stammelte erneut. „Ich natürlich nicht, ich habe meine Bestimmung erhalten, doch meine Geschwister hätten theoretisch den Platz einnehmen müssen.“
„Ist der Titel Erzengel also erblich?“
Cirillo runzelte die Stirn und sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun. „Nein! Ein Erzengel zu sein, bedeutet, eine ungeheure Kraft von den Ahnen geschenkt zu bekommen!“ Erklärte er. „Es ist pure Macht, die in dich strömt, viel mehr, als dein Körper eigentlich ertragen könnte, reine... Energie.“ Beendete er seinen Lobschwall. „Mein ältester Bruder war ein perfekter Kandidat. Gefasst, gerecht, mächtig und angesehen. Er ist der beste und mächtigste Kämpfer und es ist eine Familientradition von uns, dass stets der erstgeborene Sohn das Erbe weiter trägt.“
„Aboran.“ Wiederholte ich den Namen, welcher mir sofort durch den Kopf schoss.
„Genau.“ Bestätigte Cirillo.
„Wieso ist er dann nicht der neue Erzengel eurer Familie geworden?“
„Das weiß man nicht. Überhaupt... Es scheint, als stimme etwas nicht. Das Gleichgewicht im Engelsrat ist gestört und...“ Cirillo unterbrach sich und atmete tief durch. „Also, worauf ich hinaus wollte, ist dass ich dein Leid nachempfinden kann. Ich war... eine sehr lange Zeit wütend auf meinen Vater. Doch seine Existenz endete, da war ich lediglich ein paar Jahre erst hier gewesen, in der Thronefestung.“
„Wieso warst du denn wütend auf ihn?“ Fragte ich interessiert nach.
„Aufgrund von vielem. Ich gab ihm die Schuld, für meine eigene Existenz. Wäre er nicht so besessen davon gewesen, etwas ändern zu wollen und... Mein Vater hat einfach viele Fehler gemacht. Das fiel natürlich auch auf uns Kinder zurück. Besonders auf mich...“
Sein Blick war steinhart und schien die Küche regelrecht auseinandernehmen zu wollen. Selbst wenn er den Verlust seines Vaters verwunden hatte und ihm vielleicht verziehen, so war dennoch, die Frustration und die Wut noch immer beständig. Ich sah es ganz deutlich in seinen Augen, spürte sie in Wellen von Cirillo aus gehen...
Ich bemerkte nicht einmal, wie sich meine Hand bewegte, sondern überraschte mich selbst, als sie plötzlich ganz heiß wurde.
Cirillo versteifte sich, als er meine kühle Hand auf seiner bemerkte, es war wie ein Stromschlag, welcher durch seinen Körper hindurch lief und an dem Holz unter seinen Fußsohlen erdete. Für einen langen Moment, in welchem ich geradezu erwartete, dass Cirillo seine Hand wegreißen würde und sich vor meiner Berührung ekeln, starrte er meine viel kleinen Finger einfach an.
Auch ich war fasziniert von dem Unterschied, welcher zwischen uns lag. Cirillo´s Hand, war eine typische Männerhand. Sein Arm war zwar nicht übermäßig behaart, doch viel Stärker und muskulöser. Seine Fingernägel flacher und kurz gehalten, während meine abgerundeter waren und ein wenig eingerissen waren, da ich sie hier schlecht pflegen konnte. Generell hatte ich nie großartig Pflege in sie investiert, doch nun da ich bemerkte, dass sogar Cirillo´s Arbeiterhände viel perfekter und makelloser wirkten, als meine eigene, schämte ich mich sogar ein wenig dafür, sie dermaßen vernachlässigt zu haben.
Sämtliches Grübeln verschwand jedoch in dem Moment aus meinem Kopf, als Cirillo etwas absolut Ungewöhnliches tat... Er hob seinen Daumen und fuhr zögerlich über meine rosa Nägel hinweg. Es war nicht mehr als der Hauch einer Berührung, doch es reichte aus, um meine gesamte Hand zum Glühen zu bringen.
Mit großen Augen starrte ich auf dieses absolut einzigartige >Naturphänomen< und versuchte zu verstehen, was da gerade geschah. Nahm... Nahm Cirillo etwa meinen Trost an? Ja? Konnte das wahr sein, oder träumte ich etwa noch?
„Da-Dan-Danke, dass du... mir... mir das erzählt hast.“ Waren das etwa meine Worte? Hatte sich mein Mund von selbst bewegt? Ich hatte das Gefühl, überhaupt keine Kontrolle mehr, über meinen eigenen Körper zu haben. Wie eine Fremde, in einem fremden Körper, sah ich dabei zu, wie ich seinen Handrücken sanft drückte und Cirillo... Cirillo erwiderte es! „U-Und ich bin wirklich froh, dass du existierst.“ Cirillo´s Blick schnappte, so scharf, wie ein Biss über meine linke Profilhälfte hinweg, als er mich dieses Mal, viel eindringlicher musterte. „Ich meine das ernst.“ Hing ich noch an, als sein Blick einfach nicht von mir weichen wollte und sich diese eine Minute ausdehnte, als seien es unerträgliche Stunden.
„Wäre ich nicht, hätte ich dich niemals gefangen genommen, hätte dich nie in diese Welt gebracht und du müsstest nicht unter unseren Regeln leiden.“
Ich bemerkte überhaupt nicht, wie sich meine Hand über der von Cirillo versteifte und meine andere die aufgehobene Gabel, geradezu erwürgte, während ich mit den Tränen kämpfte.
Was wäre wohl geschehen, wäre Cirillo nicht auf diesem Dach erschienen? Wenn er mich nicht weggeholt hätte aus dieser Welt? Was, wenn ich noch immer vor Lucy knie. Mein Schwert getränkt von ihrem Blut.
Hätte ich auf ihre Beerdigung gekonnt? Falls sie überlebt hätte, hätte sie mir jäh verziehen? Und Calyle...
Ich fühlte, wie Cirillo seine freie Hand über die meine legte, erst da begriff ich, dass ich richtig fest zugedrückt hatte!
Nein! Ich könnte Calyle´s Nähe unter keinen Umständen mehr ertragen. Selbst wenn er ganz plötzlich hier schriene... Wenn er einfach durch diese Türe trat, mir sagte, dass er mich liebte und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ich ihm eines Tages verzieh... Nicht einmal in einer Millionen Jahren, wollte ich ihm und Marie verziehen!
Mein Blick begegnete Cirillo´s verschwommenem Gesicht. Erst da bemerkte ich meine hochgestiegenen Tränen. Trotzdem lächelte ich. „Du bist meine Rettung gewesen, Cirillo. Auch wenn du echt arschig sein kannst... Hättest du mich nicht von dort weggeholt, wäre ich einfach zerbrochen.“ Ich blinzelte die Tränen fort und betrachtete einmal mehr sein markantes, doch mir bereits so vertrautes Gesicht. „Nein, im ernst.“ Wiederhole ich. „Ich bin froh, dass du existierst und das Schicksal dich zu mir geführt hat. Es tut zwar beschissen weh, doch dank dir, habe ich zumindest noch so eine Art Leben. Und... Und Arbeit.“
Ich sog stotternd die Luft ein, ehe ich Cirillo meine Hand entzog und verlegen auf die Beine sprang. Was rede ich denn da, zur Hölle noch eins? „Wir haben noch einiges an Arbeit vor uns, oder nicht, Chef?“ Witzle ich, schnappe mir mein Frühstück und stelle alles, unangerührt auf die Arbeitsfläche, wo es Cirillo später am Abend spülen würde, da ja auch dies nicht ohne seine Mächte funktionierte.
„Natürlich.“ Entgegnete Cirillo, kühl wie eh und je.
Auch er räumte sein Frühstück ab, dann lief ich hinter ihm her, hinab in den Garten. Meine Aufgabe war, mindestens so ansträngend, wie Cirillo´s, bloß dass er einfach mehr Kraft besaß, als ich es tat.
Ich konnte es zwar noch immer nicht so ganz glauben, doch mittlerweile durfte ich sogar schon alleine arbeiten! Es war aber auch wirklich die einzige freie Zeit, die ich im allgemeinen hatte und selbst währenddessen saß ich auf einigen Hektar fest!
„Ich hole dich zum Mittagessen ab.“ Sagte Cirillo lediglich, ehe er das Kraftfeld, welches die Felder umschloss, hinter meinem Rücken wieder hinab sinken ließ und mich damit einschloss.
„Bis später.“ Gab ich zurück, ohne mich umzudrehen und lief geradezu gehetzt, auf den Schuppen zu. Cirillo´s Art vorhin, hatte mich gehörig aus der Fassung gebracht. Hatte er nicht erst noch vor wenigen Tagen, unmittelbar, ehe Alitia aufgetaucht war, meine Hand weggeschlagen? Davor hatte er mich im Arm getragen. Wieder davor hatte er mich als Vieh bezeichnet...
Ehrlich, aus Cirillo wurde man beim besten Willen einfach nicht schlau!
Mit ein wenig mehr Schwung, als unbedingt notwendig, entriegelte ich die Türe zu den Stallungen und riss die eine Türhälfte kräftig auf. Dabei knallte sie gegen die Rückseite des Stalles und entlockte den Schafen ein nervöses fiepsen.
„Schon gut!“ Sprach ich, mit ruhiger Stimme auf sie ein. „Kommt raus.“
Nach und nach, löste sich ein Schatten, aus dem vollkommen abgedunkelten Saal. Es waren Wesen, kaum größer als zwei meiner Handflächen und die Wesen schwebten auch noch, ähnlich wie eine Fliege, in einem unruhigen Taumelflug. Nur wenn sie sich auf den Boden befanden, oder auf etwas saßen, bewegten sie sich zielsicher. Dadurch jedoch, dass ihre Flügel völlig unterschiedlich geformt waren, von Oval, bis rundlich oder auch spitz, schimmerten in den unterschiedlichsten Regenbogenfarben und waren so flauschig, wie Wattebäusche! Ich liebte diese Dinger einfach!
Ein paar hunderttausend von ihnen, schwebten in diesem Taumelflug aus ihrem übernachtungsquartiert, wo sie sicher sein sollten, vor Fressfeinden, wenngleich ich nicht verstehen konnte, wie diese Winzlinge irgendeine Kreatur satt machen sollten.
„Na los. Keine falsche Scheu!“ Beschwor ich die entzückenden Dinger, welche im gebürtigen Abstand zu mir, auf die große, freie Fläche zu flogen. Nachdem ich mich versichert hatte, dass auch wirklich die gesamte Herde ihren Weg nach draußen gefunden hatte, ging ich um den Stall herum, schnappte mir einen Besen und machte mich an die mühselige Arbeit, welche Cirillo in wenigen Minuten mit seiner Gabe erledigt hätte. So dauerte es eben beinahe zwei Stunden, bis ich sämtliche Sitzstangen geputzt, alle Nester überprüft und natürlich den Boden gekehrt hatte.
Danach machte ich mich auf den Weg, auf die ebene Fläche, auf welcher gut hunderttausend Büsche standen. Nun ja, gut. Es waren bestimmt nicht so viele, doch es war ein ganzes Feld, welches ähnlich angelegt war, wie die von Weinstöcken. In peinlich perfekten Abständen, standen sie hintereinander gereiht und nebeneinander. Ich sammelte von ihnen die seltsam süß, sauren Früchte. Cirillo wollte nicht mehr als dreihundert Stück davon. Diese verteilte ich auf mehrere Körbe, in welche ich stets exakt dieselbe Anzahl hinein legte. Dabei durften die Früchte weder Matschig, noch überreif sein, dies verriet mir nämlich die Schale von ausen. War sie gelb, war ihr alter perfekt. Wurde sie jedoch allmählich rötlich, konnte das innere ganz schnell bitter und ungenießbar werden. Eben diese, dienten damit als Futter für diese kleinen flauschigen Wonnebrocken. Ein paar ganz wenige waren zutraulich genug, sodass ich mich mit ihnen, während meine Pausen beschäftigen konnte, sie streichelte und aus der Hand fütterte. Sie besaßen superniedliche kleine Schnäbel, welche zwar weich waren, doch dafür scharfe Kanten besaßen.
Niedliche kleine Dinger, welche man unter keinen Umständen ärgern durften, da ihre Bisse schon mal überaus übel ausfallen konnten.
„Haylee!“
Ich blickte auf, wischte mir den Schweiß von der Stirn und stöhnte genervt, da ich es wieder nicht geschafft hatte, sämtliche Obstkörbe rechtzeitig in der Transportkiste zu verstauen, ehe Cirillo zurückkam.
Ich winkte ihm für einen Moment zu, damit er wusste, ich hatte ihn gesehen, doch seine eindringliche Geste mit der Hand, deutete mir, das ich mich gefälligst beeilen sollte und sofort zu ihm kommen.
Ich eilte zu ihm hin, als mir auch bereits wieder diese seltsame Nähe von heute Morgen in die Sinne kam! Wieso dachte ich denn überhaupt noch daran?
„Komm mit, du musst mir mit den Nephilim helfen.“
Cirillo entließ mich aus dem >Gefängnis< und schloss es hinter mir sofort wieder.
„Wieso? Was ist denn passiert?“ Frage ich interessiert.
„Einer hat es nicht geschafft, während ich es entsorge, musst du den Käfig reinigen. Das wird den ganzen Nachmittag dauern.“
„Also kein Mittagessen?“ Frage ich enttäuscht, wenngleich meine Gedanken bei diesem Nephilim lagen. Was war er wohl für ein Mensch gewesen, ehe er dermaßen mutierte? Konnte man bei den verfluchten Nephilim auch von guten und bösen unter ihnen sprechen? Oder musste man sie alle zusammen in eine Schublade stecken? Letzteres fände ich besonders bedauerlich, da auch in ihnen etwas Menschliches schlummerte.
„Tut mir leid, es wäre besser gewesen, du hättest zuende gefrühstückt.“
Ich erwähnte nicht, dass ich mir dafür drei der süßen Früchte gestohlen hatte, denn mein Magen rebellierte bereits jetzt über die ungewöhnlich hohe Zufuhr an >Süßigkeiten<. In Zukunft würde ich es vermeiden, so viele davon zu essen.
„Das passt schon. Ich bin froh, dass du zumindest einmal in meinem Leben eine richtige Unterhaltung mit mir geführt hast. Wer weiß, wann das je wieder vorkommt.“ Witzelte ich, doch das entlockte Cirillo, wie üblich kein Lächeln.
„Ich habe lediglich versucht... wie nanntet ihr es? Einfühlsam zu sein?“
„Du hast dich mir anvertraut. Das ist schon beinahe die nächste Stufe, nach einfühlsam sein!“ Lobte ich schäkernd.
„Du meinst, es war unpassend, dir diese Sachen zu erzählen?“ Fragte er plötzlich verwirrt.
„Was? Nein! So meinte ich das nicht. Ähm... Zum Beispiel, wenn du mich tröstest, dann bist du einfühlsam. Aber du hast mir etwas aus deiner Kindheit erzählt, etwas, worüber du vielleicht sogar nicht so gerne sprichst. Das ist >sich anvertrauen<. Und das schätze ich sehr.“
Cirillo hielt vor der Klippe und wandte sich zu mir um. „Aber es ist nicht wirklich ein Geheimnis.“
Ich hielt neben ihm und faltete meine Flügel aus. „Trotzdem ist es nichts, über das du mit jedem Engel reden würdest, wie über deine Nephilim oder das Wetter.“
Für einen Moment runzelte Cirillo die Stirn, ehe er wieder antwortete. „Der Vergleich passt nicht wirklich... Doch ich verstehe, was du damit sagen möchtest.“ Tief durchatmende deutete Cirillo auf den Abgrund. „Willst du springen, oder soll ich dich wieder schubsen?“
Wäre schubsen wirklich so schlimm? „Kannst du mich nicht einfach tragen?“ Flehte ich, doch kannte die Antwort bereits. Natürlich tat er das nicht.
„Gut.“
„Gut?“ Wiederhole ich erschrocken. Einfach so?
„Ja.“ Kommt es erneut von Cirillo, woraufhin ich die Welt noch weniger verstand. Erst als ich seine Hand an meiner Taille spüre und die gewohnt Wärme wieder über meine kühle Haut gleitet, komme ich zu mir.
„Wa-Warte, du willst mich wieder tragen?“
Cirillo deutete in die Richtung, in welcher die Zellen lagen. „Es ist ja nicht weit.“
Kurzerhand lag ich in Cirillo´s Armen und wir fielen einfach so, den Abgrund hinunter.
Ach du scheiße! Heute stimmte etwas absolut nicht mit Cirillo!

XXVII - Der letzte Kampf

 Nicht, wie gewöhnlich, landete Cirillo am Höhleneingang, welcher eigentlich nicht mehr war, als eine Klippe, die in den sicheren Tod führte, sondern auf der großen Fläche, vor der Arena, zwischen einem hügeligen Tal, aus welchem ein Wasserfall einen überschaubaren See geformt hatte.

Hier hatte Cirillo mich das letzte und einzige Mal gebadet! Himmel, wenn ich nur daran dachte, wollte ich sofort im Erdboden versinken, oder Cirillo dafür eine ordentliche Kopfnuss verpassen.
Leider würde aller höchstens Ersteres passieren, wenn man mein Glück der letzten Monate bedachte.
Zu meinem großen Bedauern wurde es ab diesem Moment, bloß immer schlimmer!
„Tut mir leid, Haylee.“
Ich war eben dabei gewesen, meine verrutschte Kleidung, zu richten, als ich Cirillo´s seltsam reuigen Gesichtsausdruck begegnete.
„Wieso denn?“ Frage ich noch, als mir bewusst wird, dass schon wieder irgendetwas mit mir passieren wird. „Cirillo, was ist hier los?“ Es gab ja anscheinend keinen toten Nephilim, welcher beseitigt werden musste.
„Bevor du dich wieder aufregst, ich habe das getan, um dich zu schützen.“
„Schützen? Vor was denn?“ Meine Stimme klang immer schriller, während ich vor Cirillo zurückwich.
Sein Blick wurde noch trauriger. „Der Rat hat nicht entschieden, dich erst in zwei Wochen zu testen und wieder antreten zu lassen.“
Mein Blick zuckte nervös zu dem seichten See. „Nein.“ Stoße ich mit klopfenden Herzen hervor. Nicht schon wieder! Er würde mich wieder waschen, als sei ich irgend so eine niedere Kreatur, welche nicht einmal für ihre eigene Hygiene sorgen konnte. „Nein, ich will das nicht wieder!“ Nie wieder!
„Schon gut, hör mir erst mal zu.“ Bat Cirillo und kam wieder ein paar Schritte näher, während ich rückwärts davon taumelte und meine Arme um mich schlang. „Haylee... Haylee, es wird sein, wie wenn wir im selben Raum duschen.“
Schlagartig verharrte ich. Was sagte er da?
„Ich werde mit dir im See stehen, gut? Aber du wäscht dich selbst.“
Ich seufzte vor Erleichterung. „Wirklich?“
Er nickt. „Das schwöre ich dir. Ich werde dich nicht wieder dazu zwingen, oder dich bewusstlos schlagen, wenn du mir schwörst, dass du es ordentlich machst.“
Hastig nicke ich und wische eine einzelne Träne fort. Cirillo würde mich nicht... „Warte... Diese blöde Waschaktion jetzt mal beiseite, wieso hast du mich angelogen? Wieso hast du mir gesagt, dass es noch über eine Woche bis dorthin ist?“
Cirillo´s Gesichtsausdruck wurde allmählich wieder strenger. „Damit du dich nicht stresst. Ich... wollte, dass du noch ein paar... ruhige Tage hast.“
Ruhig? Von wegen ruhig, Cirillo hatte mich von einer Arbeit zur nächsten gescheucht und mir ständig gepredigt, dass ich nichts ordentlich mache! Andererseits... Cirillo hätte mich auch nicht bekochen müssen, meine Neckerein ertragen und mich aus meinen Albträumen wecken.
Ich biss mir auf die Unterlippe und wandte ihm den Rücken zu. Mein Blick fiel über das sanfte Tal, die üppig silbrige Wiese, so wie den grünlichen See. Cirillo hatte recht. Mit diesen wenigen Tagen in der Festung hatte er mir einen Hauch von Freiheit geschenkt, von dem ich nicht gedacht hatte, ihn hier bei den Engeln bekommen zu dürfen.
Es war die erste und einzige Zeit gewesen, in welcher ich lediglich wenig, bis selten an mein altes Leben zurückgedacht hatte.
„Haylee?“ Cirillo war einmal mehr lautlos an mich herangetreten. Seine Stimme erklang, weniger als einen Meter hinter mir und klang überraschend besorgt.
„Du glaubst nicht, dass ich das hier überlebe, richtig?“
Zwei starke Hände legten sich auf meine Schultern und etwas Flaches, Hartes stieß gegen meine weichen Federn. „Unsinn. Aber...“ Er stockte. „Ich muss zugeben, dass ich befürchte, dass deine Mutation voranschreiten könnte, sobald ich loslasse, verstehst du?“
Ich nicke. Meine Mutation würde voranschreiten? Doch auf welche Weise? Mein Blut gehörte nicht bloß zu den Menschen, nein es gehörte ebenso zu den Engeln, doch bisher hatte ich nicht mehr den Mut aufgebracht, nur ein Wort darüber zu verlieren. Vielleicht... Aber nur vielleicht, war es besser so.
„Bist du bereit?“
Ich wollte den Kopf schütteln, mich umdrehen und einfach wieder fortfliegen mit Cirillo, dorthin wohin uns niemand folgen würde... Doch wo wäre das? Außerdem würde da Cirillo nicht mitmachen, er war einfach zu pflichtbewusst.
„Haylee?“
Er spürte mein Zögern, doch schlussendlich nicke ich. Es war gut gewesen, heute etwas mit langen Hosenbeinen zu wählen, denn somit konnte ich rasch aus den Ärmeln schlüpfen, als Cirillo meinen Knopf im Nacken gelöst hatte und die Träger einfach zur Seite schob.
Jeder Zentimeter, welcher damit frei gelegt wurde, brannte in diesem Moment, als hätte ich Feuer gefangen. Mein Herz begann wie verrückt zu rasen und das Blut sammelte sich in meinem Gesicht.
Dann lag das Kleidungsstück auch bereits am Boden.
Cirillo hatte bisweilen nichts außer meine Schultern berührt. Nun ließ er los und griff nach dem Haarband. Auch dort öffnete er den Knopf geschickt und ließ es auf meine Kleidung fallen.
„Steig ins Wasser. Ich habe dir einen Stuhl dort vorne ins Wasser gestellt.“
Tatsächlich! Jetzt, da Cirillo es erwähnte, erkannte ich einen weißen Marmorstuhl, welcher sich beinahe in der Mitte des Sees befand. Er war vollkommen unter Wasser, da seine Lehne, nicht wie gewöhnlich, aufrecht stand, sondern nach hinten gelegt war.
„Wieso ist er schief?“ Fragte ich und kam mir dumm dabei vor. Vielleicht hatte ihn die Strömung, oder der Schlamm am Boden, einfach umgekippt und nun sah es so seltsam aus?
„Er ist speziell für diese Wasserrieten. Ich dachte mir, du fühlst dich vielleicht wohler, wenn du sitzen kannst?“
„Danke.“ Es war mehr ein Hauch, als Dankbarkeit, welche aus meinem Hals drang. Das Wasser war eiskalt, wie es nun so über meine Schenkel hinauf floss und es fröstelte mich leicht.
„Alles gut?“ Fragte Cirillo.
„Mir ist nur kalt. Nichts ungewöhnliches.“ Es war kein Vorwurf. Diese Gegend hier war einfach viel zu kalt, für jemanden mit meiner geringen Körpertemperatur. Cirillo schien das bisher nie gestört zu haben.
„Moment.“ Erschrocken sprang ich zur Seite, als sich etwas Warmes um meine Knöchel wand, bloß um stetig höher zu wandern. Jedoch war es keine richtige Kreatur an sich... Es war Cirillo.
Es dauerte lediglich einen Augenblick, dann hatte sich auch bereits die Wassertemperatur ein wenig erhöht und war nicht mehr so kalt. Noch immer nicht richtig warm, doch es fröstelte mich zumindest nicht mehr.
„Wow, du musst ja echt davon ausgehen, dass ich heute abkratze, wenn du mich so verwöhnst.“ Meine ich, lediglich zu einem kleinen Teil belustigt.
„Das ist Alitia´s schuld. Ihre dummen Worte sind wohl irgendwie hängen geblieben.“ Grummelte Cirillo und lässt einen Korb neben dem Hocker auftauchen, nach welchem ich sofort angle. Langsam schien ich mich an Cirillo´s Kräfte richtig zu gewöhnen.
„Alitia färbt auf dich ab?“ Kichere ich. „Das ist gut so. Sie ist eine sehr nette Person, wenn man ihr mit derselben Güte entgegen kommt.“ Ich weiß, schon wieder so ein Seitenhieb, doch heute durfte ich mir das anscheinend doch tatsächlich leisten.
„Sie ist ein abnormer Engel.“
„Und du tust eben einem gewöhnlichen Nephilim hier einen Gefallen nach dem anderen. Ihr seid also nicht so unterschiedlich, wie ihr behauptet.“
Cirillo schnaubt. „Du bist vieles, aber bestimmt nicht gewöhnlich.“ Ich stoppe bei der großen Auswahl an verschieden duftenden Seifen. Was hatte er eben gesagt?
„Un-Ungewöhnlich zu sein, seht ihr jedoch als Makel an, richtig?“
„In gewisser weiße, ja.“
Ein seltsames Volk. Sie vergöttern Erzengel, die ungewöhnlich viel Macht in sich trugen... aber so eine Kleinigkeit, wie eine Hautfärbung, war schon wieder ein Schwerverbrechen? Daraus solle noch einmal jemand schlau werden.
„Nun gut... Ähm... Bleibst du einfach hinter mir stehen?“
„Reich mir einen Schwamm und Seife.“ Schon wieder dieser Befehlston! Himmel, wie gerne würde ich Cirillo diesen verbieten!
„Wozu?“
„Um deinen Rücken und deine Flügel zu waschen. Das kannst du nicht alleine.“
Auch wahr, trotzdem! So war es nicht ausgemacht! „Engel, du sagtest, ich darf mich selbst waschen!“
„Aber du wusstest auch, es muss der gesamte Körper gereinigt sein. Dazu zählt nun mal auch deine Rückseite.“
Nun war ich diejenige, die grummelte. „Na gut.“
Ich reichte Cirillo beides hinter meinen Rücken, wo er es mir abnahm. Während er seinen Schwamm einschäumte, tauchte ich einmal mit dem gesamten Körper unterhalb der Wasseroberfläche und blieb dort einen Moment, so als ob ich in eine völlig andere Existenz eintauchen würde.
Eine Welt, ähnlich der meinen, in welche ich nun verschwinden würde, sobald mein Kopf wieder über Wasser war.
Ich tauchte auf, strich das Wasser aus meinem Gesicht und öffnete die Augen. Nein, ich befand mich noch immer im selben See.
Ergeben nahm ich auf dem Stuhl platz. Dadurch ging mir das Wasser gerade einmal bis über den Bauchnabel, doch das störte mich nicht. Immerhin konnte ich mich nun alleine waschen.
Ich tat wie geheißen, tauchte einen frischen Schwamm, mit einem Seifenstein ins Wasser und beobachtete, wie es sich blau verfärbte. Ich hatte... einmal mehr nach Cirillo´s Duftstein gegriffen. Wie seltsam... Dabei hatte ich doch unbedingt einen anderen ausprobieren wollen.
Ich schüttelte meinen Kopf über meine Unbedachtheit. Offenbar war der Körper tatsächlich das absolute Gewohnheitstier, wie Adam immer behauptet hatte.
„Was ist?“ Fragte Cirillo, welcher zwar nicht meinen Blick auffangen konnte, doch mein Zögern durchaus bemerkte.
„Ich habe versehentlich dieselbe Seife genommen, welche auch du stets benutzt.“
Cirillo begutachtete seinen schaumigen Schwamm. „Wo ist das Problem?“ Fragt er erneut verwirrt.
„Überhaupt nirgends. Ich bin bloß...“ Ich lege den Schwamm auf meinem Oberarm an und beginne, ihn sorgfältig einzuschäumen, auf dass ich auch ja keinen Flecken vergaß. „...ein wenig überrascht davon, wie schnell ich mich daran gewöhnen konnte, hier zu leben. Dabei habe ich bisher nicht mehr, als vier Nächte außerhalb meiner Zelle verbracht.“
Cirillo´s Schwamm berührte mich am oberen Teil des Rückens, direkt unter dem Nacken und er begann damit über meine Haut zu streichen. Langsam und gleichmäßig zog er Spiralen darüber hinweg. „Das ist...“ Beginnt er und ich bekam das Gefühl, dass Cirillo´s Bewegungen sogar noch langsamer wurden, während er zwischen meinen Flügeln hindurch strich und ich zeitgleich begann, meinen anderen Arm nun zu reinigen. „Das ist in der Tat schön zu hören. Immerhin kommt im Normalfall kein Nephilim in den Genuss, sich außerhalb einer Zelle aufhalten zu dürfen.“
Ich legte meine Flügel nach links, damit Cirillo mich auch unter den Flügeln waschen konnte, dann legte ich sie in die andere Richtung. „Das weiß ich natürlich, doch falls ich nun doch mutiere, wie du sagst... hätte ich zu gerne noch eine andere Seife an mir gerochen.“
„Mhm...“ Machte Cirillo, ehe der Druck auf der Rückseite meiner Flügel mit einem Mal stärker wurde und ich das tiefe einatmen von Cirillo wahrnahm. Schlagartig zog sich ein warmer Schauder von meinem Nacken, tiefer bis in meine kleinste Zehe.
Ruckartig hebe ich meine Arme vor meine Brüste, doch ich vertraute darauf, dass Cirillo nicht über meine Schulter schielte.
„E-Engel?“ Fragte ich stotternd, als mein Herz im Galopp das Weite suchte.
„Ich finde, dass der Duft der Seife, perfekt zu deinem Eigengeruch passt.“ Hörte ich da auf einmal, Cirillo´s bassartige Stimme, direkt in meinem Nacken. Himmel... stehe mir bei! Ich hatte nicht geahnt, dass mein Herz noch schneller, oder gar lauter schlagen konnte, doch mittlerweile bekam ich das Gefühl, dass, falls sich jemand in der Arena befand, sie es bestimmt bereits hören konnten.
„Bestimmt hast du deshalb, zu ihr gegriffen.“
Unbemerkt ziehe auch ich den Geruch der Seife auf dem Schwamm ein. Nein... Nicht deshalb...
Mein Kopf pochte kontinuierlich, als Cirillo seine Hand an den oberen Knochen meines Flügels legte und ihn auffächerte.
Ich verfolgte jede seiner Bewegungen, wie seine Finger durch mein Gefieder strich, stets der Wachstumsrichtung entlang und sie dann mit seiner Magie ausschwemmte. So kam es auch, dass mich dieses Mal nicht das Gewicht des Wassers zu Boden riss.
„Steh auf.“
Offenbar dachte Cirillo, dass ich mit meiner Vorderseite längst fertig sei und lediglich noch darauf wartete, dass er sein Tun an meinen Flügeln beendete, doch stattdessen hatte ich diese Streicheleinheit in meinem Rücken einfach genossen.
Ich schluckte schwer und stellte mich wieder aufrecht hin, während ich meine Flügel in beide Richtungen auffächerte und sie einmal aufplüschte. Bestimmt sah es bei weitem nicht so imposant und gekonnt aus, wie bei den anderen Engeln, doch ich musst zugeben, dass es tatsächlich etwas hatte.
Natürlich hatte Cirillo die Vorderseiten der Flügel nicht gewaschen, was nun mir übrig blieb. Ich schwang einen nach vorne, sodass er, ähnlich wie ein Sichtschutz vor meinem Körper lag. Wieso war ich nicht schon viel früher auf die Idee gekommen, einfach meine Flügel auf so vielfältige Weise zu benutzen? Als Decke nutzte ich sie bereits seit langem... doch, um meinen Körper vor den Blicken der anderen zu bedecken...
Erneut erschauderte ich, als Cirillo, ohne Vorwarnung, den mittleren Teil meines Rückens mit dem Schwamm berührte. Seine Kreise waren langsam und gemächlich, so als ob er sich Zeit lassen würde, doch irgendetwas sagte mir, dass wieder einmal etwas nicht stimmte. Beim ersten Mal waren seine Bewegungen effizient und schnell gewesen, als ob er das alles bloß hinter sich bringen wollte.
Aber nun? Was hatte sich geändert?
Erneut stoppte ich in meinem Tun, da ich mich schlichtweg überhaupt nicht, auf dieses dumme Waschritual konzentrieren konnte. Meine Sinne folgten Cirillo´s Bewegungen mit einer solchen Konzentration, dass ich sogar vergaß, weshalb ich mich hier befand. Dass ich ein Nephilim war, entglitt meinen Erinnerungen und dass da ein Loch in meinem Herzen, fürchterlich schmerzte.
„Haylee?“ Erschrocken fuhr ich zusammen, so als ob ich eben beim Spannen erwischt worden war und schüttelte diese dumme Benommenheit eilig ab.
„Hm? Ja?“
„Du wäscht dich schon wieder nicht. Was ist los?“
Mist, das hatte Cirillo bemerkt? Natürlich hatte er das... „I-Ich habe bloß... Nachgedacht. Denke ich...“
Cirillo´s Bewegung endete unmittelbar vor dem Ansatz zu meinem, bestimmt längst platt gesessenen, Hintern und eine gewisse Anspannung fiel von mir ab. „Das denkst du?“ Wiederholte er irritiert von der Verständnislosigkeit in meiner Stimme.
„Nein, ich...“ Begann ich wieder, doch wusste ehrlich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich konnte ja schlecht zu Cirillo sagen, dass seine Bewegungen in meinem Rücken, mich dermaßen fasziniert hatten, dass sogar mein Denken ausgesetzt hatte. Nein, niemals würde ich so etwas sagen!
„Du...“ Wiederholte Cirillo, als ich den Faden nicht wieder aufnahm. Da spürte ich mit einem Mal, wie etwas Heißes meine Haut zum Kribbeln brachte. „Warum hast du diese Punkte an deinem Körper?“
Ich sah meinen Körper hinab, um festzustellen, was er meinte. Hatte mein Körper etwa allergisch gegen das Wasser reagiert?
Aber nein, Cirillo sprach von den Muttermalen. Ich besaß vielleicht nicht viele... Doch die, welche da waren, waren ungewöhnlich groß, was mich sehr störte. „Das sind lediglich Muttermale, das hat jeder Mensch.“
Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob Cirillo welche besaß, doch alles was mir in die Sinne kamen, war ein Körper, der von Muskeln perfekt geprägt waren, ohne machohaft zu wirken.
„Engel besitzen solche Mutationen nicht.“
„Das sind...“ Begann ich, doch ließ es dann bleiben. Er hatte ja recht. Außerdem konnte ich nicht erklären, wozu sie überhaupt dienten, oder gar weshalb es sie gab. Seltsamerweise war es mir entfallen... oder hatte ich es gar nie gewusst? „Du hast recht... Ihr Engel seit einfach immer perfekt. Egal, was ihr tut oder wie ihr ausseht... Selbst Makel machen euch nur noch schöner, das ist beinahe gruselig.“
„Du findest mich... angsteinflößend?“
Cirillo´s Frage überraschte mich, da ich angenommen hatte, er würde einmal wieder herabwürdigend sein, oder gar ausweichen. Stattdessen war er vollkommen anders, als an jedem anderen Tag.
„Nein...“ Gebe ich verlegen zu. Wieso nur, konnte ich keine Angst vor ihm empfinden? „Ich bin vielleicht einmal wütend auf dich, oder... verwirrt von deinen Reaktionen... Aber Angst kann ich keine verspüren.“ Hatte ich nie... Das würde ich auch nie...
Fingerspitzen trafen meine Haut, an der Taille, was mich das Verschwinden meines Schwammes vollkommen verdrängen ließ. „Ich bin aber ein Throne. Und du bist ein Nephilim. Ich bin dein Feind... Dein Richter und Hänker.“
Die Fingerspitzen glitten von meinem unteren Rücken höher, zu meinen Rippen an der rechten Seite. „Ich weiß.“ Hauchte ich, doch kam einfach nicht gegen den Schauder in meinem Rücken an. Jedes Härchen an meinem Körper, stellte sich rapide auf und ließ mich wieder zurückgleiten, in diese seltsame Gedankenlosigkeit. So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben empfunden.
Adam hatte mich stets vorsichtig berührt, unsicher. Doch das war nur am Anfang unserer Beziehung gewesen. Bei Calyle waren diese Empfindungen, Adam gegenüber, weit in den Hintergrund gerückt. Er war zu meiner mentalen Stütze geworden und seine Umarmungen zu meiner Zuflucht.
Cirillo hingegen... Ich wagte kaum, meine eigenen Empfindungen, ordentlich durch zu denken. Was sie mir wohl sagen würden? Wollte ich das denn überhaupt wissen?
„Trotzdem verhälst du dich...“ Er stockte einen Moment, als ob er über seine eigenen Worte sinnierte, oder gar nach dem richtigen suchte? „...freundlich.“
Mir entrang sich ein amüsiertes Lächeln. „Sollte es denn anders sein? Jemandem Freundlichkeit entgegen zu bringen, egal wie man sich im Moment selbst fühlt, ist eine gute Tat für die Seele.“
„Du tust es also, aus Pflichtgefühl... Weil du dich gut fühlen möchtest?“
„Nein!“ Entgegne ich sofort. „Weil ich dich, trotz deiner abweisenden Art mag und ich finde, dass jeder Freundlichkeit verdient hat. Auch wenn sie selten erwidert wird.“ Ja, das war definitiv ein kleiner Denkanstoß gewesen. Cirillo war stets so abweisend und...
Meine Gedanken verabschiedeten sich erneut, dieses Mal endgültig, als Cirillo´s beide Handflächen sich um meine Taille schlossen. „Ich darf dir gegenüber keine Freundlichkeit entgegenbringen. Das weißt du.“ Was weiß ich? „Du bist... ein Nephilim.“ Hauchte er geradezu wütend, doch seine Stimme war heißer geworden und raunte Millimeter von meinem Ohr entfernt.
Ohne mein Zutun bewegte sich mein Kopf ganz von alleine nach links. Sein Atem in meinem Nacken... es war wie eine prickelnde Streicheleinheit, die ich zunehmend genoss.
„Ich darf also... nicht.“
Was er nicht durfte, war mir absolut egal. Ich brauchte es nämlich, sehnte mich nach einer direkten Berührung, welche auch umgehend folgte. Nie in meinem Leben hätte ich geahnt, dass ich je einen solchen, zufriedenen Laut von mir geben würde, als Cirillo´s Lippen über die empfindliche Haut an meinem Nacken, nach vorne strichen. Über meine Schulter hinweg, bis unter mein Ohr, was meinen gesamten Körper erschütterte. Seine Küsse waren brennheiß, wie Brandeisen, die ein Vieh markierten, brannten sich diese Erfahrung in meine Sinne ein. Eine Berührung, welche ich niemals in meinem Leben vergessen würde können. Zeitgleich jedoch, waren seine Lippen genauso weich, wie ich es angenommen hatte. Zärtlich, forschend wanderten seine Lippen weiter nach vorne, ich legte den Kopf zurück, bis ich mit dem Hinterkopf auf seiner Schulter zu liegen kam. Seine Handflächen strichen tastend über meine Haut. Die linke fand ihren Weg über meinen blanken Bauch, fächerte sich auseinander und drückte mich in eine gewölbte Position, bis mein Hintern gegen seine Schenkel stieß. Währenddessen erforschte die Rechte, den Rest meines Körpers, glitt zwischen dem Tal meiner Brüste hindurch, hoch zu meiner Kehle und strich sie wesentlich langsamer wieder hinab.
Ich keuchte auf vor Erregung und fasste nach der Hand an meinem Bauch. Augenblicklich fanden meine Finger die seinen, verschlossen sich mit eben diesen und wurden eins.
Mit der anderen stütze ich mich an Cirillo´s Hüfte ab, ungläubig darüber, wie sehr sich mein Körper biegen konnte, ohne dass ich mich auch bloß einen Schritt bewegte.
Cirillo´s forschende Hand, erreichte die Hügel meiner Brüste, sie spannten unangenehm, erwartend... sehnend. Ich war keinesfalls mehr Herr meiner Sinne, doch überraschte mich selbst damit, wie sehr mich Cirillo´s Berührungen erhitzten. Ich war mir sicher, dass das Wasser längst wieder abgekühlt sein musste, doch mein Körper brannte, als sei er in Flammen gelegt worden.
Anstatt dem Sehnen meiner erwartenden Brüste nach zu geben, strich Cirillo darum herum, woraufhin ich frustriert meine Nägel in die Hose an seiner Hüfte schlug. Ein wissendes Lächeln erwachte an meiner Halsschlagader. Cirillo leckte über die Stelle, zog eine Spur höher und höher, bis er die Rundung meines Unterkiefers erreichte.
So nahe... Schoss es mir durch den Kopf. Cirillo´s Lippen waren den meinen so nahe, dass ich bereits meine Wange über die seine reiben konnte. Viel trennte uns nicht mehr. Es gab nicht einmal mehr Platz für ein Stück Papier zwischen ihm und mir und meine Flügel hatte ich schmerzhaft zu den Seiten gestreckt, bloß um Cirillo noch näher sein zu können. Seinen blanken Bauch an meinem Rücken fühlen zu können...
Da Cirillo damit aufhörte, mich zu küssen oder meinen Körper zu ertasten, begann meine freie Hand einmal mehr ihren eigenen Willen zu entwickeln. Ich tat etwas, was ich bereits seit einer ungewissen, langen Zeit tun wollte. Ich fasste hinter mich, strich über die makellose Wange meines Engels und ließ meine Finger durch das halblange Haar gleiten. Es war weich und leicht. So hatte ich es mir nicht vorgestellt, sondern eher erwartet, dass es dichter sein würde. Doch als meine Finger durch das Haar, widerstandslos hindurch fanden, beneidete ich ihn um dessen Geschmeidigkeit. Meines war dicht und knotete leicht. Dieses Problem dürfte er nicht haben.
Ich schluckte schwer, rieb meine Wange auffordernd an Cirillo´s und genoss das leicht kratzige Gefühl seiner Bartstoppeln. Er hatte sich heute Morgen nicht rasiert, dies rächte sich nun, doch ich fand es überraschend angenehm. Es war so... männlich und kratzig auf meiner empfindlichen, hellen Haut.
Sehnsüchtig, mit dem Bedürfnis nach mehr, schlug ich meine Fingernägel in seinen Hinterkopf und drücke mich noch enger an ihn. Als Cirillo noch immer nichts tat, außer da zu stehen, zwang ich mein Bedürfnis nach seiner Nähe in die Knie und wagte es endlich, die Augen zu öffnen.
Zu meiner großen Erleichterung erwachte ich nicht aus einem Traum, doch mir wurde endlich bewusst, weshalb Cirillo aufgehört hatte, sich zu bewegen... Er atmete so tief ein, als ob er sich in einem wohltuenden Geruch sonnte. Seine Nasenflügel bebten geradezu und sein Griff an meinem Bauch war doch tatsächlich fester geworden. Da wusste ich, was er riechen musste. Etwas, was meine plumpe Nase scheinbar nicht wahrnahm. Nicht so, wie der Geruchssinn eines Engels. Eines Thrones... Es war meine eigene Erregung, welche seine Sinne mit Reizen überflutete.
Doch, jetzt war ich mir sicher. Dass was ich fühlte, war eine körperliche Anziehung. Zu Cirillo. Diese unbestimmten, kribbelnden und erwärmenden Gefühle, sie schossen wie heiße Blitze zwischen meine Beine und erzeugten ein Gefühl dort, wie es nicht einmal die besten Dichter beschreiben könnten.
Meine Schenkel hatte ich eng zusammen gepresst, so als ob ich nicht wollte, dass diese lavaähnliche Hitze in mir, sofort auslief oder abkühlte, wenn ich auch lediglich einen Millimeter nach gab. Natürlich war dies ausgemachter Unsinn. Das wusste ich, doch meinem Körper war dies egal. Der Druck, welchen ich dadurch erzeugte, steigerte meine Hitze geradezu ins unermessliche.
Eine Hand unter meinem Kinn holte mich aus meinem Körper zurück, dorthin wo Cirillo´s forschender Blick auf mich wartete. Wann hatte ich mich denn umgedreht? Wie war das passiert?
Ich tauchte ein in seine schimmernde Dunkelheit, welche durch die Sonne um eine unzählbare verstärkt worden war. Wie ein Nachthimmel voller Sterne, glänzten Cirillo´s Augen.
Sie waren so wunderschön, ich wollte darin eintauchen und einfach verschwinden.
Eine zarte Berührung an meiner Unterlippe machte mich darauf aufmerksam, wie trocken meine Lippen von meinem Keuchen geworden waren. Instinktiv leckte ich darüber, was Cirillo´s Blick tiefer gleiten ließ. Mit einem Mal brannten meine Lippen, lediglich deshalb, weil Cirillo sie sehnsüchtig betrachtete.
Meine Finger auf seinen Schultern, wie auch immer sie dorthin gekommen waren, glitten höher. Während ich die linke in seinen Nacken bettete, konnte ich nicht anders, als meine rechte Hand, über seine raue Wange, höher, bis an sein Jochbein wandern zu lassen. Seine dunklen Augen, umrahmt von den schwarzen Wimpern, gaben Cirillo einen finsteren Ausdruck im Gesicht. Es wirkte, als ob er jeden von sich stoßen wollte, doch mich reizten sie lediglich, die Finsternis aus ihnen vertreiben zu wollen. Ich wollte sie leuchten sehen, den nachtklaren Sternenhimmel erleuchten...
Als ob Cirillo meine Gedanken erahnte, wurden seine Gesichtszüge ein wenig entspannter, seine Lippen öffneten sich, als ob er etwas sagen wollte, doch als sein Blick von meinen Lippen wieder nach oben glitten, war uns beiden klar, dass wir überhaupt keiner Worte bedurften.
Ich überwand die letzten Zentimeter, welche uns noch trennten und legte meine Lippen an Cirillo´s. Es war nicht mehr, als ein Hauch eines Kusses, eine ängstliche Berührung, die ihn sofort von mir wegscheuchen würde, doch so kam es einmal mehr nicht.
Für einen langen Moment ließ Cirillo seine Augen einfach geschlossen, genoss das Gefühl, welches meine Lippen hinterlassen hatten und als er sie dann endlich öffnete, konnte ich nichts weiter, als einen unstillbaren Hunger im Sternenhimmel entdecken.
Erneut bettete ich meine zittrigen Lippen auf die von Cirillo, kostete dieses Mal einen längeren Moment von dessen köstlicher Wärme, bis ich dachte, dass der Kuss bereits eine ganze Ewigkeit gedauert haben musste.
Ich löste mich genauso sanft wieder von seinen Lippen, bloß dass es dieses Mal für nicht so lange war, wie zuvor. Cirillo´s Hand war von meinem Kinn in meinen Nacken gewandert und zog mich eindringlich wieder näher an ihn.
Es war ein Kuss, wie es ihn zweifellos kein weiteres Mal geben konnte. Er manifestierte sich auf meinen Lippen und war gleichzeitig ein Warnfeuer, für jeden, der es je wieder wagen sollte, mich zu berühren.
Nach Luft schnappend, öffnete ich meinen Mund ein Stück, konnte nicht fassen, wie großartig dieses Gefühl war. Es war etwas, dass ich nie wieder missen wollte, es behüten, um jeden Preis! In diesem Kuss lagen so viele Gefühle von Cirillo... Es überwältigte mich einfach und ich forderte nach mehr, auch wenn es vielleicht egoistisch war.
Mein gesamter Körper presste sich bereits an den von Cirillo, meine erhärteten Brustwarzen wurden von meiner Umarmung geradezu zerquetscht und an Luft war bereits seit Jahrzehnten nicht mehr zu denken.
Cirillo´s Zunge drang ganz ungestüm in meine Mundhöhle ein, stoppte jedoch, in dem Moment, in welchem sich unsere Spitzen berührten. Sein Geschmack, überflutete mich, drang in jede Pore ein, übernahm meine Sinne und zwang sie geradezu zu Kooperation.
Ich verstand nicht so ganz, was da geschah. Cirillo stolperte leicht benommen zur Seite, ließ sich auf den Hocker sinken und zog mich mit sich, ohne dass wir uns auch nur für den Hauch einer Sekunde voneinander trennten.
Meine Beine glitten ganz von selbst auseinander, als ich mich auf seinen Schoß sinken ließ, bloß um wieder seine Nähe zu spüren.
Für eine lange Zeit waren da bloß Cirillo´s Streicheleinheiten auf meinem Rücken. Seine Handflächen strichen über meinen Rücken, auf und ab, wechselten sich ab und glitten lediglich einmal, wie beiläufig über die Rundung meines Hinterns.
Sonst taten wir nichts, außer uns zu küssen. Wir verschmolzen geradezu miteinander, kosteten jeden Moment aus, den wir für uns hatten und nahmen uns das, was wir vom anderen genau jetzt brauchten.
Im Hier und Jetzt. Da war keine Arena, keine Zellen, ja noch nicht einmal ein Throne und ein Nephilim im See... Nein, dass einzige was ich wahrnahm, war Cirillo. Mein dunkler Engel. Die Kraft welche unter seiner ebenmäßigen Haut schlummerte, das Gefühl seiner zarten Haare zwischen meinen Fingern und natürlich die Natürlichkeit seines Geschmackes. Ich hatte recht behalten. Cirillo roch nicht nur herb, er schmeckte auch so. Zu meinem Bedauern besaß ich nichts, mit dem ich es vergleichen konnte, doch genau das machte ja seinen Reiz aus. Er war für mich absolut einzigartig. Genauso wie Cirillo es war.
Seine Haut, seine Kraft, seine stoische Haltung, die wunderschönen Flügel...
Meine Brüste rieben angenehm über Cirillo´s Brust, als dieser sich zurücksinken ließ, sodass ich nun rittlings auf ihm lag. Für einen Moment erwog ich, ob ich womöglich zu schwer für ihn sein würde, in Kombination mit meinen Flügeln, doch das zarte Seufzen, welches über seine Lippen glitt, versicherte mir das Gegenteil.
Mir war noch nie bewusst gewesen, wie gut es sich anfühlen würde, auf der Brust eines Mannes zu liegen. Natürlich hatte ich bereits häufig mit jemanden gekuschelt, doch das hier... Cirillo´s blanke, harte Brust und meine zum Zerreißen gespannten, weichen Brüste... Es war ein Kontrast, wie es ihn lediglich einmal im Leben gab. Das ziehen darin, wurde aber auch nicht besser, als ich seinen Lippen hinterher rutschte und dabei genussvoll über seinen Brustkorb rieb.
Dafür jedoch, veränderte sich etwas anderes. So genussvoll Cirillo auch bisher meine Nähe ausgenutzt hatte, trat in diesem Moment etwas anderes an dessen Stelle. Ich erkannte es, an der Art, wie Cirillo´s Handflächen über meinen Rücken, immer tiefer streichelten.
Etwas schaltete sich um, ich fühlte es mehr, als dass ich es beschreiben konnte. Das Sehnen wandelte sich in Gier. Seine Küsse wurden fester, drängender, bis ich das Gefühl bekam, regelrecht von Cirillo verschlungen zu werden. Seine Hände umschlossen meinen Hintern, hielten sich an ihm fest, als sei er das Letzte, was Cirillo noch an Ort und Stelle hielt.
Ich wusste, was er empfand. Mein gesamter Körper kochte bereits seit gefühlten Stunden darin. Die Hitze übernahm einmal mehr die Überhand, meine Hände arbeiteten, als gehöre ihnen ein ganz eigenes Hirn, während meine Gedanken noch vollkommen von Cirillo´s Lippen abgelenkt waren.
Andächtig ließ ich meine Hände Cirillo´s kraftvolle Schultern hinab gleiten, ertastete fasziniert seine ausgeprägten Brustmuskeln und fuhr ihre Ebenmäßigkeit mit einer Faszination nach, welche ich nicht zu beschreiben vermochte.
Unterdessen wurde Cirillo´s Atmung schneller, passte sich der meinen vor Aufregung an, während ich zum ersten Mal in meinem Leben, ein ausgeprägtes Sixpack betastete. Es war genauso ebenmäßig und hart, wie sein Oberkörper, nur dass sie unter meiner zarten Berührung geradezu dahin schmolzen.
Ich stütze mich mit der linken Hand auf Cirillo´s Brust, um mehr Freiraum zum Ertasten zu erhalten. Die Rückseiten meiner Füße legte ich auf seinem Schenkel ab, sodass ich nun quasi über Cirillo kniete. Ich thronte nu über ihm! Wurde mir schlagartig bewusst. Über einem Throne thronen... Die Ironie entging selbst meinem gedämpften Geist nicht und ich lächelte selbstzufrieden auf Cirillo herab.
Als meine Lippen mit einem Mal, außerhalb seiner Reichweite waren, schlug er verwirrt die Augen auf, suchte mich, als ob sein Leben davon abhinge, und seufzte dann erleichtert, als er mein lächelndes Gesicht erblickte.
Mein Blick schweift tiefer, zu seinen geschwollenen, roten Lippen, die ich noch immer auf den meinen spürte, obwohl meine Augen das Gegenteil bewies. Meine Haut brannte an jeder Stelle, stand in Flammen und doch verlangten meine Sinne nach mehr. Ich wollte alles von Cirillo! Alles spüren. Alles sehen. Alles kosten...
Mein Blick blieb an seinem Hals hängen, die Art wie sich sein Nacken bog, als ich mich, ohne es selbst zu bestimmen, herab beugte und mit meiner flinken Zunge über seine unnachgiebige, warme Haut leckte. Ich bemerkte überhaupt nicht, wie meine Haare über Cirillo´s Haut kitzelten, meine Zunge und Lippen, zusammen ihren Weg tiefer suchten, dorthin wo sich Cirillo´s Lungen bereits heftig hoben und senkten, als würde er vor mir davon laufen, ohne je vom Flecken gekommen zu sein.
Die Art, wie meine Brüste dabei über seinen Oberkörper glitten, sendete erneut Blitze in meine überforderte Mitte und mein Atem erzitterte wohlig.
Erst als diese gegen das kühlende Nass stießen, wurde mir wieder bewusst, dass wir uns ja noch immer im Wasser befanden. Cirillo war von der Hüfte an, im See verschwunden, doch das störte mich überhaupt nicht. Ich musste nichts sehen können, dafür hatte ich ja meine Hände. Sie tasteten tiefer, zu diesem unglaublich einladenden >V< über seinem Hosenbund und streichelte spielerisch darüber. Cirillo´s Körper erbebte genauso, wie ich es mir erhofft hatte.
Mein Blick glitt hoch, ich wollte in Cirillo´s Augen sehen, wie die Funken wohl überspringen würden, doch stattdessen blieb ich an seinem erhitzten Brustkorb hängen. Einmal hatte Adam zu mir gesagt, dass viele Männer auch an den Brustwarzen empfindlich waren. Dass sie dort nicht nur Schmerz empfanden, wenn man sie zwickte, sondern auch Lust, wenn man wusste wie.
Dieser Gedanke verbiss sich so zwanghaft in meinem Kopf, dass ich es einfach ausprobieren musste.
Langgezogen rutschte ich wieder hoch, wobei ich die kühle Flüssigkeit des Sees dabei auf seinem erhitzten Körper verteilte.
Meine Lippen stoppten unmittelbar vor eben diesen. Ich leckte mir mit der Zunge darüber und fragte mich, wie ein Engel wohl darauf reagieren würde? Spürte er dort überhaupt irgendetwas?
Ich befriedigte meine Neugierde, indem ich meine Zunge ein weiteres Mal hervorschnellen ließ und dabei von einem ärgerlichen Zischen bestätigt wurde. Cirillo empfand an dieser Stelle definitiv etwas!
Selbstsicherer öffnete ich meine Lippen, kratzte zart mit den Zähnen über seine unnachgiebige Haut und ließ meine Hand bis zum Hosenbund vorangehen.
War es das nun? Mir wurde bewusst, dass Cirillo bisher vermieden hatte mich an irgendeiner erogenen Zone zu berühren, so als ob er davor zurückschrecken würde. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass es daran lag, dass ich ein Nephilim war. Doch ansprechen konnte ich es nicht, selbst wenn ich den Mut dafür aufgebracht hätte.
Mit wild klopfenden Herzen überwand ich den letzten Zentimeter, denn mehr als der Hosenbund, hielt nichts mehr Cirillo´s Härte davon ab, sich mir in all seiner Pracht zu präsentieren.
Mehr erschrocken, als bei Sinnen, ertastete ich sie. Fuhr sie, über dem Hosenbund entlang, als Cirillo erneut in Bewegung geriet.
Ich blickte erschrocken auf, er sich unvermittelt aufsetzte, mein Kinn packte und mich heftig küsste. Pure Leidenschaft eroberte meine Lippen erneut, seine Hände schlangen sich wie sichere Gitterstäbe um meinen Leib und unvermittelt drückte etwas gegen mein Becken, was dort noch nie gewesen war.
Stöhnend klammere ich mich mit Händen und Füßen an Cirillo´s sicheren Rücken. Meine Flügel stoßen unvermittelt gegen die seine. Weiß traf braun... Schwarz ertastete rot... Wellen der Verzückung pulsierten in meinem Bauch und erschufen einen Damm, den ich nicht wagte zu brechen.
Alles was ich hier tat, war so neu, so gefährlich... Trotzdem fühlte es sich richtig an. Bestätigte mir, dass meine Gefühle bei weitem nicht einseitig waren und dies nie ein Ende finden würde.
Testend bewege ich mein Becken, sanft zurück, erschaudere unter dem Gefühl, welches seine Hose an dieser Stelle erzeugte. Oder war es das Wissen, was unter dieser Hose lag?
Es war im Grunde vollkommen gleich, als Cirillo meine Brüste nun das erste Mal direkt in die Hände nahm. Seine Finger spreizten sich über die Weichheit von ihnen, machten mir klar, dass sie führ ihn perfekt waren. Größer, als seine Hände, weicher als seine Lippen und empfindsamer, als alles, was ich je erlebt hatte.
Cirillo löste sich von meinem Mund, blickte nun zum ersten Mal, richtig auf meinen Körper hinab und sendete damit nur noch mehr Blitze zwischen meine Schenkel.
Ich lehnte mich zurück, als er sich hinab beugte und mich gleichzeitig noch mehr in die Länge zog, um das Spiel seiner Zunge nun an einer gänzlich anderen Stelle, als meinem Mund, fortzusetzen.
Ich bemerkte dabei überhaupt nicht, wie ich mein Becken höher hob, mich auf seinem Schoß rekelte und welche Laute ich von mir gab. Laute, welche Cirillo genauso antrieben, weiter zu machen, wie die seinen mich bestätigt hatten. Erst als Cirillo´s Hand meine Seite hinab geglitten war und nun die Innenseite meines Schenkels nachzeichnete, bemerkte ich, wohin seine Wanderung ging. Meine Luftstöße wurden immer keuchender, als sein Daumen zwischen den beiden Lippen an meinem Becken hinab glitten und tief eintauchte.
Für einen Moment hatte ich sogar das Gefühl, überhaupt keine Luft mehr zu bekommen, das Schlucken fiel mir schwer und meine Finger verkrampften sich in Cirillo´s Haar. Ich rieb mich seiner Berührung entgegen, wollte endlich, dass dieser Damm in meinem Inneren überging und ich endlich die Erlösung fand, auf die ich bereits so lange wartete, doch Cirillo dachte nicht daran, mich so schnell zu erlösen.
Seine Lippen, Zähne und die Zunge spielten an meinen Brüsten herum. Eine Hand massierte diejenige, welche eben nicht im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand, da spürte ich einen weiteren Finger. Und noch einen...
Ich erbebte erneut, als sein Daumen von den anderen Fingern abgelöst wurden und einmal andächtig über meine Mitte strichen.
Alles in mir krampfte. Meine Muskeln spannten sich auf ein unangenehmes Maß an, mein gesamter Körper wurde zu Stein und als dann Cirillo´s Finger über die kleine Knospe in meiner kostbaren Mitte massierten, konnte ich nicht anders, als mich seiner Berührung zu entziehen. Cirillo tat mir jedoch nicht den Gefallen, er wusste, was mich überwältigte und hielt mich unbarmherzig auf seinem Schoß fest, während seine Lippen hart an meiner Brustwarze saugten und seine Bewegungen hastiger wurden.
„En-Engel... Ich...“ Stockte ich, doch da war es auch schon vorbei. Stöhnend und nach Halt suchend, vergrub ich mein Gesicht in Cirillo´s Nacken, unterdrückte einen Schrei voller Entzückung und hatte absolut keine Kontrolle mehr darüber, wie sich mein Becken bettelnd an seinen Fingern rieb.
Zärtlich küsst Cirillo meine Schläfe, während einer seiner Finger zwischen meine wild zuckenden Muskeln eintauchten. Einmal. Zweimal. Dreimal... Er glitt so einfach hinein, als ob ich ihn geradezu einsaugen würde.
Als seine Hand dann aber schlussendlich von dort verschwand, fühlte ich eine seltsame Leere. Ich wünschte mir seine Berührung sehnlichst zurück!
Langsam hob ich meinen Blick wieder. Ich wusste, wie ich aussehen würde, doch es störte mich nicht, dass Cirillo es sah. Mein Gesicht glühte, meine Augen mussten wirken, wie im Fieberwahn und meine geschwollenen Lippen keuchten unentwegt. Dabei war doch überhaupt noch nicht viel passiert. Nur eine Berührung von ihm, zwischen meinen Beinen, hatte dazu geführt, dass sich der aufgestaute Druck sich löste und ich in reiner Zufriedenheit davon geschwemmt wurde.
Ich konnte einfach nicht anders... Ich musste verlegen auf Cirillo herab lächeln, als sein forschender Blick jedes Detail in meinem Gesicht aufsaugte, wie ein Schwamm.
Langsam lehnte ich mich wieder über ihn. Stemmte meine Unterarme auf seine Schultern und räkelte mich wie eine zufriedene Katze, während meine Lippen die seine fanden. Nie in meinem Leben, hatte sich etwas so verdammt gut angefühlt! Absolut gar nichts! Und ich zweifelte auch stark, dass mich je wieder irgendein Mann dermaßen aus der Haut fahren lassen konnte, egal was dieser auch versuchen mochte. Mein Körper wollte bloß noch Cirillo. Wollte alles von ihm. Jedes Detail, jede Berührung, jede Empfindung.
Ehe ich mich versah, wurde der dankbare Kuss zu einem neuen Spiel der Leidenschaft, Cirillo Stimme, heißer vor Lust bebte an meinem Hals, als meine Hand unter dem Hosenbund verschwand und damit auch den letzten Schutz zwischen uns beiden entfernte. Wohin die Hose trieb, oder wie sie verschwand, bemerkte ich überhaupt nicht. Ich wollte bloß Cirillo spüren. Seinen Körper. Seine Hitze.
In seinen Armen fühlte ich mich, wie eine köstliche Frucht, dessen Geschmack er einfach nicht überflüssig werden konnte. Seine Finger tauchten, dieses mal viel sicherer und provokanter, zwischen meinen gespreizten Beinen hindurch. Massierten mich. Neckten mich. Auch mein Griff wurde selbstbewusster. Ich hörte an seiner Atmung, was ihm gefiel. Fühlte, wie sich seine Bauchmuskeln anspannten, sobald seine Spitze die weichen Muskeln meiner Mitte zufällig streiften.
Ich keuchte, selbst überrascht von dem unbeabsichtigten Treffen, auf und konnte mir ein leises Japsen nicht verkneifen. Es war so ganz anders, als seine Finger... Weicher, heißer...
Ich wimmerte, ob aus Angst vor dem Ungewissen, oder dem angedrohten Schmerz, welcher stets beim ersten Mal dabei sein solle, wusste ich nicht so recht.
Cirillo murmelte etwas beruhigend, während er die Führung dieses Mal selbst übernahm. Er ließ mir die Zeit, welche ich brauchte, um mich an das völlig neue Instrument der Leidenschaft zu gewöhnen, mich seinen sanften Bewegungen anzupassen, bis es auf einmal einfach geschah.
Es war mehr meine Schuld, als die seine, denn ich begann mich unvermittelt auf seine Bewegungen zu, zu bewegen. Erst war es bloß ein Druck, wie wenn ich erneut vor einem Orgasmus stand, dann tauchte Cirillo ganz plötzlich einfach in mich hinein. Es geschah so schnell, dass ich den akuten Schmerz erst wahrnahm, als er auch schon wieder vorbei war.
Wimmernd klammerte ich mich noch fester an Cirillo, erstarrte wie eine Statue, in der Erwartung, es würde noch schlimmer werden.
„Entschuldige, entschuldige, bitte!“ Hauchte Cirillo, als ob er sich dafür schämte mir weh getan zu haben. Zärtlich schob er mein Haar aus dem Gesicht und umfasste meine Wangen mit seinen Handflächen. „Alles gut?“ Fragte er, doch wartete überhaupt nicht auf eine Antwort, sondern küsste mich einfach. Und küsste mich. Und küsste mich...
Seine Küsse waren wie Balsam für meine schreckhafte Seele. Sie beruhigten mich, schworen mir, dass alles gut war und seine Richtigkeit besaß.
Als dann zwei entwischte Tränen über Cirillo´s Hände tropften, wirkte er erst so richtig schuldbewusst. „Es tut mir so leid.“ Schwor er, doch ich schüttelte nur den Kopf und lächelte den so unerschütterlichen Krieger liebevoll an.
„Dir muss nichts leid tun.“ Sagte ich bloß und küsste ihn wieder. Nein, das waren keine Tränen der Furcht, noch der Reue. Sie waren das Erzeugnis meiner unaussprechbaren Dankbarkeit. Cirillo hatte mir etwas geschenkt, von dem ich keine Ahnung gehabt hatte, dass es mir fehlte. Es war das erste Mal, dass ich mich doch tatsächlich, wie eine Frau fühlte. Kein kleines Mädchen, das seiner Mutter hinterher trauerte. Die Tochter einer Verrückten. Nicht die womögliche Mörderin von einer engen Freundin. Nun war ich eine junge, vor Energie strotzende Frau, die Cirillo begehrte. Die sich einfach nicht sattsehen konnte an ihm. Nie genug von seinen Küssen bekommen konnte.
Ich war begehrenswert. Attraktiv. Ein lebendiges, intelligentes Wesen, dem ein echter und wahrhaftiger Engel verfallen war! Und sie ihm...
Cirillo´s nächsten Bewegungen waren vorsichtig und sanft, zumindest so lange, bis ich meinen ersten Schock überwunden hatte und erneut über ihn her fiel. Es war so schön. So neu. Absolut richtig!
Vielleicht war der Moment falsch gewählt gewesen, doch tief in meinem Herzen wusste ich, dass ich auf jeden Fall, den richtigen Partner dazu gewählt hatte. In Cirillo´s Armen fühlte ich mich sicher und geboren. Selbst meine Herkunft schien ihn nicht mehr abzuschrecken oder gar zu ekeln.
Das erkannte ich alles bloß an seinem Blick! Ich sah es in seinen Augen, diese Sehnsucht nach mir, meinem Körper, meiner Zuneigung, welche er so dringen wollte und brauchte. Beides gab ich ihm mehr als willig, als ich mich zum Ende hin sogar zurück lehnte, auf seine Knie stützte und genüsslich stöhnte. Cirillo hielt mich, sicher und vorsichtig. Wärme überflutete erneut meinen Körper, ich fühlte, wie ich mich noch mehr krümmte und bog, ich hörte seinen Namen im Tal widerhallen, hörte mich, aber dennoch klang das alles nicht wirklich nach mir.
Mein Schamgefühl wollte jedoch noch nicht zurückkehren. Es war, als sei ich ein ganz anderer Mensch auf Cirillo´s Schoß. Jemand, der bloß noch an die Verbindung zwischen Mann und Frau denken konnte. An das unendlich gute Gefühl, welches dadurch entstand, bis mein Geist sich erneut ausklinkte. Meine Nägel schlugen sich ganz ohne mein Zutun in Cirillo´s Schultern, er packte mich viel zu fest, während mein Körper regelrecht abhob, in eine ganz andere Daseinssphäre, doch Ruhe zur Erholung gab er mir währenddessen nicht. Ich spürte den wachsenden Druck, die Unnachgiebigkeit seiner eignen Härte in mir und wie er meine Wellen mit viel härten Stößen dazu antrieb, noch viel länger zu dauern, bis er von einem Moment auf den anderen, einfach stoppte.
Keuchend sank Cirillo´s Kopf auf meine Schulter, sein Atem kam stockend und massierenden Wellen brachten ihn dazu zu erschaudern.
Seltsam stolz streichelte ich Cirillo´s Rücken, konnte einfach nicht anders, als noch einmal jedes Detail seiner ebenmäßigen Haut wahrzunehmen, bis er seinen Kopf hob und mich für eine Ewigkeit einfach küsste.
Zufrieden ließ ich meine Stirn gegen die seine sinken und genoss das Gefühl seiner Nase an meiner.
So saßen wir, vermutlich für den Rest unseres Lebens, denn ich wollte beim besten Willen niemals wieder irgendwo anders hin. Kein Wasser um uns herum wahr nehmen, oder andere Lebewesen bemerken.
Ich schickte sogar insgeheim, ein Stoßgebet hoch, zu wer auch immer zuständig dafür war, dass sich die Welt weiter drehte und die Zeit lief. Möge er erbarmen Zeigen. Nur für eine winzige Ewigkeit und uns in diesem schützenden Kokon aus Wasser und Flügeln betten.
„Haylee...“ Hauchte Cirillo sanft und küsste meinen Mundwinkel. Wenn er diesen Moment jetzt zerstörte, würde ich ihn umbringen müssen!
„Wie geht es dir?“
Ich gluckste, überfüllt von Glücksgefühlen. „Ich existiere nur noch auf einer Wolke.“ Hauche ich, ebenso leise, in der Angst der kleinste Ton, könne unsere Zweisamkeit zerstören.
Er lachte leise. Es war der schönste Klang, den ich seit langem vernommen hatte, abgesehen davon, dass Cirillo doch tatsächlich meinen Namen gestöhnt hatte. „Auf einer Wolke, ja?“ Fragte er nach und küsste meine Wange gleich ein weiteres Mal.
Ich nicke und schmiege mich wohlig an seinen Körper. „Ja, einer Wolke.“
Mir war es egal, dass wir mitten im See saßen, Cirillo noch immer tief in mir versenkt war und wir vermutlich überhaupt keine Zeit mehr übrig hatten. Ich schlang meine Arme fester um seinen Nacken und machte es mir so gemütlich auf ihm, dass ich jeden Moment einfach wegdösen konnte.
„Habe ich dir eigentlich sehr weh getan?“
Ich schüttle sachte den Kopf und küsse seinen Hals. „Nein, ich habe mich mehr erschreckt, als... als alles andere. Es war einfach so plötzlich.“
Zärtlich begann Cirillo erneut mir über den Rücken zu streicheln. „Das tut mir trotzdem leid. Es war dein...“
„Ja...“ Unterbrach ich ihn hastig, denn ich wollte es nicht hören. Meine Augenlider waren dabei so schwer, ich dämmerte beinahe fort.
„Dafür warst du aber ausgesprochen selbstsicher.“
Ich horchte interessiert auf. Wie bitte? Ich und Selbstischer? „Findest du? Ich wusste eigentlich kaum, ob das was ich mache, dir überhaupt gefällt.“
Cirillo´s Brust bebte, als er lachte. „Das hat es aber.“ Schwor er heiter und küsste nun auch wieder meine Schulter. „Viel zu gut. Hätte ich es vorhin nicht selbst bemerkt... Hätte ich dir bestimmt viel mehr weh getan.“
Ich stützte mich wieder auf und streichelte zärtlich über Cirillo´s Unterlippe. „Du hast mir wirklich nicht weh getan.“ Schwor ich felsenfest. Dann beugte ich mich herab und küsste die Stelle, welche eben mein Daumen berührt hatte. „Ich hoffe nur, dass... du genug >spaß< daran finden konntest.“ Umschrieb ich meine persönlichen Selbstzweifel, unfähig ihn das zu fragen, was ich eigentlich wollte. Hatte es ihm wirklich gefallen? Oder war ich ihm mit meiner Unerfahrenheit zu schüchtern gewesen?
Zärtlich knabberte er an meiner Unterlippe. „Wenn du mich endlich einmal freigeben würdest, könntest du dich selbst davon überzeugen, dass ich sehr wohl Gefallen an deinem Körper gefunden habe.“ Bestätigte Cirillo neckend.
Natürlich fühle ich die ungewöhnliche Flüssigkeit in meinem Körper und hatte gefühlt, wie er selbst gekommen war, trotzdem wusch dies meine Selbstzweifel nicht davon. „Ich weiß...“ Sagte ich jedoch bloß und schloss erneut genießerisch meine Augen, während meine Lippen über die seinen rieben.
Sollten diese nach all den Küssen nicht bereits geschwollen und schwer geworden sein?
„Sehr gut. Aber jetzt...“ Cirillo setzte sich auf, sodass ich einen enttäuschten Laut von mir gab.
„Nein, noch nicht, bitte!“ Flehte ich, während er auf dem Stuhl bis ganz nach vorne rutschte.
Cirillo zögerte, doch nickte dann. „Gut, aber du musst trotzdem aus dem Wasser hinaus. Deine Lippen werden bereits blau.“
Blau? Wirklich? Mir war überhaupt nicht kalt! Wenn Cirillo dies sagte, glaubte ich es ihm jedoch, glitt von seinem Schoß und... Ging unter!
Lachend zog Cirillo mich wieder an die Oberfläche und strich mir das Wasser aus dem Gesicht. „Haylee?“
Vorwurfsvoll blickte ich auf meine Beine hinab! Sie hatten einfach nach gegeben. Ich fühlte mich kraftlos und müde und das ziehen in meinen überanstrengten Beinmuskeln wurde mir erst in diesem Moment bewusst. „Mei-Meine Beine sind wie taub.“
Erneut erbebte Cirillo´s Lachen an seiner Brust, dann hob er mich auch bereits auf seine Arme. „Schon gut, das legt sich sofort wieder.“ Schwor er und ging zielsicher auf den Rand des Sees zu, ohne eine einzige Welle zu erzeugen! Fasziniert beobachtete ich, wie sich das Wasser, auf eine ganz natürliche Weise, einfach für ihn trennte und ihn hindurch ließ.
Auf dem ersten Flecken Wiese, ließ Cirillo sich zu Boden gehen und rollte sich halb auf mich.
Lächelnd sah ich zu meinem schwarzhaarigen Engel auf. Seine Iriden wirkten nun endlich wie strahlende Sterne und ich seufzte zufrieden. Nie wieder wollte ich diese ungewisse Dunkelheit in ihnen sehen. Die Frustration, den Ärger, die Erschöpfung.
Da ich auf meinen Flügeln darauf lag, streckte Cirillo den seinen aus und bedeckte meinen Körper, sodass ich in dessen Wärme ruhte. Ich kuschelte mich auf Cirillo´s Arm, rieb meine Nase an seiner Schulter und schloss seufzend meine Augen.
Ich schlief innerhalb von Minuten ein, woraufhin Cirillo über meinen Schlaf wachte. Ich fühlte es, träumte sogar davon, wie er mir beruhigende Dinge zuflüsterte, ohne dass ich es verstand. Er streichelte meinen Körper und verweilte an meiner Seite, bis er mich wecken musste.
Es war Zeit, meinen Wert in der Arena zu beweisen!

 

- - - - -

 

Unmittelbar nach dem Erwachen, unter Cirillo´s wachsamen Blick, verstand sich, war ich bereits wieder voller Energie und trocken bis auf die Knochen. Cirillo sammelte etwas Wasser für mich, aus der Luft und ließ es in meine gewölbten Handflächen laufen, damit ich es trinken konnte.
Dankbar stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Es überraschte ihn sehr, doch gleichzeitig entlockte es Cirillo wieder dieses ganz besondere Lächeln, welches mein Herz schmelzen ließ.
„Es wird Zeit.“ Das waren nicht die Worte, die ich mir erhofft hatte, doch Cirillo hatte recht.
Meine Entschlossenheit, noch viele weitere Tage an Cirillo´s Seite zu verbringen, hatte sich nach diesem Mittag, um ein Tausendfaches vervielfältigt. Ich spürte ein aufgeregtes Kribbeln in meiner Magengegend, die nichts mit unserer Aktion am See zu tun hatte. Es war mein Kampfgeist, welcher erwachte. Ich hatte endlich etwas, um was es sich zum Kämpfen lohnte, das spürte ich ganz deutlich. Da war etwas zwischen Cirillo und mir, etwas was mich meine eigene Welt, meine Trauer vergessen ließ und eine Kämpferin in mir weckte, die davor noch nie da gewesen war. Ich wollte für Cirillo gewinnen! Selbst wenn er mir seinen Stolz nicht vor allen anderen Engeln zeigen durfte... Selbst wenn ich wieder in dieser verhassten Zelle landete...
„Haylee? Ist alles Ordnung mit dir? Du wirkst so konzentriert.“
Cirillo hatte mir einmal mehr von einem verstorbenen Nephilim, etwas abgetrennt, das stark einer Klinge ähnelte. Oder war es gar dieselbe, vom letzten Mal? Hatte er sie behalten?
Sie lag schwer in meiner Hand und fühlte sich kein bisschen so an, wie die Klinge, welche ich mit meinen eigenen Händen aus Weißglas erschaffen hatte und doch besser funktionierte, als jede Waffe, die je ein Mensch geschmiedet hatte.
„Sollte ich doch auch sein, oder? Ich kämpfe gleich.“ Erwidere ich, ohne aufzusehen, sondern wiege das Gewicht der Klinge in meiner Hand. Effizient und kontrolliert. Immerhin bin ich ein Nephilim. Mein Vater war ein wahrer Krieger Gottes gewesen, in einem Krieg, der schiern niemals enden wollte. Wenn ich Dämonen besiegen konnte und diese seltsame Bestie von letztens... Dann würde ich nun umso mehr schaffen!
„Bist du denn bereit?“
Ich blickte auf, in Cirillo´s forschenden Blick und muss einfach lächeln. Katya war so glücklich mit ihrem Gefährten Tyrone. Es war das erste Mal, dass ich die Zuneigung zwischen ihnen beiden, im Ansatz verstand, lehnte mich vor und stahl mir noch einen langen Abschiedskuss.
„Nein, aber das muss ich nicht sein. Du wartest doch auf mich, richtig?“
Cirillo´s Mimik leuchtete auf, als würde eben die Sonne aufgehen in diesem dunklen, stinkigen Raum, voller Leichenteile. „Natürlich. Ich werde der Erste an deiner Seite sein, sobald du gewonnen hast.“
Cirillo umfasste mein Gesicht mit seinen Händen, küsste mich gierig, bis unser beider Atem nur noch stockend kam. Dann erst löste er sich. Besorgnis verdunkelte wieder sein Gesicht. „Ich habe bloß Angst davor, wie du leiden wirst, wenn ich...“
Ich legte ihm einen Finger an die Lippe, damit er den Satz nicht zu ende sprach. „Falls sich etwas ändert... an mir, meine ich. Dann behalte mich einfach so in Erinnerung, wie ich jetzt bin. Gut?“ Ich zweifelte zwar nicht daran, dass diese Schmerzen irgendetwas mit mir machen würden, doch dass ich zu einer dieser armen Kreaturen mutierte, stand auf jeden Fall außer Frage.
„Du wirst dich nicht verändern.“ Wen er versuchte zu überzeugen, wusste ich nicht, doch es war gut, dass Cirillo es laut aussprach.
„Natürlich nicht. Immerhin habe ich einen Throne in die Knie gezwungen.“ Ich zwinkerte ihm neckisch zu und machte kehrt. Dass er mir zur Strafe einen Klaps auf den Hintern gab, hatte ich zweifellos verdient, doch bis zum Ausgang hin, hatte Cirillo bereits wieder Abstand zu mir genommen. Das war alles an Abschied, was er mir hatte geben können. Ab jetzt war ich den Erzengeln ausgeliefert, welche bereits neben dem Lift auf mich warteten.
Ich wandte mich um, doch Cirillo war fort... Mein Herz schmerzte und meine Sehnsucht übernahm beinahe die Kontrolle über meine Beine, doch ich belehrte mich eines besseren.
Ich schwenkte meinen Blick zurück zu den beiden Erzengeln, welche in stoischer und absolut unveränderlicher Mine vor mir standen. Ihre Ausstrahlung war... schier überwältigend. Die Kraft welche in Pulsierenden Wellen von ihnen ausging, tastete mich, beim näher kommen ab, brannte unsanft über meine Haut hinweg und vertrieb damit auch das letzte Prickeln, welches Cirillo´s Berührungen auf meiner Haut hinterlassen hatten.
„Du bist also der Nephilim Haylee.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Darum nickte ich lediglich, denn Cirillo hatte mich am Weg her gemahnt, dass ich mein Wort auf keinen Fall an Erzengel wenden durfte, ehe sie es mir nicht auftrugen oder mir eine direkte Frage stellten.
Als ich nichts sagte, wechselten die beiden einen Blick. Mir kam es so vor, als ob sie sich stumm unterhielten, doch so etwas war doch überhaupt nicht möglich, richtig?
Der eine Erzengel besaß goldene Flügel, mit silbernen Schlieren. Der andere Silberne, mit goldenen Verzierungen. Sie waren so gegensätzlich, wie auch gleich, sodass mir das Wort >Zwilling< in den Sinn kam. Konnte das sein? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit bei Engelszwillingen, dass beide Erzengel wurden?
Beide jedoch besaßen funkelnde goldene Augen, welche sich deutlich von denen aller anderen Engeln abhoben. Ob das ebenso eine Eigenheit der Zwillinge war?
„Der Throne Cirillo wird, sobald du in den Lift gestiegen bist, den Bann von deinen Kräften nehmen.“ Bei diesen Worten deutet der rechte, goldene Engel, hinauf zu jemanden. Ich hob meinen Blick und entdeckte meinen schwarzhaarigen Engel, mehrere hundert Meter in der Luft schwebend. Ach, dorthin war er also verschwunden! Zum Glück befand er sich noch, so gut wie, an meiner Seite!
„Man sagte uns, dass dich unbeschreibliche Qualen während der Mutation übermannen werden.“
„Deshalb geben wir die einige Minuten Zeit, um dich zu sammeln. Sobald du die Arena betrittst...“
„...beginnt der Kampf und die andere Bestie wird los gelassen.“
„Hast du das verstanden?“
Ich nickte erneut. „Natürlich.“
Die beiden runzelten die Stirn, als sie meine Stimme nun das erste Mal hörten und wechselten erneut einen so vielsagenden Blick, dass ich mein ganzes Vermögen, welches ich vererbt hatte, glatt darauf verwetten würde, dass die beiden ihre Gedanken austauschen konnten.
„Dann bitte, nach dir.“
Mein Blick glitt, nicht wie gewünscht in den Lift, sondern hoch zu Cirillo. Ich fühlte bereits, wie Cirillo´s Energie in mir arbeitete. Er machte sich bereit.
Als er mir von oben nun seinerseits zunickte, trat ich vor, in den Lift ein.
Erst geschah überhaupt nichts. Die Gitter versiegelten meinen Käfig. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Dann war er plötzlich fort. Cirillo´s Macht verschwand einfach aus mir, als hätte jemand ein Seil gekappt. Für einen Moment taumelte ich, ließ mich dann die Gitterstäbe hinab sinken, bis meine Knie unsanft aufschlugen. Die Vibration schien wie eine Glocke zu fungieren, für meine eigenen Mächte. Sie kochten so schlagartig in mir hoch, dass mir für einen Moment doch tatsächlich übel wurde. Mein Hirn pulsierte, breitete sich aus, schlug gegen die Innenseite meines Stirnknochens. Immer härter und Härter, als ob jemand darin stand und heraus wollte. Das Pochen wurd immer schlimmer. Ich krümmte mich und schrie. Nie in meinem Leben, hatte ich einen solch gepeinigten Laut gehört.
Die Macht kroch höher, ich würgte, als ob da etwas aus mir heraus wollte, doch es drang nicht nach außen. Es ging tiefer, setzte sich unter meine Haut und brach schier daraus hervor.
Ich schrie wieder, nahm nur am Rande wahr, wie die gesamte Arena, welche dieses Mal übrigens gestopft voll war, einfach verstummte.
Meine Flügel brannten! Jeder einzige Stift in meiner Haut begann zu brennen. Säure ergoss sich über mein Gesicht, drang in mich ein, bis ich weinend zusammen klappte. Mein Gesicht stieß gegen etwas. Es musste der Boden gewesen sein, doch das konnte ich nicht beschwören. Viel eher, fühlte es sich an, wie ein Nadelkissen!
Das Licht von der Arena, brannte in meinen Augen, bis ich erblindete, meine Muskeln rissen und dann... baute sich mein Körper scheinbar einfach wieder von selbst zusammen.
Das alles hatte mehrere Minuten gedauert. Anfühlen tat es sich jedoch, wie Jahre!
Mein Körper bebte immer noch unter der schier unendlichen Kraft, welche in mir erwacht war.
Und dann war da diese Stimme. Wohltuend, männlich und sanft...
>Danke, mein Engel. Ab jetzt ist es dein Weg. Ich weiß, du wirst das richtige tun. Für dich. Für die Menschen. Für die Engel. Du hast die Waffen dafür.<
Die Waffen? Welche Waffen denn? „Papa...“ Es war ein Hauch, welcher mir noch nie über die Lippen gekommen war, doch ich wusste es ganz genau. Meine Sinne wussten es. Meine Seele wusste es. Mein Vater war weiter gegangen. Der Rest seiner Seele... seiner Mächte, war hinüber gegangen, wohin auch immer Engel gingen, wenn sie starben. Nun war da bloß noch ich. Ich und etwas, dass ich nicht kannte. Etwas dass mich ermattet hatte, doch ich wusste, ich durfte nun nicht wieder einschlafen! Ich war nicht in Sicherheit! Noch nicht! Nicht solange ich mich nicht wieder in Cirillo´s Armen befand.
Stöhnend schlug ich meinen ermatteten Arm, nach etwas, dass sich stark nach den kalten Gitterstäben der Engel anfühlte. Etwas, dass mich ab nun nicht mehr würde halten können!
Ich schluckte schwer, bemerkte den metallischen Geschmack in meinen Mund und erkannte erst da, dass ich mir beim Sturz auf die Zunge gebissen haben musste. Es war jedoch bereits wieder geheilt.
Zehn Minuten vergingen. Minuten, die so träge waren, wie das Leben der Engel selbst. Was waren schon zehn Minuten, für die Lebenserwartung eines Engels? Gar nichts! Sollten sie doch warten!
Irgendwann schaffte ich es dann doch auf die Beine, welche mich seltsam stark, in einer aufrechten Position hielten!
Mein Oberkörper jedoch, fühlte sich schwerer an, als noch zuvor. Mein Rücken wurde schier erdrückt, das frisch gekämmte Haar, hing mir strähnig im Gesicht herum.
Da entdeckte ich das, was ich doch brauchen würde, für den kommenden Kampf! Meine Waffe!
Anstatt nach dem improvisierten Schwert zu angeln, griff ich in meinen Rücken und spürte da, was mich unnatürlich beschwerte. Abgesehen von meinen übergroßen Flügel, verstand sich. Es war das letzte Geschenk meines Vaters.
Ich zog es aus seiner Scheide und erschauderte unter dem schneidenden Geräusch, welches es erzeugte. Tonnenschwer fiel es auf den Boden. Der Krach ließ den gesamten Lift erzittern und gefährlich schaukeln. Dabei stieß er in alle Richtungen gegen die Marmorwände.
Meine Sinne waren so auf das außerhalb des Liftes geschärft, dass ich Cirillo´s gehauchten Worte, trotz der vielen hundert Meter, welche uns trennten, so deutlich wahrnahm, als stünde er neben mir. „Oh, Haylee... Bitte nicht...“ Sorge und Angst vermischte sich mit tiefer Trauer. Mein armer Cirillo dachte doch tatsächlich, dass er mich verloren hätte!
Damit die anderen Engel nicht sofort mein schwer erkennen konnten, hob ich meine Flügel von meinem Rücken, fächerte sie zu ihrer vollen Länge auf und erzeugte damit einen Sichtschutz, von oben auf mich herab.
Jemand gab ein Zeichen, woraufhin das Gitter des Liftes auf der anderen Seite in die Tiefe fuhr. Mein Gegner kam!

 

- - - - -

 

Er überraschte mich ein wenig, indem er, statt auf allen vieren aus dem Käfig stampfte, von der Decke hängend, heraus guckte. Es waren bloß zwei rot glühende Augen, doch sie waren mir augenblicklich vertraut. Sie verströmten eine Aura, die ich bereits einmal wahrgenommen hatte.
Nein... nicht ich! Sagte ich mir. Mein Vater war ihr bloß einmal in seinem Leben begegnet. Und dies war eines seiner Nephilimnachkommen. Böser noch, als jeder andere Dämon. Unbarmherzig, trotz menschlicher Herkunft. Ein wahrer Soziopath, der es damals sogar mit Eindutzend Throne aufgenommen hatte!
„Verdammte Arschlöcher!“ Fluchte ich. Die Erzengel wollten mich tot sehen, das war so etwas von klar. Und wenn ich Cirillo richtig einschätzte, wusste er überhaupt nicht, dass diese Kreatur hier in der Engelswelt festgehalten worden war.
Mein Herz pochte laut und nervös in meiner Brust. Schweiß lief mir über den Nasenrücken hinunter. Das Schwert zu halten, mein richtiges Schwert, war so unfassbar schwer! Ich durfte keine unnötige Energie verschwenden und es tragen. Bis ich mich an sein Gewicht gewöhnt hatte und genügend Muskelkraft aufgebaut. Dies würde viele Monate dauern...
Aufgrundessen, zog ich die Klinge, zu Boden gerichtet, hinter mir her, während ich auf die Mitte der Arena zuging. Diese Kreatur würde mich niemals direkt angreifen, dafür war sie zu klug! Jahrtausende alt und mit einer solch finsteren Intelligenz ausgestattet, dass sie dem Führer der Hölle beinahe gleich kam.
Schnatternd gab es einen Laut von sich. Was es sagte, verstand ich natürlich nicht, doch so wie es sich mit seiner rosaroten, viel zu langen Zunge über die Lippen leckte, ahnte ich, dass sie mich als untalentierten Leckerbissen einschätzte.
Langsam setzte die Kreatur ein gebogenen Arm ins Freie. Ihre Krallen zogen dabei tiefe Schlieren in das unnachgiebige Material.
„Nein! Das dürft ihr nicht!“ Cirillo wollte bereits lospreschen, vermutlich um mir zur Hilfe zu kommen, denn immerhin stand ich hier noch immer gebeugt, mitten in der Arena und hatte ungleichmäßige, tiefe Schritte im Sand hinterlassen. Zusätzlich zu einer seltsamen Spur, die stark einem nachgezogenen Schwanz ähnelte. Ehe Cirillo jedoch mehr als drei Schritte tun konnte, wurde er von zwei, in Rüstungen gepackten Engeln davon abgehalten, auch bloß noch einen Schritt weiter auf die beiden Zwillinge zu machen, welche das Spektakel mit perfider Freude verfolgten. Sie wollten einen richtigen Kampf sehen. Blut riechen. Köpfe rollen lassen!
All dass, was in ferner Vergangenheit an der Tagesordnung gestanden hatte. Damals, als Engel Dämonen noch selbstständig gejagt hatten.
„Bitte, ihr dürft das nicht zulassen...“ Seine Stimme war einmal mehr nur ein Hauch. Das Raunen der anderen Engel übertönte ihn sogar, da alle fasziniert von der Vorstellung waren, dass diese Kreatur hier überhaupt noch existierte.
Kriegsgefangener. Todesbringer. Kreatur des Teufels. Abscheulichkeit. Monster! Das waren alles Schlagwörter, welche fielen, während die Kreatur ihren schlanken Körper noch weiter hinaus schob. Seine Gesichtszüge glichen einer schmalen, jungen Frau, während die dunkle, rot pulsierende Haut etwas ganz anderes behauptete. Spitze Höcker kamen aus seinem Rücken, wie Felsen, die man zufällig dorthin platziert hatte. Die Zähne waren gelblich, dampften geradezu vor Gift und Geifer. Die Hinterbeine waren nach hinten gebogen, wie bei einem Vogel und überzogen von tausend harter Schuppen. Überhaupt schien das Wesen kaum ein Stück Körperteil zu besitzen, dass nicht von etwas, was Stein sehr ähnelte, überzogen war. Nur der Schwanz, der lange, knapp zwei Meter lange Schwanz, welcher herum peitschte, war das Einzige, was nur ansatzweise normal an diesem Monster wirkte. Er bestand lediglich von aneinander gereihten Knochen... und wenn ich genauer hinsah, bildete ich mir ein, dass diese kahlen Knochen, verschiedenen Alterszonen entsprangen und überhaupt kein Teil seines eigentlichen Körpers waren!
Ich würgte...
Die Kreatur gab einen lachenden Laut von sich, der wie das Krächzen einer Krähe klang. Nur verstellt und irgendwie verstimmt... Grausam einfach! Wieso ließ man eine solche Kreatur einfach weiter leben?
Als sie sich das nächste Mal bewegte, ging das so schnell, dass ich, bis vor wenigen Minuten, der Bewegung vermutlich nicht einmal hätte folgen können. Sie lief einmal hinter mich und erstarrte dort, während sie mich, ihren Gegner, genau musterte.
Was dachte sie wohl über mich? Wie wirkte ich in ihren Augen? Schwächlich? Untrainiert?
Beides stimmte!
Erneut bewegte sie sich, wie eine Echse, die Wand entlang und lief ein Stück zurück, welches sie bereits zurückgelegt hatte.
Ihr durchdringender, rot leuchtender Blick, wurde noch intensiver, während sie ihre seltsam weichen Nüstern blähte.
Ich tat es ihr gleich, sog die Düfte meiner Umgebung ein und konnte nicht anders, als stolz zu lächeln. Das erste was ich wahrnahm, war der Geruch von Cirillo. Er haftete an mir, drang aus jeder meiner Pore und betörte meine Sinne, ähnlich einer Droge, von der ich einfach nicht genug bekommen konnte.
Cirillo war also doch bei mir. Hier, an meiner Seite, selbst wenn er es überhaupt nicht durfte! Mein Herz stolperte und in meinem Magen begannen sich die Schmetterlinge zu rühren.
Sofort fühlte ich mich wieder gestärkt und bereit für den Kampf.
Genau, ich hatte nämlich ein Ziel. Ich musste unter allen Umständen zu Cirillo zurück. Koste es, was es wolle!
„Waaaah!“ Schrie ich die Kreatur an und schlug mit dem Schwert auf den Boden ein. Es war lediglich ein leichter Schlag, doch der Boden erzitterte darunter.
Augenblicklich baute sich das, bisher neugierig gebliebene Wesen vor mir auf und kreischte wütend.
Bisher war es bloß hungrig und fasziniert gewesen. Doch jetzt war es mit einem Mal gereizt.
Der Schwanz schlug mahnend hinter seinem, knapp drei Meter langen, Leib in die Wand ein und hinterließ tiefe Kuhlen, für jeden einzelnen Knochen.
„Waaaah!“ Ich drängte es fort von seiner Position, in dem ich auf es zu stürmte. Sich im Nachteil sehend, schnellte es davon, zurück zu seinem Lift. Oder war es der meine? Ich hatte wohl einmal mehr die Orientierung verloren.
Nun war die Kreatur so wütend, dass sein gesamter Körper unter seiner Wut erbebte. Geifer und Gift liefen aus seinem gelblichen Mund, ätzte über dessen Haut und fielen zischend zu Boden. Der Schwanz schlug nun schneller. Schnellte herum, von einem Ort zum anderen und zermahlte alles unter seiner Kraft, was nicht niet und nagelfest war! Währenddessen begann die rötliche Färbung unter seinen Schuppen ebenfalls schneller zu pulsieren. Wuchs es dabei auch noch?
Nein, es stellte sich auf und begann seine Nägel zu Wätzen. Es war bereit für den Kampf! Na endlich!
Als es Angriff, geschah es so schnell, dass mein Körper mehr reagierte, als ich denken konnte. Ich blockte seine messerscharfen, langen Krallen mit dem Schwert. Es stieß einen wütenden Laut aus, immerhin hatte es eben eine Engelsklinge berührt!
Frustriert schlug es mit dem Schwanz nach meinen Beinen, doch ich sprang so schnell darüber, dass dieser nicht einmal in die Nähe meines Körpers kam.
Wieder schnellte es an die Wand. Kam zurück und nutzte meine Unerfahrenheit im Kampf, um mich ins Taumeln zu bringen. Ich hielt ihm jedoch stand. Weigerte mich, von so etwas abscheulichen überhaupt berühren zu lassen, und duckte mich lediglich einen Moment später unter einem tödlichen Biss hinweg. Bedauerlicherweise übersah ich dabei, dass diese Gestalt, sogar im Flug seinen Schwanz herum schwingen konnte, sie traf mich ander Schulter und katapultierte mich glatt mehrere Meter zur Seite, bis die Wand meinen Flug stoppte. Schreiend ging ich zu Boden. Jedoch nicht lange, denn die Kreatur hetzte mir bereits hinterher, bereit ihre gekrümmten Klauen in mein Fleisch zu schlagen und in meinem Blut zu baden.
Ich fühlte mich gefangen, wie in einer Wiederholung. War mir so etwas nicht erst vor einer Woche widerfahren? Nein, weniger mussten es doch sein, richtig?
Ich hob mein Schwert, nur mit dem Unterschied, dass ich dieses mal nicht auf den Leib zielte, sondern auf das weit aufgerissene Maul...
Ich lag im Dreck.
Über mir war diese Kreatur. Schwarz, mit pulsierenden Innerein. Gelber, giftiger Geifer rann meine Klinge hinab und wäre beinahe auf meine geliehene Kleidung getropft, wenn ich nicht rechtzeitig die Beine auseinandergerissen hätte.
Es war vorbei.

XXVIII - Der Rat der Erzengel

„Lasst mich zuerst, ich bin ein Throne!“ Befahl Cirillo und drängte einige, noch immer erstaunte, Wächterengel zur Seite, um sich durch den Schutzwall fallen lassen zu können. Kaum dass seine Beine den sandigen Untergrund berührt hatten, zog ich das Schwert aus dem Maul der, bisher eher unsterblichen Kreatur und wischte die zischende Sauce im Sand ab. Zur Hölle mit diesem Vieh! Und wie das stank!

Angewidert machte ich in dem Moment einige Schritte rückwärts, von dem Wesen fort, als Cirillo auf mich zu lief.
Er schätzt meinen Rückzug wohl falsch ein, denn plötzlich erstarrte er und musterte, meinen, noch immer von den Flügeln, verdeckten Körper.
Ich empfand seinen intensiv forschenden Blick, wie eine Liebkosung auf meinem Leib. Ich sonnte mich in seiner Aufmerksamkeit, auch wenn sie lediglich vorsichtiger Natur entsprang.
Cirillo hatte einfach zu viel negative Erfahrungen mit Nephilim gemacht, um jetzt seine Deckung fallen lassen zu können.
Ich zog das Schwert höher, brachte es in eine waagrechte Position und beobachtete, wie sich ein silbriger Schatten aus der Menge löste. Es war Alitia, welche in rasanter Geschwindigkeit neben Cirillo erschien und diesen damit sogar erschreckte.
„Haylee! Bitte sag mir, dass du noch du bist!“ Bettelte sie. Tränen glänzten in ihrem perfekten Gesicht.
„Alitia, warte.“ Cirillo streckte einen Arm warnend aus, als sie gar noch einige Schritte näher kommen wollte. „Hast du ihre Schreie zuvor nicht gehört? Wer weiß, was die dunkle Seite in ihr, wohl aus ihr gemacht hat.“
Autsch! Ich stemmte eine Hand in die Hüfte und tat beleidigt. „Ach so behandelt ihr Engel Sieger also? Gut zu wissen, dann kann ich ja jetzt zurück in meine Zelle gehen.“
Alitia lachte nervös auf, lief los und umarmte mich so fest, dass ich für einen Moment das Gefühl hatte, gleich in zwei Stücke zerteilt zu werden.
„Schon gut...“ Sanft tätschelte ich ihre Schulter mit einer Hand, während ich in der anderen, weiterhin mein Schwert stützte.
„Haylee?“ Fragte Cirillo beinahe atemlos. Ich senkte meine Flügel herab und lächelte liebevoll. Cirillo´s Augen wurden riesig. „Wie ist das...“ Augenblicklich sank Cirillo auf die Knie und beugte sein Haupt, als ob er sich vor einem König befand, oder so.
Alitia starrte Cirillo mindestens so verwirrt an, wie ich es tat. Dann wechselten wir einen kurzen Blick, woraufhin auch ihre Augen für einen Moment riesengroß wurden. Bloß ihre Wortwahl war weniger... diplomatisch. „Zur Hölle! Wie ist das denn möglich?“ Etwas zögerlicher, ging nun auch Alitia in die Knie, doch ohne ihren Blick von meinem Gesicht abzuwenden.
Verwirrt sehe ich zu Cirillo, doch dieser schien noch immer nach Möglichkeiten für, offensichtlich irgendetwas in meinem Gesicht, zu suchen.
Mein Blick wanderte hoch, auf die Tribünen, wo mir mehrere tausend Augenpaare gleichzeitig schockiert entgegen starrten. Dann bewegten sie sich wie eine Einheit.
Ausnahmslos sank ein jeder Engel, egal ob verschleierter Cherobim, egal welchem Geschlecht angehörig und auch egal, in welchem Alter er sich befand, einfach auf die Knie.
Nur die beiden anwesenden Erzengel schienen sich nicht verpflichtet zu fühlen, sondern senkten lediglich für einen Moment ihr Haupt, ehe sie über die Stille etwas heraus posaunten, was vermutlich in kürzester Zeit die Runde gemacht haben würde.
„Preiset die Vorfahren!“ Ihre Schwerter, nur der Himmel wusste, woher sie diese so plötzlich gezogen hatten, stampften auf den Boden und ließen mich erschaudern. „Ein neuer Erzengel wurde erwählt!“ Echote deren Bariton über die Gegend, als stünden die Brüder direkt neben mir.
„Ei-Ein was?“
Zur Sicherheit warf ich noch einen Blick über meine Schulter, doch hinter mir war dasselbe Bild, wie überall anders auch auf den Tribünen. Die Engel knieten mit gesenkten Kopf.
Vor mir!
„Ci-Cirillo! Was ist hier los?“ Frage ich nervös geworden.
Er war der Einzige, der sich erhob und bis auf wenige Meter auf mich herantrat. „Sieh auf dein Schwert hinab.“ Bat er.
Ich tat dies, hob es an, um mein Gesicht in der, fast wässrigen Oberfläche spiegeln zu können, und staunte nicht schlecht. Nun sah auch ich es... Meine Augen... Sie waren golden!
„Also doch kein Nephilim, was?“ Witzelte ich, überrascht von dieser Tatsache. Obwohl sie, nun ja, eigentlich doch der Wahrheit entsprach! Ich war die Erbin von Michael. Die rechtmäßige Erbin.
„Wie ist das bloß möglich?“ Fragte Alitia und kam ebenfalls wieder auf die Beine.
„Ich habe dich aus der Menschenwelt mitgenommen. Du bist ein Nephilim!“ Beharrte Cirillo, dessen Weltansicht wohl eben erschüttert worden war.
Jedoch nicht bloß seine. Auch die der anderen Engel, denn ein Raunen brach aus, welches überhaupt keine Erklärung bedurfte. Eben war ein Erzengel gegen einen verfluchten Nephilim angetreten.
Ich hatte vermutlich nicht gerade viel Geschick gezeigt, dennoch gegen eine uralte Bestie gewonnen, die hier überhaupt nicht mehr sein durfte.
„Erzengel Haylee.“ Begrüßte der silbrige Zwilling mich. „Mein Name lautet Hebreus. Hätten wir geahnt, dass Ihr ein Nachkomme des ehrwürdigen Erzengel Michael seit, dann hätten wir Euch niemals in diese Arena gezwungen. Bitte verzeiht.“
Ich zuckte zusammen, als hätte man mich eben geschlagen. „Woher...“ Moment, ich erinnerte mich, dass ein jeder Engel in den Büchern unter der Kirche so seltsame Zeichnungen auf den Flügeln besessen hatte.
Ich breitete meine Flügel vollständig aus und staunte nicht schlecht. Daher war also das brennen gekommen. Die Namen von Michael, so wie jedem Erzengel seiner Linie vor ihm, hatte sich dort eingebrannt. Zusammen mit dem meinen.
Woher wusste ich, dass diese Schlieren Namen waren?
„Wie ist das möglich?“ Wiederholte Cirillo. Die Tatsache wer ich war, überforderte wohl sein Hirn. Zumindest sah er dementsprechend aus...
Mein Herz stach schmerzhaft, als ich seinen Namen aussprach, einen Schritt auf ihn zu machte und er gar zwei zurückmachte.
„Nein, das ist nicht möglich! Ich habe dich von der Welt der Menschen geholt. Du. Bist. Ein. Nephilim.“
Ein Nephilim, mit dem er erst vor einer Stunde noch geschlafen hatte, verdammt!
„Es tut mir leid, Cirillo... Ich wusste nicht, wie ihr Engel reagiert, wenn ihr wüsstet, was die anderen Erzengel...“ Ertappt schloss ich den Mund. Was sagte ich denn da? Mist!
„Du behauptest, da sind noch mehr Kinder von Erzengeln in deiner Welt?“ Der goldene Engel wirkte über die Maße interessiert an dieser Tatsache. Ob das nun gut war, oder nicht, würde sich wohl noch zeigen.
„N-Nein, das wollte ich nicht... Ich meinte bloß...“
„Wir müssen sie hierher bringen lassen, Thumeus. Wenn die verloren geglaubten Kräfte der ehemaligen Erzengel tatsächlich auf der Erde sind...“
„Bedeutet dies, dass die Prophezeiung war wird.“ Beendete der silberne Zwilling den Satz des anderen.
Beide nickten sich entschieden zu. „Wachen, sperrt Cirillo erst einmal zur Befragung in den weißen Turm.“
„Was? Aber nein! Warum?“ Cirillo wehrte sich nicht, als Wächterengel, in dicken Rüstungen neben ihm erschienen und ein Band präsentierten, dass mir nur zu bekannt vorkam. „Cirillo, nicht!“
Sein Blick glitt von dem Seil zu mir. „Schon gut. Es ist nur eine Befragung.“ Bestätigte er.
Trotzdem! Dafür mussten sie doch keine Fesseln verwenden, richtig? „Haylee...“ Alitia hielt mich auf, als ich bereits die Wächterengel anfauchen wollte, dass sie ja die Finger von meinem Throne lassen sollten! „Alles hat seine Richtigkeit.“ Schwor sie und zwang mich, sie anzusehen, indem sie sich in mein Blickfeld stellte. „Sie tun nur ihre Arbeit. Lass sie.“
„Aber er darf doch nicht festgenommen werden!“ Beharrte ich. „Er hat nichts falsch gemacht. Cirillo wusste nicht, wer ich bin.“ Scheinbar wusste dies nicht einmal ich so richtig.
„So ist nun einmal das Protokoll. Lass sie ihre Arbeit machen. Bitte!“
Ich erwiderte Alitia´s Blick einen Moment lang. Sie log mich nicht an, sondern war lediglich, wie eine Freundin für mich da. Schlussendlich nickte ich. Sie hatte ja recht.
„So ist es gut. Komm, lass uns dort hinüber gehen.“
Ich beobachtete Cirillo, wie dieser mit einem einzigen Flügelschlag vom Boden abhob. Die beiden Wächterengel positionierten sich links und rechts von ihm, mit langen goldenen Speeren in der Hand und flogen ihm hinterher.
Das war einfach nicht richtig! Wieso nur?
„Ruft eine Ratsversammlung ein, so schnell wie möglich.“ Thumeus war es, welcher einen überraschend kleinen Engel noch etwas zu raunte, dann nickte dieser, hob ab und war so schnell fort, dass ich seiner Bewegung kaum folgen konnte. Dabei flatterten seine beeindruckend glitzernden Flügel, wie die von Kolibris.
„Der Rest von euch, schickt die Einwohner nach Hause. Hier gibt es nichts mehr zu sehen.“
Nichts mehr zu sehen... Ja, selbst Cirillo´s Körper war bereits von einer dicken Wolkendecke verschluckt worden. Das war einfach nicht fair! Wieso? Es wollte nicht in meinen Kopf hinein. Sein Blick, die Enttäuschung darin, das fehlende Verständnis...
„Sieh mich an, Haylee.“ Widerwillig wandte ich dem blassen Engel, welche immer noch meine Hand hielt, mein Gesicht zu. Was wollte sie denn noch? Cirillo würde mir doch nie verzeihen! „Haylee, es wird innerhalb kürzester Zeit der gesamte Rat zusammen gerufen. Das sind, mit dir, nicht mehr, als sieben Erzengel. Sie werden verlangen, dass du ihnen alles erzählst, was du weißt und diese Geheimnisse, werden ausschließlich innerhalb vom Rat bearbeitet. Verstehst du es soweit?“
Auch wenn ich es nicht wollte. Ja, ich verstand...
„Gut, ich werde zwar nicht dabei sein können, doch vor den Toren auf dich warten, gut?“
Tore? „Was für Tore denn?“
Alitia schnalzte geduldlos mit der Zunge. „Haylee, der Rat! Die Versammlung!“ Erinnerte sie mich. „Du musst in die Stadt des Lichts, in den weißen Turm, wo die Ratsversammlung stets stattfindet.“
„Ich?“ Wiederholte ich ungläubig, da nun endlich der Groschen bei mir fiel.
„Ja, >du<. Du bist nun ein Erzengel, egal wer dich zur Welt gebracht hat. Und wenn du nicht aufpasst, werden sie dich vielleicht für untragbar einstufen oder gar wegsperren versuchen. Also bitte! Bitte tu mir den Gefallen und kooperiere einfach. Egal was du eigentlich willst. Dein verdammtes Leben hängt davon ab!“
Wieder zurück in der Realität, nickte ich. Der weiße Turm, dorthin hatte man doch auch Cirillo gebracht! Das bedeutete, ich würde bei ihm sein. Ganz nahe! Nur... „Wie soll ich denn überhaupt in die Stadt des Lichts kommen? Abgesehen davon, dass ich nicht fliegen kann, wüsste ich nicht einmal, wo sie ist.“
Alitia´s Blick flog zu den beiden Zwillingsbrüdern. Mit einem nicken deutete sie auf den silbernen der Zwillinge. „Sprich mit Erzengel Hebreus. Erkläre ihm, dass du nicht die Ausbildung eines Engelskindes erhalten hast und deshalb nie lerntest, wie man fliegt.“
„Einfach so?“ Fragte ich ungläubig. Ich durfte... Auf einen Erzengel zugehen und ihn einfach ansprechen? Das alles erschien mir so... wirr und irrational. Bis vor wenigen Wochen hatte ich noch nicht einmal an die Existenz von Engeln im allgemeinen geglaubt. Und nun?
Das Strahlen, welches von den beiden Erzengeln ausging, war beinahe blendend. Ich sah es nun so deutlich, dass ich mich ein wenig wunderte, weshalb ich es nie zuvor wahrgenommen hatte.
Seltsam irritiert erinnerte ich mich an die Situation, mit Calyle im Auto. Dieser... Dieser Moment, in welchem ich seine Aura hatte wahrnehmen können, so feurig und wild... Es hatte mir schier den Atem geraubt. Selbst Lucy´s Aura war faszinierend gewesen. Die von Katya, Tyrone... Alle waren einzigartig gewesen.
Mein Blick glitt zurück zu Alitia´s Aura. Sie war umnebelt von wild peitschenden Stacheln. Alles an ihrer Ausstrahlung schrie geradezu, dass man sich in Acht bei ihr nehmen musste, da sie die Haut eines Kaktus besaß.
„Was ist?“ Alitia bemerkte mein Starren und wie ich meine Hand unmerklich ihrer Aura entgegen gereckt hatte. Hastig zog ich Letzteres zurück.
„Nichts.“ Räuspernd entfernte ich mich von ihr. „Du kommst doch auch wirklich nach, oder?“
Sie nickte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Natürlich.“ Schwor sie. Ich lächelte dankbar zurück.
„Mister... Ähm... Erzengel Hebreus?“ Der Engel wandte sich von seinem Bruder ab und bedachte mich mit hochgezogenen Brauen. Seine Aura war dabei wie ein schützender Kokon um ihn und seinen Zwilling gelegt. „Ich... Ähm... Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dich... Euch ansprechen soll. Es tut mir so schrecklich leid, aber ich...“ Wie hatte es Alitia formuliert? Mir fehlte die Ausbilung, welche ein jedes Engelskind genoss! „...ich bin niemals in einer Engelskrippe gewesen, wissen Sie. Ich... Ich kenne mich nicht mit den Gesetzen und... und den Anreden oder so etwas aus. Außerdem lernte ich nie, wie man fliegt...“ Mann! Ich klang ja schrecklich! Stotterte ich wirklich gerade eben so herum?
„Nenn mich einfach Bruder Hebreus, meine Schwester. Erzengel ist ein Titel, den wir nicht unter unserem Stand benutzen.“ Dabei deutete er auf sich und seinen Bruder.
Ich gab einen verstehenden Laut von mir. „Dann... Dann vielen Dank.“ Wieso knickste ich denn jetzt?
„Das ist selbstverständlich, dafür musst du keinen Dank aussprechen. Was deine anderen Probleme angehen, werde ich dir gerne Berater zur Seite stellen. Such dir aus, wen du möchtest. Einem jeden Engel wird es eine Ehre sein, für dich zu arbeiten.“
Ich nickte verstehend. Immerhin sollte ich mich ja laut ihm nicht bedanken. Oder nahm ich das nun zu streng? „Dann würde ich gerne Alitia bevorzugen. Sie war mir bisher eine gute Freundin.“
Missbilligend verzog der Engel sein Gesicht. Das war so ziemlich die erste richtige Gesichtsregung, welche ich bei ihm erkennen konnte. „Weshalb wählst denn einen solch niederen Engel?“
Die nächsten Worte entschlüpften mir, ehe ich begriff, was das im Grunde für ein Seitenhieb für jeden Engel war, der schon einmal unter Alitia´s einnehmenden Charakter hatte leiden müssen. „Nun ja, ich kenne Alitia´s Geschichte und nehme an, dass niemand die Gesetze so gut kennt, wie sie. Andernfalls hätte sie niemals ein solches Vermögen erworben, richtig?“ Ups!
Man sah dem silberflügigen Engel nur zu gut an, wie sehr er mich in diesem Moment für diese Worte hasste, doch wischte seine eigenen Gefühle mit einem Handstreich vom Tisch. „Zweifellos, Schwester. Dann werde ich dir zwei Wachen abstellen, die dich zum weißen Turm bringen werden. Wir brechen jeden Moment auf.“
So schnell, wie er sich abwandte, konnte ich bloß annehmen, dass ich ihn vergrault hatte. Na toll!

 

- - - - - 

 

Der Flug zur Stadt des Lichts, dauerte eine gute Stunde. Von irgendwo hatte einer der Wächterengel, oder waren es auch beide, einen Stuhl aufgetrieben, welchen sie mittels sehr stabil wirkenden, goldenen Schnüren an zwei Tragestangen befestigt hatten. Gepolstert hatten sie ihn ebenfalls, sodass ich bequem saß und mit einem dritten, wesentlich kürzeren Seil, konnte ich mich selbst festbinden.
Anfänglich schaukelte das seltsame Gefährt noch etwas. Aber schon bald hatten mich die beiden Wachen sicher bis zum Ziel unserer Reise getragen.
Als ich das erste Mal vom weißen Turm hörte, dachte ich nicht... dass er dermaßen hoch sein würde! Die Wolkendecke war so dicht, dass ich die Stadt darunter überhaupt nicht ausmachen konnte!
Mit offenen Mund betrachte ich das Bauwerk, welches unmöglich jemand geschaffen haben konnte. Es war spiralenförmig angelegt, goldener Stein, wickelte sich um eine stabil wirkende Steinkonstruktion, welche aussah, wie ein stink normaler Turm, bloß dass dieser im Nichts verschwand. Dicke Gewitterwolken polterten und der Geruch nach Regen lag in der Luft, wenngleich er uns hier oben nicht erreichen konnte.
Die beiden Wächterengel flogen nämlich so hoch, wie ich noch nie in meinem Leben gewesen bin. Vermutlich wollte ich die Höhenlage überhaupt nicht kennen, doch ein kleines wenig wunderte ich mich dennoch, weshalb es möglich war, hier problemlos zu atmen!
Erst als wir näher kamen, erkannte ich, dass der goldene, gewundene Stein, welcher sich in einigen Abstand, um den Turm herum in die Tiefe wand, eigentlich eine Treppe war! Vier, um genau zu sein. Woran diese befestigt waren, oder wie sie ihr eigenes Gewicht trugen, schob ich mit meinem Laienwissen besser erst einmal auf echte Magie. Anders konnte ich es mir einfach nicht erklären!
Oben am Turm erschien so etwas, wie eine Kuppel. Auch sie war zum Teil vergoldet, zum anderen bestand sie aus demselben weißen Stein, wie der restliche Turm.
Die Höhle, oder viel eher, der offene Saal, welcher sich darin befand, war von tausenden Stoffvorhängen verziert, offenen Fensterbögen, eine höher gelegene Terrasse und der Boden bestand, beinahe vollständig aus Gold, weißem Marmor. Es war so... Einfach nur verkehrt. Einerseits wirkte es edel, einladend und märchenhaft, andererseits auch protzig und übertrieben.
Im Inneren standen vierzehn Tische mit prachtvollen, verzierten, steinernen Stühlen. Silber, weiß, grau und Gold waren einmal mehr die überwiegenden Farben. Ob man sich daran je sattsehen konnte?
Mir, zu meinem Teil, brannten bereits die Augen von diesen hellen Farben.
„Dankeschön.“ Ich bedankte mich, kaum dass mein Transportstuhl auf der Terrasse abgestellte worden war und öffnete den Knoten.
„Nichts zu danken, ehrenwerter Erzengel Haylee.“
Himmel, klang das schrecklich!
„Es war uns eine Ehre und unsere Pflicht.“ Entgegnete der zweite Wächterengel genauso formal, wie der erste.
„Trotzdem, ihr habt mich den gesamten Weg hierher getragen. Dafür bin ich ausgesprochen dankbar.“ Besonders wenn man mein Gewicht betrachtete...
„Vielen Dank, Erzengel Haylee.“ Erwiderte wieder der zweite Engel. „Wir danken, dass wir Dienen durften.“
Die beiden nickten sich zu, hoben ab und ließen sich den Turm hinab fallen. Ich persönlich hatte nicht genug Mut, um über den Rand hinweg nach unten zu sehen, denn der Wind zog einmal mehr an mir. Besser, ich ging hinein, ehe ich noch ein zweites Mal stürzte.
Sechs der vierzehn Plätze waren bereits besetzt. Ganz links, zu Beginn des Halbkreises, saßen die beiden Erzengel, welche sich so ähnlich sahen. Thumeus machte den Anfang, daneben thronte Hebreus. Danach folgten drei leere Plätze.
Auf Platz vier folgte eine dunkelhaarige Frau, welche ihr Haar zu einer prachtvollen Hochsteckfrisur gebunden hatte. Ihr Körper steckte in reinweißer Kleidung und goldener Schmuck zierte ihren Hals, so wie die Arme, während sich über ihre Beigen Flügeln kreisförmige Symbole abzeichneten.
Der nächste Platz war einmal mehr leer, während sich auf dem darauffolgenden ein massiger Mann tummelte. Er war übergroß, seine Hautfarbe erinnerte an Mokka und die Federn besaßen ein so tiefes Schwarz, dass sie beinahe mit dem Stuhl, auf welchem er saß, verschmolzen. Sie waren quasi unsichtbar.
Auf Platz elf fand ich eine weitere Frau vor. Sie hatte goldblondes Haar, geschecktes Gefieder mit eingewobenen goldenen Perlen und einem Gesichtsausdruck, der darauf schließen ließ, dass sie jeden Moment vor Langeweile einschlief.
Direkt neben ihr saß erneut ein Mann. Er hatte ein Haar, welches ihrem ähnelte, doch trug es viel kürzer und es war feiner. Die Sonne schien darauf und ließ es sanft glitzern, so als ob sich Wassertropfen darauf befänden. Seine Flügel waren gräulich, bloß an den Flügelspitzen tauchte etwas auf, was stark Metallspitzen glich.
Alles in allem machten sie einen einschüchternden Eindruck auf mich, sodass ich augenblicklich umdrehen wollte und den Wächtern in die Tiefe folgen.
Es war Thumeus Stimme, welche mich am Abhauen hinderte. „Haylee! Bitte, dir gebührt der Stuhl deines Vaters, Schwester.“
Schwester... Wenn ich könnte, würde ich ihn zu gerne darauf hinweisen, dass wir in keinerlei Verwandtschaftsverhältnis standen. Nicht in einer Million Jahre!
Welchen Platz Thumeus dabei im Sinn hatt, wusste ich nicht. Er deutet lediglich in die Runde.
Sämtlicher Augenmerk lag auf mir. Ob das wohl ein Test war? Inwieweit ich mich mit den Erzengeln auskannte? Es tat mir fast ein wenig leid, doch die Zeichen von Michael erkannte ich seltsamerweise, als ob sie meine eigenen Initialen wären.
Ohne ins Straucheln zu geraten oder mir sonst irgendeine Peinlichkeit zu leisten. Ich wählte auf der eher rechts gelegenen Stelle, den Platz nummer zehn, direkt neben dem blondhaarigen Engel... Erzengel.
Die Blicke der vier Erzengel, welche ich nicht kannte, begleiteten mich dabei sehr aufmerksam. Als ich vor dem Platz meines Vaters ankam, ließ ich meine Hand auf den eiskalten Stein sinken, welcher als Tisch diente. Eine durchsichtige Flüssigkeit überzog ihn, schien ihn vor dem Zahn der Zeit zu schützen, während in den Stein darunter wunderschöne Zeichnungen und Symbole eingeritzt worden waren. Ob mein Vater ihn gefertigt hatte, oder einer seiner Vorgänger, wüsste ich bloß zu gerne.
„Michael? Michael hatte nie Kinder!“ Beklagte sich der dunkelhäutige Engel missbilligend.
„Ruhig, Bruder Rebeus. Wie du siehst, hat unsere neue Schwester ihren Sitz instinktiv gewählt. Die Vorfahren lenken sie, wie sie es auch bei uns taten.“
Da die beiden, Hebreus und Rebeus begonnen hatten einander anzufahren, entschied ich, mich erst einmal auf den erhöhten Stuhl zu setzen. Dass durch die viele Polsterung meine Beine nicht einmal den Boden berührten, musste ich wohl kaum anmerken. Ich kam mir vor, wie ein kleines Kind. Doch als ich mich genauer umsah, erkannte ich, dass der Riese Rebeus der Einzige war, der zumindest mit den Zehenspitzen unten ankam. Die Frau rechts neben ihm jedoch, war die Einzige, welche nicht einmal den Stuhl berührte, sondern sanft in der Luft schwebte, als gehöre sie überhaupt nicht zu dieser Daseinsebene.
„Bitte, es ist unmöglich dass jemand, der eindeutig ein Mischling ist, zu einem höheren Wesen auserkoren worden ist. Das grenz an Blasphemie!“ Es war der Engel, dessen Haare seltsam glitzerten, welcher nun sprach.
„Wir waren Zeugen ihrer Erwählung. Wollt ihr uns etwa als Lügner bezeichnen?“ Es war einmal mehr Thumeus, welcher sich entrüstete.
„Vi-Vielleicht kann ich euch überzeugen?“ Schlug ich vor, woraufhin alle sechs Augenpaare nun auf mir lagen.
Ich erwiderte jeden, so gut, wie ich konnte, mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen. Ich war so nervös, ich konnte zumindest nur hoffen, dass es einigermaßen höflich wirkte und sie nicht dachten, dass ich vorhatte Batman zu ermorden!
„Fahr fort, Schwester.“ Es war einmal mehr Rebeus, doch wie er >Schwester< sagte, klang es total abwertend.
Ich wandte mich auf meinem Stuhl um und berührte die schnörkeligen Zeichen, welche die Flügel meines Vaters geziert hatten. Nun waren es ebenso die meinen... Danach streckte ich eben jene Hand aus, um auf die folgenden Stühle zu zeigen. „Uriel.“ Damit meinte ich Platz nummer drei. „Grigori.“ Platz nummer vier. „Raphael.“ Platz nummer fünf. „Metatron.“ Platz nummer sieben. Dann kam der leere Platz neben mir dran. „Gabriel.“ Nummer neun. „Luzifer.“ Nummer dreizehn. „Und Logos.“ Es war der letzte und vierzehnte Platz, den ich benannte.
Der blondhaarige Engel neben mir nickte anerkennend. Rebeus verschränkte abweisend die Arme vor dem massigen Brustkorb. Der mit den glitzernden Haaren schnaubte abweisend und die beiden Zwillinge hoben überhebliche die Brauen. Genauso gut hätten sie auch sagen können >haben wir es euch nicht gleich gesagt<.
„Gut, >sie< kennt die Zeichen der anderen Erzengel. Das erklärt aber noch lange nicht, weshalb >sie< erwählt wurde.“
„Verzeih Sanriel, Schwester. Er ist heute offenbar nicht guter Laune.“
Die Blondine neben mir gab einen amüsierten Laut von sich. „Wann ist er das je?“ Spottete sie.
„Ufnier, nicht hier.“ Schimpfte der Engel mit den Glitzerhaaren.
„Schon gut.“ Fing ich das vorherige Thema wieder auf. „Ich weiß selbst erst seit wenigen Monaten, dass ich ein Nephilim bin. Meine Mutter hielt mich versteckt. Sie wollte nicht, dass jemand meine wahre Herkunft kennt.“
„Wegen den Dämonen und den verfluchten Nephilim?“ Erkundigte sich Ufnier neben mir.
„Ne-Nein.“ Mein Blick traf den der Zwillinge. Sie wussten es ja ohnehin schon... „Aufgrund der anderen gesegneten Nephilim. Wir sind zu acht.“
Rebeus sprang auf die Beine und klagte irgendetwas von wegen Betrug und Schande. Ufnier beschimpfte die anderen Erzengel, als Gefallene und Sanriel ergötzte sich darin, dass seine langen Reden offensichtlich der Wahrheit entsprungen waren und nicht bloß seinen Fantasien. Das Blut der Erzengel war verunreinigt worden. Was auch immer dies bedeuten sollte.
Thumeus und Hebreus versuchten zu schlichten, während sich der dunkelhaarige, weibliche Engel vollkommen irgendeiner Meinung enthielt.
„Ruhe!“ Tönte Rebeus Stimme mit einem Mal lauthals durch den Saal und wurde von den Wänden wiedergegeben. „Jetzt beruhigen wir uns wieder.“
Einheitlich wurde genickt, dann saßen sämtliche Erzengel wieder auf ihrem Allerwertesten. „Schwester, erzähl weiter.“
Und so erzählte ich alles, was mir spontan einfiel. Davon, wie meine Mutter, zusammen mit einem Dämon gemeinsame Sache gemacht hatte. Wie Michael, sie davor warnte, dass Luzifer´s Spross versuchen könnte mich zu manipulieren. Von Marie´s verrückter Idee, meinen, mehr oder weniger, Geschwistern und endete damit, Cirillo mich auf dem Dach der Schule mitgenommen hatte. „Aufgrund seiner Abneigung Nephilim gegenüber und wie er über Mischwesen im Allgemeinen sprach, hatte ich die große Angst, dass... dass die Tat unserer Väter und das, was ich durch den meinen geworden bin, womöglich schlimmeres blüht, als so eine leere Zelle.“ Anscheinend war bereits Kreaturen, wie der in der Arena, schlimmeres Widerfahren, als denen in den gewöhnlichen Zellen.
„Damit hat sie nicht unrecht. Unsere Brüder haben damit ihr Blut beschmutzt. Ich bin der Meinung, dass man die Bedrohung im Keim-...“
„Die Prophezeiung, Sanriel.“ Es war das erste Mal, dass der Engel mit den beigen Flügeln das Wort ergriff. Zeitgleich sank ihr Körper auf dem Sessel zusammen und sie atmete tief ein, so als ob es das erste Mal, seit einer ausgesprochen langen Zeit sei. „Ich nehme an, darum geht es doch in dieser Sitzung, richtig, Hebreus.“
Der silberne Zwilling nickte. „Uriel´s letzte Prophezeiung, ehe er in den Krieg gegen Luzifer´s Schergen zog.“
Prophezeiung? Luzifer´s Schergen? Wovon sprachen die beiden?
„Uriel machte eine letzte Prophezeiung, ehe er in die nächste Existenzebene aufstieg. Diese besagte, dass die Existenz der Engel auf der Kippe stünde.“
„Der Fall der Engel.“ Meine Stimme erklang so leise, dass ich schon beinahe annahm, ich bilde es mir lediglich ein. Da jedoch sämtliche Blicke erneut auf mir lagen, wusste ich, dass ich mir nichts von alldem hier einbildete. „Feuer. Blut. Tod.“ Woher kamen diese Worte nun wieder? Wieso waren sie als Dauerschleife in meinem Kopf?
„Im Feuer geschmiedet. Durch Blut besiegelt und vom Tod gerichtet.“ Wiederholte Hebreus die Prophezeiung.
„Die Dämonen sind aus Feuer geschmiedet.“ Bestätigte der bisher stumme Engel. „Luzifer hat das erste Engelsblut vergossen, was bedeutet eine Mischung aus beiden, wird der Tod der Engel sein.“
„Das ist aber ausgemachter Unsinn.“ Beklagte sich Ufnier. „Luzifer wollte, dass wir aufsteigen. Dass wir Engel uns erheben, als Götter und die Menschen vollkommen vergessen. Deshalb auch die vielen neuen Gesetze.“
„Niemand außer den Throne sollte je wieder in die Welt der Menschen gehen. Sie sollen uns vergessen. Wir brauchen sie nicht.“ Stimmte Sanriel seiner Sitznachbarin zu.
„Aber dann wären die Cherubim völlig sinnlos, genauso wie die Throne. Und wenn niemand mehr dort ist, um die Menschen vor den Dämonen zu beschützen-...“
Ich gab einen ungläubigen Ton von mir, als Thumeus diese Worte aussprach. Hatte ich gerade eben richtig gehört? „Seit wann beschützen Engel denn die Menschen?“ Fragte ich und war überrascht von meinem eigenen Mut. „Ich habe gesehen, wie Cirillo die Kontrolle über einen alten, gebrechlichen Mann übernommen hat. Er hat dessen Körper benutzt. Und die Cherubim machen nichts weiter, als Erinnerungen der Zeugen löschen. Zudem jagen Throne uns Nephilim und bringen sie hierher. Dabei sind wir... also diejenigen, die nicht von Dämonen abstammen, die Einzigen, die diese verdammten Löcher stopfen, welche sich überall auf der Welt auftun. Niemand beschützt die Menschen. Die Engel geraten in Vergessenheit!“
Wieder wechselten die Erzengel vielsagende Blicke, doch mir wurde einmal mehr nichts gesagt.
„Wie können wir in Vergessenheit geraten? Wissen die Menschen denn nicht, was unsere Vorfahren für sie getan haben?“
„Wann war das genau?“ Fragte ich, kein bisschen provokant, denn ich wollte es ganz ehrlich wissen.
„Vor...“ Begann Ufnier, doch sie kam nicht wirklich darauf.
„Du rechnest in Menschenjahren... Also müssten es nun um die zweitausend Jahre sein. Da wurde das letzte Mal ein Nephilim geschickt, um die Tore zu schließen.“
„Und danach?“
„Niemand mehr.“ Gab Sanriel zu.
„Wieso nicht?“ Fragte ich neugierig. Das ergab keinen Sinn.
„Weil wir Engel unsere eigenen Probleme hatten. Grigori wollte überhaupt nicht mehr heimkommen.“ Maulte Rebeus. „Luzifer griff zur Waffe. Metatron und Logos...“ Rebeus hielt in seiner Schimpftirade, die anscheinend eine Rechtfertigung hatte sein sollen, inne.
„Ich weiß, ihr hattet eure eigenen Probleme... Das hat jedes Volk, das verstehe ich.“ Auch das meinte ich vollkommen aufrichtig. „Aber wenn ihr schon nichts für die Menschen tun konntet... wieso habt ihr sie dann nicht zumindest aufgeklärt? Weshalb lässt ihr sie im Unklaren?“
„Dieses Thema hat hier nichts zu suchen, Schwester.“ Thumeus überging mich so konsequent, als sei das Thema damit endgültig beendet. Ich sah das zwar nicht so, doch jeder andere nickte zustimmend.
„Richtig, es ging um unsere Schwester Haylee.“ Ufnier gab mir mit einer Handbewegung das Wort zurück, doch ich wusste wirklich nicht, was ich dazu noch sagen sollte. Nicht bloß, dass mir einfach der Mund Vorboten worden war, nein jetzt soll ich auch noch weiter machen, als sei überhaupt nichts gewesen?
Ich dachte an Alitia´s Worte. Hier ging es um mein Leben. Meine Existenz... Dann dachte ich an Cirillo und wie sehr ich ihn mir herbei sehnte, einfach nur damit ich ihn ansehen und neue Kraft erhalten konnte.
„Ich weiß nicht, was ich noch dazu sagen soll, tut mir leid.“ Entgegnete ich halblaut.
„Gut, dann sollten wir nun entscheiden, ob Erzengel Haylee, aufgrund und trotz ihrer Herkunft ein Sitz im Rat geboten werden soll.“
Ufnier klatschte sofort mit der flachen Hand auf den Tisch. Rebeus verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und lehnte sich abweisend zurück. Ufnier schenkte dem Engel neben sich einen auffordernden Blick, doch dieser rümpfte lediglich die Nase und wandte dann auch seinen Blick ab. Hebreus und Thumeus bewegten sich erneut, wie eine Einheit. Ihre Hände fielen flach auf den Tisch.
Dann glitten die Blicke zu dem nur halb anwesenden Engel. Sie nickte mir zu, dann verschwand sie, wie eine Nebelerscheinung, welche sich auflöste. Ich blinzelte mehrmals, doch... sie war fort! Einfach so?
„Gut, dann ist es entschieden.“ Verkündete Hebreus. „Schwester, du darfst bis auf weiteres das Erbe deines Vaters antreten. Über das weitere Vorgehen, so wie deine persönlichen Anliegen, werden wir neue Ratssitzungen einberufen.“
„Bis dahin raten wir dir, einen Berater zu konsultieren, der dich in sämtlichen Rechtswesen unterweist. Zudem könnten Flugstunden nicht schaden.“
Ufnier, Sanriel und Rebeus erhoben sich lediglich mit einem Flügelschlag in die Luft, während die Zwillinge sich einander zuwandten.
„Moment!“ Bat ich. „Was... Was ist mit Cirillo? Wieso wurde er weggebracht? Kann ich ihn sehen?“
Bis auf Sanriel schien sich niemand wirklich angesprochen zu fühlen, daher löste sich die Gruppe auf und er kam langsam schwebend auf mich zu. „Der Throne wurde bereits befragt. Sein Fall wird morgen dem Rat vorgetragen. Und ja, Besuche sind natürlich erlaubt, er ist immerhin kein Gefangener.“
„Wieso darf er dann nicht nach Hause?“
„So sind die Gesetze, Schwester.“ Meinte er lediglich, dann wandte er sich ab und flog einfach durch eine Dachluke hinaus, welche mir bisher noch überhaupt nicht aufgefallen war. Als sie sich jedoch direkt hinter ihm wieder schloss, wusste ich auch, weshalb sie da gewesen war. Sanriel manipulierte die Erde.
„Haylee!“ Alitia kam auf mich zugeeilt, im Sinne, dass sie einfach flog und direkt vor mir landete. „Und? Wie war deine erste Ratssitzung?“
„Die sind doch alle bekloppt!“ Beklagte ich mich halblaut, woraufhin sie eine Hand hob.
„Warte, du darfst mir überhaupt nichts erzählen, bitte vergiss das ich gefragt habe.“ Wehrte sie sofort ab und schien sich fürchterlich zu ärgern.
Ich stöhnte. „Na toll und mit wem soll ich jetzt über all das reden, was besprochen wurde?“
„Das geht leider bloß mit einem anderen Ratsmitglied.“ Meinte sie bedauernd, und begann sich in Bewegung zu setzen. „Aber zumindest haben sie dich am Leben gelassen. Wie sieht es denn mit deinem Erbe aus? Darfst du es antreten?“
Ich bejahte. „Sogar den blöden Sitz im Rat darf ich behalten. Vorerst!“ Fügte ich vielsagend an, woraufhin auch Alitia einen genervten Laut von sich gab.
„Ich verstehe. Aber so ist nun mal unsere Bürokratie. Nichts geschieht über Nacht. Nun ja, außer dass du ganz groß erbst! Ich habe gehört, dass sich Michael´s Grundstück an einem der sonnigsten und schönsten Flecken im gesamten Land befinden soll! Mit endlos langen Gärten, einem mehrstöckigen Haus, einem Wasserfall und sogar ein kleines Gebirge soll-...“
Ich unterbrach Alitia, da ich im Moment wirklich keinen Kopf für irgendwelche fliegenden Inseln hatte. „Das alles ist mir egal, Alitia. Ich möchte nur nach Cirillo sehen.“
Sie winkte ab. „Dem geht es gut. Er sitzt in einem der Gästezellen und wartet auf seine Anhörung.“
Mir sank das Herz. „Also wird er doch, wie ein Gefangener behandelt?“
„Nein, er steht lediglich unter Beobachtung.“
„Wieso darf er dann nicht heim? Sie können ihm auch eine Wache nach Hause abstellen, die jeden seiner Schritte beobachtet.“ Beklagte ich mich, auch wenn ich wusste, dass Alitia an alldem nichts ändern konnte.
Kopfschüttelnd musterte sie mich. „Was ist denn los mit dir, Haylee? Seit wann interessiert dich Cirillo so sehr? Der eine Tag Pause, wird ihm schon nicht schaden.“
Wenn sie nur wüsste! Da waren Lebewesen, die von ihm abhängig waren. Arbeit, die erledigt werden musste. Dinge... für all die er vollkommen alleine zuständig war!
„Ich muss ihn einfach sehen. Bestimmt ist er total wütend auf mich.“
Sie gab einen erkennenden Laut von sich. „Ach, verstehe. Wegen deiner plötzlichen Veränderung. Ja, die hat ihn ganz bestimmt aus der Fassung gebracht.“ Stimmte sie mir zu.
Als wir vor meinem Reisesessel ankamen, ließen sich zwei Wächterengel vom Dach fallen. „Erzengel Haylee.“ Beide neigten tief ihr Haupt.
„Müssen die mich so ansprechen?“ Fragte ich in Alitia´s Richtung.
Sie nickte. „Ja, das sollte ich übrigens auch in der Öffentlichkeit, sonst schmälert es deinen Rang in der Öffentlichkeit.“
Ich rollte mit den Augen. Na ganz toll!
„Hallo... Jungs..“ Grüßte ich zurück. „Danke, dass ihr gewartet habt.“
„Nicht doch! Ihr müsst uns nicht danken.“
„Es ist uns eine Pflicht und eine Ehre.“
Na wenn sie es sagten... „Trotzdem. Vielen Dank.“
Sie nickten, scheinbar wussten sie nicht, was sie darauf erwidern sollten, deshalb wechselte der eine Wächterengel das Thema. „Dürfen wir Euch zu Eurem Grund fliegen, ehrenwerter Erzengel? Oder habt ihr noch andere Reiseziele?“
„Seht uns vorübergehend, als Eure Flügel an.“ Ergänzte wieder der andere Engel.
„Ähm... Ja, ich würde tatsächlich gerne zu Cirillo, dem Throne. Er wird hier im weißen Turm gefangen gehalten, weil er morgen seine Anhörung hat.“
Beide Engel nickten verstehend.
„Erzengel Haylee, können wir nicht lieber stattdessen zu Eurem Grund fliegen? Cirillo seht Ihr doch ohnehin morgen bei der Anhörung. Bis dahin solltet Ihr euer Wissen, was unsere Gesetze angeht, aufstocken.“
Alitia hatte recht. Wenn ich nichts von den Gesetzen hier verstand oder der Art, wie Engel ihre Dinge regeln, dann würde ich Cirillo morgen nicht helfen können, sondern vielleicht sogar schaden! Andererseits... „Es dauert bloß ein paar Minuten. Ich muss mich nur versichern, dass es ihm gut geht, sonst kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren.“
Die beiden Wächterengel hatten sich bereits wieder jeder ein Stück des Stabes, an welchem mein Stuhl hing, geschnappt und schwebten damit aufrecht. Ich nahm Platz, >schnallte< mich an und dann ging auch bereits die Fahrt abwärts. Für eine sehr, sehr lange Zeit... Nun schienen es die Wächterengel nicht mehr allzu eilig zu haben, bis zur Mitte des Turmes zu kommen und dort auf einem ausladenden Balkon zu landen.
Ich bedankte mich erneut und schwor, dass ich es schnell machen würde. Alitia ging vor mir. Sie zeigte mir den Weg. Nur einmal sprach sie mit einem Engel, welcher uns den Weg weisen sollte. Erst wurde er pampig, dann deutete sie lediglich auf mich und der Engel fiel sofort auf seine Knie, um mir seine demütige Entschuldigung auszusprechen. Er weigerte sich nämlich, noch ein Wort an Alitia zu verschwenden.
Ich konnte kaum fassen, wie man Alitia behandelte, doch sie winkte einfach ab. „Man gewöhnt sich daran. Außerdem hilft es, wenn man ihnen kleine Streiche für ihre üblen Worte spielt.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. Als ich mich umdrehte, erkannte ich, dass der Engel glatt über eine spontan entstandene Wurzel gestolpert war und beinahe auf die Nase fiel.
Grinsend sah ich zurück zu Alitia, welche so tat, als hätte sie von alldem nichts mitbekommen.
Schlussendlich erreichten wir eine Zimmertüre, welche genauso weiß und schlicht aussah, wie jede andere, von denen, an welchen wir bisher vorbei gekommen waren. Das einzige was diese Türe von allen anderen unterschied, waren die Zeichen, welche neben jeder in der Wand eingeritzt waren.
„Hier ist er. Ich warte dann mal.“ Offensichtlich hatte Alitia nicht das dringende Bedürfnis Cirillo zu sehen, was ich sehr erleichternd fand. So musste ich mich wenigstens nicht verstellen und konnte offen mit ihm sprechen.
„Muss ich... Klopfen oder so?“ Immerhin wusste ich nicht, was mich dahinter erwartete.
Sie zuckte mit den Schultern. „Nur wenn du hinaus musst, dann öffne ich sie dir.“ Versprach sie und machte eine Handbewegung, welche die Türe sich nach oben schieben ließ. Ich dankte ihr und trat in einen hellen Raum ein.
Er war schlicht gehalten. Es gab nicht viel, bis auf ein bequemes Bett, ein Waschbecken, eine Toilette, welche von einer halbhohen Wand verdeckt war, ein Esstisch mit einem Stuhl, so wie eine kleine Öffnung, die als Dusche diente.
Cirillo lag in dem azurblauen Bett, mit den Armen hinter dem Kopf verschränkt. Als er erkannte, wer da eintrat, sprang er sofort auf und betrachtete mich misstrauisch.
„Ha-Hallo...“ Sagte ich schüchtern. Cirillo war offensichtlich noch immer wütend. Oder war es Enttäuschung? Ich konnte mir kaum ausmalen, wie er sich fühlte. Dabei wollte ich nichts lieber, als in seine Arme zu sinken und wieder alles vergessen, so wie vor einigen Stunden zu Mittag.
„Engel, ich weiß wirklich nicht was ich sagen soll. Ich dachte-...“
„Dann sagt einfach überhaupt nichts... Erzengel Haylee.“
Der Schlag saß so tief, dass ich beinahe losheulte. Das war nicht fair! Woher sollte ich denn wissen, dass ich zum Erzengel würde? Dass Vaters Macht mich hier in seiner Welt überwältigen würde und zu etwas machte, dass ich genauso wenig hatte sein wollen, wie ein Nephilim.
„Nenn mich nicht so. Ich bin immer noch ein Nephilim.“ Daran hatte sich immerhin nichts verändert.
„Wer weiß, was du sonst noch verheimlichst. Vielleicht bist du gar das Kind von einem anderen Erzengel und tust nur so?“
Ärgerlich trat ich auf ihn zu, was Cirillo bloß dazu brachte, dass er die Arme vor dem blanken Oberkörper verschränkte und sich etwas zurücklehnte. Er wollte mich nicht hier haben. Das sah ich ein.
„I-Ich weiß, du bist im Moment wütend auf mich. Das sehe ich ein. Und du hast auch jedes Recht dazu, immerhin bin ich...“ Ich schnaubte tief durch. „Ich hatte Angst, Cirillo. Du wirst es vielleicht nicht verstehen, aber ich dachte ehrlich, dass wenn ich dir sage, dass ich nicht eine deiner verhassten Kreaturen bin, um die du dich kümmern musst, sondern der ungewollte Bastard eines eurer ach so... geheiligten und vergötterten Erzengel... Dann würdest du mich nur noch mehr verabscheuen und-...“
„Ich habe dich nicht verabscheut.“ Korrigierte Cirillo mich halblaut.
„Was?“ Fragte ich, denn ich konnte mich sehr klar daran erinnern, dass er sagte, ich sei eine widerliche und intelligenzlose Kreatur.
„Ich sagte, dass ich dich niemals verabscheut habe. Nur das, was du mich hast empfinden lassen, das habe ich gehasst.“ Er leckte sich nervös über die Lippen, ohne mich anzusehen. „Selbst jetzt, wo ich mich betrogen von dir fühle, aufgrund deines mangelnden Vertrauens in mich, hasse ich mich selbst dafür, dass ich dir nicht einfach vergeben kann. Alles wäre... Wärst du einfach bloß ein normaler Engel, dann wäre alles viel einfacher.“
Hatte... Hatte ich eben halluziniert? Ich dachte, eben gehört zu haben, dass Cirillo mich weder abstoßend gefunden hatte, noch wütend auf mich war.
Vorsichtig machte ich noch einen Schritt auf ihn zu, woraufhin Cirillo sogar ein Stück zur Seite rutschte. Fort von mir. „Du sagst das zwar, doch weichst mir weiterhin aus. Was soll das?“
Cirillo hob seinen Blick und tausend Sterne leuchteten in seinen nachtschwarzen Iriden. Mein Herz sprang vor Glück und Sehnsucht, schmerzhaft gegen meinen Brustkorb! „Ich bin ein Throne, Haylee. Als ich dachte, du seist ein Nephilim, hätte ich dich schon nicht anfassen dürfen, doch dachte mir, dass es keinen Sinn macht, wenn ich meinen Gefühlen weiterhin ausweiche. Wenn du überlebt hättest, hätten wir weiterhin ungestört in der Thronefestung leben können. Es hätte sich kaum etwas geändert, bis meine Gefühle irgendwann einmal verschwunden wären. Aber jetzt... Jetzt bist du ein Erzengel, mit wackeligen Ruf. Sollten da bloß ansatzweise irgendwelche Gerüchte aufkommen, dass du dich körperlich jemanden wie mir genähert hast... Haylee! Bitte!“
Gott, war dieser Idiot dämlich! Ich hörte nicht auf seine Argumente, denn sie waren für mich absolut bedeutungslos. Wer wusste schon, wie lange ich noch zum Leben hatte? Wie viele Chancen sich uns noch boten?
Cirillo lehnte sich zwar von mir fort, als ich mich direkt vor ihn stellte, doch seine Hände agierten mit einem Eigenleben, wie ich es von den meinen gewohnt war. Kurzerhand saß ich rittlings auf seinem Schoß, nahm Cirillo´s Gesicht zwischen meine Hände und küsste ihn so innig, dass ich vollkommen den Ort vergaß, an welchem wir uns befanden. Wir küssten uns und konnten überhaupt nicht mehr aufhören.
Es war, als würde eine unendliche Last von mir abfallen. Nun, da ich wusste, dass Cirillo genauso fühlte, wie ich es tat. Zwar verstand ich seine Zweifel und Sorgen, bis auf den Teil, dass seine Gefühle irgendwann einmal verklingen würden, denn das war absoluter Unsinn! Trotzdem wollte ich nichts lieber, als auf all diese Regeln zu scheißen. Ich kam aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, verdammt noch mal! Schwarze wurden nicht mehr versklavt. Frauen besaßen Rechte und Homosexualität war größtenteils legal geworden!
Ich würde nur wegen diesen beschissenen Erzengel-Blödsinn nicht zurück ins Mittelalter fallen!
Als ich mich atemlos von seinen weichen, köstlichen Lippen löste, lächelte Cirillo liebevoll zu mir hoch. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“
„Das sollte ich doch über dich sagen. Immerhin sitzt du im Gefängnis.“
„Ich stehe lediglich unter Beobachtung.“ Korrigierte er mich, was Alitia ebenfalls bereits gesagt hatte. Trotzdem machte derselbe Satz, aus seinem Mund, genauso wenig Sinn.
„Mir egal. Du gehörst nach Hause. Du hast nichts verbrochen und das werde ich morgen auch bestätigen.“
Cirillo hob eine Braue. „Dein Sitz im Rat wurde dir anerkannt?“
Ich nickte. „Solange ich nach ihren Regeln spiele, ganz bestimmt.“ Auch wenn meine Stimme im Moment vielleicht nicht so viel zählte, wie die der anderen.
„Aber du kennst unsere Gesetzeslage nicht...“
„Alitia wird mir bis morgen so viel wie möglich beibringen.“ Erklärte ich Cirillo.
Verwirrt musterte er mich. „Wieso bist du dann hier? Sieh zu, dass ihr einen Ort findet, an dem sie dir alles ungestört beibringen kann. Von hier aus kann ich dir nicht helfen.“
Ich zog einen Schmollmund. „Idiot!“ Schimpfte ich und stieß mit meiner Stirn unsanft gegen seine. „Ich bin wegen dir hier. Weil ich dich sehen wollte!“
„Wir sehen uns doch morgen.“ Himmel, sprach ich hier eben mit Alitia, oder meinem Cirillo? Ich hatte das Gefühl, dass man mir heute alles doppelt erklärte!
„Ach, wären unsere Rollen vertauscht, wärst du etwa nicht gekommen um nach mir zu sehen?“
Cirillo küsste mich auf die Nasenspitze. „Du bist eine Frau, du könntest überhaupt kein Throne werden. Außerdem, würde es dein Leben bedrohen, dann nein. Ich hätte Abstand gewahrt.“
„Nur zu deiner Info! Ich wäre ein guter Throne!“ Beklagte ich mich woraufhin Cirillo´s Brust einmal mehr bebte.
„Davon bin ich überzeugt, mein kleiner Nephilim.“ Hauchte er zärtlich, ehe er mich wieder küsste.
Bedauerlicherweise beendete Cirillo unser Wiedersehen viel zu schnell. Er schmiss mich geradezu raus, indem er mir klar machte, wie wichtig es war, dass ich die Gesetze der Engel kennen lernte. Ihr Denken verstand und morgen so agierte, wie man es von mir erwartete. Egal was sie sagten. Ich musste standhaft bleiben. Jedes falsche Wort, jede Gefühlsregung konnte mir, als Schwäche ausgelegt werden. Und Erzengel waren nicht schwach. Sie ergötzten sich geradezu in Anmut, Herrlichkeit und Wissen, als ob sie dies zu jeder Mahlzeit zu sich nehmen würden.
Und morgen musste ich auftreten, als einer von ihnen. Oder da war keine Zukunft, in welche ich zurückkehren konnte. Weder in meine Welt. Noch weniger an die Seite von Cirillo, welche ich schon vermisste, kaum dass sich die Türe hinter mir geschlossen hatte.

 

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Die >Gerichtsverhandlung< fand bereits früh morgens statt. Ich hatte die gesamte Nacht mit Alitia an diesen verdammten Gesetzen gesessen, hatte mir Notizen gemacht, um auch ja nichts zu vergessen und war sämtliche Redewendungen mit ihr durch gegangen. Himmel, hier war es so kompliziert... Ich hatte das Gefühl, erst einen Master machen zu müssen, um bloß an der Oberfläche kratzen zu können. Gut, Engel hatten uns offensichtlich einiges voraus, doch dass es sogar Gesetze gab, wie man sich Gesetzen gegenüber verhalten solle und Gesetz für Verhaltensregeln... Nun ja, ich wollte ja nicht sagen, dass sie übertrieben, denn an und für sich war es ja nichts Schlechtes, insofern es funktioniert. Trotzdem konnte das unmöglich normal sein!
Alitia riet mir, mich zurückzuhalten, bis zum Ende der Anhörung, immerhin würde ich lediglich zu Abstimmungszwecken, also in der Juri sitzen, hübsch aussehen und hatte dementsprechend kein Mitspracherecht, bis es zur Abstimmung kam.
Laut den Gesetzen stand Cirillo nun vor zwei Optionen. Entweder er kam mit einer finanziellen Buße davon, die ihn die nächsten Jahrzehnte belastete und wodurch er seine Kreaturen zu höheren Preisen verkaufen musste und dementsprechend noch viel Häufiger in die Welt der Menschen reisen, um noch mehr und außergewöhnlichere Nephilim zu ergattern... Oder er wurde schuldig gesprochen. Je nach Anklagepunkt konnte dies bis zur Hinrichtung führen!
Alitia jedoch, hatte die Güte auf meine Sorge einzugehen und mich zu beschwichtigen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man beim, derzeit, letzten Throne seiner Art, so weit gehen würde! Das war absurd.
Mir war es jedoch egal! Ich fand, dass Cirillo nichts von alldem verdiente! Im Grunde sollten die Erzengel ihm den Arsch dafür küssen, dass er das Rätsel um das Verschwinden der acht Erzengelkräfte aufgedeckt hatte! Als ich das jedoch, wortwörtlich zu Alitia sagte, wurde diese ganz rot und prustete los vor lachen. Offensichtlich fand sie die Vorstellung wesentlich lustiger, als ich es tat.
Wenn ich bloß daran dachte, dass entweder Ufnir oder der stumme Engel Cirillo nur mit der Hand berührten... Es war, als ob sich mir etwas kräftig um die Brust legen würde. Ein Stacheldraht, oder so... Dieser wurde immer fester und fester gezogen, bis ich geradezu explodieren konnte!
Dabei... hatte ich doch überhaupt kein Anrecht auf Cirillo, richtig? Es war nicht so, als wären wir zusammen und bis vor kurzem hatte ich mir nicht einmal ausmalen können, das ich überhaupt noch zu Gefühlen fähig sei.
Ich hätte sterben können... niemand hätte mich bedauert, oder gar um mich getrauert. Die anderen Nephilim mussten mich einfach ausnahmslos hassen!
Dann war da noch Cirillo selbst. Nun behauptete er, bereits länger Gefühle für mich zu hegen, doch... in den Zellen hatte es nie so gewirkt. Nie! Zumindest nicht meines Wissens nach.
„Du machst das!“ Alitia lehnte sich vor und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn. „Erzengel bekommen immer das, was sie wollen. Und wenn es Cirillo ist... dann wird euch nichts trennen.“
So wie sie das sagte... Ich fühlte, wie die Röte ins Gesicht schoss, als sie mir sogar noch frech zu zwinkerte! Ob Alitia irgendetwas ahnte? War ich denn zu lesen, wie ein Buch? Oder riet sie lediglich ins Blaue hinein und meinte eigentlich, dass ich eine tiefe Freundschaft zu ihm aufgebaut hätte, wie es zu ihr der Fall war?
Auch für Alitia würde ich so weit gehen. Wären die Plätz vertauscht, stünde Alitia hier und heute vor Gericht, wegen ähnlicher Anklagepunkte... Ich würde die Hölle höchst persönlich auf die Erzengel loslassen! Zumindest, insofern ich dies könnte...
„Ich danke dir, Alitia. Bis später!“ Sie nickte mir zu, dann hob sie ab, um nach Hause zu fliegen. Sie meinte, dass solche Verfahren oft eine gefühlte Ewigkeit in Anspruch nahmen und sie deshalb lieber etwas schlief, ehe mich die Wächter zurück zu ihrem Anwesen tragen würden.
Auch meinen beiden Wächtern dankte ich erneut, dass sie so früh bereits auf mich gewartet hatten, um mich hierher zu bringen.
Ich wandte mich um und schob die Kapuze über den Kopf, welche meine Identität verschleiern sollte. Erst hatte ich darüber gelacht, immerhin konnte man mich aufgrund meiner Flügel doch ohnehin erkennen, doch Alitia meinte, dies sei Tradition bei Anhörungen. Bloß der Richter, in diesem Fall der blondhaarige Engel mit dem Glitzerhaar namens Sanriel, durfte sein Gesicht zu erkennen geben. Alle anderen Ratsmitglieder mussten ihr Gesicht verschleiern und durften kein Wort sprechen. Dies war ein eisernes Gesetz!
Ich hoffte bloß... ich konnte dies auch ertragen...
„Schwester.“ Begrüßte mich Hebreus, mit einem anerkennenden Nicken, auf meine Aufmachung hinaus. Ich trug, wie gefordert, eine fersenlange Kutte, hatte meine Flügel eng an meinen Körper angelegt, meine Haare, so wie mein Gesicht unter einer gleichfarbigen Kapuze versteckt und neigte mich respektvoll, als ich Sanriel´s Blick begegnete, als Dank dafür, der Anhörung beiwohnen zu dürfen, obwohl ich doch eigentlich eine Anwesenheitspflicht besaß.
So kurios...
„Bruder.“ Begrüßte ich den silberflügigen Engel meinerseits. Er war ähnlich gekleidet, wie ich, nur mit dem Unterschied, dass er ein beiges Outfit trug, während meines reinweiß war. Thumeus mit seinen goldbraunen Flügeln stach mindestens genauso heraus, wie jeder andere Engel. Zwar hatte dieser sich sogar einen Umhang über die Schultern gelegt, um seine Flügel zu verbergen, doch da sonst niemand so etwas trug, war es recht offensichtlich, wer sich darunter versteckte.
Ufnier zwinkerte mir zu, ehe sie ihre beinahe durchscheinende Kapuze aufsetzte. Es wirkte mehr wie ein Schleier, wie die, welche man auf Hochzeiten trug. Im Grunde verbarg er also überhaupt nichts!
Rebeus war der größte und stämmigste aller Anwesenden. Seine nachtschwarzen Flügel verschmolzen mit seiner in Schwarz gehüllten Gestalt, wodurch er wie der Tod höchst persönlich wirkte.
Thiane war einmal mehr... stumm, schwebte auf einem Flecken, ohne richtig anwesend zu wirken und irgendwie... durchscheinend.
Alitia hatte mir erklärt, dass dieser Erzengel sehr, sehr weit entfernt lebte. Insofern es also nicht um Leben oder Tod ging, projizierte sie lediglich eine Erscheinung von sich in diesen Raum. So etwas konnten jedoch lediglich sehr mächtige Erzengel.
Sanriel selbst war, im Gegensatz zu uns, mit beinahe überhaupt nichts bekleidet. Er trug eine sandfarbene Hose, einen goldenen Gürtel und seine Haare leuchteten im Spiel des Sonnenlichts, wie ein Kopf voller Diamanten. Beeindruckend, aber auch irgendwie... seltsam. Alitia meinte über ihn, er sei verdammt eitel. Wollte ich also Sanriel´s Gunst, musste ich ihm in den Arsch kriechen, bis ich quasi in ihm versankt.
Meine Worte, nicht ihre.
Trotz meines großen Unwillens tat ich genau das, wozu mir Alitia geraten hatte. Sie meinte, ich hätte eine Art an Anziehung, welche ihr bereits bei unserer ersten Begegnung aufgefallen sei. Die Art und Weise, wie sehr Cirillo Nephilim verabscheute, so ließ er sich dennoch willig von mir berühren, stützte mich und brachte mir Sympathie entgegen.
Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich, ob es etwa genau diese, ungekannte Erzengelkraft gewesen sei, welche ihn zu mir hinzog. Ob er nur deshalb mit mir...
Aber ich verbot mir diese Gedanken. Es waren Unsicherheiten, welche ich mir im Moment nicht leisten konnte. Selbst wenn seine Zuneigung zu mir, lediglich aufgrund meiner Kräfte beruhte... meine Zuneigung war echt. Meine Sorge, meine Sehnsucht, meine Ängste um sein Leben!
Nein, in diesem Moment musste ich mich um Sanriel kümmern. „Ganz natürlich, Haylee.“ Mahnte ich mich selbst.
Als Sanriel bemerkte, dass ich auf ihn zukam, zog er verwirrt die Brauen hoch, ohne dass sich auch bloß eine Falte auf seiner makellosen Stirn bildete. Engel eben...
„Bruder.“ Begrüßte ich ihn und beugte mich leicht vor, ehe ich mich wieder aufrichtete und darauf wartete, dass er mich ebenfalls grüßte.
„Schwester, ich bin beeindruckt, wie schnell du dich an unsere... Traditionen anpassen konntest. Ich nehme an, dein Berater hat dich auch über dein Schweigegelübde aufgeklärt, solange der Prozess dauert.“
Ich nickte. „Sie hat volle Arbeit geleistet, ehrenwertes Ratsmitglied.“ Zwar war Sanriel nicht verdeckt, doch ich hatte mich entschieden, wenn ich schon deren Gesetze befolgte, dann würde ich dies überkorrekt tun! Für Cirillo! „Zudem, gebührt Euch mein Dank.“
Er hob erneut die Brauen. „Wie darf ich das verstehen, Schwester?“
„Ihr seid so gütig und lasst mich an dieser Verhandlung teil des Rates sein. Ihr habt euch zwar gestern offen gegen meine Ernennung ausgesprochen, doch nun erbarmt Ihr euch meiner, in einer Form, die ich so niemals vergelten könnte.“ Klang ich wirklich so furchtbar? Wer sprach heute noch so?
Ein wenig eitel geworden, hob Sanriel sein Haupt und zuckte mit den Flügeln, als wolle er sie auflockern. „Nun ja. Man sagt mir hinterher, dass ich nicht bloß ein schönes Gesicht hätte. Für meine Brüder und Schwestern würde ich ausnahmslos alles tun!“
Das war meine Chance! So wie er seine Hand auf den Tisch gebettet hatte, um seine Brust stolz heraus zu recken, legte ich nun beiläufig die meine auf seinen Unterarm. „Natürlich ist nicht bloß dieses perfekt an Euch, Bruder.“ Heuchelte ich. „Und es wäre mir zudem eine Ehre, wenn Ihr mich auch weiterhin mit Eurer Weisheit erleuchten würdet. Ich habe noch so unglaublich viel zu lernen.“ In der Nähe erklang ein ärgerliches Räuspern, welches bestimmt von Ufnier kam. „Auf eine harmonische Beziehung.“ Murmelte ich noch. „Und... dieser Gürtel steht Eurer Taille.“
Hastig machte ich mich auf, um meinen Platz einzunehmen. Thumeus war der Letzte, welcher Platz nahm, an der Seite seines Bruders. Sie waren zwar nicht durch ihre Väter verbunden, doch besaßen dieselbe Mutter, was die beiden zu Halbbrüder machte. Dass sie einander dennoch so glichen, war ein seltsames Phänomen, welches erst von den Engeln, wie alles ungewöhnliche, skeptisch angenommen wurde. Seit die beiden jedoch ziemlich zeitgleich in den Status eines Erzengels gekommen waren, sind auch diese beiden vollwertigen Mitglieder des Engelsreichs.
Erst als alle an ihren Plätzen saßen, übernahm Sanriel die Führung. Etwas, was er sehr deutlich genoss, denn erstmal machte er gemächlich eine Runde um uns herum, wobei er das Haupt hoch erhoben trug und sich mit seinen Flügeln sogar etwas... aufplüschte. Dabei wirkte er wie ein stolzierender Hahn, welcher versuchte, seine Schar zu beeindrucken. Ich musste mich sehr zusammen nehmen, um nicht laut loszulachen! Er sah einfach zu lächerlich aus, wenngleich er eine attraktive Figur machte.
„Waffenbrüder. Schildschwestern. Eine Anhörung ist niemals etwas Angenehmes, doch in diesem Fall, fällt es mir besonders schwer. Wir haben uns hier versammelt, um unseren Bruder, den Throne Cirillo, aufgrund eines unbeschreiblichen Verbrechens anzuklagen. Meines Wissens nach, hat unser Waffenbruder, nicht bloß einen Erzengel in einer Zelle gefangen gehalten, die eigentlich für niedere Kreaturen, wie Nephilim ist, nein er hat diese ehrenwerte Person sogar ernidrigt, indem er sie dazu gezwungen hat, in der Arena anzutreten. Zwei mal!“ Fügte er hinzu, als sei dies besonders wichtig. Zudem störte mich der Fakt, dass er über mich sprach, als sei ich eine alte Freundin und schon ewig hier, dabei hatte er doch gestern erst ganz deutlich gegen mich gestimmt!
Was lief nur schief bei diesem Egomanen?
„Zudem hat er diesen Erzengel auf schlimmste misshandelt, indem er besagter Person, die Fähigkeiten unterdrückte, wozu er weder befähigt sein dürfte, noch die Erlaubnis vom Rat einholte.“
Für einen Moment herrschte Schweigen. Ich wusste, dies waren lediglich die Anklagepunkte, so hatte es mir zumindest Alitia erklärt. Hiernach würde Cirillo seine Chance bekommen, um sich vor Sanriel´s, zweifellos böswilligen Attacken, zur Wehr zu setzen, ehe das Urteil gesprochen wurde.
Meiner Meinung nach war das alles hier bloß eine Farce. Aber ich betete stumm, dass die anderen einsehen würden, dass Cirillo dies alles ohne Wissen über meine Herkunft getan hatte. Cirillo kannte meine Geschichte! Er würde sie vortragen und jeder würde verstehen, dass hier ein Versehen vorlag. Davon war ich absolut überzeugt!
„Nun, dies sind die offensichtlichen Fakten!“ Waren sie nicht! „Nun hat der Angeklagte Throne Cirillo natürlich die Chance sich zu verteidigen.“
Mit einem Handschwänker öffnete Sanriel eine kleine Steinfront, hinter welcher Cirillo bereits wartete. Als ich ihn erblickte, ging mir geradezu das Herz auf! Er machte lediglich einen Schritt und ich ertappte mich dabei, wie ich Anstalt machte, ihm entgegenzutreten. Zum Glück stieß meine nackte Zehe gegen den massiven Steintisch vor mir, somit bemerkte niemand meine unkontrollierte Reaktion.
Statt aufzuspringen und ihm zu beteuern, dass ich hier war, um ihn zu unterstützen, begnügte ich mich damit, Cirillo dabei zuzusehen, wie er, mit lockeren, Schritten auf mich zukam. Seine langen Beine erzeugten beinahe kein Geräusch, während sein Blick, wie magnetisch angezogen, auf mir landete. Seine dunklen, sorgenvollen Augen, hellten sich einige Nuancen auf und sein strenger Gesichtsausdruck wurde augenblicklich heller.
Er sah so gut aus! Ausgeschlafen, frisch eingekleidet und sogar frisiert! Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann Cirillo jemals sein Haar zu einem kleinen Zopf auf seinem Hinterkopf gebunden hatte! Er sah so gut aus!
Ich bemerkte erst ein wenig später, dass Cirillo an mir vorbei war und nun vor Sanriel stand, wie ein frecher Schuljunge, welcher vor den Direktor geladen worden war.
Hm... Ob Cirillo wohl Kinderbilder von sich hatte? Er musste einmal so süß gewesen sein!
„Ehrenwerter Erzengel Sanriel.“ Cirillo beugte sich tief. „Ratsmitglieder.“ Er grüßte auch uns, dann war seine volle Konzentration auf Sanriel gerichtet. „Vielen Dank, für die Einladung.“
Einladung? Wieso verdammt noch mal, waren hier alle so... so verdreht? Das war doch nicht normal!
„Natürlich, Bruder! Du hast zwar gegen das Gesetz verstoßen, doch ich bin zweifellos davon überzeugt, dass du dich uns erklären wirst können.“
Als ob! Eben noch hatte Sanriel exakt das Gegenteil davon gesagt! Dieser Heuchler!
„Erzengel Sanriel, ich kenne natürlich meine Anklagepunkte und muss mich bedauerlicherweise von jeglicher Unschuld freisprechen.“ Cirillo´s Blick glitt traurig zu Boden.
Moment... Er sprach sich von seiner >Unschuld< frei? Hieß das... er bestätigte etwa seine Schuld? Was?
„Natürlich tust du das. Es gibt genug Zeugen, die bestätigen können, besagten Erzengel in den Zellen gesehen zu haben, so wie diejenigen, welche den Erzengel in der Arena kämpfen und gewinnen sahen. Zwei mal!“ Meinte Sanriel streng, während er Letzteres erneut vollkommen unnötig betonte!
„Wie beim Verhör, kann ich bloß erneut beteuern, dass ich, wenn ich gewusst hätte, dass in diesem Nephilim, die Mächte eines Erzengels schlummern, ich niemals so gehandelt hätte. Meine Treue gehört den Erzengeln. Nur den Erzengeln! Ich bewundere und verehre sie und ihre Güte, so wie Weisheit. Für meine Brüder und Schwestern würde ich zu jeder Zeit mein Schwert schwingen und mein Leben lassen.“
Oh Engel...
„Daran zweifelt selbstverständlich niemand, Cirillo. Du bist ein geschätztes Mitglied unserer übergroßen Familie. Selbst wenn die Tat deines Vaters dem Ruf euere Familie schwer geschadet hat, würde niemals jemand an den Überzeugungen und Talenten eines Thrones zweifeln. Das weißt du.“
Cirillo nickte. „Diese Worte ehren euch, Erzengel Sanriel. Vielen Dank.“
Sanriel nickte anerkennend, dann fuhr er seine Vorwürfe weiter fort, als hätte er eben nicht gesagt, dass Cirillo zur Familie gehört und deshalb gut behandelt werden würde! „Trotzdem hast du der Entfaltung von unvorstellbaren Kräften entgegengewirkt. Zudem hast du eine deiner Schwestern gefoltert. Du weißt, das dafür der Verstoß der Gemeinschaft droht.“
Verstoß? Von einem Verstoß war niemals die Rede gewesen! Cirillo... Du musst dich verteidigen!
Als Cirillo nicht reagierte, sprach Sanriel einfach weiter. „Jedenfalls, würde es mich interessieren, was deine Intention dazu gewesen war. Was hast du mit deinem Eingriff bezwecken wollen?“
Cirillo´s Körper spannte sich an, so als ob er jeden Moment einfach explodieren würde. Als er jedoch sprach, klang er vollkommen ruhig. „Ich hatte keine böswilligen Intentionen, ehrenwerter Erzengel. Es stimmt, an diesem Tag habe ich einen Nephilim mit in diese Welt gebracht, welcher mutierte, kaum dass wir die wilden Gewässer verlassen hatten.“
Wilden Gewässer? Wo war das denn schon wieder? Alitia... Ich sehnte mir meine Freundin und Unterstützerin so sehr her... Meine Frustration war unbeschreiblich.
„Die Verwandlung fand viel zu schnell statt. Noch im Flug zu den Unterkünften von Nephilim, fiel es mir zunehmend schwerer die Kreatur in meinen Armen zu halten. Sie schrie... unter unerträglichen Schmerzen und schien von innen heraus zu explodieren.
Um ein sicheres Heimgeleit zu garnatieren, schaltete ich mich in dessen Geist ein, um sie zu betäuben. Es wehrte aber nicht lange, denn die Kreatur erwachte erneut. Sie war... ungewöhnlich penetrant und schien meinen Kräften zu widersetzen. Das Licht reizte es, die Geräusche verunsicherten es und die Schmerzen... Zu dieser Zeit dachte ich, dass es lediglich ein Nephilim sei, doch diese Kreatur litt so stark, für einen Moment erwog ich, es zu erlösen. Als es jedoch dann sogar sprach... Ich weiß nicht so genau, was es war, doch es kam mir einfach falsch vor... Deshalb griff ich in den Geist der Kreatur, legte meine eigenen Kräfte, wie einen Bann um dessen größten Schmerzpunkt und brachte es somit dazu, dass es sich erholte.“
Hatte ich... Hatte ich tatsächlich dermaßen gelitten? Ich konnte mich ehrlich gesagt, kaum bis überhaupt nicht daran erinnern. Es war, wie ausgelöscht!
Sanriel atmete tief durch. „War dir zu dieser Zeit, oder zu irgendeiner anderen, während des Aufenthalts, dieses angesprochenen Nephilims bewusst, dass es sich anders verhielt?“
„Ja.“ Antwortete Cirillo, ohne zu zögern. „Es zeigte Anzeichen für Intelligenz und Verständnis unserer Sprache.“
Ich runzelte erneut die Stirn. Was denn für eine Sprache? Ich hätte mir doch meine Notizen mitnehmen sollen, um all meine neu aufgeworfenen Fragen zu notieren! Ich hatte so unbeschreiblich viele!
„Trotzdem hast du den Rat nicht ins Vertrauen gezogen.“ Warf Sanriel dem Angeklagten nun an den Kopf.
„Nein, es stand mir, als Throne nicht zu. Ich bin der ranghöchste Throne in der Festung, dementsprechend habe ich auch die Befugnis, mich dazu zu entschließen, diese neuartige Entwicklung erst einmal zu beobachten, ehe ich irgendwelche Schritte einleite.“
„Stand denn zu irgendeiner Zeit fest, dass besagter Nephilim eine Bedrohung für deine Brüder, deine Schwestern oder gar dich selbst darstellt?“
Cirillo schwieg erneut einen Moment. Seine Hände arbeiteten, während er sie hinter seinem Rücken immer wieder zu Fäusten ballte und wieder öffnete. „Nein. Der Nephilim war schwächlich. Seine körperlichen Kräfte unterentwickelt und die Kampftechnik unausgereift, welche ich bei der Festnahme hatte mitansehen dürfen.“
Autsch! Das war gemein!
„Korrigier mich, Bruder, wenn ich falsch liege. Doch liege ich richtig in der Annahme, dass du, trotz all der Mängel, so wie der fehlenden Kraft, im ersten Kampf, einen hohen Einsatz auf diese erbärmliche Kreatur gesetzt hast?“
Also wirklich! Ich befinde mich im selben Raum, wie diese beiden Idioten! Rücksicht war nicht unbedingt die Art von Engel, richtig? Langsam bekam ich das Gefühl, Sanriel wollte sich bloß über mich lustig machen, in dem er Cirillo zwang das zu sagen, was man von ihm erwartete!
„Ja.“
„Wieso?“
Nun ja, weil er Schulden hatte, die ich... Moment, wussten die Erzengel überhaupt davon? Hatte ich erwähnt, dass ich gefallen war und im Land von Alitia, von Cirillo aufgefangen wurde? Hatte das je jemand erwähnt?
„Es klingt stark nach einem ungleichen Kampf. Der Nephilim besaß keine Waffen, außer die, welche man ihm zur Verfügung stellte, da es kein Gesetz dagegen gibt.“
Cirillo schwieg weiterhin. Nein, von Alitia und den Schulden, hatte keiner ein Wort bisher verloren.
„Das klingt doch schwer nach Betrug, richtig, Bruder?“ Mittlerweile klang Sanriel wie eine zischende Schlange! Himmel, vor wenigen Minuten war ich ihm noch in den Arsch gekrochen! Wie sehr ich mich in diesem Moment dafür hasste!
„Die Quote lag zehn zu eins für den stärkeren Nephilim. Ich dachte, wenn ich glück habe und diese...“ Cirillo stockte einen Moment. Auch er schien es zu hassen, so über mich sprechen zu müssen. „... schwächliche Kreatur gewinnt, kann ich mir etwas dazu verdienen. Immerhin gibt es kein Gesetz, welches verbietet, als Throne zu wetten, wenn ich ohnehin nicht weiß, wer der Gegner meines Einsatzes sein würde. Im schlimmsten Fall würde ich mein Erspartes einbüßen und trotzdem eine Plage mehr los sein. Immerhin haben sich reichlich nach den Flügeln dieser besonderen Kreatur erkundigt.“
Besonders... Mein Herz schmolz, wenngleich ich noch immer ärgerlich war! Sanriel legte es ausnahmslos darauf an, Cirillo in die Enge zu treiben und... und mich rasend zu machen!
Es war, wie ein Licht, welches in meinen Gedanken aufleuchtete. Sanriel trieb nicht Cirillo in die Enge... Nein, er versuchte mich, aus der Reserve zu locken! Er wollte mich provozieren, damit ich einen Fehler machte und als Bastard, so wie Außenstehende untragbar wurde... Dann würde man mich hinrichten und meine Kräfte würden auf den nächsten, rechtmäßigen Erzengel übergehen!
So ein Arsch! Ich krallte mich frustriert in meine Oberschenkel und betete, dass mich ein Gehörsturz in den nächsten Minuten erlösen würde! Zwar wüsste ich dann immer noch, dass dieser Erzengel ein zweigleisiges Spiel spielte, doch müsste es mir zumindest nicht mehr anhören!
Nein... Ich wurde nicht erhört. Das wäre ja auch zu einfach gewesen!
„Gut du hast dich erklärt, Bruder. Deine... Begründungen sind nachvollziehbar, wenngleich ich sie nicht unterstütze. Ist da noch etwas, das du gerne ergänzen würdest?“
Cirillo warf einen Blick zurück, zu den anderen Erzengeln... zu mir... Auch wenn er es bestimmt nicht sehen konnte, so lächelte ich ihn dennoch an. „Ja, das gibt es. Ich will mich noch einmal, ganz offiziell wiederholen. Während der gesamten Zeit, obwohl der Nephilim sich anders verhielt, als alle anderen, wäre ich, genauso wenig wie jeder andere Engel, jemals auf die Idee gekommen, dass ich zu dieser Zeit vor dem Nachfahren eines Erzengels stand. Es ist einfach undenkbar gewesen. Nicht, unmöglich, das gebe ich zu, doch in der Geschichte kam es bereits seit einer Ewigkeit nicht mehr vor, dass ein Erzengel zu den Menschen gesandt wurde, um dort einer Frau den Segen einer Gnadengeburt zu schenken. Geschweige denn, dass es in der Geschichte bisher kein einziges Mal vorkam, dass dieser Nachkomme auch noch als Erzengel auserkoren wurde.“
So etwas hatte Alitia mir ebenfalls erklärt. Dass es dann gleich auf acht Plätz im Rat zutraf... Mir erschien es ein wenig zu viel der Zufälle.
„Danke, Throne Cirillo.“ Erzengel Sanriel trat hinter dem Tisch hervor, hinter welchem er bisher gestanden hatte und blickte mit erhobenen Haupt nun selbst in die Runde. „Ratsmitglieder, wie ihr zweifellos mitangehört habt, hat sich der Throne in sämtlichen Anklagepunkten von der Unschuld frei gesprochen. Er gibt sein Verbrechen offen zu und hofft zweifellos auf ein milderes Urteil. Ich beginne mit der Abstimmung für die Höchststrafe.“
Die Hand von Sanriel schlug so schnell und heftig auf die Tischplatte ein, dass ich willkürlich zusammen zuckte.
Ufnier folgte dem Beispiel, ohne zu zögern. Rebeus war der Nächste, genauso wie die beiden Zwillinge, nachdem sie einander einen vielsagenden Blick zugeworfen hatten.
Sie alle... stimmten für die Höchststrafe für sein Vergehen!
„Schwestern. Auch Ihr müsst abstimmen.“
Mein nervöser Blick zuckte zu Thiane. Dem Engel, der nicht so ganz da wirkte... Sie musterte Cirillo einen langen Moment, so als sei sie eben erst in der Gruppe angekommen und wüsste überhaupt nicht, um was es bei der Abstimmung ginge.
Schlussendlich glitt ihr Blick zu mir. Er war genauso golden, wie der eines jeden Erzengels, bloß dass ihre Augen ganz besonders hervorstachen. Sie war ein Engel der wenigen Worte, sie liebte die Abgeschiedenheit und die Ruhe. Anscheinend war sie eine entfernte Blutsverwandte von Alitia und wenn ich Thiane genauer betrachtete, so konnte ich diverse Gesichtszüge erkennen, die Alitia doch tatsächlich ähnelten.
Mein Herz schlug wie verrückt. Es brauchte mindestens zwei im gesamten Rat, welche gegen die vollkommene Auslöschung durch die Todesstrafe stimmten. Im Großteil der Fälle war der Rat sich immer einig. Und selbst wenn ich mit einem dicken fetten Nein stimmte, so würden die anderen mich einfach übergehen.
Ich brauchte Thiane! Sie musste für Cirillo stimmen! Er war unschuldig!
Als ihr Blick zurück zu Sanriel glitt, verschränkte sie die Arme vor dem Brustkorb, woraufhin ich erleichtert, wohl etwas zu laut, die Luft ausstieß. Thiane stimmte gegen die Todesstrafe!
Sanriel taxierte seine >Schwester< mit böswilligen Blicken, ehe er dasselbe bei mir versuchte.
Ich lehnte mich im Sitz zurück, verschränkte die Arme und hob abweisend mein Kinn. Dieser Arsch konnte mich mal! Meine Stimme hatte vielleicht nicht so viel Gewicht, doch es war immer noch eine zweite Stimme, Arschloch!
„Gut. Deine Strafe wird abgemildert.“ Nun atmete auch Cirillo erleichtert aus. Wenn ich nur daran dachte, dass er ohne meine Stimme... Hätte ich bloß einen Fehler gemacht... Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln und liefen meine Wange hinab. Alles würde gut werden! Cirillo würde es gut gehen!
„Statt dem Tod, verbanne ich dich für ein Quarter ins Gefängnis des weißen Turmes. Dort wirst du deine Strafe ab sofort absitzen.“
„Was?“ Stieß Cirillo hervor. „Aber ich bin der Letzte und einzige Throne!“ Beteuerte er.
Mein Blick glitt zu meiner Sitznachbarin. „Ufnier, was bedeutet das? Wie lang ist ein Quarter?“ Zischte ich in ihre Richtung, während Cirillo um eine Art Hausarrest bettelte.
„In Menschenjahren?“ Fragte sie, woraufhin ich nickte. „Ein viertel Jahrhundert. Für ein viertel Jahrtausend.“
Ich verstand überhaupt nichts mehr. „Was? Was soll das heißen?“
„Dass er innerhalb eines Jahrhunderts immer fünfundzwanzig Jahre im Gefänfnis bleiben muss. Das macht fünfundzwanzig Jahre mal zweihundertfünfzig Jahrhunderte.“
Ich konnte es nicht einmal im Kopf überschlagen... Von einem Jahrhundert musste er fünfundzwanzig Jahre im Gefängnis sein. Und dass jedes Jahrhundert erneut, bis ein Jahrtausend um war? Mein armer Kopf rauchte bei diesen wirren Gedanken. Also waren das dann... zweihundertfünfzig Jahre? Für einen Engel bestimmt kein großes Drama... doch ich stammte aus einer völlig anderen Zeitrechnung.
Ehe ich mich versah, standen bereits vier Wächterengel im Raum und flogen auf Cirillo zu, welcher noch immer versuchte, seine Strafe zu verhandeln. Dass er bei Sanriel jedoch lediglich auf taube Ohren stieß, wunderte mich gleich weniger.
„Wer übernimmt dann seine Arbeit?“ Stieß ich hervor, scheißend auf die >Höflichkeitsregeln<.
„Schwester!“ Mahnte Thumeus streng, doch ich überging ihn.
„Tut das einer von euch? Werdet ihr nun die Lebewesen füttern, welche sich in den Zellen befinden?“
Sanriel schnaubte. „Es sind bloß Nephilim. Sollen sie doch verhungern. Niemanden wird das stören.“
Natürlich tat es das nicht... „Und was ist mit den Lebewesen in der Festung? Das sind keine Nephilim, die dort leben und die Sträucher bestäub-...“
„Kein Engel betritt die Thronefestung. Es ist eine Tabuzone, für jeden, abgesehen für Throne.“
„Und Erzengel!“ Ergänzte ich.
„Nur wenn sie eine Einladung erhalten haben und es einen triftigen Grund dazu gibt. Kleine... flatternde Pollenflügler sind meiner Meinung nach kein Grund um so einen Aufwand zu betreiben.“ Aufwand? Als ob sich dieser mickrige Scheißer...
„Haylee, bitte lass es gut sein.“ Verlangte nun Cirillo, während mein Kiefer mahlte.
„Nein, ich lasse es bestimmt nich-...“
„Haylee, ich akzeptiere meine Strafe. Du musst das auch tun. Es ist ja nicht für lange.“
„Es sind zweihundertfünfzig Jahre!“
„Aber nicht auf einmal. Wäre ich kein Throne und auch nicht der Letzte, wäre meine Strafe noch viel Härter ausgefallen. Ich bin dir ja dankbar, dass du gegen meine Auslöschung gestimmt hast, doch bitte... Ich flehe dich an... Belasse es dabei!“
Ich fühlte Hebreus Hand an meiner Schulter, als ich schon zwei der Wächterengel aus meinem Weg schieben wollte. Wann war ich denn auf Cirillo zu gegangen? Seit wann bewegten sich alle?
Ich verstand das einfach nicht. Wie konnten sie bloß dastehen und zusehen, wie ein Unschuldiger bestraft wurde? Ja, Unwissenheit schützt bekanntlich vor Strafe nicht, doch das was sie taten, war einfach bei weitem nicht fair! Es war niederträchtig! Unfair! Überheblich!
„Cirillo...“ Flehte ich, doch er ließ sich, ohne Gegenwehr von zwei der Wächterengeln einfach abführen. Zwar rückwärts und stolpernd, da er den Blick nicht von mir abwenden wollte, doch er ließ es zu...
„Cirillo!“ Es war nun nicht mehr bloß Hebreus, welcher meinen Arm in einem schmerzhaften Griff festhielt, sondern auch Rebeus, welcher sich in mein Blickfeld schob und Ufnier.
Beide sagten etwas, wobei Ufnier wesentlich einfühlsamer klang, doch ich hörte das überhaupt nicht mehr.
„...alles gut... Passe dich an...“ War alles, was ich von Cirillo hörte, doch das wollte ich überhaupt nicht. Ich bin kein Erzengel. Kein Nephilim. Ich bin nicht einmal aus dieser verdammten Welt!
„Cirillo, bitte!“ Er musste einfach kämpfen. Wenn nicht für sich selbst und die verlorene Zeit, dann wenigstens für mich. Ich hatte ihn doch eben erst gefunden.
Wie konnte er da bloß weggehen? Wie konnte er mich ohne Probleme verlassen?
Ich hing mehr in der Luft, als dass ich stand. Rebeus stemmte sich mit geballter Kraft gegen meine Schultern, damit ich nicht hinter Cirillo her kam. Hebreus und Ufnier hielten je eine Hand, indem sie kräftig mit den Flügeln schlugen, und versuchten rückwärts zu kommen.
Aber das durften sie nicht! Das war nicht richtig! Cirillo gehörte zu mir! Er war... Er war...
Ich riss meinen rechten Arm los, den Hebreus gehalten hatte, woraufhin dieser hinter mir ins Straucheln geriet.
Rebeus schnaubte vor Anstrengung und Ufnier riss mir die Kapuze vom Kopf.
„Cirillo! Bitte! Ich kann nicht...“ Nicht ohne ihn. Nicht in dieser Welt. Nicht diese lange Zeit!
Es war, als ob etwas in Cirillo fuhr. Für einen Moment stoppte er. Sein Blick war so eindringlich, es fühlte sich an, wie eine Liebkosung in meinem Gesicht. Warm und zärtlich berührte er jeden Zentimeter meines Gesichtes, ohne auch bloß in meiner Nähe zu sein. Auch ihn packte die Sehnsucht. Das alles geschah ebenfalls ohne seinen Willen. Und auch wenn er ein Engel war, in Gesetze hinein geboren, die hart aber gerecht waren und für Harmonie sorgten, so war er trotz allem ein eigendenkendes Wesen. Ein Lebewesen mit Gefühlen und Empfindungen. Beides hasste er. Sie waren viel zu leicht zu verletzten und beides hatte er gelernt nieder zu kämpfen, denn als Throne benötigte er es nicht...
Ehe ich mich versah, war da überhaupt nichts mehr. Kein Druck mehr an meinen Schultern, kein Reißen an meinen Armen. Ich wusste nicht, wie es geschah, doch einen Moment später, standen Cirillo und ich, mitten im Ratssaal des weißen Turmes und lediglich wenige Zentimeter trennten uns. Erzengel saßen auf ihren Ärschen, unwissend was sie da eben abgedrängt hatte. Wächterengel, welche versuchten, ihre Gliedmaßen von den anderen zu trennen, kugelten weit hinter Cirillo auf dem steinernen Boden herum.
„Haylee... Es tut mir leid.“ Hauchte Cirillo so leise, dass ich ihn kaum hörte.
„Nein! Ich verstehe es. Ich verstehe dich. Es ist dein Leben.“ Hauchte ich zurück.
Cirillo streckte seine Hand nach meiner Wange aus und streichelte diese sanft. „Falsch. Es ist nun unseres.“ Korrigierte er mich. Ehe ich verstand, was Cirillo mir damit sagte, schmolz ich auch bereits dahin. Seine Lippen legten sich so sanft auf die meinen, dass es sich, wie die Berührung einer Feder anfühlte. Jeglicher Widerstand in meinem Körper verklang, als ein Blitz an der Stelle einschlug, wo Cirillo und ich uns verbunden hatten. Sämtliche Sorgen wurden weggewaschen und das Gefühl von unendlichem Frieden erfüllte mich.
Ich öffnete den Mund, um eine Ewigkeit später nach Luft zu schnappen, doch erreichte damit bloß, dass Cirillo´s Zunge Einlass fand. Er wollte mich wieder schmecken, meinen weichen, doch unnachgiebigen Körper fühlen, mich im Arm halten, so wie erst gestern, am See und mir einfach zusehen, wie ich friedlich schlief. Meiner Stimme lauschen, wenn ich sprach. Mich weiterhin beobachten, wenn ich dachte, dass er überhaupt nicht da sei. Für mich sorgen. Auf mich achten. Mich beschützen. Mich... lieben.
Tränen liefen meine Wange hinab, während ich immer tiefer eintauchte. Immer mehr verstand...
Ich sah den Moment, in dem ich Cirillo das erste Mal begegnet war. Dieser... Moment, als er mich am Rand des Wasserbeckens gesehen hatte, war ihm so absurd vor gekommen. Und dann mein Blick. Ich hatte ihn bemerkt, kaum dass er überhaupt da gewesen war. Vorher hatten ihn die Nephilim an diesem Ort nie eines zweiten Blickes gewürdigt, doch ich... Ich hatte ihn anders angesehen. Irgendwie ertappt, aber dennoch so intensiv, dass sich ihm meine natürliche Augenfarbe ins Gedächtnis gebrannt hatte. So schnell zur Erde zurückzukehren, war zwar nicht der Plan gewesen, doch dann entdeckte ich ihn vor der Kirche erneut und er musste schnell verschwinden, weil er dachte, ich wüsste, was er sei, und würde ihn sonst angreifen. Dann erneut auf dem Dach... Damals hatte er meine Wut und Frustration nicht verstanden. Auch seine persönliche Sorge nicht, denn hätte dieser andere Nephilim nur ein einziges Mal zurückgeschlagen... Es hätte nicht gut für mich geendet.
Dann der Unfall und mein Blick, als ich es bemerkte. Es hatte gewirkt, als würde meine gesamte Welt einstürzen und ihn mit sich reißen. Das einzige Bedürfnis was er noch gehabt hatte, war diesen verwunderten Nephilim zu heilen, doch dann griff ich ihn an, im Glauben, er wolle ihr etwas antun. Der Kampf ereignete sich erneut in meinem Kopf, nur dass ich dieses Mal alles wahrnahm. Ich sah mich, in seinen Armen vom Gebäude fallen. Ich schrie und klammerte mich ängstlich an ihn, als ob er mir helfen konnte, doch das durfte er nicht. Besser ein Nephilim weniger, als noch eine Kreatur mehr, die er betreuen musste...
Statt mich einfach sterben zu lassen, oder zumindest schwer verletzt zurückzulassen, was wahrscheinlicher gewesen wäre, schlang Cirillo die schwächlichen Arme des alten Mannes um mich, barg mich in einer sicheren Umarmung und löste seinen Geist aus dem, am Boden zerschmetternden Körper. In einem hellen Lichtstrahl tauchte Cirillo zurück ein, in die andere Welt spreizte seine Flügel und trug mich, sorgsam gebettet in seinen Armen, dorthin, wo ich sicher sein würde. Meine Angst jedoch wich großen Schmerzen. Er konnte mir nicht helfen. Wusste nicht wie, während wir beide beinahe unkontrolliert in die wild schnappenden Meere stürzten. Dunkle, unheilvolle Meere, tief unterhalb der dicken Wolkendecke. Die stürmischen Winde rissen an uns. Der Sturm durchnässte uns beide, da Cirillo überhaupt keine Kontrolle mehr besaß.
Dann tauchte er ein, wusste überhaupt nicht, was er da tat und unterdrückte meinen Schmerz. Damit jedoch auch meine Kräfte, was ihm erst Wochen später bewusst wurde.
Als er Stunden später versucht die Verbindung zu trennen, geschieht dasselbe erneut. Mein Körper veränderte sich. Er passte sich an die Neue Welt an. An mein rechtmäßiges Zuhause!
Ich löste mich, schwer atmend, von Cirillo und blickte liebevoll in diese dunklen Augen, welche noch immer versunken in meinem eigenen Geist waren. Sie sahen alles durch meine Augen. Erfuhren von den Namen der anderen Nephilim. Meinen Sorgen. Meinen Ängsten. Meiner Wut. Meiner Frustration. Meiner Sehnsucht. Meiner Liebe...
Es war, als würde ich durch Cirillo selbst reisen. Wir tauschten für einen Moment den Körper, sonnten uns in den Erinnerungen, Empfindungen und Erlebnissen des anderen, bloß um innerhalb weniger Sekunden, in denen dies alles geschah, einander wiederzufinden. Dieses Mal jedoch, mit weit geöffneten Augen.
Cirillo lächelte auf mich herab. „Das hätte ich auch früher wissen können.“ Sein Schmunzeln war einfach umwerfend. Er war so... Ich konnte kaum beschreiben, wie mir das Herz aus der Brust schlug und ich mich im gleichen Maße dafür schämte, da er genau wusste, was dieses Lächeln mit meinem Herzen anstellte.
„Ich hätte es nie erwartet.“ Entgegnete ich jedoch. Wir hatten uns verbunden! Unsere Herzen schlugen im Einklang, die Atmung war im selben Maße hektisch und für einen Moment wusste ich überhaupt nicht, in welchem Kopf ich nun eigentlich steckte? Ich sah ihn zeitgleich, wie er mich sah und umgekehrt. Ich fühlte Cirillo in meinen Empfindungen, wie ich wusste, dass er mich fühlte.
Es war überwältigend!
„Sieht so aus, als ob du deine Strafe Erlassen wirst müssen, Liebling.“ Spottete Ufnier, sichtlich amüsiert. „Du weißt, der Gefährte eines Erzengels ist unantastbar.“
Gefährte! Mein Herz sprang im Dreieck, während Cirillo schwer schluckte. Uns war es augenblicklich bewusst gewesen, doch dieser Verbindung einen Namen zu geben, verlieh dem allem eine ganz neue Bedeutung.
Immerhin... Konnte ich überhaupt nicht Cirillo´s Gefährtin sein. Celiné hatte uns doch diese Karten gelegt... Calyle war mir vom Beginn an so nahe gewesen... Das ergab einfach keinen Sinn! Ich verstand es nicht.
Und genau dafür braucht Michael seinen Luzifer. Sie sind das Yin und Yang der Natur. Die gegenseitigen Elemente, welche einander aufheben. Positiver und negativer Pol, welche sich anziehen! Ihr gehört einfach zusammen, um einander besser zu machen.
Als Cirillo durch meine Gedanken an diesem Abend glitt, durchzuckte mich der Schmerz in meinem Herzen so heftig, dass ich zusammen zuckte.
Du brauchst erst mal Zeit, um das zu verarbeiten und mir zu verzeihen. Das verstehe ich, Haylee. Aber denk daran, dass wir zusammen gehören. Das haben unsere Seelen schon immer. Ich weiß, du fühlst es.
Das sah Cirillo selbstverständlich anders! Er konnte nicht fassen, wie man jemanden, den man beteuerte zu lieben und zu begehren, so etwas antun konnte!
Sie ist tot! Marie hat sie getötet und du hast sie vor ein Auto geworfen! So etwas überlebt niemand! Außerdem hast du mich belogen und wochenlang so getan, als seist du mein Freund. Du warst für mich da! Obwohl du mitschuldig daran gewesen bist! Hast du eine Ahnung, wie sich das für mich anfühlt.
„Nein...“ Hauchte Cirillo ungläubig, während meine Tränen erneut begannen zu laufen. Calyle war es nie gewesen...
Du und Marie habt sie auf dem Gewissen! Entsorgt, wie Müll, der euch unangenehm im Weg herum lag! Aber sie war nicht tot! Sie starb erst Tage später im Spital! Alleine! Ohne sich verabschieden zu können...
Cirillo streichelte sanft meine Tränen fort.
Ich konnte mich nicht verabschieden... Ihr habt sie mir weggenommen.
Er konnte den Schmerz in meiner Brust selbst kaum ertragen. Cirillo verstand, dass ich mir verboten hatte über Gefühle zu ihm nachzudenken. Nicht nach alldem. Nicht in einer fremden Welt.
Dachte er etwa, nun würde ich mich auf eine ewige Verbindung mit ihm einlassen? Für immer und ewig gebunden an den Nephilim, welcher mich hinterhältig getäuscht hatte... für das höhere Wohl?
„Das werde ich nicht zulassen. Sie können die Verbindungen unserer Welten nicht kappen, Haylee. Das ist unmöglich.“
Ich legte meine Stirn an Cirillo´s Brustbein und atmete tief seinen naturgegebenen, wohligen Geruch ein. Ja, zwischen Calyle und Cirillo lagen Welten! Wortwörtlich sogar. Cirillo war treu und stark. Unerbittlich aber gütig.
Während ich mir... bei Calyle nicht mehr allzu sicher war, ob ich da den wahren Calyle... oder lediglich eines seiner Gesichter kennen gelernt hatte.
Woran war ich bei ihm bloß?
Mein Gefährte konnte er ja zum Glück nun nicht mehr werden. Etwas, wofür ich jedem Lebewesen, ob existent oder nicht, dankte, welches mir eben in den Sinn kam.

XXIX - Der Fall

Cirillo wurde freigesprochen, so wie es Ufnier bereits erwähnt hatte. Dadurch dass Cirillo und ich ein unzertrennliches Band eingegangen war und Erzengel im Grunde, von den Gesetzen her, unantastbar waren, hatte auch er noch mal die Kurve bekommen.

„Es war, wie Rettung in letzter Sekunde.“ Seufzte ich abends im Bett neben Cirillo. Er hatte mir erlaubt, obwohl ich weder Nephilim, noch Throne war, dass ich trotzdem hier bei ihm bleiben durfte. Durch die starke Zeitverzögerung war sehr viel Arbeit liegen geblieben. Doch schlussendlich war ich so müde geworden, dass ich kaum noch die Augen offen halten konnte und Cirillo entschied, dass es reichte, wenn er die Nephilim lediglich füttert. Alles andere, konnte auch bis morgen Früh warten. Meine Dusche fiel sehr rasch aus. Ich zog mir lediglich wieder etwas Bequemes, Kurzes an, dann lag ich auch bereits im Bett.
Cirillo hatte versucht sich so vorsichtig, wie möglich neben mich zu legen, doch es reichte, dass er sich im selben Raum, wie ich befand, dass ich erwachte und ihn einfach nur anlächelte.
Er war Balsam für meine Augen und die Zuflucht meiner nervösen Nerven. Hier fühlte ich mich sicher und geborgen. In Cirillo´s Armen.
Zärtlich küsste er meine Stirn. „Das war keine Rettung, Haylee. Mein Leben war nie in Gefahr.“
„Er wollte dich hinrichten lassen.“ Murrte ich, obwohl ich längst eines besseren belehrt worden war.
„Das dachte ich auch, ehe sich unsere Gedanken verbunden haben. Seine Angriffe gingen jedoch nie gegen mich, damit hattest du recht.“ Seine Fingerspitzen streichelten zärtlich und beruhigend über meinen Rücken. „Du hast dich tapfer geschlagen. Ich bin so stolz auf dich.“ Cirillo war davon überzeugt, dass er niemals hätte so ruhig bleiben können, wenn unsere Rollen vertauscht gewesen wären. Dafür war er einfach nicht gefasst genug.
Zwar hatte er in den Jahrhunderten, in welchen er bereits existierte, mehr als genug hinnehmen müssen... Aber das! Nein, seine Angst, mich zu verlieren, ehe er mich überhaupt richtig hatte greifen können, wäre zu groß gewesen. Cirillo war einfach zu impulsiv.
„Hör auf zu grübeln. Ich kann nicht einschlafen.“ Murrte ich und küsste seine blanke Schulter. Er liebte diese kleine Küsse. Selbst, wenn er sich vielleicht etwas männlicher verhalten sollte, so hatte er absolut keine Scham, zumindest vor mir zuzugeben, dass er diese Liebesbekundungen ersehnte. Nur nach einem halben Tag mit mir an der Seite, konnte er sich nicht einmal vorstellen, sie sich wegzudenken. Es klang vielleicht kindisch... Doch Engel bekundeten ihre Zuneigung eher in Worten, als in Taten, während sie zeitgleich ein Messer hinter ihrem Rücken hielten. Sanriel und Ufnier führten eine solche Beziehung bereits seit dreitausend Jahren. Erst war Ufnier als Erzengel erwählt worden, in einem recht jungen Alter noch. Das hatte ihre Beziehung belastet, da Sanriel extrem eitel war. Nun jedoch, zweitausend Jahre später, war auch er erwählt worden und seitdem führten sie wieder eine ganz >normale<, unterkühlte Beziehung welche lediglich aus Eigennutz profitierte... Und zwei Kinder welche sie zusammen gezeugt hatten.
Wie ich nun wusste, bekamen Engel lediglich Kinder, wenn es beide wollten. Es war etwas Chemisches im Körper. Eine Reaktion, die nur dann stattfand, wenn sich beide Partner abgesprochen hatten, dass ein, zumeist, mächtiges Kind ihrer Verbindung entspringen kann.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir überhaupt keine Sorgen gemacht, denn Lucy wusste von Katya, welche sich hatte bereits testen lassen, dass Nephilim unfruchtbar waren. Jeder meiner >Geschwister< war das. Auch ich, meinte Odette damals, obwohl sie mir überhaupt nicht angeboten hatte, mich in ihrem hauseigenen Labor zu untersuchen. Damals war die Wunde, welche meine Mutter nach ihrem Tod hinterlassen hatte, einfach noch zu groß gewesen, um mir über so etwas Banales Gedanken zu machen.
In diesem Moment jedoch... Auch Cirillo hatte keine Ahnung, ob Nephilim Kinder bekommen konnten. Vielleicht die verfluchten Nephilim mit Dämonen? Und gesegnete Nephilim mit Engeln? Über eine Studie darüber wusste er bedauerlicherweise jedoch überhaupt nichts. Das war aber auch noch lange kein Thema.
Im Moment... wusste ich ja noch nicht einmal, was mir die Zukunft morgen bringen würde. Nach dem Vorfall zwischen Cirillo und mir bei der Anhörung, war der Rat ganz schnell aufgelöst worden. Morgen musste ich dann auch noch das dumme Anwesen meines Vaters finden, Alitia aufsuchen und ihr danken und der Himmel weiß was noch alles erledigen...
„Jetzt bist du aber diejenige, die grübelt.“ Witzelte Cirillo, woraufhin ich willkürlich lächelte.
Er hatte recht. Meine Gedanken kamen überhaupt nicht zur Ruhe. Ich war so erschöpft, nachdem ich die ganze Nacht aufgeblieben war, dass ich jetzt >zu< müde war, um zu schlafen. Ein merkwürdiges Phänomen.
„Tut mir leid. Ich weiß einfach nicht, wo mir der Kopf steht. Es ist... unfassbar... diese Verbindung... und, wie ich alles denke, was du denkst, fühle was du fühlst und sehe, was du siehst... das ist...“
„Wir werden uns daran gewöhnen und dann so glücklich werden, wie Katya und Tyrone sein.“ Schwor Cirillo und küsste sanft meinen feuchten Scheitel.
„Es ist, als ob du alles wüsstest, was mir je widerfahren ist.“
„Umgekehrt ist es doch genauso.“ Ergänzte er.
„Denkst du, wir können es irgendwie schaffen? I-Ich meine, ich kann immerhin nicht ewig hier in der Burg leben. Nicht als Erzengel.“ Auch das wusste ich aus Cirillo´s Gedanken. „Aber ich will nicht weit weg von dir leben. Oder von Alitia. Zudem muss ich das Fliegen lernen und-...“ Ich stockte, als mir bewusst wurde, dass ich bereits so sprach, als ob ich hier verweilen würde.
Aber auch das konnte ich doch nicht. Ich musste nach Lucy sehen und wollte mich mit allen aussöhnen. Wenngleich sich unsere Wege auf grausame und zeitgleich traurige Weise getrennt hatten... so waren sie doch die Familie meiner Mutter gewesen. Also auch die meine.
„Du bist nun ein Erzengel, Haylee. Du kannst Dinge verändern und deinen eigenen Weg gehen, solange du nichts und niemanden dabei gefährdest.“
„Aber bis dahin, muss ich erstmal das Fliegen meistern, richtig?“
Cirillo nickte. „Richtig. Und jetzt schlaf. Deine Müdigkeit wirkt sich bereits auf mich aus.“
Ich schmunzelte, denn er hatte recht. Eigentlich war Cirillo der einzige Grund, weshalb ich noch nicht eingeschlafen war. Er war so etwas, wie meine zweite Energiequelle. Mein Licht! Ich brauchte ihn an meiner Seite, um zur Ruhe zu kommen, doch wenn ich ihn so betrachtete... wie er da lag, mit einem Arm hinter dem Kopf und der andere diente mir als Polster...
Ich seufzte tief und nahm dabei bewusst seinen wunderbaren Geruch auf. Auch er liebte den meinen, drehte den Kopf zur Seite und tat es mir gleich. Seine Augen fielen zu und die Hand, welche er um mich geschlungen hatte, begann zärtlich meine blanke Schulter zu streicheln. „Es ist zu bedauern, dass wir Engel kein Wort für dieses Gefühl besitzen, welches mich eben erfüllt.“ Hauchte er leise an meiner Stirn und seine Lippen strichen über meine Stirn.
Ich wusste ganz genau, wovon er sprach. Selbst hatte ich mehr als einmal geglaubt, dies zu empfinden, was das menschliche Wort >Liebe< beschrieb. Ab dem Moment jedoch, als sich Cirillo für mich geöffnet hatte, seine Seele weit offen legte, bloß um die meine herzlich in Empfang zu nehmen, erkannte ich, wie falsch ich gelegen hatte.
Das zwischen Adam und mir war so... kindlich gewesen. Die ersten Erfahrungen mit dem besten Freund, so zu sagen... Aber das mit Calyle. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich wirklich geglaubt, am besten Weg zu sein, mich zu verlieben. Bis dahin war noch nie jemand für mich so dagewesen, wie es Calyle gewesen war. Gleichermaßen hatte er mir jedoch bloß eines seiner vielen Gesichter gezeigt. Dank Cirillo kannte ich die Überlieferungen von Luzifer, auch wenn er selbst ihm nie begegnet war.
Seine Aura, sein Charakter soll unermesslich einnehmend gewesen sein. Man hatte stets das Gefühl gehabt, dass dieser Erzengel es bloß gut mit einem meinte, bis man von ihm gekonnt ausgenutzt wurde und mit nichts dastand.
Cirillo nahm wohlwissend an, dass dies übertrieben gemeint war, doch in diesem Moment wollte ich einfach glauben, dass es wahr war. Dass sich dieser Teufel einfach nahm, wie es ihm beliebte und nie gelernt hatte, wie man auch Güte zurückgeben konnte.
Eine Gabe, die Cirillo mehr an mir schätzte, als dass es mir je bewusst gewesen war. Güte... Ein so simples Wort für etwas, dass Engel bloß selten versuchten.
Besonders Throne waren von eben diesem Wort ausnahmslos ausgeschlossen worden. Sie zeigten keine Gnade. Sie erhielten keine Güte. Sie waren nicht mehr, als die Henker, die Attentäter der Erzengel und beauftragt dazu, die Linien zu reinigen.
Kaum dass Cirillo´s Talent zu Wasser bemerkt worden war, hatte man ihn in ein ganz eigenes Trainingscamp geschickt. Zu einem uralten Lehrer, einem ehemaligen Throne, welcher in einem schweren Kampf, während des letzten Engelskrieges, einen seiner wunderschönen Flügel eingebüßt hatte und seither nur noch unterrichtete.
Sein Unterricht hatte gut zwanzig Stunden am Tag stattgefunden. Er wurde geformt und ausgebildet, bis er die effizienteste Killermaschine wurde, selbst unter den Erzengeln. Niemand schlug einen Throne. Niemals!
Nun ja, zumindest so lange, bis sein letzter Bruder, vor erst wenigen Jahren nicht mehr von dem Ausflug in die Menschenwelt zurückgekehrt war. Seine Kraft war über gegangen, in die ewige Erleuchtung, welche jeder Engel anstrebte.
Mir war bewusst, dass meine Nephilim dafür zuständig gewesen sein mussten, immerhin hatten sie mir erzählt, wie sie ein einziges Mal, einen Throne hatten überwältigen können. Seitdem war Cirillo alleine gewesen. Der Letzte Throne...

 

- - - - -

 

Wann ich einschlief, wusste ich nicht. Ich versank einfach in Cirillo´s Erinnerungen, bis mich früh morgens die ersten Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten. Murrend streckte ich meine neugierigen Finger nach der Wärme von Cirillo´s Körper aus, doch dieser Platz war leer. Ohne die Augen überhaupt zu öffnen, konnte ich mich selbst sehen. Wie Cirillo neben seinem Bett stand, mit einem zufriedenen Ausdruck auf mich herabblickte, während ich da lag und mich wohlig unter seinem wachsamen Blick sonnte.
Hatte ich schon immer so schön ausgesehen? Wenn ich mein Spiegelbild betrachtete, konnte ich jede Menge Makel finden, die mich an mir selbst störten, doch war mir gleichzeitig bewusst, dass ich von vielen Teenagerproblemen verschont geblieben war.
Meine Flügel lagen weit ausgestreckt hinter meinem Rücken und zeigten wie Pfeilspitzen an die Wand hinter mir. Einen, den oberen, winkelte ich ab, während ich mich streckte und zufrieden vor mich hin schmunzelte. Cirillo´s Blick glitt über die frei gelegte Haut meines Schenkels hinweg, liebkoste jeden Zentimeter, der ihn so verrückt machte und er nichts lieber wollte, als zu küssen und zu schmecken, wenn da nicht diese lästigen Pflichten wären, welche erbarmungslos auf ihn warteten.
„Komm wieder ins Bett!“ Befahl ich nuschelnd. Das seidige Leinentuch hatte sich eng um meinen Körper geschlungen und spannte nun über meinem bedeckten Hintern, als ich mich erneut bewegte, um mehr Platz für Cirillo zu schaffen.
„Nicht dafür.“ Murrte ich amüsiert, als ich seine Blutansammlung in einem ganz anderen Bereich seines Körpers wahrnahm, was nun das meine in Wallung brachte.
„Ich muss aber arbeiten, Haylee. Mittlerweile bin ich schon viel zu spät dran.“
Amüsiert hob ich ein Augenlid und blinzelte zu ihm hoch. Wie er da stand... So maskulin, majestätisch... zum Anbeißen!
Ich biss mir unterbewusst auf die Unterlippe, um meine Gedanken im Zaum zu halten, ehe sie verrieten, wie heiß Cirillo am frühen Morgen aussah. Trotz wirren Haares und mit nicht mehr, als einer Leinenhose bekleidet. Nein... genau deshalb sah er so toll aus! Ein Anblick, der nur mir alleine gehörte! Das ließ mein Herz vor Aufregung ganz verrückt springen.
Mein Gefährte...
„Du benutzt unfaire Methoden!“ Beklagte sich Cirillo, ging zum Fußende des Bettes, wo meine nackten Zehen aufgeregt wackelten, und schob seinen herrlichen Körper über mich. Ich rollte mich zur Seite, um zu genießen, wie das morgendliche Sonnenlicht über seine perfekte Haut tanzte und wurde ein wenig neidisch, weil sie es konnte und ich nicht, obwohl das eigentlich total lächerlich war! Wieso sollte ich neidisch auf Sonnenstrahlen sein?
Cirillo senkte seine Lippen auf meine, für einen langen, zärtlichen Kuss. Als er ihn beendete seufzte ich selig. „Können wir jeden Morgen so aufstehen?“ Erkundigte ich mich, reckte meine Hände hinauf zu seinem Brustkorb und streichelte liebevoll darüber.
„Anders würde ich es überhaupt nicht wollen.“ Schwor er aufrichtig, während ich ihn für noch einen weiteren Kuss wieder hinab zu mir zog.
„Dann muss ich wohl doch hierbleiben und die Außenwelt weiterhin ausblenden.“ Witzelte ich.
Cirillo wirkte darüber nur mäßig begeistert. „Das schickt sich aber nicht für einen Erzengel, Haylee. Ich dachte, das sei dir bereits bewusst?“
„Ich habe nie behauptet, dass ich mir nicht darüber im klaren wäre, Engel!“ Korrigierte ich ihn. „Aber das heißt nicht, dass es mir auch gefällt.“
Er schmunzelte. „Wieso nennst du mich eigentlich immer noch Engel? Ich bin ein Throne.“
Meine Finger fanden ihren Weg in sein wirres Haar und streichelten es fürsorglich wieder glatt. „Weil du mein Engel bist.“ Bereits seit dem ersten Mal, als ich ihn erblickte. So mächtig, so majestätisch! Seine Flügel hatten mich beeindruckt und zum ersten Mal in meinem Leben, glaubte ich an etwas, das ich mein ganzes Leben lang, als lächerlichen Aberglauben abgetan hatte.
„Dann war ich ja scheinbar gleich auf mehrere Weisen dein Erster.“ Witzelte er und ich genoss es, wie natürlich Cirillo sich nur in meiner Gegenwart gab. Dieser schelmische, liebevolle und ausgeglichene Throne, der nur mir alleine gehörte. Ich küsste ihn. Dieses Mal leidenschaftlicher, ließ meine Zunge über seine weichen Lippen gleiten und... wurde mir bewusst, dass wir noch nicht miteinander geschlafen hatten, während wir unser Gefährtenband teilten.
„Oh nein!“ Wehrte Cirillo ab. „Dafür habe ich im Moment wirklich keine Zeit! Ich müsste bereits am halben Weg zu den Nephilim sein!“
Und ich bei meinen Wächterengel, die mich überall hintrugen, wohin ich wollte. „Nur blöd, dass dein Körper genauso etwas anderes sagt, wie meiner, was?“ Zog ich ihn auf und hob mein Knie, um es sanft zwischen seine Beine zu pressen, woraufhin Cirillo scharf die Luft einsog.
„Du bist dämonisch!“ Murrte er, schob mein Knie mit der Hüfte zur Seite, um sich mehr Platz zu verschaffen. Ich keuchte erregt auf, als Cirillo´s Hüfte gegen mein Becken stieß und sich sehnsüchtig daran rieb.
Cirillo küsste mich leidenschaftlich, bis mir die Luft wegblieb, rieb seinen Körper gegen meinen, bis er schmerzhaft gespannt war und... ehe ich mich versah, verschwand Cirillo auch schon wieder aus dem Bett. „Jetzt komm, sonst regt sich Alitia nur wieder künstlich auf.“
Würde ich nicht spüren, wie sehr er sich damit selbst bestrafte, wäre ich jetzt vielleicht gekränkt. Aber Cirillo war seine Pflicht wirklich wichtig. Es war seine Arbeit, sein Talent. Genauso war ihm mein Stand, als Erzengel heilig und er würde nichts riskieren, was mir zur Last ausgelegt werden konnte.
Frustriert schlug ich mit Armen und Beinen auf die Matratze ein, was Cirillo draußen am Flur bloß laut auflachen ließ, während er ein schnelles Frühstück für uns zusammen stellte.
Missmutig stieg ich unter die Dusche, welche Cirillo für mich an ließ, denn nun wusste er, dass ich liebend gerne heiß duschte, und tat dies auch für mich, wenngleich er die Kälte vorzog.
Fünf Minuten später nahm ich den zusammen gestellten Lunch entgegen und verließ an seiner Seite die Burg. Am Eingang warteten bereits zwei schwebende Wächter mit meinem zurückgelassenen Stuhl vom vergangenen Tag. Cirillo hatte mich in seinen Armen zurückgeflogen, nun da er mir auch in meinen Gedanken sagen konnte, wie ich meine Flügel am besten legte, oder streckte.
„Guten Morgen, Männer!“ Rief ich ihnen zu. „Wie lange seid ihr denn schon hier?“
Cirillo nahm den Arm von meiner Taille, sehr zu meinem Missfallen, denn ich genoss seine Nähe, genauso wie seine Küsse. Aber Engel taten so etwas nicht in der Öffentlichkeit. Blöde Engel!
„Wir wünschen einen wunderschönen Morgen, Ehrenwärter Erzengel Haylee.“ Ich verzog das Gesicht. Cirillo bestätigte mir einmal mehr, dass sie sich mir gegenüber so verhalten mussten. Es war ein Teil ihrer Ausbildung, wie auch der Erziehung. Erzengel wurden wie Könige verehrt. „Erst seit ein paar Stunden. Wir wussten nicht, wann ihr aufbrechen wollt.“
„Stunden?“ Rief ich aus und wechselte mit Cirillo einen Blick, der mir wiederum sagte, dass dies ganz normal war. „Das heißt, ihr schwebt bereits seit Stunden auf ein und demselben Fleck herum?“
Die beiden Engel sahen sich verwirrt an. „Natürlich, Erzengel Haylee.“
Ich schlug mir auf die Stirn. „Bitte, landet doch, wenn ihr schon wartet.“
Sie wechselten erneut einen Blick und schienen keine Ahnung zu haben, wie sie auf meine Worte reagieren sollten.
„Erzengel Haylee, sie dürfen hier nicht landen. Das ist Thronegebiet.“
Ich verpasste Cirillo einen leichten Seitenhieb. „Aber sie warten doch schon die ganze Zeit auf mich! Das ist Quälerei!“ Ich wandte mich wieder den beiden zu. „Wenn ihr das nächste Mal hier auf mich warten müsst, dann bitte landet einfach. Hört nicht auf ihn.“
„Haylee!“ Murrte Cirillo halblaut, doch ich streckte mich dem empörten Throne entgegen und gab ihm einen sanften Kuss. Als er sich von mir zurückziehen wollte, packte ich seinen Nacken mit einer Hand und hielt ihn fest. Niemand würde mir jemals verbieten können, meinen Gefährten öffentlich zu küssen!
Cirillo schmunzelte über meinen Starrsinn und erlaubte sich selbst, einen Moment in meiner Liebkosung zu versinken. „Bis später, Erzengel Haylee.“ Hauchte er an meinen Lippen.
„Bis gleich.“ Gab ich zurück und entließ ihn endgültig, damit mein stolzer Throne seiner wichtigen Arbeit nach gehen konnte.
Mit einem letzten, sehr strengen Blick auf die Wächterengel, katapultierte sich Cirillo in die Lüfte und ich sah ihm selig hinterher, wie er mit kräftigen Flügelschlägen zu den Zellen aufbrach. Hatte Cirillo schon immer so erhaben gewirkt? Oder war das neu?
Räuspernd wandte ich mich an die beiden Engel, die noch immer auf mich warteten und nun den Stuhl zu mir herab ließen. „Ach, danke dass ihr überhaupt so lange auf mich gewartet habt. Das war sehr fürsorglich.“ Bedankte ich mich bei den beiden Engeln, doch bekam einmal mehr etwas von wegen >Pflicht und Ehre< gesülzt.
Wie auf dem Land der Throne, durften die beiden Engel auch nicht auf Alitia´s Insel landen, weshalb sie mich bloß am Rand absetzten und dann zu einer nahe gelegenen Insel flogen, um auf mich zu warten.
Ich schüttelte den Kopf über diese dämlichen Macken, doch von Cirillo wusste sich, dass es Einbruch glich, falls sie es doch taten, und dann konnte Alitia ihren wohl bekannten Streich ausführen und ihnen das Geld aus den Taschen ziehen.
„Alitia?“ Rief ich, als ich in das Haus eintrat, welches sich, scheinbar magisch für mich öffnete.
„Guten Morgen, Erze-... Ah, du hast dein Gefolge draußen gelassen, kluge Entscheidung.“ Der silberne Engel zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Und, wie ist das Leben mit einem Throne, als Gefährten?“ Sie nahm mich in den Arm und drückte mich liebevoll, was mich erleichtert seufzen ließ.
„Du hast es auch schon gehört? Mist! Ich wollte es dir eben erzählen.“ Meckerte ich enttäuscht, denn ehrlich! Ich war so überdreht, ich wollte nichts lieber, als darüber zu schwärmen, wie glücklich ich damit war!
„Liebes, Engel sind Quasselstrippen. Innerhalb eines Tages wusste es die gesamte Stadt und ich habe unten auf dich gewartet, während der Anhörung des Thrones. So wie es klang, sollte er hingerichtet werden und du hast es verhindert, richtig?“
Ich nickte. „Ja genau, Sanriel war so ein verficktes Arschloch! Du hast keine Ahnung, wie gerne ich ihn grün und blau prügeln würde. Er hat mich geradezu heraus gefordert!“
Bei frisch gebackenen Keksen und etwas, dass mich stark an Tee erinnerte, erzählte ich Alitia bis ins kleinste Detail, was dieser verdammte Erzengel mit Cirillo und mir getan hatte. Auch sie war mehr als empört über dieses Verhalten, doch sah ein, dass es einmal mehr so typisch Erzengel war.
Während die Zwillinge die Situation akzeptierten, wie sie war, sogar Thiane, der nie ganz anwesende Engel, tat dies, waren Rebeus und Sanriel vollkommen gegen meine Anerkennung. Ufnier hielt natürlich zu ihrem Mann Sanriel, auch wenn ich nicht ganz verstand, wie die beiden überhaupt ein Paar sein konnten. Er war eine Schlange! Alitia´s Worte, nicht meine...
„Wann ist denn die nächste Ratssitzung?“ Erkundigte sich Alitia. Ich persönlich fand es etwas seltsam, dass ich nicht über meine Verhandlung sprechen durfte, doch über Cirillo´s Anhörung wohlauf? Auch über die Nächste, welche darüber handeln würde, wie es nun mit meinen Nephilimgeschwistern, so wie der unheilvollen Prophezeiung weiter gehen sollte.
„In drei Tagen. Also... übermorgen eigentlich bereits. Bis dahin sollte ich Michael´s Haus gefunden haben und mir... Diener oder so irgendetwas anschaffen.“
Alitia kicherte. „Oh, je! Die jungen Engel werden sich darum reißen, eine Anstellung bei dir zu ergattern. Bestimmt rennen, diejenigen, die Michael´s Sitz kennen, dir bereits die Türen ein.“
„Was?“ Stieß ich hervor. „Oh nein!“ Ich schmolz auf meinem Stuhl dahin. „Das kann doch nicht wahr sein. Wieso sollten die denn für mich arbeiten wollen?“
„Hallo!“ Machte Alitia. „Du bist ein Erzengel, was denkst du denn? Es gibt keinen ehrenvolleren Beruf, als einem Erzengel irgendwie nützlich sein zu können.“
„Aber die kennen mich ja noch nicht einmal!“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist egal. Du bis ein Erzengel.“ Tat Alitia dies ab.
„Seit vielleicht mal fünf Minuten.“ Murrte ich daraufhin und seufzte genervt. „Okay, welche Jobs habe ich denn dann zu vergeben? Worauf muss ich achten?“
„Nun ja, zuerst einmal, brauchst du einen Berater, dann jemanden für deine Finanzen, einen Fluglehrer, jemanden in deinem Büro, einen verhandlungsgeschickten Engel, Leibwächter... und der Rest ergibt sich dann schon.“
„Und mit was, zum Teufel, soll ich die bezahlen?“
„Natürlich mit deinem Erbe. Michael ist tot, was bedeutet, sein Erbe ist erstmal unantastbar, bis jemand darauf Anspruch erhebt. Du sitzt auf seinem Platz... Ergo hast du Anspruch erhoben und alles gehört dir. Ausnahmslos.“
„Das heißt... Ich erbe einfach, was er hatte und mache dort weiter, wo er aufgehört hat?“
„Würde ich nicht empfehlen.“ Lachte Alitia. „Immerhin ist er tot... und du hast seinen Sitz im Rat inne.“
Ich rollte mit den Augen, doch schmunzelte. Sie hatte ja recht. „Na gut... Dann sollte ich wohl besser erstmal heraus finden, wo sich Michael´s Anwesen befindet, richtig?“
Alitia hob ihren Zeigefinger. „Tatsächlich habe ich bereits so etwas, wie eine wage Ahnung.“
„Und wie sieht die aus?“
Alitia erhob sich von ihrem Stuhl und deutete mir ihr zu folgen. Ein paar Zimmern weiter, fand ich mich in einer wirren Bibliothek wieder. „Das sind leider ein paar völlig nutzlose Bücher. Es gab eine Zeit, da sind die Engel, welche mir etwas schuldeten, auf die Idee gekommen, mich mit dem Wert ihrer Gegenstände zu bezahlen. Es hat zwar ein, zwei Jahrhunderte gedauert, aber zum Glück konnte ich dieses Schlupfloch schließen. Was fange ich schon mit diesen blöden Büchern an?“
Tatsächlich war der Großteil davon, nicht gerade sorgsam, auf einen Stapel geworfen worden. Bloß eine Handvoll, richtig dicker Wälzer schienen gepflegt zu werden. Als cih den Einband sah, erkannte ich auch weshalb. Es handelte sich um Gärtnerbücher. Natürlich handelte es sich um solche...
Ich lächelte über Alitia´s seltsame Besessenheit, doch konnte sie auch irgendwie nachempfinden. Alitia hatte nicht viel, was ihr im Leben Freude bereitete, wodurch es vermutlich zu ihrer zwanghaften Reinlichkeit gekommen war. Außerdem waren Pflanzen ebenso Lebewesen und wenn ich beobachtete, wie Alitia hier und da über die Blätter einiger Pflanzen streichelte, wie eine Mutter, die stolz auf das war, was aus ihrem Kind geworden war, so verstand ich sie gleich, einen deut besser. Das war eben Alitia. Magisch schön, exzentrisch, zwanghaft und unter ihrer harten Schale unendlich gütig.
„Hier. Es ist bloß ein Geschichtsbuch für Kinder, aber da ist zumindest eine Zeichnung von Michael´s Grundstück darin.“
Sie zeigte mir die besagte Seite, woraufhin mir mein Mund aufklappte. Ach du unheilige... Ich war mir nicht sicher, ob die Zeichnung übertrieben war, doch wenn es stimmte, so gehörte meinem Vater ein richtiges Schloss!
Es war nicht wie die Villa, aufgebaut, wie Alitia sie besaß. Das war ein imposantes, rechteckiges Gebäude, mit zwei Stöcken, Säulen und einen einfach durch und durch, perfekten Garten.
Das Schloss meines Vaters, überragte das von Alitia jedoch alle mal. Bestimmt hätte die Villa vier oder fünfmal dort hinein gepasst, zudem gab es drei abgeflachte Türme, riesige Fenster, ein wirklich gewaltiges Tor, einen seichten Fluss, einen Berg mit Dschungel, so wie diverse kleinere Hütten, welche rund um den entstandenen See herum aufgebaut waren.
Ich schmunzelte über den Gedanken, ob mein Vater eventuell versucht hatte, irgendetwas mit diesen übertrieben Größen zu kompensieren, doch sprach es besser nicht aus. Bestimmt würde Alitia den Wink nicht verstehen, dafür jedoch, lachte Cirillo umso lauter in meinem Kopf.
„Das solltest du nicht einmal hören!“ Schimpfte ich halblaut und wurde sogar ein wenig rot, als sich Cirillo über meine menschlichen Gedanken lustig machte. Kein Engel wäre jemals auf so einen herabwürdigen Gedanken gekommen.
„Was? Was ist?“ Fragte Alitia völlig verwirrt, woraufhin ich bloß noch röter wurde.
„Nichts, es ist bloß noch gewöhnungsbedürftig, dass da jemand in meinem Kopf sitz, der... einfach jeden einzelnen Gedanken von mir auffängt.“
Alitia schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Haben Thrones etwa nichts Besseres zu tun, während sie knapp dem Tod von der Klinge gesprungen sind, als in fremden Häusern herum zu schnüffeln?“ Tadelte sie, mehr mit Cirillo, als mit mir.
Was Cirillo jedoch über Alitia´s Worte dachte, wiederholte ich, zu meinem eigenen Wohl, lieber nicht, sondern wechselte das Thema. „Wie dem auch sei. Wir wissen jetzt, wie seine Insel aussieht, aber wo finden wir sie?“
„Anscheinend ziemlich tief im Süden, wo sich die größeren Inseln befinden.“ Erklärte sie. „Aber die sind so abgelegen, dass sich dorthin so gut wie niemand begibt. „Zudem gibt es dort große Luftwirbel, denen besonders niedere Engel nichts entgegenhalten können.“
Ich seufzte schwer. „Okay, dann... völlig sinnlos darauf losfliegen, nutzt niemanden etwas. Vielleicht gehen wir in die Stadt und erkundigen uns dort?“ Fragte ich nachdenklich, doch erkannte alleine an Cirillo´s Abneigung, dass dies keine gute Idee wäre. Auch Alitia zeugte von einem ähnlichen Gesichtsausdruck.
„Gut, was schlagt ihr dann vor?“ Erkundigte ich mich stattdessen.
Alitia überging dieses >ihr< getrost. „Meine Idee wäre ja, dass du einen Archivar, oben im weißen Turm um Auskunft bittest. Die würden ohnehin alles für dich tun, jetzt da du ein Erzengel bist.“
Ich stöhnte. Vergöttert zu werden, war schon ein wenig unangenehm, aber wenn es half...
Der Flug war überraschend lange. Alitia flog zwar neben mir her und ich konnte Cirillo dabei zusehen, wie er sich um die Nephilim kümmerte, mit Wasser die Zellen durchspülte, Futter hinein warf zu ihnen und gegen Mittag zurück zu seinen kleinen Helfern auf dem Sträucherfeld flog. Trotzdem war mir schrecklich langweilig.
Im weißen Turm wies ich die Wächterengel an, dass sie erstmal eine Pause machen sollten und wir uns erst in einer halben Stunde wieder auf eben jenem Balkon treffen würden. Wer zu früh kam, den würde ich hochkant feuern, hatte ich noch gedroht, woraufhin die beiden kreidebleich wurden und ich meine Worte bereute. Mist! War ich etwa zu hart gewesen, oder nahmen diese Engel meine Worte einfach zu... wörtlich?
Kopfschüttelnd folgte ich Alitia, welche stolz über meine gespielte Gehässigkeit schmunzelte. „Aus dir wird ja noch irgendwann ein richtiger Erzengel.“
Ich schnaufte. „Ich wollte die beiden doch überhaupt nicht zu Tode ängstigen!“ Beteuerte ich aufrichtig. „Aber ich finde, sie sind viel zu überkorrekt und zwanghaft... fanatisch.“
„Haylee, du bist ein Erzengel. Du bist so ziemlich das mächtigste Wesen, welche jemals durch diese Flure gewandert ist und von euch gibt es immer zeitgleich bloß eine Handvoll. Jeder Engel strebt danach-...“
„Verzeihen Sie. Sie sind doch Erzengel Haylee, nicht wahr?“
So unvermittelt von jemanden angesprochen zu werden, der buchstäblich von der Decke gefallen war, ließ mich überrascht die Brauen heben.
Cirillo warnte mich noch, nicht übertrieben zusammen zu zucken oder sein Verhalten in Frage zu stellen. Er war ein Bewerber.
„Die einzig wahre.“ Antwortete ich, mit einem aufrichtigen Lächeln im Gesicht. Bei mir hatte sich noch nie jemand, für ansatzweise irgendetwas beworben!
„Es ist mir eine Ehre, Euch gegenüber zu stehen, Erzengel Haylee.“ Er ging vor mir auf die Knie, wobei der drahtige Engel, geradezu einen Buckel machte.
„Er ist ebenfalls ein Verächteter, wie ich.“ Zischte Alitia halblaut in meine Richtung.
Ich zog fragend die Brauen hoch. „Wieso denn?“ Zischte ich zurück.
„Seine Flügel.“ Der Engel kam wieder auf die Beine und ich erkannte, was mir Alitia versuchte, durch die Blume, zu sagen... Seine Flügel waren einfach scheußlich! Der Grundfarbton war definitiv grau, nichts außergewhnliches unter den Engeln, doch die unschönen blassrosa, bis grünlichen Flecken darin, ließen die ganze Schönheit, welche sie bestimmt ausgestrahlt hätten, wie ein misslungenen Kunstwerk aussehen. Alles in allem, war der Engel wunderschön, wie ein jeder andere auch. Seine Augen waren saphirgrün, wagten es nicht, mir allzu lange in die Augen zu blicken, da sich darin ebenfalls gräuliche Splitter befanden. Als ich ihn jedoch noch genauer musterte, erkannte ich einen solchen Fleck, ebenfalls an seinem Hals. Da er lange Ärmel trug, konnte ich bloß ahnen, bis wohin sie sich zogen.
„Du besitzt ebenfalls eine Pigmentstörung, wie Alitia.“ Die Worte kamen so schnell aus meinem Mund, dass ich mir beinahe selbst eine Ohrfeige dafür gegeben hätte.
Der ängstliche Blick in seinem Gesicht, sagte mir deutlich, wie schnell alleine dieser Satz seinen gesamten Mut, den er zweifellos mühsam zusammen gebracht haben musste, in sich zusammen fiel. „Ähm... Ich... Bitte verzeihen Sie... I-ich bin Ihrer Zeit nicht würdig.“
Ich erkannte, wie der Engel seine Flügelposition veränderte, so tat es Cirillo auch stets, ehe er sich vom Boden abstieß und in die Luft sprang. „Warte!“ Ich trat hastig auf den verängstigten Engel zu und berührte ihn an der Schulter. „Verschwinde doch nicht einfach so. Was wolltest du denn von mir?“
Sein gesamtes Gesicht wurde weiß und rot... abwechselnd. Er schluckte schwer, Schweiß brach ihm aus den Poren und er starrte ängstlich auf den Boden. Nur noch ein Wort von mir und der arme würde sich zitternd in die Hose machen.
Das war nun mal die Ausstrahlung eines Erzengels. Engel bewunderten sie. Niedere Engel jedoch, wurden von dieser Macht, unbewusst erdrückt. Ich dankte Cirillo im Stillen, dass er mich darüber aufklärte und trat ein Stück von dem Engel zurück.
„Ni-Nichts... Ich... war bloß töricht. Bitte vergesst meine Existenz einfach wieder.“
Hilfesuchend wandte ich mich an Alitia, welche erst genervt stöhnte, da sie überhaupt keine Lust verspürte, sich mit diesem Engel abzugeben.
„Er will sich für irgendetwas bei dir bewerben.“ Erklärte Alitia, was ich erstens, bereits gewusst hatte und zweitens, Alitia meinen Blick falsch intepretierte. Trotzdem griff ich an diesem Punkt das Gespräch wieder auf.
„Nun. Ich bin ganz Ohr.“ Sagte ich an den ängstlichen, niederen Engel gewandt.
Völlig überrumpelt starrte er zu mir auf. Und ja... auf! Denn der arme war so sehr in sich zusammen gesunken, dass er nun viel kleiner wirkte, als es meiner natürlichen Größe entsprach. „Ihr... Ihr hört mich an?“
„Nur wenn du dich etwas beeilst.“ Keifte Alitia mahnend, woraufhin der niedere Engel ganz nervös wurde. Scheinbar half es seinem Stottern jedoch auf die Beine.
„Ich bin... Ich bin ein sehr guter Koch und Hausmann. Ich bin ordentlich, organisatorisch bewandert und habe bereits viel Erfahrung auf größeren Grundstücken, bei anderen Herren gesammelt.“
„Ach und obwohl du vorgibst so gut zu sein, stehst du trotzdem hier und bettelst nach einem Job?“ Meinte Alitia kalt, woraufhin ich ein strenges >Sht< von mir gab. Himmel, Alitia machte es dem armen Engel nicht gerade leicht.
„Ich... Ich... arbeite immer unter den Bedingungen, dass ich unsichtbar bleibe. Engel... Engel stören sich an meinem Aussehen und sobald sie mich auch bloß einmal auf einem Flur erwischen, feuern sie mich.“
Beinahe hätte ich mir ans Herz gefasst, doch Cirillo schimpfte, dass ich nicht so leichtgläubig sein sollte. Diese Art an Güte, würde man mir nur als Schwäche auslegen.
Ich stöhnte. „Hör zu... Wie ist überhaupt dein Name?“
„Villus.“
Ich schmunzelte über den Namen. „Villus, danke dass du dich um eine Stelle bei mir bewirbst. Aber leider besitze ich noch keinen Haushalt, um den man sich kümmern muss. Erstmal muss ich Michael´s... Ähm, mein Anwesen finden. Aber sobald ich es bezogen habe und eine grobe Übersicht besitze, kannst du mich liebend gerne noch einmal aufsuchen.“
Die Augen des Engels wurden riesig. „I-Ihr zieht es in Betracht?“
Ich fühlte Alitia´s Blick in meinem Rücken geradezu darauf herum hämmern, genauso wie Cirillo´s strengen Mahnungen, daher versuchte ich nicht allzu versprechend zu klingen. „Ich werde Hilfe brauchen, sobald ich mein Haus bezogen habe und den täglichen Pflichten nach gehe. Jeder der sich bewerben will, ist herzlich eingeladen.“
Für einen Moment schien es, als würden die mageren Beine des Engels nachgeben, doch sie hielten stand.
„Danke für die Chance, Erzengel Halyee.“
Ich nickte ihm zu, wodurch ich ihn entließ. Als er jedoch nicht gleich wegflog, sondern sichtlich noch mit seinen Worten kämpfte, hob ich fragend die Brauen. „Ist noch etwas, Villus?“
Sein Mund klappte auf und wieder zu. „Ähm... Nun ja, ich habe eine Zeit lang die... die Bibliothek von Rebeus aufgeräumt und neu sortiert... Da... Da konnte ich in einem der Bücher lesen, dass sich Michael´s Grundstück tief im Süden befindet. Nahe des Niawasserfalls.“
„Der Niawasserfall?“ Alitia stöhnte. „Das ist eine Tagesreise von hier entfernt!“
„Eine Tagesreise?“ Fragte ich ungläubig.
„Nicht, wenn ihr einen Greif benutzt.“ Warf Villus dazwischen. „Die sind schneller, als alle anderen fliegenden Lebewesen und ausgesprochen ausdauernd. Ich denke, Michael besaß ein paar von ihnen.“
Alitia stemmte die Arme in die Hüften. „Und wie stellst du dir vor, dass wir uns ein Greifen fangen und zähmen? Wir haben auch nicht alle Tage Zeit.“
„Tut mir leid.“ Erneut wirkte Villus, als würde er sich jeden Moment in die Hose machen.
„Schon gut, vielleicht nutzt uns dieses Wissen ja, auf dem Rückflug.“ Ich seufzte, während ich mich an Alitia wandte. „Wenn wir jetzt losfliegen, können wir die Insel doch noch finden und umkehren, ehe die Ratsversammlung übermorgen, gegen Mittag, beginnt, richtig?“
Alitia klang gar nicht begeistert. „Das schon, ja. Aber wir müssten dazwischen stets Pausen machen und hätten bloß wenige Stunden auf dem Grundstück, Erzengel Haylee. Wer weiß schon, ob wir es überhaupt auf Anhieb finden?“
„Wenn... Wenn Ihr erlaubt, könnte ich euch begleiten und... und leiten. Also, nur, wenn es Euch nichts ausmacht, Erzengel Haylee.“
„Natürlich nicht. Ich bin für jede Hilfe dankbar, Villus.“
Cirillo behagte der Plan bei weitem nicht. Aber das kam auch daher, dass Cirillo niemals jemanden traute.
„Du willst wirklich diesen Engel mitnehmen... Erzengel Haylee?“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Die beiden Wächterengel müssen ja auch mit, oder nicht? Außerdem wenn Villus den ungefähren Standort kennt, dann ist er uns bei weitem eine größere Hilfe, als wenn wir blind darauf losfliegen, Alitia.“ Ich berührte sie an der Schulter und lächelte sie sanft an. „Komm schon. Das wird ein kleines Abenteuer.“
Sie grummelte, ehe sie ihr langes glattes Haar über die Schulter warf und seufzte. „Gut, aber ich stimme dem nur zu, weil es in diese Richtung ein paar exotische Blumen geben soll, die ich noch nicht besitze.“
Noch mehr Blumen? Alitia machte mich wahnsinnig!

 

- - - - -

 

Während Alitia eilig nach Hause flog, um ein wenig Proviant zu besorgen, und Villus etwas für unsere Reise besorgte, ließ ich mich zu den Zellen bringen.

Aus Cirillo´s Gedanken wusste ich, dass er nicht mitfliegen würde, können. Ich verstand das, wenngleich es mich schrecklich ärgerte, weshalb ich ihm auch direkt in die Arme lief und so lange küsste, bis mein Rücken, mit aufgefächerten Flügeln, an einem kühlen Zellengitter landete.
Cirillo´s Erregung ließ meinen gesamten Körper so tief erschaudern, dass meine Knie beinahe weich wurden. Der Gedanke mich direkt hier, während der Arbeit und der Gefahr, dass jeder Zeit jemand in die Zellengänge hinein kommen konnte, zu nehmen, ließ ihn so erbeben, wie mich selbst.
„Das wäre eine wirklich, wirklich dumme Idee! Außerdem will ich nicht schon wieder mit dir irgendwo in der Öffentlichkeit schlafen.“ Keuchte er an meinem Ohr und küsste meinen Hals.
Ich hob mein Bein und zog Cirillo so nahe an mich, wie es nur irgend möglich war. „Du meinst eher einen Ort, wie dein Bett... in deiner gemütlichen Hütte, die ich so mag?“
Cirillo erstarrte, als ihm diverse Ideen durch den Kopf schossen, doch er sie rasch wieder verscheuchte.
„Genug davon! Wir wollten doch bloß noch etwas Zeit miteinander verbringen, ehe du aufbrichst, richtig?“
Ich zuckte mit den Schultern und folgte Cirillo, als er versuchte, sich von mir zurückzuziehen. Meiner Umarmung konnte er niemals entkommen!
Seufzend schmiegte ich mich an seine blanke Brust und rieb meine Wange über seine Haut. Genau das brauchte ich gerade eben... Meinen Cirillo. „Blödsinn. Ich bin eigentlich hier, um dich am Ohr mit zu zerren. Du solltest wirklich mitfliegen.“
Er küsste meinen Scheitel. „Liebend gern, Haylee... Aber ich kann wirklich nicht. Das weißt du.“ Genauso, wie er sich bewusst war, dass ich ihn nicht zu diesem Ausflug zwingen würde.
„Versuchen kann ich es doch, oder?“ Ich blickte lächelnd hoch in sein, ebenso strahlendes Gesicht und erhielt noch einen langgezogenen Kuss.
„Also wirklich, das schickt sich aber nicht für einen Erzengel!“ Witzelte Alitia, als sie lautlos in den Flur schwebte.
Cirillo wurde sofort steif wie ein Brett und setzte sein gewohnt abweisende Miene auf, was mir überhaupt nicht gefiel. Ich wollte noch ein wenig weiter diese schönen Sterne in seinen Augen betrachten und darin versinken!
„Brecht ihr sofort auf?“ Erkundigte sich Cirillo.
„Natürlich, oder denkst du, dass ich an einem herunter gekommenen Ort, wie diesem hier, Wurzeln schlage?“ Alitia wandte sich an mich. „Na komm, im besten Fall, hast du deinen Gefährten morgen Abend ohnehin wieder. Gönn dir die Auszeit von seiner Griesgrämigkeit.“
Ich rollte genervt mit den Augen. Die beiden konnten es wirklich nicht lassen. „Ich finde Cirillo eigentlich überhaupt nicht griesgrämig. Eigentlich ist er sehr nett und witzig.“
Alitia lachte amüsiert auf. „Cirillo soll witzig sein?“ Erneut warf sie ihr Haar überheblich zurück und verschränkte herausfordernd die Arme vor dem Oberkörper. „Dann lass besser mal einen Witz hören.“
Anstatt auf ihre Provokation einzugehen, worauf ich wirklich sehr stolz auf ihn war, beugte sich Cirillo herab und küsste mich noch ein letztes Mal voller Hingabe. „Ich werde dich vermissen.“ Sagte ich und streichelte sein weiches Gesicht.
„Ich werde doch bei dir sein.“ Antwortete er genauso leise und rieb seine Stirn an meiner, ehe er endgültig den Rückzug antrat.
Wortwörtlich konnte ich fühlen, wie schwer es ihm fiel, mich für diese ungewissen, langen Stunden ziehen zu lassen. Andererseits, wusste er mich auch in Sicherheit und würde jeden meiner Schritte mit Argusaugen überwachen. Wenn ich nur ansatzweise irgendetwas brauchte, würde er los eilen, um mir zur Hilfe zu kommen.
Sehnsüchtig sah ich seinem muskulösen Rücken hinterher und ließ meinen Blick wohl etwas zu lange auf seinem Hintern, denn er schloss seine gehobenen Flügeln darüber, woraufhin ich zu lachen begann. Cirillo war so süß und man brachte ihn so leicht dazu, rot zu werden, selbst wenn man es ihm niemals ansah. Cirillo war einfach toll...
„Muss ich dich erst losreißen, oder kommst du jetzt endlich?“
Ich seufzte. „Losreißen, bitte.“ Witzelte ich, dann ging ich Seite an Seite, mit Alitia aus der Höhle, wo bereits meine beiden Wächter warteten. Auch sie hatten sich Proviant besorgt und Villus würden wir an der Spitze des weißen Turmes wieder treffen.
Zu meiner großen Überraschung brachten die Wächter eine ganz neue Art an >Sitz< mit. Da ich ja meine Flugmuskulatur stärken musste, war der Holzsitz so gebaut, dass ich mich entweder auf die Latte setzen konnte, oder sie als Halterung für erste Flugversuche benutzte. So begannen anscheinend auch die Engelskinder, bloß mit dem Unterschied, dass sie an einer speziellen Vorrichtung hingen, während mich wiederum, zwei starke Wächterengel trugen.
Die Reise war beinahe unerträglich lang. Meine beiden Wächterengel waren unerschütterlich in ihrer Wortwahl, welche sich auf >Jawohl, Erzengel Haylee< und >Es ist uns eine Ehre, Erzengel Haylee< beschränkte. Dafür quasselte Alitia übertrieben viel, vor allem über Villus und was es für eine schreckliche Idee war, einen völlig fremden, niederen Engel zu vertrauen und ihn mitzunehmen. Cirillo sah es ein wenig ähnlich, wie ich, doch sah diesen schwächlichen, niederen Engel, als keinerlei Bedrohung für mich an.
Engel waren überraschend gemein, wenn man sie erst einmal besser kennen lernte. Zwar verstand Cirillo, weshalb ich mit diesem >Wesen< sympathisierte, doch mahnte mich auch, dass mich diese Freundlichkeit irgendwann einmal teuer zu Stehen kommen würde.
Ich zwang meine Wächterengel häufiger, als es Alitia gefiel, dazu Pausen zu machen. Von Cirillo wusste ich ja, dass Engel eine schier unerschöpfliche Ausdauer besaßen, doch was meinen Hintern anging, war das gleich etwas ganz anderes. So praktisch die neue Sitzvorrichtung auch war, irgendwann schmerzten meine Pobacken mehr, als dass mir diese verdammten Flugübungen Wert waren.
Nach unserer letzten Pause kamen wir, weit nach Sonnenuntergang, an einem Punkt an, der mir nicht ganz geheuer war. Alitia erzählte mir, dass wir nun für die nächsten Stunden nicht würden landen können, da wir uns buchstäblich über eine tote Zone befanden. Normalerweise gab es, versetzt in verschiedenen Höhenlagen, so gut wie überall Inseln, auf welchen man landen konnte und an den Größen stark variierten. Aber hier, war eine absolute Ausnahme. So erfahren und ausdauernd Engel auch waren, gab es einen Punkt, der sie alle verschreckte. Und zwar das Wissen, dass sich unter ihnen nichts befand. Natürlich sahen Engel eher selten die Inseln, über welche sie hinweg flogen, zumindest nicht hier, in diesem bewölkten Gebiet. Trotzdem gab das Wissen über die Existenz möglicher Landemöglichkeiten, für den Fall der Fälle, ihnen genau das was sie für jeden Flug brauchten. Sicherheit, neben dem Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten.
Ich bemerkte die Veränderung ihres Verhaltens augenblicklich. Während die Engel bisher schnell und mit wenigen Flügelschlägen über die Luftströme hinweggelitten waren, oder sich von ihnen treiben ließen, so wurden sie nun langsamer und vorsichtiger. Wir konnten auf eine noch so stabile Steinwand zufliegen oder waghalsig plötzlich auftauchenden Inseln ausweichen. Nichts davon brachte sie dermaßen aus dem Gleichgewicht, wie dieses buchstäbliche >nichts<.
Mit einem Mal flogen alle vier Engel so nahe beisammen, wie es möglich war, ohne das sie einander an den Flügeln berührten. Und ja, ebenfalls von Cirillo wusste ich, dass Engeln den Kontakt zu ihren Flügeln als Belästigung ansahen. DAss er sie mich trotz seiner vorgespielten Abneigung für mich, aber dennoch zugelassen hatte, erfüllte mich mit einer inneren Wärme, die ich brauchte, um die verschreckten Engel auf andere Gedanken zu bringen.
„Sind eigentlich Engel die Einzigen, die Fliegen können?“ Fragte ich völlig zusammenhanglos in die erdrückende Stimmung hinein.
Alitia und Villus glitten etwas tiefer, auf meine Höhe, damit sie nicht so schreien brauchten. „Nein, es gibt viele tausend Arten. Doch genauso, wie sie unsere Städte meiden, überlassen wir sie ihrer natürlichen Ordnung.“
„Damit bleibt die Natur im Einklang, trotz unserer Überlegenheit.“ Ergänzte Villus.
„Also habt ihr keine Haustiere, oder Nutzvieh?“
Alitia rümpfte die Nase. „Natürlich nicht. Abgesehen davon, dass die meisten Tierarten höchst gefährlich sind und wild, würden wir damit bloß in die natürliche Ordnung eingreifen. Zudem sind wir weder auf ihre Fähigkeiten, noch ihr Fleisch angewiesen.“
Ich lachte amüsiert auf. „Deshalb bin ich auch überzeugte Veganerin!“ Erklärte ich. „Auch wenn es in meiner Welt schwer ist, sich ausgewogen zu ernähren, da die Menschen es völlig überteuern und finden, die Tiere zu quälen komme ihnen viel billiger.“
„Ich habe bereits gehört, dass Menschen im engen Kontakt mit Tieren zusammen leben. Ist das wirklich so?“ Erkundigte sich Villus neugierig.
„Ja, natürlich. Immerhin teilen wir uns eine Erde miteinander und ihnen auszuweichen ist oft ziemlich schwer. Wir halten sie als Haustiere, Wachhunde, Fleischlieferant und andere Produkte. Manche jagen sie einfach zum Spaß, was ich persönlich schrecklich finde.“
„Was ist spaßig daran, ein Tier zu töten?“
Ich zog fragend die Brauen hoch. Ernsthaft... Die absoluten Krieger, diejenigen die lebten, um zu dienen,... fragten mich, was so toll am Töten war? „Sag du es mir.“ Witzelte ich in Richtung von Alitia, welche meine Worte nicht wirklich verstand. „Immerhin seid ihr ihr Engel, Krieger des Himmels und an eure hübsche Nephilimsammlung muss ich euch wohl kaum erinnern.“
Alitia schnaubte. „Das sind doch bloß Kinder von Dämonen! Sie besitzen absolut keine Daseinsberechtiung, aufgrund ihres Bastarddaseins.“
Autsch... „Ich bin auch ein Bastard.“
Ich sagte es zwar etwas gekränkt, doch erkannte in Alitia´s Blick, dass sie es so nicht gemeint hatte. „Nein, dass was ich damit sagen wollte, ist, dass Dämonen Abschaum sind. Sie sind ein Widerspruch der Existenz. Dass sie sich mit Menschen mischen, ist widerlich und barbarisch, da es immer mit dem Akt der Gewalt einhergeht, verstehst du? Bei Engeln ist das vollkommen anders. Wir nehmen uns nicht einfach, sonder bieten es den Menschen an, dass sie einen Nephilim austragen. Ja, natürlich geben wir damit unsere eigene Existenz auf, doch das geschieht immer zum höheren Wohl und nicht deshalb, um jemanden Qualen zuzufügen. Während eure Mütter sogar ein verlängertes Leben erhalten, sterben die Mütter von verfluchten Nephilim fast immer direkt bei der Geburt, oder leiden psychisch den Rest ihres Lebens.“
Na gut, so wie es Alitia ausdrückte, ergab es natürlich Sinn. Trotzdem fand ich es nicht wirklich fair, so über eine andere Lebensform zu sprechen. Andererseits... sprächen wir hier über Gelsen oder Kakerlaken, würde es mir bestimmt kaum anders ergehen. Und noch dazu besaßen diese Kreaturen eine perfide Freude daran, anderen Qualen zu bereiten.
Das Gespräch jedenfalls, hatte die anderen dazu gebracht, sich wieder einigermaßen zu entspannen, wenngleich sie in ihrer übertriebenen Vorsicht nicht wirklich nachließen.
Eine Stunde später, war es immer noch nicht vorbei, wir hatten noch nicht einmal die erste Hälfte geschafft und mindestens noch zwei weitere noch vor uns. Cirillo schlief so tief und fest, er war einfach nur erledigt gewesen von der vielen Arbeit, welche auf ihm liegenblieb. Eigentlich wollte ich nichts lieber, als ihm etwas davon abzunehmen. Ihm zu helfen und zu unterstützen, doch im Grunde wusste ich, dass ich nicht mehr war, als zusätzliche Arbeit. Natürlich klappte unser Zusammenspiel, dank der gedanklichen Verbundenheit, viel besser mittlerweile.
Ich war so vertieft darin gewesen, auf die ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge von Cirillo zu achten und selbst ein wenig wegzudämmern, als ein ungewohnter Ruck durch meinen Stuhl ging. Ich öffnete blinzelnd meine Lider, doch sah kaum die Hand vor Augen, während wir durch eine besonders dichte Wolke flogen. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Erst nur allmählich, dann immer schneller, so als würden wir besonders schnell sinken.
„Leute?“ Rief ich nach oben, als sich mir keiner erklärte. „Hallo!“ Wieder keine Antwort, dann war ich plötzlich heraußen aus der Wolke, blickte hoch und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass sich niemand über mir befand. Buchstäblich! Niemand!
Ich schrie, was Cirillo jäh aus dem Schlaf fallen ließ und laut meinen Namen schreien. „Hilfe! Was soll ich tun?“ Fragte ich mit Tränen in den Augen, während ich mich an meinen Sitz klammerte, als wäre er das einzige, was mich hielt, wobei ich kategorisch ausschloss, dass uns beide nichts mehr vor einem Fall schützte.
Flügel! Ich musste meine Flügel benutzen! Ja natürlich... Das sagte sich so leicht, wenn man Kontrolle darüber besaß, doch ich hatte so etwas nie gelernt.
Ich stieß den Sitz von mir, genauso wie es Cirillo mir befahl, während er aus dem Turmfenster sprang und so schnell flog, wie nur irgendwie möglich. So wie mein Gefährte nun alles aus sich heraus hollte, was nur irgendwie möglich war, um mich zu erreichen, tat ich, was ich konnte, um ihm entgegen zu kommen. Fast fühlbar, streckte ich meine Hand in die Luft, wollte dass er mich wieder packte, so wie bei meinem ersten Sturz, sehnte mich nach seinen starken Armen, seiner schützenden Umarmung, während ich meine Flügel schmerzhaft, dem Sog entgegen wirkend, hob und versuchte damit zu schlagen. Ein reißen ging durch meine schwächlichen Muskeln und es fühlte sich an, als versuche ich einen Wagen mit purere Willensstärke anzuheben, was wortwörlich unmöglich war!
„Haylee!“ Der panische Schrei von Alitia riss meine Aufmerksamkeit los von Cirillo, welcher mich immer noch dazu brachte, zu versuchen mit den Flügeln zu schlagen. Zwar hatte ich es hinbekommen, meinen Fall auszubremsen und teils zu gleiten, doch die Physik setzte mir unbarmherzig zu.
„Alitia!“ War es Cirillo´s oder meine Stimme, welche da hilfesuchend nach ihr rief? Ich war mir nicht sicher, doch im Endeffekt spielt es ohnehin keine Rolle. Meine treue Freundin kam mir zur Hilfe!
Etwas was ich jedoch nicht erwartete, war dass ihre Seite blutete und ihr Gesicht seltsam geschwollen wirkte. Sie hielt mit einer Hand die Wunde in ihrer Nierengegend, woraus ein Pfeil ragte, während sie die rechte nach mir ausstreckte. Hinter ihr folgte noch ein Pfeil. Sie wich ihm gerade noch so aus, wodurch er ins leere stürzte.
„Schlag kräftiger!“ Befahl sie, als auch bereits ein dunkler Blitz an ihr vorbei fuhr und sie im Rücken traf.
Schreiend zog sie etwas, dass kurz und spitz wirkte, schlug damit nach ihrem Angreifer und brachte ihn zum Aufschreien. War das...
Die beiden stießen sich voneinander ab und da erkannte ich einen der Wächterengel. Er trug zwei armlange KLingen, welche sich um seine Unterarme wanden, während Alitia bloß mit einem Dolch versuchte, die Angriffe zu parieren.
Ich stürzte in die nächste Wolke und sah die beiden kämpfenden nicht mehr, doch es hatte gereicht.
Cirillo´s Schrei hallte durch meinen Kopf. Virbrierte durch meine Venen und brachte mich dazu selbst wütend zu werden. Das hier war eine Farce! Eine verdammte Farce! Egal wer diese beiden Wächter waren, ihre Treue galt definitiv nicht mir...
Mit Tränen in den Augen und angetrieben von purer Wut, gab ich mir noch mehr Mühe, mit den Flügeln zu schlagen. Es riss und zerrte in meinem Rücken. Ich wusste, ich würde meinen Fall nicht aufhalten, doch wenn ich eine Insel fand... irgendetwas, auf dem ich landen konnte...
Aber nein, stellte Cirillo fest. Das war von Anfang an der Plan gewesen. Egal wer die beiden Wächterengel bezahlte, oder gar den Kopf gewaschen hatte, wollte, dass ich auf jeden Fall sterbe. Man wollte mich mit allen Mitteln aus den Weg räumen, die ihnen, auf legale Weise zur Verfügung standen. Und was war unstrafbar? Natürlich ein tragischer Unfall...
Meine Verbitterung nahm überhand. Wie konnte das nur sein? Jetzt auf einmal, wo mein Leben sich endlich zu regeln schien, wo ich Einfluss besaß, um etwas zu verändern... Ausgerechnet jetzt, wo ich so viel geschenkt bekommen hatte, für das ich leben will. Cirillo... Was würde nur aus Cirillo werden? Dem letzten Throne? Meinem geliebten Gefährten?
Cirillo mahnte mich, nicht an so etwas zu denken. Er würde kommen, mich auffangen, doch ich wusste, dass ihm die Erdanziehung einen Strich in die Rechnung machte. Vielleicht... Mit etwas Glück fiel ich noch die nächsten zehn Minuten. Aber nicht einmal eine Stunde Fallzeit würde reichen, damit er mich erreichte. Das wussten wir doch beide...
Ich schloss die Augen und versuchte an das Gute zu denken, was mir im Leben widerfahren war. An meine guten und engen Freunde, die mich liebten. An meine guten Freunde Lucy, Lysander und schlussendlich sogar ein wenig Olympia... Und dann natürlich Cirillo. Nie im Leben dachte ich, dass es jemanden gibt, der mir so viel bedeuten konnte. Jemanden der mein Herz erfüllte, ähnlich empfand wie ich und verstand, wie ich dachte. Jemand, der selbst von der Welt nichts erwartet, sein Schicksal hinnahm, doch zumindest für sich selbst Einstand. Cirillo lebte mit so viel Würde und Stolz für seine Arbeit, für seine Lebensaufgabe und seine Leidenschaft, dass ich ihn regelrecht bewunderte.
„Haylee... bitte...“ Es war, als würde seine traurige, ja regelrecht verzeifelte Stimme, neben meinem Ohr erklingen, doch ich wusste es besser. Ich wusste es besser, bis etwas von oben im Kreuz traf und mir die Luft aus den Lungen quetschte. Starke Fesseln schlangen sich um meinen Leib, drückten viel fester zu, als es nötig war, und entlockten mir ein ersticktes keuchen.
Ruckartig wurde ich zur Seite gerissen, ehe ich wieder aufstieg. Kräftige Flügel, welche neben meinem Augenwinkel erschienen und wieder verschwanden, brachen von Zeit zur Zeit zwischen meinem wild umherfliegenden Haar hindurch. Beinahe hätte ich laut aufgelacht und wollte Cirillo schon für seine überraschende Rettung danken, als mir bewusst wurde, dass sich bei den Fesseln um meinen Leib, in Wahrheit um mörderische, spitze Klauen handelte.
Ich warf meinen Kopf hoch, schob meine Haare aus dem Gesicht und versuchte durch den Wolkennebel mehr zu erkennen als das.
Sobald wir jedoch aus der Wolke draußen waren, beschien der große, beinahe volle silbrige Mond, meinen Tod höchstpersönlich. Er war wunderschön, seine Flügel waren mindestens viermal so groß, als meine eigenen und der Rumpf reichte für drei Reiter auf ihm. Mit einem gebogenen, Adlerschnabel sah er auf mich herab und kluge, grüne Augen musterten seinen nächtlichen Snack.
Greif! Nein! Nein! Nein! Grauenhafte Bilder und Gesprächsfetzen zuckten durch meinen KOpf, als sich Cirillo daran erinnerte, was so ein Greif mit seiner Beute anstellte. Wenn ich Glück hatte, biss er mir direkt den Kopf ab. Wenn ich Pech hatte... endete ich, als Futter für seine Jungen.
Greif... Dieses Wort war schon einmal gefallen. Hatte Alitia nicht etwas von Zähmen gesagt?
Cirillo widersprach mir und erklärte mir, dass so etwas nur im jungen Alter eines Greifes möglich war. Ausgewachsene waren so gut wie unmöglich zu kontrollieren, da sie ihren Geist bloß selten für jemand anderen, als ihren Partner öffnen.
Ich schluckte schwer, als ich nun dieser wunderschön, tödlichen Gestalt entgegen starrte. Es war mit Abstand eines der schönsten und kraftvollsten Wesen, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Obwohl es dunkel war, leuchtete sein dunkelblaues Gefieder unter dem Einfluss des Mondes. Was ihn tagsüber zu einem dunklen Schatten im Himmel machte, einen Jäger unter der strahlenden Sonne, ließ ihn in der Nacht in zarten Tönen leuchten.
Ich sah wie das Wesen seinen Kopf neigte, scheinbar überlegte es, wie es mich am besten anpackte, da erkannte ich meine Chance. Der große Vogel besaß Federn... „Nicht mit mir!“ Schrie ich, im selben Maße die Angst und Frustration von Cirillo fühlend, wie meine eigene Verzweiflung. Ich griff nach oben, packte ein paar Federn aus seinem hübschen Kleid und zog mit aller Kraft daran.
Schreiend hakte das Biest nach mir. Ihm gefiel es offensichtlich kein bisschen, dass ich mich an seinem Bauchkleid verging. Sein Kopf reichte jedoch nicht dorthin, weshalb er sich auf den Rücken warf und für einen Moment im Fall, meinen Leib über sich hielt. Erneut betrachtete es mich mit großen, klugen, doch vor allem hungrigen Augen. Ich merkte, dass es auf meine Flügel abzielte, denn welches flugunfähige Wesen, konnte einem Gott der Lüfte schon etwas entgegenhalten?. Ich nutzte die Chance, lockte ihn, damit er mich noch näher mit dem Fuß an sein Gesicht heran schob, dann schnappte er her und ich tat das, was ich nun bereits seit Monaten nicht mehr getan hatte. Was zu meinem Schulverwais geführt hatte. Ich boxte ihn unter das Auge.
Verblüfft von meiner Tat, schrie es mich an. Ich schrie genauso wütend zurück, während Cirillo mich wahnte, das Mistvieh nicht zu reizen, doch ich blendete ihn aus. Nein, nicht direkt ausblenden... Es war viel mehr, dass ich mich an Cirillo orientierte. Ich nahm ihn als meinen Ankerpunkt. Der Punkt und Segen meines Lebens, an den ich zurückkehren wollte und würde. „Na komm schon, du Mistvieh!“ Schrie ich. Dieses Mal glänzte eine tödliche Abneigung in seinen Augen. Ich sah, dass er mich tot haben wollte, sein lästiges Abendessen, doch etwas störte ihn an mir.
Ich packte ihn erneut am Federkleid und riss dieses Mal an seinem Fußkleid, an den besonders langen und geschmeidigen Federn. Strampelnd warf mich der Greif hoch und für einen Sekundenbruchteil, konnte ich das adlerähnliche Wesen ganz genau sehen. Ehrlich gesagt hatte es, bis auf den Schnabel und den Klauen, fast überhaupt nichts mit einem Adler gemein. Sein Kopf war zwar aerodynamisch, doch besaß er einen besonders langen, bläulichen Hals. Sein Rumpf war genauso schlangenartig und statt Schwanzfedern hatte es eine befiederte Flosse. Ein Hai der Lüfte... Schoss es mir durch den Kopf, ehe ich wieder auf das Wesen herab fiel. Es war dabei sich zur Seite fallen zu lassen, um mich loszuwerden, doch nicht mit mir. Er flog! Ich konnte es nicht...
Anstatt erleichtert zu sein, ein paar Minuten weiter zu leben, da er mich ein gutes Stück wieder hochgetragen hatte, bis kurz, vor die Kampfgeräusche hin, packte ich erneut Federn von seiner Seite und zog mich an seinen warmen Leib.
Cirillo schrie in meinen Kopf, feuerte mich an, zu ihm zurück zu reiten. In seine Arme zu fallen, woraus er mich ab jetzt nie wieder entlassen würde.
Mit neuer Kraft, wich ich der bösen Hackattacke aus, welche folgte. Ich zog mich seinen Körper rauf, weg von seinem Schnabel, zu seiner weit sicheren Rückseite. Zumindest nahm ich das so lange an, bis mich ein gemeiner Schwanzhieb an der Seite traf. Mein Flügel fing zwar das meiste ab, doch das änderte nichts an dem unbändigen Schmerz.
Erneut griff ich fester zu, kletterte hoch an seinen Rücken, wo zwei vertraute Ohren von seinem Schädel abstanden und bis zur Mitte des Rückens reichten.
Das! Sagte mir Cirillo. Wenn ich diese beiden Antennen erreichte, hatte ich zumindest den Hauch einer Chance zu überleben.
Wie von Cirillo befohlen, griff ich nach einer der Antennen, doch der Greif wusste nur zu gut, was ich vorhatte. Er legte den Körper um und begann schnell immer tiefer zu stürzen, was mich dazu zwang, mich mit beiden Armen, fest in seine Federn zu krallen. Dass ich dabei die eine oder andere rupfte, war mir vollkommen gleich.
Der Greif stürzte ausgesprochen lange mit mir. Als er jedoch merkte, dass ich lästige Zecke nicht abging, änderte er seine Taktik. Er stieg wieder hoch und ich war davon überzeugt, dass es einen berechtigten Grund gab, weshalb Greife viel höher steigen konnten, als Engel.
Ich nutzte den Richtungswechsel, um mich noch weiter vor zu ziehen. Noch ein Peitschenhieb traf mich, doch ich blendete den Schmerz aus, das ziehen in meinem gesamten Körper, das reißen meiner Flügel. Ich musste sie erreichen. Für Cirillo! Für uns!
Und dann hatte ich einen. Ich wusste nicht genau, wie ich es machte, aber es geschah so fließend, dass ich kaum einen Unterschied spürte. In einem Moment berührte ich noch das weiche, wulstige Fleisch, welches bloß von kleinen Federn überwachsen war, dann >war< ich auch bereits dieses Teil.
Ehe ich mich versah, schwand meine Angst, denn meine kräftigen, großen Flügel trugen mich ohnehin über den Abgrund des Todes. Mir konnte hier nichts passieren, denn ich war der Jäger der Lüfte. Eine Seltenheit, wie es sie kein zweites Mal gab. Ein Gott des Himmels.
Höher und immer höher stieg ich mit meinen Flügeln. Ich genoss es, wie mühelos ich das hinbekam, wie herrlich sich die erfrischende Briese in meinem Gesicht anfühlte. Oder meinen Schwanz, mit ihm lenkte ich hin und her, so wie ich gerade wollte.
Amüsiert machte ich eine Rolle, ließ meine Flügel dann ausgestreckt und schwebte einfach über die Unendlichkeit des Himmels hinweg. Hier gab es nichts, außer mich. Nur meine todbringende Macht.
Für einen Moment schloss ich die Augen und sog tief den Geruch und die Frische der Wolken ein. Es gab überhaupt nichts Schöneres. Nichts, für das es sich mehr zu leben lohnte, als diese eine Sache. Zu fliegen!
Plötzlich drang mir auch ein anderer Geruch in die Nase. Es war Blut, von einem verwundeten Lebewesen. Ich folgte seiner Spur und roch noch mehr von ihnen. Vier, um genau zu sein. Sie kämpften. Um was? Das spielte überhaupt keine Rolle, denn sie waren schwach und essbar. Meine abendliche Mahlzeit, um genau zu sein.
Ich war nämlich ein geduldiger Jäger. Fünf dieser Wesen anzugreifen, brauchte ich noch nicht einmal versuchen. Doch wenn sie verwundet waren, dann auf jeden Fall, leichte Beute. Damit konnte ich bestimmt ein Weibchen beeindrucken! Ich konnte sie fünf ihnen vorlegen und... Fünf... Nein, ich roch bloß vier dieser Kreaturen, doch war mir absolut sicher, dass es fünfgewesen sind. Ich folgte ihnen bereits seit Stunden, suchte Schwachstellen, oder einen Moment ihrer Unaufmerksamkeit, doch dieser war erst gerade eben gekommen. Da hatte ich eine von ihnen gefangen!
Jäh, als würde ich mich meiner eigenen Existenz erst wieder bewusst werden, drängte mich der Greif aus seinem Kopf. Er versuchte, mich loszuwerden, doch ich wusste, um den Kreislauf zu schließen, musste ich bloß noch den zweiten Auswuchs ergreifen.
Und da geschah es dann auch. Wie ich erst in die seine Gedankenwelt hinein gezogen worden war, zog es ihn nun in meine Welt. Er war nun ein Engel, fühlte diese mysteriöse Macht in sich, die er nicht zu beherrschen wusste und merkte erst da, was ich doch für eine Art Engel war.
Statt weiter gegen mich anzukämpfen, hörte er einfach auf. Langsamer werdend, schwebte er um die vier kämpfenden Engel herum. Wut sammelte sich in ihm. Wut über die UNgerechtigkeit, welcher ich zu Teil geworden war. Mitleid für meinen Verlust, denn er selbst pflegte gerne den Kontakt zu seinen Eltern und wünschte sich selbst einen Partner, so wie ich ihn gefunden hatte.
Anders als ich musste er sich eine solche Verbindung erst verdienen, indem er jemanden beeindruckte und ihre Gunst gewann. Ich hatte sie schon immer besessen. Ich wurde geliebt und beschützt und das von mehr, als bloß einem Lebewesen. Sie waren es auch, die da in diesem Moment kämpften. Um ihr Leben bangten und sich so sehr um mich sorgten, während zuhause jemand ganz Besonderes auf mich wartete.
Kreischend stürzte sich der Greif auf den nächsten Wächternegel, den er finden konnte. Dieser drehte sich erschrocken herum, doch noch ehe er reagieren konnte, schnappte ein Schnabel mit spitzen Zähnen nach seinem Kopf und trennte ihn mühelos ab. Noch ehe die erste Blutfontäne sein Gefieder erreichen konnte, bretterte der Greif haarscharf an der verdutzten Alitia vorbei und brachten sie dazu, sich um ihre eigene Achse zu drehen.
Der Greif flog eine kleine Runde, ehe er von unten zustieß. Zwar war der zweite Wächterengel bereits darauf gefasst, doch ich kannte einen Ort, an den der Krieger nicht damit rechnen würde, dass der Greif attackierte. Von unten.
Der Greif schoss hoch, schnappte sich einen Flügel und biss sich darin fest. Der Wächterengel schrie, riss sein Schwert hoch und schnitt damit über Villus Körper, welcher sich bisher durchs Ausweichen und geschickte Fliegen geschützt hatte. Schreiend stürzte der niedere Engel hinunter, was meine Wut genauso antrieb, wie die des Greifes. Niemand durfte seiner Spezies etwas antun. Sie verteidigten einander vor Angreifer, auch wenn es kaum welche gab, stets mit allem, was sie ihnen entgegenbringen konnten. Auch wenn sie bloß in kleinen Familienverbänden lebten, stets angeführt von den ältesten Tieren, würden sie niemanden dermaßen verstoßen oder herunter putzen. Das war einfach nicht ihre Art.
Der Greif packte den Leib des Engels, noch ehe dieser mit dem Schwert ausschlagen konnte und riss den Flügel einfach ab.
Hinab gerissen, von der Unfähigkeit zu fliegen, so wie dem Gewicht seines Schwertes, stürzte der Engel, ohne Halt in die Tiefe.
Aber nicht nur dieser fiel, wusste ich. Auch Villus, der keine Kontrolle über seinen Körper hatte, sondern bloß wegen unerträglicher Schmerzen schrie.
Mein Greif schrie zurück, wollte ihm sagen, dass er kam, ihn abfing und beschützte, doch natürlich verstand das der Engel nicht.
Er schrie und stürzte, während er versuchte, nicht auf seine lange Wunde zu fassen. Sie zog sich von der Mitte seiner Brust, bis über das Gesicht hinauf. Blut quoll heraus und schoss dem Greif, so wie mir ins Gesicht, doch das spielte keine Rolle. Er würde heilen. Villus würde leben!
„Haylee! Haylee!“ Schrie Alitia von oben, als der Greif Villus packte und an den Füßen wieder hochzog. Auf halben Weg kamen wir dem, ebenfalls niederen Engel, entgegen. Sie wirkte geradezu entsetz, als sie sich plötzlich Auge in Auge mit dem Greif wiederfand und die Angst überwog nach einem Moment, in dem sie realisierte, dass das hier gerade wirklich geschah.
Schnaubend drehte sich der Greif herum, um meinen, an ihn buchstäblich festgewachsenen, Körper zu präsentieren.
„Haylee!“ Mein Name schallte ungläubig über den Nachthimmel.
„Was ist? Steigst du auf, oder willst du selbst zurückfliegen?“
Ungläubig schüttelte Alitia den Kopf. Sie fasste es einfach nicht, was ich einmal mehr geschafft hatte. Doch das verdankte ich einzig und alleine meinem Gefährten Cirillo. Und natürlich, dass der Greif Mitleid mit mir empfand.

 

- - - - -

 

Dank dem Greif hatte ich nun den genauen Standort von der Villa meines Vaters. Er war in einem Nest, in der Nähe des großen Wasserfalles aufgewachsen und flog noch heute von Zeit zur Zeit gerne dorthin, um seine Eltern zu besuchen und sich die elterliche Liebe von ihnen zu holen, welches sich ein jeder wünschte. Auch seine Geschwister überprüfte er bei der Gelegenheit, brachte ihnen Geschenke mit oder spielte mit ihnen.
Er war ein stolzes Familientier und nur dank diesen Greif, konnte ich in einer Geschwindigkeit zurückkehren, für die mich ein jeder Engel, ausnahmslos, beneiden würde.
Noch ehe die Sonne vollständig über der Stadt des Lichts aufgegangen war, drehte mein Greif eine Ehrenrunde um die Insel, schwebte in einer Spirale immer höher und höher, bis er die Spitze erreichte. Dabei zog er ein Publikum an, welches sich gaffend die Hälse nach uns verdrehte und teils ängstlich, teils bewundernd, das große, mächtige Tier betrachtete.
Oben an der Spitze angekommen, in dem Teil, in welchem die Ratssitzungen abgehalten wurden, entdeckten wir einen Schatten, der kaum wider zu erkennen war. Es war Cirillo und er stand dort, mit nichts weiter, als einer Leinenhose bekleidet, wie er es immer war. Standfest, doch kreidebleich stand er dort. Nur noch ein Hauch seines ursprünglichen Stolzes.
Er schluckte schwer, als er dem gewaltigen Jäger der Lüfte hinterher sah, wie er ihn umrundete und immer näher kam, bis seine klauenbesetzten Füße die bewusstlos gewordene Gestalt endlich ablegen konnte.
Die Wunden hatten sich nach einer Stunde geschlossen gehabt, doch Villus war so erschöpft gewesen, dass er sofort eingeschlafen war und nun in einem kleinen Nest, aus Klauen ruhte. Erst, als er den kalten Stein unter seinem Leib bemerkte, schreckte der Engel hoch und griff zischend nach seinen entstandenen Narben.
„Haylee...“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch, als Alitia vom Rücken des Greifes aufsprang und an die Seite von Villus eilte, um diesem zu helfen.
Sie war mindestens so wütend und enttäuscht vom Rat, wie ich es war. Ihre Wut war sogar so groß geworden, dass sie nicht ein Wort über das Geschehene gesprochen hatte, den gesamten Rückweg lang. Wer konnte es ihr schon verübeln? Ich hatte so viel zu sagen, dass ich überhaupt nicht wusste, womit ich beginnen sollte.
Als mein Blick jedoch wieder auf Cirillo fällt, weiß ich ganz genau, wo ich beginnen werde...
Der Greif fühlte, dass ich bereit war, mich wieder von ihm zu trennen, stellte seine muskulösen Klauen, klackernd auf dem Boden ab und legte sich flach auf den Bauch, damit ich absteigen konnte.
Ich rutschte von seinem massigen Leib, im selben Moment, in welchem meine Beine auf dem Boden ankamen, sank Cirillo; mit einem erleichterten Seufzer auf den Lippen; in sich zusammen.
Ich hatte gemerkt, dass die Verbindung zu dem Greif, mein Band zu Cirillo irgendwie blockierte, doch hatte ich die stille Hoffnung gehabt, dass seine Verbindung wenigstens zu mir noch offen war, wenngleich ich ihn sehnlichst vermisste. Ihn nicht zu fühlen, hatte in mir etwas ausgelöst, von dem ich überhaupt nicht gewusst hatte, dass es da gewesen ist. Nicht bis zu diesem Moment. Es war eine Art Sehnsucht nach etwas gewesen, dass ich so überhaupt nicht in Worte fassen konnte. Die große Angst etwas zu verlieren, dass ein Teil von mir war. Meine zweite Hälfte, die mich ergänzte und das Beste aus mir heraus holen konnte...
Ich gehe um den Greif herum und löse langsam meinen, bisher unbewussten, festen Griff um die fleischigen Verlängerungen seiner Ohren. Erst da fielen mir die vielen schmalen, rosa Tentakel auf, welche aus den Enden, direkt in meine Handflächen und Venen über gegangen waren.
Ich verlor die Verbindung zu ihm und wurde von einer Welle der Erleichterung erfasst. Sie war beinahe so unerträglich wie die Angst darin, die Sehnsucht, die Hilflosigkeit und Trauer um etwas, das ich doch überhaupt nicht verloren hatte.
Mein Blick gleitet zu Cirillo, welcher so wirkt, als würde er jeden Moment weinen und ich wusste... es war genau so.
Auch mir drangen Tränen in die Augen. Wenngleich Cirillo gespürt hatte, dass der Greif unsere Verbindung vorübergehend blockiert hatte, so war es etwas ganz anderes, es nun wirklich, richtig zu wissen und sie zurückzuhaben.
Unmittelbar vor Cirillo ging ich auf die Knie, bettete seine Stirn auf meiner Schulter und verdeckte damit die herab fallenden Tränen. Stumm versuchte ich ihn mit meiner Liebe und Zuversicht zu trösten, doch trieb ich dabei bloß unser beider Zorn an. Immerhin war das alles nicht ohne Grund geschehen. Jemand, und das ausgerechnet aus dem Rat, hatte es auf mich abgesehen. Dieser riskierte sogar Schande über sein eigenes Ansehen zu bringen, genauso wie einen erneuten Krieg auszulösen, nur um mich aus der Welt zu schaffen? Wie war das bloß möglich? Wieso?
„Erzengel Haylee?“ Cirillo versteifte sich, als er die Stimme eines anderen Erzengels wahrnahm. Ich war die Einzige die aufsah zu der Missgeburt von Erzengel, die es nicht verdient hatte, als ein höheres Wesen bezeichnet zu werden!
Alitia hob respektlos die Flügel, um die Existenz eines jeden anderen Engels auszublenden, während sie Villus auf die Beine half, um ihn von hier weg zu bringen, ich vermutete zu einem Heiler. Cirillo wiederum, wollte nicht aufsehen, um sich nicht die Blöße zu geben und jedem zu verraten, dass er geweint hatte.
Selbstverständlich beschützte ich ihn! Niemand würde meinen Throne jemals schwach sehen! Nicht über meine Leiche!
„Verschwinde Hebreus. Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben!“ Fauchte ich bösartig und vollkommen respektlos.
Räuspernd deutete Hebreus auf die vielen neugierigen Engel um uns herum, welche sogar schwebend über uns standen und gespannt lauschten.
„Was? Willst du mich etwa genauso zum Stillschweigen bringen, wie einer >unserer< Brüder!“ Keifte ich ihn an, während meine Hand beruhigend über die Schultern von Cirillo massierten. Langsam fasste er sich wieder, doch brauchte trotzdem noch seine Zeit, um wieder klar denken zu können.
„Schwester, ich verstehe nicht, wovon du sprichst. Natürlich würde niemals jemand einem Erzengel etwas absichtlich antun.“
Ich lachte humorlos auf. „Dann erklär mir, weshalb mich zwei verdammte Wächterengel vorhin über den Abgrund des Todes haben fallen lassen.“
Angestrengt dachte Hebreus nach. „Bestimmt gibt es dafür eine völlig harmlose Erklärung. Ein Unfall, ode-...“
„Ein Unfall?“ Rief ich erbost aus, woraufhin Hebreus mich um einen leiseren Ton bat.
„Sieh dir Villus Körper an! Und Alitia! Das haben sie sich bestimmt nicht selbst zugefügt. Ihr Engel seid einfach nur... Erbärmlich und heuchlerisch!“ Fauchte ich, so wütend, dass ich meine eigene Stimme kaum noch erkannte.
„Na gut, dann bitte verrate mir was, deiner Meinung nach vorgefallen ist.“
Diese Wortwahl... ich hörte es heraus, wie ich es bei Sanriel bemerkt hatte. Diese Art der Engel, wie mich Cirillo um Vorsicht mahnte, doch im selben Moment einfach darauf pfiff. Es interessierte ihn nicht mehr. Nicht nachdem was ein Erzengel verbrochen hatte, denn ein Wächterengel käme von selbst niemals auf die Idee, jemanden zu schaden. Genauso, wie ein Arzt alles tun würde, um seinen Patienten zu halten.
„Kommt mir alle nicht mit diesem geheuchelten Unterton!“ Mahnte ich mit erhobenen Zeigefinger und wusste auf einmal ganz genau, woran mich meine Stimmlage und Haltung erinnert hatte. Hatte sich... War es etwa meiner Mutter so die letzten siebzehn Jahre ergangen? War das ihre Welt gewesen?
„Ich weiß nicht wer es war, aber ich weiß, dass ihr etwas gegen meinen Sitz im Rat habt. Ich bin ein Nephilim!“ Den letzten Satz schrie ich laut heraus. „Ich bin der halb menschliche Bastard von Michael, eurem ach so geliebten Erzengel!“ Ich sah hinab in die wunderschönen, dunklen Augen von Cirillo. „Und die Gefährtin eines gefährlichen Thrones! Ich bin offensichtlich auf mehre Weisen nicht würdig, aber wisst ihr was? Das seid ihr noch viel weniger. Ihr besitzt kein Mitgefühl, keine Empathie!“
Mein Blick wird trauriger, während ich die gaffenden und tuschelnden Engel um uns herum betrachte. „Langsam schäme ich mich wirklich, dass meine wahren Brüder und Schwestern, mit einem solchen Volk verwandt sind. Und ja!“ Das Tuscheln wurde zu allgemeinen entsetzen. „Luzifers Sohn lebt. Uriels Tochter prophezeit noch immer die Zukunft.“ Offensichtlich war zumindest dieser Teil meiner Herkunft ein strenges Geheimnis gewesen. Wie lächerlich...
„Schwester, das ist ein Thema für die Ratssitzung. Nicht für hier draußen!“ Schimpfte der andere Erzengel.
Ich warf meine Hände in die Luft. „Dann bitte... Tu dir keinen Zwang an. Ruf alle zusammen, vielleicht ist ja jemand von ihnen überrascht, dass ich noch lebe.“

 

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Ich wusste zwar nicht, wie es Hebreus geschafft hatte, doch innerhalb kürzester Zeit, war der gesamte Rat zusammen gekommen. Thiane, wie üblich in ihrer geisterhaften Form, schwebend über ihrem Stuhl. Rebeus, mit einem genervten Ausdruck im Gesicht. Er hatte sich bereits lautstark beschwert, dass ich nicht einfach aus dem Nichts und für irgendwelche Kleinigkeiten eine Ratsversammlung einberufen konnte.
Na danke aber auch... Beinahe zu sterben war eine >Kleinigkeit<.
Ufnier und Sanriel waren zusammen angekommen und wirkten irgendwie müde. Offensichtlich hatten sie noch keinen Schlaf bekommen. Mich zu sehen, überraschte die beiden jedoch genauso wenig, wie jeden anderen. Dabei hätte ich bei diesem Attentat ehrlich gesagt auf Sanriel gewettet. Thumeus, der goldene Zwilling, traf erst zum Schluss ein. Er wirkte ausdruckslos, wie sein Bruder, doch hob interessiert eine Braue, als er erfuhr, dass ich eine Ratsversammlung einberufen hatte. Ehrlich gesagt, war es Hebreus gewesen, da ich absolut keine Ahnung hatte, wie man andere kontaktierte, doch Cirillo flüsterte mir zu, dass jeder Erzengel in Kontakt mit den anderen treten konnte.
Natürlich durfte Cirillo der Ratsversammlung beiwohnen, da er ohnehin alles durch mich mithören würden, nur mit dem Unterschied, dass er kein Stimmrecht besaß.
„So eine Ratsversammlung einzuberufen, steht unserer Schwester doch überhaupt nicht zu.“ Empörte sich Sanriel arrogant.
„Tatsächlich? Dafür bist du aber überraschend schnell hier gewesen.“ Giftete ich zurück, was Cirillo dazu veranlasste, seine Hand auf die meine zu legen. Das er keinen Sitz im Rat besaß, durfte man wörtlich nehmen. Er musste neben meinem Stuhl stehen bleiben und warten, bis wir alle entlassen waren. Wenigstens musste er kein Schweigegelübde ablegen...
„Was Erzengel Haylee damit sagen möchte, ist, dass ein Attentat, auf einen Erzengel begangen wurde. Es war wichtig, dass so schnell wie möglich eine Ratssitzung zusammen berufen wurde, falls die Leben der anderen ebenfalls in Gefahr sein sollten.“ Er wusste, dass ich es nicht >so< gemeint hatte, aber egal. Ich dankte ihm, dass er mir etwas die Aggression aus den Segeln nahm, denn ich war nach alldem einfach noch zu aufgeregt.
„Was soll das bedeuten?“ Fragte Rebeus erschrocken. „Sind wir etwa die Nächsten? Soll das ein Aufstand werden? Ein neuer Krieg?“
Hebreus hob eine Hand, um seinen Bruder zum Schweigen zu bringen. „Bitte, Rebeus. Wir wollen doch nicht die Hölle gleich herauf beschwören. Erzengel Haylee hat mir eben davon berichtet, dass ihre beiden Wächterengel, welche man ihr abgestellt hatte, sie haben fallen lassen und das über dem Schlund des Todes. Auch die beiden niederen Engel, welche in ihrer Begleitung gewesen sind, scheinen von eben denselben Wächtern angegriffen worden zu sein.“
Sanriel lachte amüsiert auf. „Na dann ist der Fall doch klar. Die niederen Engel haben die Wächter angegriffen, wodurch sie Haylee fallen lassen haben müssen. Sie ist selbst schuld, wenn sie noch nicht fliegen kann.“
„Deine Worte amüsieren mich, denn Alitia und Villus waren die Einzigen, die mir zur Hilfe gekommen sind, als ich fiel.“
„Bestimmt wollten sie nur sichergehen, dass du tot bist.“ Giftete er wiederum zurück. Also wirklich... So wenig wie diesen Erzengel, hatte ich schon lange niemanden mehr leiden können!
„Ich weiß ja nicht, wie Erzengel eine Rettung pflegen, aber während Alitia versuchte, meine Hand zu greifen, hat ein Wächterengel mit Pfeilen auf sie geschossen, damit sie mich nicht erreicht.“
„Behauptungen.“ Entgegnete er störrisch.
Ich stöhnte genervt, doch es war wieder einmal Hebreus, welcher hastig eingriff, ehe ich noch mit Sanriel richtig zu streiten begann.
„Erst einmal, sollten wir uns bewusst werden, dass dieses Attentat ausschließlich Erzengel Haylee galt.“ Beteuerte er. „Was bedeutet, es war etwas Persönliches und der restliche Rat, wird nicht von irgendeinem Aufstand bedroht.“ Versicherte er ihnen.
Gut, ich gebe ja zu, ich hatte das bloß aus Zorn und Frustration in den Raum geworfen. Aber vielleicht lag ich ja überhaupt nicht so falsch? Mich würde es nicht wundern, wenn einige Engel einen richtigen Hass auf Erzengel entwickelt hatten. Oder zumindest auf die Führstruktur hier im Himmel.
„Stimmt es, dass du einen ausgewachsenen Greif im Fall gezähmt hast?“
Der plötzliche Themenwechsel überraschte mich. Ich betrachtete den durchscheinenden, weiblichen Erzengel, mit ihren überaus klugen Augen einen Moment lang, ehe ich nickte.
Augenblicklich tuschelten die anderen Engel und wirkten regelrecht entsetzt.
Ich war verwirrt. Was war daran nun schon wieder verwerflich? Offensichtlich konnte ich überhaupt nichts richtig machen.
„Sie sind beeindruckt.“ Flüsterte Cirillo stolz in mein Ohr. Verblüfft sah ich ihn an. Nicht sein Ernst! Sanft lächelte er hinauf zu mir, da ich ihn aufgrund der erhöhten Position überragte, was offensichtlich einen gewissen Effekt auf Angeklagte haben sollte.
„Wie hast du das gemacht?“ Fragte Ufnier erstaunt. „Sie sind viel zu eigensinnig und Stolz, um aus sich ein einfaches Reittier machen zu lassen.“
„Oh, ja... Das war eigentlich kaum der Rede wert.“ Gab ich an. „Er wollte mich fressen, doch ich habe ihm ins Gesicht geboxt und ein paar Federn gezogen, bis ich zu diesen komischen Auswüchsen kam. Cirillo hat mich angeleitet. Ohne ihn hätte ich überhaupt nicht gewusst, wie man einen Greif reitet.“
Die Erzengel wechselten einen erschrockenen Ausdruck im Gesicht. Auch wenn es nicht ansatzweise so einfach gewesen war und Cirillo ein klein wenig traumatisiert hatte, die Verbindung zu mir zu verlieren, so war ich nun im Nachhinein doch ein wenig stolz auf mich. Ich war in den Gedanken und Erinnerungen eines wahren Himmelsgottes gewesen. Einem Wesen, das selbst Engeln gefährlich werden konnte, weshalb sie getrost Abstand zu dieser Art hielten. Cirillo konnte es, seit ich die Verbindung zum Greif unterbrochen hatte, ebenfalls sehen und war mehr als fasziniert von der Lebensart der Greife, so wie ihrem familiären Zusammenhalt.
„Er hat dich einfach in seine Gedanken gelassen? So etwas ist doch gefährlich! Wenn er dein Denken übernommen hätte, oder...
„Hat er für einen kurzen Moment lang, da ich nur mit einer Hand an seinem Auswuchs hing. Jedoch sobald der Kreislauf geschlossen war, hat er mir vertraut und mir geholfen. Er war eigentlich sogar sehr einfühlsam und ist vermutlich eben am besten Weg, die toten Wächterengel aufzusammeln und sie in sein Nest zu tragen, als Geschenk für seine Zukünftige.“ Ich überlegte mehr laut, was ich in den Gedanken des Greifes so mitbekommen hatte. Cirillo stimmte mir zu, so eine Beute würde sich ein stolzer Greif niemals entgehen lassen. Insofern die Leichen noch nicht im tosenden Meer abgesunken waren...
Ufnier verzog angeekelt das Gesicht. Rebeus stöhnte genervt und Thiane schenkte mir so etwas... wie ein Lächeln?
„Haylee, ich versichere dir, dass ich mich niemals an einem solchen Verbrechen beteiligen würde. Ich schwöre es auf mein Erbe.“ Thiane´s Stimme war sanft und melodisch. Ich glaubte ihr... „Und dass du das Vertrauen eines Greifes gewonnen hast, lässt dich meinen Respekt verdienen. Falls du etwas benötigst, zögere nicht, dich an mich zu wenden. Zudem gestehe ich dir für diese Ratssitzung meine Stimme zu. Nutze sie weise, Schwester.“ Damit verblasste ihre Gestalt und Thiane ließ uns in absoluter Stille zurück. Im Moment könnte man vermutlich im Erdgeschoss ein Glas zersplittern hören, so leise war es geworden.
Cirillo drückte meine Hand fester, damit ich auf seine Gedanken aufmerksam wurde. So etwas geschah nämlich so gut wie nie. Niemals würde ein Erzengel freiwillig auf seine Stimme verzichten, dass es Thiane überhaupt in Betracht gezogen hatte, war Beweis dafür, dass ich in ihr eine Verbündete gewonnen hatte.
„Also...“ Begann Thumeus. „Heute geschehen ausgesprochen viele bedeutende Ereignisse, in der Geschichte der Erzengel.“ Er räusperte sich. „Nachdem Haylee für diese Sitzung zwei Stimmen hat, sollten wir uns auf die Aufklärung des Attentats konzentrieren und sonst über nichts abstimmen.“
He! Das war gemein! Aber traurigerweise, zu erwarten gewesen.
„Gut, dann stelle ich einfach mal die offensichtlichste Frage. Wer von euch, würde mich gerne tot sehen?“
Zwei Hände schossen ohne zu zögern in die Höhe, wofür die beiden Männer einen giftigen Blick kassierten. Wenigstens waren sie ehrlich.
„Also habt ihr meine Wächter beauftragt, mich in den Abgrund stürzen zu lassen?“
„Nein.“ Erwiderte Rebeus völlig aufrichtig.
„Ich hatte Besseres zu tun, als mir über dich den Kopf zu zerbrechen.“ Entgegnete Sanriel genauso gleichgültig.
So kam ich einfach nicht weiter. Natürlich würde keiner zugeben, den Auftrag gegeben zu haben, einen Erzengel-...
„Stimmt!“ Fügte Cirillo an, als er meinen Gedankengang gefolgt war. „Es muss jemand gewesen sein, der die Möglichkeit ergriffen hatte, Wächterengel ungestört beeinflussen zu können. Jemand, der handwerklich ausgesprochen geschickt ist und eine spezielle Vorrichtung für einen noch flugunfähigen Erzengel quasi über Nacht hergestellt hat.“
Sanriel runzelte nachdenklich die Stirn, während die Köpfe von Rebeus, Thumeus, so wie Ufnier fragend zu Hebreus gingen.
Der Erzengel wurde etwas unruhig unter den vielen fragenden Blicken. Nein, er würde doch nicht... „Hebreus?“ Fragte ich ungläubig. Es gab hier bloß zwei Engel, von denen ich geschworen hätte, dass sie nichts mit der Sache zu tun hatten. Und das sind die beiden Zwillinge, wenngleich sie überhaupt keine waren. Sie hatten meine Anwesenheit unterstützt und mir Wächterengel zur Verfügung gestellt. Genauer gesagt... hatte sie mir Hebreus unterstellt. Auch war er es gewesen, welcher mich als Erstes empfangen hatte und, genauso wie alle anderen, über meine Ankunft auf einem Greif erstaunt gewesen war, während alle anderen im Rat unbedenklich auf mich reagiert hatten. Thiane gleichgültig, Thumeus unbeteiligt, Sanriel abgeneigt, Rebeus schnaufend und Ufnier mit einem kühlen Nicken in meine Richtung. Natürlich war Hebreus vor allem von dem Greif überrascht gewesen, so wie meiner Geschichte darüber, wie man versucht hatte, mich zu töten, so wie zwei meiner Begleiter. Aber was... wenn er nicht bloß darüber erschrocken gewesen war?
„Bruder?“ Fragte Thumeus streng. „Du hast natürlich nichts mit diesem Attentat zu tun, richtig?“
Hebreus reckte die Brust heraus. „Natürlich, wäre das lächerlich. Ich habe keinen Grund, meine Schwester tot sehen zu wollen.“
„Und was ist mit Uriels Prophezeiung?“ Erkundigte sich Ufnier. „Niemand, abgesehen von dir, war mehr daran interessiert, sie nicht in Erfüllung gehen zu lassen. Wir anderen, haben bis heute kaum daran geglaubt.“
„Uriels Prophezeiung hat bei dieser Ratssitzung keinerlei Bedeutung.“ Beendete Hebreus das Thema für sich.
Ich sah das jedoch ein wenig anders. „Worum geht es denn in der Prophezeiung?“
Ufnier war diejenige, welche sofort antwortete, während Hebreus es abtat, als sei es nicht der Rede wert, wenngleich seine Körpersprache etwas anderes bestätigte. So nervös hatte ich noch nie einen Engel erlebt... bis auf Villus, doch dieser war ein ganz anderes Kaliber.
„Uriel hat kurz vor dem Verschwinden, in einer Ratssitzung eine Prophezeiung ausgesprochen. Es hieß, wenn sich die Nephilim von der Erden erheben, stürzt der Himmel in die ewig währenden Flammen der Hölle und die Kreaturen der Hölle erheben sich.“
Ich runzelte die Stirn und wechselte einen fragenden Blick mit Cirillo.
„Was seht ihr euch so an?“ Erkundigte sich Ufnier irritiert von unseren Blicken.
„Es ist nur... seit ich hier oben bin, quälen mich Albträume von Feuer, Schreie und fallenden Federn. Ich sehe Tote überall auf meinem Weg und spüre, wie die Flammen über meinen Körper kriechen.“
„Feuer... Blut... Tod...“ Wiederholte Cirillo die drei Worte, welche mich jeden Morgen aus meinen Albträuen in die Realität begleiteten. „Das ist es, was du jede Nacht sagst.“
Ich nicke. „Seit ich ein Erzengel bin, erinnere ich mich sogar an die Träume. Es ist... wie eine Endlosschleife, doch sobald ich wach bin, treffen sie mich nicht mehr so, wie wenn ich schlafe. Und ehe ich in den Schlaf sinke, habe ich so völlig vergessen.“ Erläuterte ich beunruhigt.
„Das ist die Prophezeiung, seht ihr das nicht?“ Fuhr Hebreus aus seiner Haut und gleichzeitig von seinem Stuhl hoch. „Throne, warst du bereits unten, seit du Haylee hier hinauf gebracht hast? Hast du eine Veränderung des Machtverhältnisses gespürt, oder Monster bei Tag wandern gesehen?“
Cirillo nickte zwar bei der ersten Frage. Er war nur einmal kurz unten gewesen, doch zu dieser Zeit war es Nacht gewesen und er war in einem neuen Körper, recht weit entfernt von meiner Familie, in einem Gebiet erschienen, in dem es vor Dämonen nur so wimmelte.
„Nur einmal. Ich habe nicht viel erkannt, da ich in einen dämonenverseuchten Bezirk geschickt worden bin. Aber ich tat es, als das ab, was es nun mal war. Ein unglücklicher Zufall.“
„Unsinn!“ Brauste Hebreus aus. „Seht ihr das nicht? Ein Nephilim ist von der Erde aufgestiegen!“ Seine Stimme erfüllten in einem Echo, den gesamten Raum. „Wie lange wird es nun noch dauern, bis die die Zunge der Hölle auch an unseren Toren leckt? Wie lange können wir einer Invasion dieser Kreaturen standhalten? Was wird aus unseren Ländereien? Den Kindern? Sie wären schutzlos, weil wir einfach zu wenige sind.“
„Was für einen unheiligen Plan verfolgst du da, mein Bruder?“ Fragte Thumeus schockiert. Offensichtlich war dieser nicht minder schockiert, als ich selbst.
„Ich wäre für einen Präventivschlag. Wir löschen alle Nephilim aus, ehe sich weitere von ihnen erheben.“
Willkürlich lassen mich die Worte von Hebreus an die Karten von Celiné denken. Was hatte sie gesagt? Der Gehängte? Nein der Gehängte stellte eine Offenbarung dar, welchen ich bereits einigen begegnet war.
Die Stäbe? Ja, ich denke, dies war es gewesen. Was hatte sie noch einmal gesagt? Und dein Schicksal wird es sein, diese Ungerechtigkeit aufzuklären. Das Böse offen zu legen, oder daran zu zerbrechen.
Sollte man nicht meinen, dass ich nach dem Erlebnis nach Calyle, bereits das Böse offen gelegt hatte und nicht endgültig daran zerbrochen war? Und das nur dank meines, mehr als geliebten, Schutzengels? Nein, das Böse lauerte scheinbar an dem heiligsten Ort, welchen ich mir ausmalen konnte.
Aber nicht nur mir erging es so. Ja, Cirillo war dazu erzogen worden, Nephilim zu verabscheuen. Sie als widerwärtige und grauenhafte Kreaturen anzusehen, zu jenen sie auch wurden, sobald man sie an einen Ort mit Macht brachte.
Nur, waren nicht alle Nephilim so bösartig... Und einen davon, liebte er mehr als sein leben. „Alle Nephilim?“ Erkundigte sich Cirillo empört? „Was ist mit den gesegneten Nephilim? Dort unten warten noch sieben weitere, welche zu Erzengel aufsteigen müssen, um den Kreislauf zu schließen, welcher uns Engel alle am Leben erhält. Was ist... mit meiner Schwester?“
Ich blinzelte irritiert. Mir wurde es auch eben erst jetzt bewusst. Logos war der größte Feind der Throne gewesen. Er hatte sie schlecht gemacht, wo er nur konnte und mehr als einmal betont, wie sinnlos diese Art an Engel waren und dann... war ausgerechnet sein einziger Sohn ein Throne geworden. Aber nicht bloß die Throne, sondern auch die Cherubim hatte er verabscheut, da sie für ihn sinnlose Kreaturen waren.
Nur wieso... Wie kam Cirillo darauf, dass ausgerechnet Katya dessen Tochter sein sollte? Ja, okay. Sie hatte sich als Micheal´s Tochter ausgegeben, doch bestimmt nicht, weil sie böse war.
„Nein, das liegt daran, weil ich den Charakter meines Vaters in ihr wiedererkenne.“ Erklärte mir Cirillo. „Natürlich hat sich Logos die schönste Frau genommen, die er hat finden können, um eine genauso perfekte Kreatur zu schaffen, wie er es gewesen war. Er war eitel, selbstverliebt... Ein wenig wie Sanriel eigentlich, doch mit einem Ego wie Rebeus.“
Die beiden Engel fühlten sich noch nicht einmal angesprochen, so sehr waren sie in ihren Gedanken versunken. Aber was Cirillo sagte, machte Sinn. Während ich in seinen Erinnerungen für einen Moment jedes Treffen mit seinem Vater durchlebte, erkannte ich auch, wieso Tyrone seine Katya so vergöttert. Es lag nicht bloß an ihrem Band... Nein, es gab in der Geschichte der Erzengel bloß einen einzigen, der Logos als das angesehen hat, für was sich Logos schon seit jeher gehalten hatte. Als Gott. Er war der erstgeborene Sohn, des erstgeborenen Sohnes, des erstgeborenen Sohnes, des ersten Erzengels, welcher je erwählt worden war. Bestimmt hingen da noch ein paar Söhne davor, doch im Grunde verstand ich, was Cirillo versuchte mir damit zu sagen. Tyrone liebte Katya, so wie Metatron Logos vergöttert hatte. Dieser hatte stets gesagt, dass Erzengel mehr Götter gleichen, als gewöhnlichen Engeln. Sie sollten herrschen, nicht schlichten. Erobern, nicht vermitteln. Nur, von wem stammten dann Olympia und Ryan ab? Oder... Stimmte es? War Olympia das Kind von Raphael? Was ja dann bedeutete, dass Ryan das von Gabriel sein musste. Wie verwirrend...
„Hebreus, Bruder... Was du sagst, grenzt an Größenwahn. Die verfluchten Nephilim sind unsere Feinde, nicht die gesegneten.“
Hm? Oh, ich hatte scheinbar einen Teil verpasst, während ich mich auf meinen Gefährten konzentriert hatte. Verdammtes Multitasking...
„Wer weiß schon, was alleine dieser eine, aufgestiegene Nephilim für das Gleichgewicht der drei Welten bedeutet hat? Thumeus... Du musst endlich die Augen öffnen! Ihr alle müsst es!“
Oh, also ging es einmal mehr um mich? Um mich und... meine Auslöschung! „Von wegen! Die einfachste Methode wäre es doch, einfach alle Tore zur Hölle zu schließen, oder nicht? Wieso sollte man tausende von Wesen töten, wenn man auch einfach die Tore schließen könnte?“
„Damit sich die vermehren? Wir kennen die Menschen. Sie pflanzen sich fort, ohne nachzudenken.“ Entgegnete Rebeus. „Tut mir ja leid, um deine unheiligen Kammeraden...“
„Ich bin ein gesegneter Nephilim.“ Fuhr ich ihm, ungehört, dazwischen.
„...aber das Gleichgewicht muss gewahrt werden. Wenn es auch bloß ansatzweise stimmt, was Hebreus da sagt, ist es unsere heilige Pflicht, uns vor den Einmischungen der Hölle zu schützen.“
„Dann schließt doch einfach die verdammten Tore!“ Fuhr ich lauter, aus der Haut. Himmel, hörten diese arroganten Idioten überhaupt noch irgendetwas, abgesehen von ihren eigenen Stimmen?
„Das geht nicht so einfach, Schwester Haylee.“ Erklärte mir da Thumeus endlich. „Für jedes Tor, welches wir schließen, geben wir eine wertvolle Engelsklinge auf. Das können wir nicht verantworten.“
Das war definitiv neu... „Das verstehe ich nicht. Uriels Tochter und alle anderen, hatten nie ein Problem damit, die Tore zu schließen. Sie alle haben ihre Engelswaffen nie eingebüßt.“ Nicht einmal wenn sie diese im Kampf verloren, dann beschwörten sie diese einfach neu. Apropos... Ich vermisste doch ebenfalls eine Waffe, richtig?
„Das muss daran liegen, dass sie teils menschlicher Herkunft sind. Es muss ihnen einen Vorteil dem dämonischen Einfluss gegenüber gewähren.“ Bemerkte Cirillo klug.
„Unsinn, es zeigt bloß, wie gefährlich diese Nephilim sind.“ Das war wieder Hebreus. Seit wann, zum Teufel, war er nur so gegen mich? Bisher hatte es doch eher gewirkt, als ob er mich unterstützen würde. „Was ist, wenn nicht bloß die geheiligten Nephilim ein solches Geschenk besitzen?“ Fragte er provokant. „Wollt ihr unser Volk tatsächlich einem solchen Risiko aussetzen?“
Ich wollte ja ehrlich nichts sagen... aber... „Du klingst wie ein ängstlicher, schwacher Mensch, der sich einer höheren Bedrohung gegenüber sieht, Erzengel Hebreus... Und weniger, wie ein allmächtiger Erzengel, dem sogar die teuflischen Winde nichts entgegenzusetzen haben.“
Ich hätte es überhaupt nicht besser ausdrücken können und tätschelte meinem tapferen Gefährten dankbar die Hand.
„Du wagst es, Throne?“ Erboste sich Rebeus.
„Pass auf, wie du mit meinem Mann sprichst!“ Fuhr ich daraufhin den dunklen Erzengel an.
„Halt dich zurück, Bastard!“
Rebeus und ich waren bereits beide von unseren Stühlen aufgesprungen, bloß mit dem Unterschied, dass Cirillo mich am Arm festhielt, ehe ich um den massiven Tisch herum gehen zu können und diesem Erzengel etwas dorthin schieben konnte, wo die Sonne nie hin schien!
„Brüder und Schwestern, jetzt beruhigt euch aber!“ Befahl Ufnier, während Sanriel das Spiel geradezu amüsiert verfolgte. War ja klar, dass ihm das eine perfide Freude bereitete...
„Diese Kreatur ist untragbar!“ Fuhr Rebeus den goldenen Engel an. „Sie wirft nicht bloß ein schlechtes Licht auf unseren Rat, sondern ist auch noch der lebende Beweis für unsere derzeitige Schwäche. Ich sage, Hebreus hat recht. Löschen wir sie alle aus, damit neue Erzengel erwählt werden können. Würdige Nachfahren unserer gefallenen Brüder.“
„Das geht zu weit, Rebeus!“ War es nun an Ufnier einzuwenden. Tatsächlich viel mir eben erst auf, dass es bisher scheinbar bloß zwei weibliche Erzengel gegeben zu haben schien.
„Ich sehe ebenfalls nichts, was dagegen spräche.“ Fügte Sanriel bei, während er seine Nägel betrachtete. „Und dass Hebreus versucht hat den falschen Erzengel aus dem Weg zu räumen, kann ich bloß befürworten. Meine Stimme hätte er.“
„Sanriel!“ Erboste sich Ufnier aufgebracht.
„Wir stimmen hier überhaupt nicht ab! Das wäre nicht fair, Thiane gegenüber.“ Meinte Thumeus streng. „Außerdem ging es darum, wer einen Anschlag auf Schwester Haylee verübt hat. Und um nichts weiter!“
Hebreus wechselte einen prüfenden Blick mit Sanriel und Rebeus. Die beiden nickten ihm bestätigend zu. Dessen Stimmen konnte er sich absolut sicher sein. Dann glitt sein Blick zu Ufnier, welche unter denen von Sanriel und Rebeus nach bereits kurzer Zeit einknickte und mir einen entschuldigenden zuwarf.
Miststück!
Hastig sah ich zu Thumeus, welcher sich unbeeindruckt gab, von den anderen. „Bruder, wir besitzen die Mehrheit, selbst wenn Haylee die Stimme von Thiane gebraucht.“ Und ob ich die gebrauchen würde!
„Ihr wollt einfach so den Anschlag auf einen Erzengel unter den Tisch fallen lassen?“ Fragte ich ungläubig.
„Das wird Zweifel an unserem Zusammenhalt, so wie unserer Loyalität dem höheren Wohl gegenüber, bei den Engeln säen. Ich finde, wir sollten die Schuld an den Wächterengeln abwälzen.“
Abwälzen? Himmel, so hatte ich das natürlich auch nicht gemeint!
„Also gibt Hebreus zu, dass er die Wächterengel auf mich angesetzt hat?“ Noch hatte er immerhin nichts zugegeben!
„Wieso, hast du etwas vor, Anklage zu erheben? Denn die werde ich vom Tisch fegen. Das steht mir als leitender Richter und Vollstrecker zu.“ Beteuerte Sanriel überheblich.
„Dann werde ich dich eben auch anklagen, aufgrund von nicht rechtmäßiger Abweisung einer Klage. Das kommt dich sehr teuer zu stehen und wirft übrigens kein gutes Licht auf dich.“
Der böse Blick, den ich für meine Worte, genauer gesagt, Alitia´s Geschichte erhielt, war beinahe Gold wert! Sanriel hatte oft versucht Alitia´s Anklagen, im Keim zu ersticken, doch jedes Mal, war er ihr unterlegen und musste selbst eine deftige Strafe bezahlen. Ihn das unter die Nase reiben zu können, erfüllte mich deshalb selbst mit einer gewissen Verzückung. Ha! Da hast du es zurück, du überheblicher, kleiner...
„Genug von dieser Kinderei! Es geht hier, um eine wirklich wichtige Prophezeiung, Brüder!“ Es war Hebreus, welcher sich, bedauerlicherweise, wieder zu Wort meldete. „Sie besagt, sobald der erste Nephilim aufsteigt, wird der Himmel ebenfalls von dieser Plage, namens Hölle befallen. Das können wir nicht weiterhin ignorieren.“
„Dann unterstützt doch einfach meine Nephilim, damit sie die Tore so schnell wie möglich schließen.“
„Das kann Jahrzehnte dauern.“ Warf Hebreus mir geradezu vorwurfsvoll an den Kopf. „Außerdem schwächt es unser Volk, wenn wir nicht da sind und bringt unsere Welt in ein Ungleichgewicht. Schon jetzt, da acht Erzengel fehlen, ist die Geburtenrate drastisch zurückgegangen. Es gibt keine realistische Möglichkeit Millionen von winzigen oder größeren Tore zu schließen. Nicht mit bloß sieben Nephilim.“
Ich öffnete den Mund, um >acht< zu sagen, doch Cirillo machte mir klar, dass ich nun mehr Erzengel, als Nephilim war. So wie die Kreaturen in seinen Zellen mehr Dämon als Mensch geworden waren, nachdem sie in den Genuss von überirdischen Mächten gekommen sind. Daher schwieg ich nachdenklich.
„Doch es gibt sie, aber das kann keiner von uns machen.“ Es war Ufnier, welche sich halblaut meldete.
„Was? Wie?“ Ich war schon wieder übereifrig von meinem Stuhl aufgesprungen, auf welchen ich mich von Cirillo hatte zurückziehen lassen.
„Nun ja, wenn wir ein Tor hier in unsere Daseinsebe öffnen, dann würden sich automatisch alle anderen für immer verschließen. Das Machtverhältnis würde kippen und bloß noch unsere Portale zu den Menschen geöffnet bleiben. Und von hier ist es für Dämonen beinahe unmöglich, in die menschliche Welt zu gelangen.“
Sanriel winkte ab. „Was interessieren uns die Menschen? Sie haben auch nie etwas für uns getan.“
Sie mit nur einem einzigen Zauber, alle schließen... Wenn das stimmte... Dann würde ab nun bloß noch die Engel gegen die Dämonen kämpfen. Es war in der Geschichte noch nie da gewesen, dass Dämonen und Engel je wieder einen Krieg gegeneinander geführt hätten. Bloß vor Anbeginn der menschlichen Zeitrechnung, habe es stets Kämpfe auf der Erde gegeben, doch diese hatten lediglich zur Auslöschung vieler Gebiete und ganzer Kontinente geführt. Wenn Erzengel und Fürsten aufeinandertrafen, konnte das schon in einem atomaren Krieg enden. Bildlich gesprochen.
Cirillo erinnerte sich daran, wie man ihm in der Ausbildung nahe gelegt hatte, dass eben jene Kriege beinahe zur vollständigen Auslöschung der Engel geführt hätte. Der einzige Grund, weshalb die Dämonen aufgehört hatten, war jener, dass sie Menschen als Energiequelle bezogen. Und die Auslöschung eines Engels führte unmittelbar zur Auslöschung von Leben in einem gewissen Gebiet, was wiederum auf die Menschen und ihre mangelnde Fähigkeit der Anpassung zurückgeführt hatte.
Zu eben jener Zeit waren Throne auserkoren worden, die Linien zu schützen und rein zu halten, während die Cherubim versuchten den Geist der Menschen verschlossen zu halten.
Aber wenn man endlich aus diesem Kreislauf entkommen konnte. Wenn man die Dämonen von ihrer unmittelbaren Energiequelle abschottete und sie quasi... auf Engelsgebiet austrocknete...
Wieso, zur Hölle, war die einfachste Möglichkeit, auch zeitgleich die Schwierigste? Denn es würde den Dämonen uneingeschränkten Zugriff auf die Engel geben. Und diese waren ohnehin aufgrund des Fehlens von weiteren Erzengel, in einer geschwächten Position.
Cirillo beugte sich so unvermittelt vor, um mir einen Kuss auf den Handrücken zu geben, dass ich mich ein klein wenig erschreckte. Vor allem, da es doch Cirillo gewesen war, welcher ständig schrie, wir durften so etwas nicht in der Öffentlichkeit tun. „Tu es einfach, Haylee.“ Flüsterte er dann, während um uns herum noch alle diskutierten. Scheinbar kam keiner von ihnen auf einen grünen Zweig.
„Was?“ Fragte ich und konnte seinen Gedanken kaum folgen. Es war einfach so... so wirr und er erdrückte mich mit seiner Ungeduld.
„Es ist das Einzige, was du tun kannst, Haylee. Die Menschen wären für immer von den Dämonen beschützt und es würde die anderen Erzengel dazu zwingen, deine Nephilimgeschwister hierher zu holen, damit der Rat wieder vollzählig ist und seine volle Macht entfalten kann.“
Ich lehnte mich noch näher an Cirillo heran. So logisch seine Worte auch klangen... dementsprechend riskant waren sie aber auch. „Soll das ein Witz sein? Ich würde ja zu gerne, aber ich darf das nicht tun. Ihr habt hier nicht bloß Krieger, Cirillo.“
Cirillo nahm meine Hand zwischen seine beiden und umschloss sie, während er mich mit einem eindringlichen Blick fixierte. „Haylee, du hast keine Ahnung, zu was wir fähig sind. Dieser lächerliche >Friede< den wir zum Schein wahren, schwächt nicht nur uns Engel, sondern auch den Zusammenhalt der Erzengel. Wir sind Krieger. Wir brauchen das Gefühl von Fleisch auf unseren Klingen und die Wärme von frisch geflossenen Blut zwischen unseren Zehen, um uns wieder normal fühlen zu können. Und wenn wir damit zeitgleich eine Bedrohung auslöschen...“
„Das kann ich aber nicht machen. Nicht, ohne zu Zustimmung von allen Engeln, denn es wird auch sie treffen. Die niederen... Die Kinder... Sie werden in einem Kriegsgebiet geboren werden.“
Cirillo küsste meine Fingerkuppen. „Und in was werden sie hinein geboren, wenn du dich einfach auslöschen lässt? Denn auf das wird es hinaus laufen. Ufnier wird nicht für dich stimmen, dafür hängt sie zu sehr an Sanriel. Sie tut alles für ihn, auch wenn sie unterschiedlicher Meinungen sind. Und ich werde dich nicht noch einmal verlieren. Das werde ich nicht zulassen, lieber trete ich einen Jahrtausendkrieg los, wie Luzifer es getan hat. Damit beschützen wir auch diejenigen, die du auf deiner Welt so sehr liebst. Das weißt du.“
Natürlich wusste ich das, deshalb war es mir ja in den Sinn gekommen. Dass Cirillo bloß aus Angst um mich so handelte, war mir ebenfalls bewusst. Das spürte ich, doch ihm war es gleich. Cirillo liebte mich viel zu sehr, um noch eine Sekunde getrennt von mir weiterleben zu können. Außerdem würde er eine Auslöschung aus solch veralteten Ansichten nicht hinnehmen. Er war ein stolzer Throne. Ein ausgebildeter Assassine, der selbst einen Erzengel ins Schwitzen brachte.
Jetzt war nur die Frage... Was bedeutete Cirillo mir? Wenn mein Tod half, tausende von Engel zu beschützen, dann würde ich das akzeptieren. Aber wenn ich daran dachte, was es mit Cirillo anstellen würde. Mein Verlust... Sein... Tod...
Während unserer Abgeschnittenheit durch meine Verbindung zu dem Greif, hatte ich stets die Gewissheit gehabt, dass ich zu ihm zurückkehre. In seine starken, sanften Arme. Dass ich wieder in diese wunderschön funkelnden Augen blicken würde, welche nur für mich schienen.
Doch wenn dies nicht der Fall war? Wenn sein Tod notwendig wäre, um tausende Engel zu retten? Um meine Mutter zurückzuholen, welche ein tiefes Loch in meinem Herzen hinterlassen hatte.
Was für eine Frage? Cirillo war meine Stärke, meine Zuversicht. Ich seine Kontrolle und sein Mitgefühl. Vor ihm hatte ich nie so etwas empfunden, wie ich es in diesem Moment tat. Diese reine und aufrichtige Liebe zu einem Wesen, dass einem so viel mehr gab, als man überhaupt selbst hergeben konnte. Es war genau das, was ich mir schon immer gewünscht hatte. Und er würde mich schützen. In seiner Festung würde er mich lehren, wie man kämpft und fliegt. Wir würden zusammen etwas Besseres aufbauen... Etwas mit viel mehr Gefühl. Mit Alitia, welche zu gerne ihre Wut an diesen Kreaturen auslassen würde. Mit Villus, welcher endlich zu seiner wahren Stärke finden konnte, welche ich in ihm sah. An der Seite von Greifen, welche die Lüfte als Götter verteidigten...
Himmel, Cirillo wusste, wie man einer Frau den Kopf verdrehte. Ehe ich mich versah, hörte ich bereits den ersten lateinischen Laut über meine Lippen gehen. Dank Cirillo, welcher mir half, hatte ich innerhalb kürzester Zeit einen Spruch zur Dämonenbeschwörung rekonstruiert.
Das war auch der Moment, in welchem der gesamte Rat, vermutlich das erste Mal in ihrer Existenz, vollkommen versteinert und ungläubig dabei zusahen, wie sich meine Lippen bewegten. Sie fühlten die Luftveränderung in ihrer Mitte, doch waren zu entsetzt, um irgendetwas daran setzen zu können, mich von meinem Vorhaben abzuhalten.
Ihre Augen wurden riesig, sie klammerten sich an ihre Stühle, obwohl sie doch Flügel besaßen, während unter unseren Füßen der Boden begann zu beben.
Der Gedanke daran, was jedoch geschah, wenn man an der Spitze eines Turmes ein Portal zur Hölle öffnete, kam mir bedauerlicherweise erst im Nachhinein.
Ich öffnete meine Augen, blickte sehnsüchtig in die wunderbar dunklen Augen, meines so tapferen Gefährten... Und er hatte recht. So ein Umbruch der Mächte nutzte beiden Seiten mehr, als dass es Schaden konnte. Würde es Verluste geben? Zweifellos, doch die Engel hatten bisher stets versucht den einfacheren Weg zu gehen, was schlussendlich bloß zu einer Schwächung ihrer eigenen Kräfte geführt hatte. So unglaublich ich noch immer die Existenz von Engeln empfand, so gleichgültig stand Cirillo ihnen gegenüber. Er wusste, wie versnobt und eigensinnig sein Volk geworden war. Sie hielten mittlerweile Erzengel für Götter, doch je mehr Zeit Cirillo mit ihnen verbrachte, umso klarer wurde ihm, wie wenig sie gottgleich waren. Engel brauchten Aufgaben im Leben. Einen höheren Sinn. Etwas für das sie Kämpfen mussten und ihnen den nötigen Mut gab.
Und genau das wollte er ihnen, mit meiner Hilfe schenken. Einen befristeten Kampf, den es zu gewinnen Wert war.
Was wir jedoch nicht ahnten... war dass wir mit dem Verwurf des Gleichgewichtes, zwischen den Welten, auch etwas anderes in Bewegung setzten. Etwas, dass das Schweben der Inseln ein für alle Mal beendete...
Ehe ich mich versah, fühlte ich mehr, als dass ich sehen konnte, wie sich die Insel, auf welcher wir uns befanden, zur Seite neigte. Aber es war nicht nur das. Wie von einer unsichtbaren Macht ergriffen, zog etwas an mir. Ich griff mir an den Hals, als mir die Luft wegblieb, doch nicht nur mir erging es so. Jeder im Raum, mit Ausnahme von Cirillo, schnappte erschrocken nach Luft. Ein Druck baute sich auf meiner Brust zusammen und schien mich zu zerquetschen, während sich das Gewicht meiner Flügel verdreifachte. Selbst Cirillo´s sanken zu Boden und er kam für einen Moment ins Stolpern.
Dann erschien etwas, was uns alle überraschte. Es war eine geisterhafte Hand, die sich schreiend durch ein eben erst entstandenes, Sankastengroßes Loch schob. Man erkannte die Qualen in den Schreien des Monsters, während es wieder den Rückzug antrat.
„Haylee!“ Rief Cirillo, als ich zu Boden stürzte und würgte.
Auch wenn es ihm schwerfiel, er packte mich und zog mich, so gut es uns beiden möglich war, zum Ausgang, damit ich wieder Luft erhielt, doch anstatt besser wurde es nur schlimmer. Das war auch der Punkt, an welchem ich das Bewusstsein verlor.
Ein Schrei riss mich bloß Minuten Später aus dem erlösenden Schlaf. Bis ich realisierte, dass es mein eigener war, kratzte etwas über meine Wade. Ich schrie erneut, riss die Augen auf und fand mich im freien Fall vor. Wie ich dorthin gekommen war, wusste ich nicht. Bloß dass ich Cirillo nicht erreichte. Ich fühlte zwar seine Präsenz, doch erst, nachdem ich die widerwärtige Kreatur, welche sich an meinem Fuß festgebissen hatte, losgeworden war, fand ich Cirillo, bewusstlos, ebenfalls im freien Fall, neben mir wieder.
„Cirillo? Cirillo!“ Meine Stimme überschlug sich beinahe vor Panik, als ich nach ihm griff und ihn zu mir zog. Eine Platzwunde klaffte auf seiner Stirn, doch sie schien sich bereits zu schließen.
Erneut sah ich mich in meiner näheren Umgebung um, doch das einzige was ich sah, waren Wolken. So viele Wolken, doch nicht einmal diese, konnten das viele Geschrei dämpfen. Lauter noch, als in meinen Träumen, erkannte ich das Geschrei wieder. Es waren die Hilferufer Tausender Engel, die in den Tod stürzten.
Und ich... war der Grund dafür, dass sie fielen.

XXX - Epilog

Mein Herz fühlte sich an, als ob es in tausend Stücke gerissen worden war. So sehr ich es auch versuchte zu verleugnen, schön zu reden und einen Sinn in ihrem Verhalten zu erkennen, so genau weiß ich auch, dass ich ihn nicht würde finden können. Dass das alles bloß Einbildung gewesen war. Luzifer hatte seinen Michael verloren... wieder einmal.
Was würde das nun aus mir machen? Würde ich genauso verrückt werden, wie er es gewesen ist? Wenn ich nur... Wenn ich mich ihr bloß erklären könnte. Wüsste, wo sie war, dann würde ich sofort zu ihr gehen und... Natürlich konnte ich das erfahren. Wenn schon kein Engel mit mir sprechen würde, dann zumindest ein Dämon! Wieso war ich da nicht bereits früher darauf gekommen?
Hastig rappelte ich mich vom Boden meines Zimmers auf, trocknete die Tränen in meinem Shirt, dann teleportierte ich mich nach vorne. Zwar hatte ich Haylee´s Wohnung nie gesehen, doch das musste ich überhaupt nicht. So klar, wie nie zuvor, erkannte ich die Spur, welche sie hinterlassen hatte, nach ihrer Teleportation. Es war wie eine schneeweiße Linie, welche sich gerade, hindurch durch Wohngebäude und massive Wände zog.
Ich verspürte keine Angst, als eben jene auf mich zukamen und ich sie körperlos durchstieß. Es war auch das erste Mal, dass ich wahrnahm, wie ich mich fortbewegte, bloß dass es leider bereits zu dunkel geworden war, um zu erkennen, wie ich mich teleportierte. Wie ich aussah.
Für das menschliche Auge, war ich um das Millionenfache zu schnell, nicht einmal der Wind konnte mehr mit mir mithalten, als ich auch bereits vor einer verwahrlosten, gräulichen Türe stand, welche bestimmt vor vielen Jahren einmal weiß gewesen sein musste. Die Farbe war bereits an etlichen Stellen abgeblättert und vom originalen Aussehen, wich sie bestimmt sehr ab, da es diverse Stellen gab, an denen versucht worden war, einzubrechen. Dann gab es noch Löcher von Einschüssen, so wie etliche Schnittstellen.
Hier hatte Haylee also ihr ganzes Leben verbracht? Ausgerechnet an diesem Ort? Mit diesem Gestank? Es roch bestialisch nach Rauch und Urin, so als ob niemals wirklich jemand lüften würde. Angeekelt öffnete ich die, bloß angelehnte Türe und trat ein. Die Innenseite der Türe sah wesentlich gepflegter aus, wenngleich sich in der Wand, auf Höhe der Türklinke, ein charakteristisches Loch befand.
Ich schloss hinter mir ab und befestigte von innen die Kette, bis ich bemerkte, dass diese bereits rostig und absolut nutzlos war.
Wie hatte Haylee hier bloß überleben können? An einem solchen Ort! Es war mir unvorstellbar. Nicht dieses Mädchen, welches ich die letzten Monate habe kennen lernen dürfen. Sie war lebensfroh, liebenswert, einfühlsam und so stark... Stärker, als ich es jemals sein könnte, nachdem ich schon zusammenbrach, nur weil sie mir, gerechtfertigt, sagte, ich solle ihr fern bleiben. Ich war ein Schwächling... ein weinerliches Baby...
Schniefend unterdrückte ich die aufkommenden Tränen und sah mich weiter auf dem viel zu engen Flur um. Er war einigermaßen gepflegt, es gab keine Spinnenweben, was ich auf Haylee´s Phobie vor Krabbeltieren schob. Die erste Türe links, führte mich in einen winzigen Raum, in dem gerade einmal ein Bett, so wie eine Kommode Platz gefunden hatten. Ein Abstellraum, wie ich feststellte... Mein Herz schlug augenblicklich schneller, als ich ihren wundervollen Geruch in dem Zimmer wahrnahm. Das hier war ihre Domäne... Ihr schützender Kokon!
Ohne überhaupt darüber nachzudenken, streckte ich meine Hand nach dem zerwühlten Bett aus, was sie einfach nicht zu machen gewohnt war, wie ich wohlauf bereits festgestellt hatte. An den farblosen Wänden, hingen kleine Poster oder Postkarten, auch Fotos von einem Paar, das ich bereits kennen gelernt hatte, auf der Beerdigung. Haylee´s beste Freundin Jemma und dessen fester Freund Adam, auch Haylee´s Ex und wieder bester Freund.
Ich schnaufte amüsiert. Haylee war so widersprüchlich. Wie konnte sie mit jemanden befreundet sein, den sie irgendwann einmal geliebt hatte? Mit dem sie mehr gehabt hatte, als bloß eine platonische Freundschaft? Ich zu meinem Teil, hatte keine Lust mehr, meinen vielen Ex zu begegnen. Ich hatte sie abgeschrieben und war über sie hinweg. Sie hatten keine Bedeutung mehr in meinem Leben, doch vielleicht war das auch der Unterschied zwischen ihr und mir. Haylee lässt nichts gehen, was sie einmal geliebt hatte. Sie war loyal und unterstützend.
Ich lasse fallen, was ich überdrüssig werde, denn es spielte danach einfach keine Rolle mehr in meinem Leben.
Nicht so wie Haylee. Sie bedeutete mir einfach alles und noch viel mehr. Ich spürte das. Celiné hatte es bestätigt. Haylee gehört zu mir, wie ich zu ihr, nur das lässt mich aufatmen und meinen Kummer unterdrücken.
„Suchst du jemanden?“
Ich lasse meine Hand zurückschnellen und beschwöre meine beiden, unterarmlangen Dolche, welche ich zusammen fügen konnte, zu einem Kurzschwert. Zu meinem Glück, wusste dies niemand, außer ich selbst.
„Bist du Luphriam? Der Dämon, der uns stalkt?“ Frage ich die kindlich wirkende Dämonin, welche vor mir erschienen war und mich durch unschuldige, rot geränderte Augen anblickte.
Augenblicklich veränderte sich ihre Form. Sie wuchs, dehnte sich und nahm männliche Züge an. Als sie fertig war, stand ein junger Mann vor mir, er musste ende zwanzig, anfang dreißig simulieren. Seine Iriden waren dunkelrot, die Lippen zu einem schelmischen Lächeln verzogen und das nachtschwarze Haar, zu einem Zopf gebändigt. Seine breite Brust, straffte ein seidenes Hemd, welches in einem geisterhaften Rauch, an seiner Taille endete.
„Luphriam aus der Ceberus Erblinie. Wie könnte ausgerechnet ich dem Spross von Luzifer dienlich sein?“
Ich ging gar nicht erst auf seine Provokation ein, sondern senkte meine Dolche, doch ließ sie nicht verschwinden. „Ich will wissen, wohin Throne Nephilim bringen.“ Und ja, ich war absolut überzeugt davon, dass der Throne sie hatte. Wieso sollte sie auch sonst nicht zurückkommen, um nach Lucy zu sehen?
Luphriam lachte amüsiert auf und schwebte dann einmal im Flur auf und ab.
„Ein Throne, der einen gesegneten Nephilim mit in den Himmel nimmt... Hm? Was könnte man wohl mit der armen kleinen Haylee vorhaben?“
„Spiel keine Spielchen, Dämon, sondern antworte mir einfach.“
„Einfach? Einfach ist das wirklich nicht, denn was geschieht wohl, wenn ein halb göttliches Kind, in Kontakt mit wahrer Macht kommt?“
Wahrer Macht? Ich folgte dem Dämon auf den Flur hinaus. „Was meinst du damit?“
Luphriam antwortete nicht, sondern deutete mit dem Zeigefinger bloß an die Decke, während er darauf wartete, dass mir ein Licht aufging.
Ich blickte hoch an die vergilbte, teils schimmelüberzogene Decke und überlegte, was er wohl meinen könnte. Schimmel... Decke... Über mir! „Im Himmel? Haylee ist wortwörtlich im Himmel?“
„Throne sind dafür berüchtigt, die Erblinie rein halten zu müssen. Es ist ihre absolute Überzeugung und Lebensaufgabe. Sie sind dafür geboren worden zwischen den Welten zu reisen, den Tempounterschied, welcher uns alle trennt, zu überstehen, indem sie bloß mit ihrem Geist hierher reisen, auf die Erde. Früher schickte man geheiligte Nephilim aus, Kinder von Engeln und Frauen, um den Verlust ihrer ach so wichtigen Engel zu dezimieren. Aber das hat auch nicht lange funktioniert, da diese Nephilim viel zu lange brauchen, um zu reifen und an Stärke zu gewinnen. Verfluchte Nephilim töten ihre Mütter zwar bei der Geburt, oder lassen sie als geistige Krüppel zurück, doch können ihre Kräfte bereits, seit der Wiege an, unbewusst einsetzen. Deshalb sind Throne wesentlich effektiver. Dadurch, dass die Zeit in der Welt der Engel schneller läuft, können sie tausende, überragende Krieger zeugen und erziehen, wie es ihnen beliebt.“ Er legte nachdenklich den Kopf schief. „Nur seltsam, dass es in letzter Zeit stets weniger, anstatt mehr geworden sind...“
Das war viel zu verarbeiten. Nicht bloß der Tempounterschied, in welchem wir existieren, denn das hatten ein paar Abgesandten der Kirche bereits angedeutet. Was für uns sechstausend Jahre sein kann, die Lebensspanne eines Engels, fühlte sich für sie, wie ganze Millennien an. So konnte Haylee bereits seit Monaten dort oben sein... während für mich lediglich eine Woche vergangen war. Ob sie etwas davon wusste?
„Also würde ein Throne einen gesegneten Engel nicht gut behandeln, weil er ein Bastard ist, richtig?“
Natürlich wusste ich bereits seit einer langen Zeit, über die verfluchten, so wie geheiligten Nephilim Bescheid. Die einen waren ein Produkt zwischen einem Dämonenfürsten, der eine menschliche Frau vergewaltigt hatte und das andere, war wenn ein Engel einen Teil seiner Seele in eine Eizelle transferierte und damit sich selbst und seine körperliche Erscheinung aufgab. Es war eine... andere Form des aufsteigens, nur das sie wesentlich verletzlicher wurden.
Luzifer hatte nie an die ganze Sache, von wegen aufzusteigen geglaubt. Es war dasselbe, wie wenn ein Engel auf der Erde verstarb. Er löste sich auf und ließ einen toten Fleck auf der empfindlichen Erde zurück. Da jedoch im Reich der Engel überall dieselbe Energie herrschte, hinterließen Engel bei ihrer Auflösung nichts, dass tot war, sondern die Energie ging über in den nächsten Zyklus, in die Seele eines noch ungeborenen Engels, oder schwebte in den Sphären, bis ein neuer Körper bereit war. Erzengelenergie wiederum, ging direkt über in den nächsten, ihn ähnlichen Körper. Es war etwas Genetisches, je enger der Verwandtschaftsgrad war, umso wahrscheinlicher war es, dass die Erzengelenergie von einem angezogen wurde.
Luzifer hatte jedoch niemanden am Leben gelassen, der auch bloß geahnt hatte, wohin seine Forschungen geführt haben. Er wollte nämlich unsterblich werden. Zu einer Gottheit aufsteigen und das ging nur, wenn sein Köper unvergänglich war.
Was er damit meinte, wusste jedoch selbst ich nicht, denn wie jeder andere, wusste ich, dass Nephilim bloß begrenzt leben. Unsere Lebensspanne war sogar noch kürzer, als die von Engeln, doch das schien die gefangene Seele in mir, kein bisschen zu beunruhigen.
„Vermutlich wäre es eine Beleidigung der Erzengel höchst selbst!“ Riss mich Luphriam aus meinen Gedanken. „Und jeder weiß, dass Engel nichts dulden, was sie schlecht aussehen lässt. Dass Luzifer so etwas getan hat, ist nicht wirklich außergewöhnlich, aber die anderen Erzengel... Ich frage mich, wie ihre Nachfolger wohl auf diesen Frevel reagieren werden?“
Mein Blick schweift zu Boden. Haylee hat doch... Ich wollte es zwar nicht glauben, aber verleugnen wollte ich dennoch nicht, was ich gesehen habe. Haylee hatte sich schutzsuchend in die Arme von etwas mit Flügel geworfen. UNd dieses etwas, hatte sie getröstet. Etwas, dass vor wenigen Wochen noch, ausschließlich mir zugestanden war. Ein Körper, den ich im Arm gehalten hatte, getröstet und beruhigt, wenngleich mich das Schuldgefühl dabei halb aufgefressen hat.
Aber konnte sie es mir wirklich verübeln? Meine Mutter und ich hatten geahnt, wie Edna auf die Wahrheit reagieren würde. Ich hatte es in ihren Augen gesehen. Dieser Wahnsinn... Die Erkenntnis, als ihr bewusst wurde, dass meine Mutter und ich das höhere Wohl der Menschheit im Sinn hatten und damit alle anderen Wesen, den unnatürlichen Austausch von positiver, negativer und neutraler Energie, für immer aus unserer Welt verbannen würden.
Blinzelnd wurde mir bewusst, weshalb Luzifer so erpicht darauf geworden war in dieser Welt einen Teil von sich selbst zu lassen... Es war doch möglich unsterblich zu werden, denn wenn die Energien aufhörten zu fließen, wenn die Seelen, wie wir sie nannten, nicht mehr weiterreisen konnten... Dann würden sie immer und immer wieder zurückkommen. Sie würden verweilen und wiedergeboren werden.
Weshalb wurde mir das erst jetzt bewusst? Die ganze Sache, welche meine Mutter anstrebte, fiel bloß zugunsten von dem ehemaligen Erzengel Luzifer aus. Er würde unsterblich werden. Unfähig jemals diese Welt verlassen zu können!
Nicht einmal seine Kräfte würden jemals vergehen, denn auch diese waren dann hier gefangen und auf ihn gepolt. Aber so würde es doch auch den anderen Engeln ergehen, wenn diese ihn nicht davon-...
Vor Schreck fasste ich mir an den Kopf, als ein bestialischer Schmerz durch meine Hirnrinden fuhr.
„Calyle?“ Für einen Moment wirkte Luphriam so, als wolle er seine Hand nach mir ausstrecken, um mich in meinem Taumeln zu stützen, doch tat es nicht.
Der Schmerz wurde geradezu überwältigend, ich schrie auf, als das Brennen in meine Augen fuhr, meine Haut zum Glühen brachte und meine Stimmbänder einen Moment später verglüht waren.
Krächzend sank ich zu Boden. „Tut mir leid, Kleiner. Aber so weit durftest du noch überhaupt nichts, von meinen Plänen wissen.“
Es war nicht meine Stimme, welche aus meinem Mund drang, denn meine Kehle war absolut verbrannt. Es war auch nicht mein Wille, der meinen geschundenen Körper dazu zwang, sich wieder aufzurichten und nach den fallen gelassenen Dolchen zu fassen.
„Calyle, was ist los? Soll ich Olympia holen?“
Ich hob meine Hand, als wolle ich, dass Luphriam näher an mich herantrat, was er auch augenblicklich tat, denn er hielt mich für keine Bedrohung. Dafür war ein Dämonenfürst einfach zu erfahren im Nahkampf und würde mich, wenn ich keinen Überraschungsangriff startete, einfach abblocken.
Aber das eben, war ich nicht... Luphriam trat bis auf einen Schritt an mich heran, dann stach er zu. Mitten hinein in den Leib des Dämons, welchem vor Ungläubigkeit die Augen beinahe herausfielen. Mit dieser Schnelligkeit und Präzession hätte er einfach nicht gerechnet. Nicht bei einem unausgereiften Nephilim.
„Ca-Calyle...“ Fragte er schockiert.
„Weilt nicht mehr unter uns. Meine Pläne dienen einem höheren Wohl, als die euren oder die der Menschen.“
Natürlich taten sie das. Luzifer dachte nicht daran, über die Menschen zu herrschen, nein er wollte beweisen, dass es ein tatsächlich göttliches Wesen gab. Die Menschen waren bloß... Ameisen. Nicht einmal das, sie waren Parasiten, die einen ganzen Planeten für sich beanspruchten und ihn zerstörten. Sie hassten einander. Sie hassten sich selbst.
Die wahren Götter würden die Engel sein, sobald Luzifer einen Anhänger, nach dem andern zu sich geholt hatte. Einen treuen Gefährten, dessen Glaube an ihn unerschütterlich gewesen war. Engel, Wächter und Cherubim, welche auf ihn warteten, auf der anderen Seite der himmlischen Portale. Er würde sie holen kommen, die Mütter beschützen, welche seine Brüder austrugen und dann konnten sie länger leben, als jedes andere Wesen. Sie würden den Platz anstelle der Menschen einnehmen und ihre ganz eigene Welt besitzen. Einen Ort, an welchem sie alle auf dieselbe Weise mächtig waren. Gleichgestellte, die in Friede leben. Dann würde es keine niederen Engel mehr geben. Keine Gefallenen oder Abtrünnigen. Sie alle würden ihn dankbar anbeten für das Geschenk des ewigen Lebens. Dem Geschenk der Göttlichkeit.

 

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Da Calyle, zu meiner großen Erleichterung, für heute darauf verzichtete, zu versuchen, Haylee zu erreichen, konnte ich endlich einmal ein wenig durchschnaufen. Mein Verhältnis zu Lysander hatte sich drastisch verändert. Erst vor wenigen Tagen waren wir enge Kumpel gewesen... Nun sprachen wir nicht einmal mehr miteinander. Bei Lucy und mir, war es genau umgekehrt, bloß mit dem kleinen Unterschied, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich mit ihr umgehen sollte. Wenn ich sie ansah, dann sah ich... das lustige, lebensfrohe und einfühlsame Mädchen, in dessen Kopf so viel Wissen passte, dass ich neidisch darauf gewesen war. Manchmal hatte ich sogar befürchtet, dass ihr Kopf irgendwann einmal von alldem was sie wusste, platzen könnte, doch natürlich erfuhr ich, während ich älter wurde, dass es so mit dem Wissen nicht funktionierte.
Ich sah meine Freundin, meine beste Freundin, die mich verstand, wie kein Zweiter. Nicht einmal mit Lysander hatte mich so etwas verbunden, abgesehen was unsere Vorliebe zu gewissen nächtlichen Tätigkeiten anging. Während Lysander sich bereits durch Männer und Frauen probiert hatte, hatte ich erst mit sechzehn losgelegt. Erst da war mir bewusst geworden, dass ich äußerst attraktiv auf Mädchen wirkte und sie mir kaum böse sein konnten. Dafür fanden sie mich, oder sprich eigentlich meine engelsgleichen Gene, einfach zu anziehend.
Dass auch Lucy zu einer wirklich hübschen jungen Frau heran gereift war, wollte ich kaum abstreiten. Ihre Augen hatten etwas an Intensivität zugenommen, ihr Kiefer knirschte noch immer, wenn sie angestrengt nachdachte und sie kaute stets auf ihrer Unterlippe herum, während sie Wissen aufsaugte, wie ein Schwamm. Auch an der Taille hatte sich der Schwung ihrer Hüfte ausgeprägt, während ihre Brüste eine beneidenswerte Größe angenommen hatten. Alles in allem fiele Lucy absolut in mein Beuteschema. Was hielt mich dann überhaupt noch davon ab ihr einfach das zu geben, was sie ohnehin schon immer besessen hatte? War ich ihr unterbewusst vielleicht doch noch böse, was ihre Worte von damals anging?
Nein, daran lag es bestimmt nicht, denn ich verschwende meine Zeit nicht damit, über längst vergangenes nachzugrübeln. Immerhin ließ sich daran nichts mehr ändern.
Meine Fingerspitzen strichen über das ledergebundene Buch auf meinem Schoß.
In der letzten halben Stunde hatte ich Uriels Bildnis mehrere Male betrachtet. Auch das der anderen. Luzifer, Grigori, Metatron und Logos. Diese vier Engel hatten dem Himmel den Rücken gekehrt. Als Erzengel hatten sie damit für einen großen Aufruhr gesorgt. Immerhin geschah so etwas auch nicht alle Tage.
Währenddessen hatten Michael, Uriel, Raphael und Gabriel am tatkräftigsten gegen den Einfluss der anderen vier Erzengel angekämpft. Sie gaben ihr eigenes Leben, in der Überzeugung das richtige zu tun. Beide, einander bekriegenden Parteien, verstand sich. Wieso sie nicht einfach getrennte Wege gegangen waren, verstand ich ohnehin nicht. Wenn ich jemanden nicht mochte, ging ich ihm aus dem Weg. Nun ja, selbstverständlich traf dies nicht auf Dämonen zu. Diese Biester jage ich, bis ihre Asche sich zerstreut hatte. Es machte mir auch viel Spaß, mich gegen sie zu beweisen. Sie waren... mehr Puppen für mich, gegen die ich ankämpfte, um meine eigenen Fähigkeiten daran zu steigern. Um meine Muskeln zu stählern und an Erfahrungen zu gewinnen. Zur richtigen Bedrohung wurden sie für uns lediglich, da sie immer häufiger und in größeren Gruppen auftraten. Das war auch nicht normal, denn es schien allmählich in einem immer offensichtlicheren Muster zu geschehen.
Olympia und Lysander hatten zumindest heute alles daran gesetzt, so viele Löcher zu stopfen, wie sie hatten finden können. Vielleicht würde das ja nun die Biester einigermaßen ausbremsen. So gerne ich auch gegen sie antrat, so mühsam war dies auf Dauer. Die ganze Nacht gegen sie zu bestehen, zehrte schon an den Kräften und Nerven, von jedem Einzelnen meiner Brüder und Schwestern.
Seufzend schob ich das Buch zurück ins Regal, woher ich es hatte, sobald mein Handywecker erklang. Dann teleportierte ich mich auf das Dach, wo mich eigentlich Calyle bereits erwarten musste. Noch war die Sonne nicht unter gegangen, weshalb ich mich hinter den Schornstein des Krankenhauses duckte. Oder war es eine Lüftung? Jedenfalls spendete es mir einen ausreichenden Sichtschutz, bis die Nacht endgültig hereingebrochen sein würde.
So saß ich zwanzig Minuten, dann war auch bereits die Sonne hinter dem Horizont verschwunden. Wer aber fehlte, war mein Backup. Wir kämpfen niemals alleine, das hatten wir uns so ausgemacht, weshalb ich auch, während ich meine Augen offen hielt, die Nummer von Calyle aus dem Speicher suchte und ihn mehrfach anrief. Er antwortete jedoch auf keinen der Anrufe. Danach versuchte ich es bei Marie, welche sagte, dass Calyle bereits seit einer Stunde aufgebrochen sein musste. Augenblicklich setzte sie die Telefonkette in Bewegung, erkundigte sich nach dessen Aufenthaltsort. Bis sie mich zurückrief, waren bereits zehn Minuten vergangen und ich schlug gerade einem Dämon gekonnt den Kopf ab. Wenigstens war es bloß einer, dann konnte ich mich derweilen aufwärmen, bis Calyle eintraf.
„Olympia ist jetzt auf dem Weg zu dir, da wir Calyle nicht finden kann. Sobald ich ihn gefunden habe, werde ich ihn zu dir schicken.“
„Danke dir, Marie.“ Ich legte auf und wartete auf das gewohnte Surren der Sense. Wenngleich Olympia den Dreh noch nicht heraußen hatte, wie man sich teleportierte, so konnte sie unfassbar mit ihrer Sense umgeben. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, sie würde fliegen, dermaßen verließ sie sich auf die Stabilität der Sense und katapultierte sich damit durch die Lüfte, während sie kämpfte. Ihr Gleichgewichtssinn, war einfach unvergleichlich.
Auch jetzt kämpfte sie sich einen Weg über den Parplatz, löschte mit einem gewaltigen Hieb ihrer Sense gleich Eindutzend niederer Dämonen aus, welche sich versucht hatten, von hinten an sie heranzuschleichen. Vom Dach aus, sah ich ihr dabei zu, dann schwang sie sich über eine kleine Gruppe, an Rauchern hinweg und landete schon fast katzenhaft, neben mir, am Rand des Daches, ohne dabei einen Kratzer an der Laterne zu hinterlassen, oder einen Schatten zu erzeugen.
„Angeberin.“ Zog ich sie halb scherzend auf, woraufhin sie mir ein spitzbübisches Lächeln schenkte. Dieses konnte jedoch nicht die dunklen Ringe unter ihren Augen verbergen. Olympia war völlig erschöpft von all den Schließungen heute.
„Einer von uns muss ja schließlich die ganze Arbeit machen.“ Witzelte sie frech.
„Beweg dich.“ Murrte ich, schob sie aus dem Weg und zielte mit meinen beiden Dolchen direkt auf die zweiköpfige Schlange, welche sich an die Raucher heranschlich. Zu unserem Glück, trat der erste eben die Zigarette aus, so sah er auch nicht, dass meine Klinge ihn bloß Millimeter verfehlte und im Auge eines Schlangenkopfes stecken blieb.
Ehe meine Klingen zu Boden fallen konnten, projizierte ich sie zurück in meine Hände. Die Raucher waren gerettet, zumindest was die Bedrohung von Dämonen anging, dann verschwanden sie ins Innere des Gebäudes. Dort hatten wir zum Glück bereits vor Monaten die geöffneten Löcher geschlossen, weshalb das Krankenhaus, großteils, sicher war, vor möglicher dämonischer Heimsuchung. Trotzdem lockte die Anzahl vieler kränklicher Menschen, dementsprechend Dämonen an, welche es auf dessen Seelen, oder was auch immer abgesehen hatten.
„Guter Schuss.“ Lobte Olympia, ehe sie lauthals gähnte. „Hoffentlich hat mein Ausflug etwas genutzt. Viel mehr schaffe ich heute Nacht sicher nicht mehr.“ Meinte sie, während sie sich an etwas Unsichtbares lehnte, was zweifellos ihre Sense sein musste.
„Dann lass einfach mich die Arbeit machen. Wie immer.“
Sie lachte und stieß mich, zur Strafe, leicht in die Seite. Dann positionierte sich Olympia auf die andere Seite des Krankenhauses, um auch den Hintereingang im Blick zu haben.

 

- - - - -

 

Ich konnte kaum noch meine Augen offen halten. Dass sich Calyle nicht blicken ließ, war ausgesprochen untypisch für ihn, doch andererseits... wer konnte es ihm schon übel nehmen? Im Moment musste ihm vieles durch den Kopf schwirren. Selbst wollte ich es mir überhaupt nicht ausmalen, denn Luphriam´s Lächeln hallte bereits den gesamten Tag über, in meinem Kopf herum, wie eine lästige Fliege. Ich fühlte mich hibbelig, wollte seine Worte und Taten einfach aus meinen Erinnerungen löschen und betete, dass sich mir ein höheres Wesen erbarmte, und mein Problem aus der Welt schaffte. Wie kam er bloß darauf, mein Höschen für sich als Entlohnung zu beanspruchen? Das war nicht bloß widerlich, sondern auch... Einfach dämonisch! Ja, genau das war es. Andererseits... je mehr ich darüber nachdachte, umso breiter musste ich über diesen Perversling schmunzeln. Ein Dämonenfürst, der sich mit dem schmutzigen Unterhöschen eines Nephilim amüsierte? Das war so absurd! Auf so etwas konnte auch bloß Luphriam kommen, dieser Idiot.
Ehrlich gesagt störte mich ja bloß, wie heftig mein Herz seitdem schlug, wie sehr es zwischen meinen Beinen kribbelte und dass ich mein Höschen, obwohl ich längst ein frisches trug, ein wenig vermisste. Hoffentlich bekam ich es nicht zurück... Andererseits...
„Schlaf nicht ein, dort hinten!“ Rief Ryan plötzlich, als mehrere Dämonen gleichzeitig auf dem Dach erschienen. Ich hatte meinen Blick, suchend nach Luphriam, über die Straßen gleiten lassen, doch Ryan hatte natürlich recht. Ich durfte nicht in Tagträumen versinken, nur weil ich unglaublich müde war!
Ich wirbelte herum, schlug nach etlichen Kreaturen und stieß sie von mir, sobald sie mir zu nahe kamen. Der große Nachteil von einer übergroßen Sense war ja, dass man sich gegen Wesen, die unmittelbar vor einem standen, auf eigene Faust kämpfen musste. Außerdem konnte ich in engen Gängen so gut wie überhaupt nichts ausrichten. Dementsprechend half mir meine Wendigkeit über dieses Manko hinweg.
„Ist weniger los, was?“ Erkundigte sich Ryan seufzend, nachdem wir bereits eine halbe Stunde auf die nächste Angriffswelle gewartet hatten. Mir waren bereits fast die Augen zugefallen, während ich an der Lüftung des Krankenhauses lehnte und streckte mich nun, um die Müdigkeit loszuwerden. Es half lediglich bedingt.
„Muss an der Schließung der Tore liegen, von heute. Vielleicht schafft Katya morgen mehr davon, als ich heute mit Lysander. Für sie ist das irgendwie viel einfacher, was?“
Ryan nickte, wie immer recht wortkarg.
„Was ist eigentlich mit dir und Lucy?“ Fragte ich, nach einem kurzen Moment des Schweigens. „Zwischen euch läuft es ja richtig gut, oder?“
„Da läuft nichts.“ Entgegnete er ruhig, während sein Blick prüfend und konzentriert die Umgebung absuchte. Das war ein Zeichen für mich, dass ich mich noch ein wenig ausruhen konnte. Bei der kleinsten Bewegung würde Ryan mich schon wecken.
„Dafür dass nichts >läuft<, seit ihr aber schon wieder recht gesprächig geworden. Außerdem hast du an ihr gehangen, wie ein-...“
„Ich habe mir bloß sorgen gemacht, Himmel noch mal!“ Brauste Ryan plötzlich auf, als sei er es überdrüssig, dieses leidige Thema erneut aufzurollen. „Wenn du auch findest, dass Lucy und ich ein Traumpaar sind, dann bitte... Bitte behalte es einfach für dich, denn ich empfinde nichts, außer Freundschaft für Lucy. Ja sie ist attraktiv. Ja sie ist klug und lieb. Und nein... Mehr als brüderliche Zuneigung ist da nicht. Nicht mal für dich oder Katya. Ich sehe euch alle drei auf die gleiche Weise.“
Überrascht von den vielen Worten, welche auf einmal Ryan´s Mund verlassen hatten, nickte ich lediglich und schloss die Augen wieder. Nun ja, wenn er sagte, dass da nichts war, dann musste ich ihm das wohl oder übel glauben.
„Keine Sorge, ich glaube dir das. Mir geht es ganz ähnlich.“
„Calyle?“ Fragte er, woraufhin ich den Kopf in die andere Richtung drehte. Nein, nicht Calyle. Aber darüber sprechen wollte ich vor allem nicht mit Ryan. Selbst Lysander, welcher sich schrecklich lustig über mich machen würde, könnte meine Gefühle... Nein, Luphriam´s Gefühle noch viel eher nachvollziehen, als Ryan.
Ryan war ein Frauenschwarm, aber von Liebe verstand er absolut gar nichts. Dabei würde sich Lucy die Zähne ausbeißen müssen, oder einfach noch ein paar Jahrzehnte abwarten. Irgendwann ging sogar dem gefühllosesten Idioten ein Knopf auf.
„Oli!“
Erschrocken riss ich die Augen wieder auf. Ich hatte höchstens zehn Minuten gedöst, als Ryan, mahnen, meinen Namen kürzte und mich durch die Überraschung aus dem Schlaf riss. Augenblicklich war ich hellwach und folgte seinem Blick zu einer kümmerlich flackernden Gestalt, welche scheinbar aus dem Nichts am Rand des Gebäudes erschienen war.
Eine dunkle Flüssigkeit lief von der Gestalt aus und für einen Moment erwog ich, ob es etwa auch schneckenartige Dämonen gab? Oder welche, die im Wasser lebten? Gab es in der Hölle überhaupt Wasser?
Ryan zögerte nicht, wie ich es tat, sondern ging direkt auf das schwächlich wirkende Wesen zu, hob die Klinge und holte aus, um ihm ein Ende zu bereiten.
„...lymp...a...“ Ich erkannte die Stimme, trotz des Krächzens.
„Nicht!“ Instinktiv holte ich mit der Sense aus, machte zeitgleich einen Sprung vorwärts, da fuhr auch schon Ryan´s Klinge nieder. Es gab ein Geräusch, als ob Metall auf Metall träfe, ehe er sich verwirrt nach mir umsah.
Blinzelnd hielt ich inne, unfähig zu verstehen, was ich da eben getan hatte. Ryan erging es sichtlich genauso.
Ich ließ die Sense fallen und lief auf die Gestalt zu, welche kaum größer war, als ein siebenjähriger Junge. Ich drehte die schemenhafte Gestalt zur Seite und betrachtete sein blasses Gesicht. „Luphriam!“ Keuchte ich, ungläubig auf die tiefe Wunde in seinem Leib starrend.
„Schon gut... ich heile.“ Hörte ich ihn hauchen.
„Sprich nicht. Ich werde... Ich werde...“ Ja was würde ich tun? Wie kümmerte man sich um einen verblutendenden Dämon? Wie heilte man dessen Wunden?
Er hob die unförmige Hand, da er anscheinend kaum noch Kraft besaß, seine menschliche Erscheinung aufrecht zu halten. „Nein, es ist gut. Hör nur zu.“ Seine Hand berührte sanft meine Wange und ich bemerkte, dass mir Tränen über das Gesicht liefen. „Halte ihn auf... Luzifer hat sich seiner Hülle bemächtigt.“ Seine Stimme war so leise... „Kein Schließen der...“ Er schnappte röchelnd nach Luft.
„Okay das reicht, was ist hier los, Olympia?“ Forderte Ryan zu wissen. „Ist das etwa dein Kontakt bei den Dämonen?“
„Halt die Klappe Ryan, ich muss nachdenken. Ich muss... Ich muss ihn zu einem Arzt bringen. Aber...“ Sanft streichelte ich über das aschende, schwarze Haar. Dass meine Handflächen davon schwarz wurden, war mir vollkommen gleich. „Ein Arzt. Odette! Ryan, du musst uns sofort zu Odette bringen!“ Luphriam war mittlerweile auf die Größe eines Dreijährigen geschrumpft, weshalb ich mit ihm im Arm aufstand und herausfordern in Ryan´s Augen starrte. Er war angewidert von der Idee, aber das war mir so etwas von egal.
„Niemals! Das ist ein Dämon!“
„Und du bist ein Schwachkopf. Jetzt bring mich zu Odette, oder er stirbt!“ Schrie ich ihn aufgeregt an.
Ryan jedoch brüllte genauso konsequent zurück. „Dann lass das Vieh doch sterben! Wen interessiert das schon?“
Wen das... Wen zur Hölle das interessierte? Na mich zum Beispiel! Ich biss ärgerlich die Zähne zusammen, ehe mir etwas Gemeines aus dem Mund rutschte.
Ich achtete nicht mehr auf das mangelnde Geschehen um uns herum, sondern lief los, auf den Abgrund des Krankenhauses zu.
„Wo läufst du jetzt hin?“ Schrie Ryan schockiert.
„Zu Odette!“ Hatte er mir nicht zugehört?
Ich stieß mich mit dem letzten Schritt ab und berechnete wie weit ich wohl mit diesem Sprung kommen würde und hoffte, nicht in einem der Bäume zu landen, oder gar auf einem Auto mit Alarmanlage. Während ich jedoch durch die Luft segelte, geschah etwas, was die anderen bereits seit Jahren gemeistert hatten. Ich fühlte, wie ein Ruck durch meinen Körper ging, mein Körper flog viel weiter, als bloß ein paar Meter und ehe ich mich versah, stand ich mitten in Odette´s Wohnzimmer. Sie und Katya saßen über den restlichen Notizen der Tore, welche Lysander und ich nicht mehr geschafft hatten. Als jedoch ein kräftiger Windstoß durch den Raum fuhr und Haare, so wie Blätter wild herum segeln ließ, war keiner überraschter, als ich selbst.
Ich hatte es getan... Ich hatte mich teleportiert!

 

- - - - - 

 

Vier Uhr morgens und kein Ende schien in Sicht zu sein. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass der Spielplatz aus einem besonderen Grund überlaufen wurde, doch da es noch immer Sommer war, würde selbst jetzt im August die Sonne gegen fünf Uhr aufgehen. Das bedeutete, bloß noch eine Stunde, mussten Tyrone und ich durchdrücken, dann hatten auch wir es endlich geschafft. Morgen würden wir dann so viele Tore schließen, wie nur irgendwie möglich.
Ich hoffte nur, dass Olympia für Katya, Tyrone und mich, noch einige Adressen mehr auftreiben konnte, denn das was sie und Lysander gestern geschafft hatte, reichte bei weitem nicht aus, um den Ansturm der Dämonen einhalt zu gebieten. Tyrone hatte gegen Mitternacht von Ryan erfahren, dass Calyle noch immer nicht aufgetaucht war und beim Krankenhaus scheinbar kaum etwas los sei.
Vielleicht hatte es ja doch irgendwie geholfen und wir hatten bloß hier in der nähren Umgebung irgendetwas übersehen?
„Lu, hinter dir!“
Ich wirbelte herum, stach den Pfeil von Hand in die Kehle des gefräßigen, zweibeinigen Dämons, wirbelte herum, zog ihn mit heraus, dass das schwarze Blut nur so spritzte, dann legte ich den schmutzigen Pfeil an die Sehne an und schoss zwischen Tyrone´s Arme hindurch, direkt in das geöffnete Maul eines vierbeinigen Schreckens.
Zeitgleich verblassten beide Dämonen zu Asche, ehe der Wind sie davon trug und ein neuer Pfeil auf meinem Bogen erschien.
„Danke.“ Meinte ich bloß, woraufhin er mich amüsiert anlächelte.
„Ebenfalls.“ Damit sendete er abwechselnd seine kurzen Dolche in die Richtungen von Feinden. Einmal mit der Linken, dann mit der Rechten, dann wieder lins, wieder rechts. So lange, bis sie alle nacheinander fielen. Ich hielt lediglich ein paar vereinzelte davon ab, Tyrone in den Rücken zu springen, oder ließ Asche über uns regnen, da seit heute Nacht, auch fliegenden Ungetüme aufkreuzten. Himmel, langsam reichte es wirklich!
Meine Finger schmerzten von all dem Sehnenspannen und meine Muskeln zogen unangenehm. Wenn das so weiter ging, würde entweder mein Bogen brechen, oder meine Arme abfallen, wobei Letzteres sogar wahrscheinlicher war.
„Sag mal, Lu...“ Begann Tyrone, als der Ansturm einigermaßen nachgelassen hatte. Ich wandte mich ihm zu, wischte mir den Schweiß von der Stirn und schüttelte meine geschundenen Finger ein wenig auf. Himmel... Das tat schon schrecklich weh, doch wenigstens hatten wir bisher noch nichts abbekommen...
„Was denn, Ty?“ Entgegnete ich, als er nicht weiter sprach, sondern einfach, mit offenen Mund über meine Schulter starrte. Also wenn er diesen Blick drauf hatte, dann musste Katya ihn mit irgendetwas überrascht haben, außer hinter mir ereignete sich etwas, das ich verpasst hatte.
„Was zu Hölle...“ Begann Tyrone, während er seine Benommenheit abschüttelte.
„Was ist?“ Fragte ich, drehte mich herum und auch mir klappte vor Schreck der Mund auf.
Ich hatte schon oft als Kind die Sterne beobachtet und wie so oft, wünschte ich mir unter jeder Sternschnuppe bloß eine einzige Sache. Eine Sache, die sich wohl niemals erfüllen würde, denn das dort draußen waren bloß Meteoriten, die die Erde oberflächlich streiften.
Nein, sogar weit weniger als das... Sie verpassten das Ende ihrer Reise bloß knapp, nur um weiterhin endlos durch das Weltall zu fallen. Zu Fallen und zu Fallen...
Diese Meteoriten jedoch, erst bloß drei, vier, dann schon elf, neunzehn und nach wenigen Sekunden, war der gesamte Himmel voll erleuchtet von etwas, dass ich bloß als einen Meteoritenschauer bezeichnen konnte.
Aber die Poseiden hatten wir bereits vor einigen Wochen beobachtet und davon war keiner so nahe wie die...
„Scheiße, die kommen runter!“ Fluchte Tyrone und packte mich an der Schulter, als ob er mich an einen Ort bringen könnte, an denen eine solche Menge an Meteoriten nicht einschlagen könnten.
„Nein, das ist unmöglich! Man hätte uns doch gewarnt, wenn...“ Begann ich, doch realisierte gleichzeitig, dass ich die Wahrheit sagte. Natürlich hätte man die Menschen gewarnt, wenn wir einem Meteoritengürtel so nahekämen, dass sie vereinzelt sogar einschlagen könnten. Es wäre sogar etwas dagegen unternommen worden, zweifellos, doch das... „Tyrone, da stimmt etwas nicht. Die sind viel zu nah!“ Stellte ich dann fest. Außerdem kamen sie in einer Art... Glühen und weniger brennend herunter. „Das sind keine Meteoriten!“ Meinte ich dann, als auch bereits eine Sirene laut über die Umgebung schallte.
Der Alarm für eine Raketenwarnung ging los.
„Scheiße, was treiben die Dämonen da?“
Da nach einer Minute die Umgebung beinahe taghell erleuchtet war und ich einen fliegenden Dämon, wie gebannt auf das Licht starren sah, bezweifelte ich, dass sie auch bloß ansatzweise etwas damit zu tun haben konnten.
„Das sind nicht die Dämonen.“ Als ob jeder Einzelne von ihnen mein Wort vernommen hatte, sprangen sie wild kreischend aus ihrer Deckung auf und traten den hektischen Rückzug an. Nun kamen auch die fliegenden Dämonen in Bewegung. Sie strampelten mit Armen und Beinen, während pures Entsetzen in ihren Gesichtern aufleuchtete. „Sie versuchen, zu den Toren zu gelangen.“ Stellte ich, wie gebannt, fest. Aber warum? Was zur Hölle jagte ihnen eine solche Angst ein?
„Ah!“ Mehr sein erschrockener Aufschrei, als sein plötzlich fester werdender Griff um meine Hand, ließ mich herum zu Tyrone fahren. „Katya... Katya!“ Er schrie, als ob sie direkt vor ihm läge und sich in Todesqualen am Boden wand, doch natürlich spielte sich das bloß in seinem Kopf ab.
„Was ist mit Katya?“ Fragte ich erschrocken.
„Sie leidet... Sie leidet so sehr... Katya! Katya!“ Seine Stimme überschlug sich regelrecht, Tränen liefen aus seinen Augen, dann schrie auch er los.
Seine Fingernägel kratzten über meinen Unterarm, er fiel in eine embrionalstellung und schrie so grauenhaft, dass selbst mir die Tränen kamen.
„Tyrone? Was ist los?“ Ich versuchte, nach Wunden oder Ähnlichem Ausschau zu halten, doch konnte nichts finden. Was geschah hier nur?
Mein Blick glitt wieder hoch, zu dem aufglühenden Himmel. Er hatte bereits sämtliche Sterne verschluckt, er leuchtete in einem goldenen Ton und so etwas wie ein... Tönen erklang, kaum dass die Sirene eine kurze Pause eingelegt hatte. Es war... schrill und weit entfernt. Was genau das Geräusch verursachte, war ziemlich klar, denn es kam von über uns, von dort, wo lauter leuchtende Punkte herabfielen.
Mist! Ich musste Tyrone unbedingt von hier fortbringen. „Tyrone, hör mir zu. Wir müs-...“ Ein jeher Schmerz glitt durch meine Schädelbasis, krampfte sich dabei um meine Nerven und riss sie scheinbar mit einem Ruck aus meinem Körper heraus. Gespannt bis auf das äußerste verkrampften sich meine Muskeln, so wie Sehnen zeitgleich. Meine Augen reagierten überempfindlich auf das sanfte Licht der Straßenlaterne und ich hörte einen schrillen Schrei meine Kehle verlassen, ohne ihn wirklich bewusst zu sein.
Nun wusste ich, welchen Schmerz erst Katya, danach Tyrone eben erleben mussten. Er war unbeschreiblich und beinahe tödlich.
Leider bloß beinahe, denn ich wünschte mir, dass mich in diesem Moment ein Meteorit treffen möge.

 

- - - - -

 

Das Zittern nahm endlich ein Ende und meine Muskeln erholten sich von dem plötzlichen Pein. Mein Kopf pulsierte noch, meine Herz schlug endlich wieder, doch so richtig erholen konnte ich mich nicht von dem, was mich eben aus dem Bett katapultiert hatte.
Ich sah meine Mutter über mir knien. Sie war auf das Bett geflüchtet, auf welchem ich bis eben noch ausgiebig und lange geschlafen hatte. Ich war froh darüber, dass Olympia sich meiner erbarmt hatte und statt mir an Ryan´s Seite geeilt war, um ihn im nächtlichen Kampf zu unterstützen. Doch in diesem Moment, wäre mir eine Nachtschicht lieber gewesne, als der Kater, welcher nun in jeden Zentimeter meines Körpers saß.
„Zu allem was heilig ist...“ Stieß meine Mutter hinter vorgehaltener Hand hervor. Ich glaube, dermaßen emotional hatte ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.
„Was ist passiert?“ Fragte ich, meinen Kopf reibend und rollte einseitig mit meiner Schulter, da diese sich wie gezerrt fühlte.
„Du... Du bist...“ Keuchte meine Mutter, doch brachte keinen richtigen Satz mehr hervor.
Was ich war, erkannte ich, als ich mich endlich aufgerichtet hatte und erkannte, woher das ziehen in meinen Schultern tatsächlich kam.
Blinzelnd betrachtete ich mein Spiegelbild in Calyle´s Schlafzimmerspiegel. Ich hatte ja schon wirklich heftige Trips gehabt. Auch einige von denen ich mir sogar aufrichtig wünschte, ich könnte sie verdrängen, doch das, was ich jetzt sah... In echt und mit Farbe, war alles andere, als ein schlechter Trip. Es war ein Albtraum!
Gräuliche Flügel, mit zugespitzten, silbernen Enden schimmerten im schwach beleuchteten Zimmer unter meinem Hintern hervor. "Scheie... Ich habe ja verkakte Flügel!"

Erst als ich versuchte sie genauer anzusehen, bemerkte ich, dass keine einzige Lampe im Zimmer an war. Das Licht kam von außen. 

 

- - - - -

 

Und hier wären wir einmal mehr. Ich, im freien Fall. Ich musste ehrlich gestehen, dass es mir nach jedem Mal, ein kleines bisschen weniger ausmachte und ich allmählich die Ironie darin erkannte. Während ich Cirillo´s bewusstlosen Körper, welcher hell erstrahlte, wie mein eigener, ganz eng an meine Brust gezogen festhielt und meine Flügel so zum Gleitflug spreizte, wie er es mir gelehrt hatte, dachte ich ernsthaft darüber nach, das wievielte Mal ich nun schon in den Tod stürzte?
Sollte ich den, von mir verursachten Sturz vom Dach der Schule dazu zählen? Immerhin hatte mich diese Waghalsigkeit erst dazu gebracht, von einem wirklich schnuckeligen Throne entführt zu werden.
Sanft streichelte ich über sein dunkles Haar und küsste seine Schläfe. Wie er stets für mich gesorgt hatte, würde ich nun diesen Gefallen erwidern. Calyle hatte mich so oft aufgefangen, so oft behütet, vermutlich konnte ich mich nicht einmal mehr an jedes einzelne Mal erinnern. Okay, er war in den Zellen wirklich gemein und unfair mit mir umgesprungen, doch ich hatte verstanden, dass dieser Ärger nicht wirklich mir gegolten hatte.
Cirillo hatte Probleme damit sich selbst zu verstehen. Immerhin war er ein Throne, ein Assassine der Erzengel, doch was würde er nun sein? Nach unserem Verrat an einem gesamten Volk?
Was würde Cirillo´s neue Aufgabe sein? Konnte er das überhaupt verwinden? So stark und stoisch mein Gefährte auch wirken mochte, war er innerlich verunsichert, da er niemals hatte lernen dürfen, mit seinen Gefühlen auf eine ehrliche Weise umzugehen. Es gab bloß diesen einen Lebensweg für ihn. Einen Einsamen und Missverstandenen. Abseits der Engelsgesellschaft.
„Ich liebe dich.“ Hauchte ich und fühlte, wie er auf meine Worte reagierte. Ich war mir nicht ganz sicher, auf welchem Teil der Erde ich hinunter kommen würde, doch ich gab zu, dass ich einen winzigen Hauch an Erleichterung verspürte. Ich war zuhause angekommen. Das hier war meine Welt, mein Geburtsort. Hier würde ich meine Familie wiedersehen können... das Grab meiner Mutter besuchen. Immerhin gab es so vieles, was ich ihr unter allen Umständen erzählen musste, selbst wenn mir bewusst war, dass sie längst kein Wort mehr hören konnte.
Wie die anderen wohl auf mein neues Äußeres reagieren würden? Lysander Lightbird, der Sohn von Grigori, einem unverbesserlichen Lustmolch und >Genießer< von Schmank und Trank. Ob Katya McBird, die Tochter von Logos und Halbschwester meines Gefährten, neidisch sein würde auf meine gigantischen Flügel? Oder mein obercooles Outfit? Denn so etwas trug man auf der Erde nicht, geschweige denn dass jemals ein solcher edler Stoff erfunden worden war.
Tyrone Tallbird, der seine Katya buchstäblich vergöttert, als Sohn des ehemaligen Erzengels Metatron, wäre bestimmt dazu gezwungen ihr auch so etwas zu besorgen, um ihr eine besonders große Freude zu machen.
Ob Olympia Redbird, die Tochter von Raphael, erleichtert sein würde, mich wieder zu haben? Am Ende hatte ich schon das Gefühl gehabt, dass wir uns einigermaßen näher gekommen waren, auch wenn ich mich bei unserem letzten Ausflug eher auf eine andere Sache konzentriert gehabt hatte und sie sogar alleine bei einem Dämonenfürsten zurückließ.
Ryan Bird-Walker, dem Sohn von Gabriel, würde es bestimmt egal sein, wenngleich ich es schade fand. Von Cirillo wusste ich, dass Michael und Gabriel, nachdem Luzifer abtrünnig geworden war, Waffenbrüder geworden waren.
Und was würde mich in Bezug auf Lucy Birdsall, der Tochter von Uriel erwarten? Ich betete, dass sie lebte, dass sie mir vergab und würde mein eigenes Leben geben, bloß um alles wieder gutmachen zu können, was ich ihr angetan hatte.
Aber am Ende war das einzige, wovor ich wirklich riesengroße Angst hatte, die Begegnung vor Calyle Birdwell. Hatte ich dem Sohn von Luzifer vergeben, dass er Mitschuld an dem Tod meiner Mutter war? Selbstverständlich nicht. Das konnte ich ihm niemals verzeihen, doch ich war nicht mehr so wütend und enttäuscht, wie noch vor wenigen Monaten. Ich stand dem einen Hauch kühler gegenüber, wenngleich es mir innerlich noch das Herz zerriss. Ehrlich, ich hatte geglaubt, dass das zwischen Calyle und mir etwas Besonderes sein würde. Dass da etwas existierte, dass nur für uns beide da war, doch im Endeffekt... hätte ich ja doch bloß als Mittel zum Zweck gedient. Ich wäre bloß die frieden stiftende, bessere Hälfte von Luzifers Sohn gewesen und keine rechtmäßige Lebensgefährtin von Calyle Birdwell.
Nicht so wie für Cirillo. Ihm bedeutete ich mehr noch, als sein eigenes Volk. Und er bedeutete mir mehr, als eine jede Welt, die wir jemals bereisen könnten. Was er da für mich, genauer gesagt, für uns getan hatte... Nein, aufgegeben! Mein Herz schmolz alleine, wenn ich daran dachte. Wieso sollten wir auch, zusammen sang- und klanglos sterben, wenn wir doch einfach mal den Himmel stürzen, die Hölle aussperren und sämtliche Engel auf die Erde fallen lassen konnten?
Natürlich war nichts von alldem so geplant gewesen, doch wie es gekommen war, schien es seltsam perfekt zu sein. Es endete ein wenig... erlösend, so als ob man mir eine elend schwere Last genommen hätte, die schon seit meiner Geburt in mir gewütet hatte. Jetzt da sie fort war, fühlte ich mit einem Mal, Friede und Zuversicht für meine Zukunft.
Für unsere Zukunft. Ich musste mich nicht einmal in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass ich kein Erzengel mehr war. Keiner, von uns, hier fallenden Engel, würde je wieder einer sein. Ich war am Ende meiner Reise als Nephilim angelangt und zum einfachen Engel aufgestiegen.
Das sah ich in den selig lächelnden Augen von meinem Gefährten, mehr als genau. So wie wir jetzt waren, so waren wir perfekt geworden. So hatten wir schon immer sein sollen. Kein Throne. Kein Cherubim. Kein Erzengel. Nein, wir waren nun alle ein und dasselbe, wie auch die Menschen, bloß mit dem feinen Unterschied, dass wir flogen.
„Ich liebe dich auch.“ Hauchte Cirillo, küsste mich sanft, anstatt einen erschrockenen Schrei auszustoßen, so wie alle anderen, eben erwachenden Engeln in diesem Moment.
Cirillo veränderte seine Position und hielt meine Hand ganz fest, während wir zu Boden glitten. Ein wenig war es ja schon so, als ob wir eine Engelsschar zu Boden führten, das musste ich eingstehen. Ob wir so wohl in die menschlichen Geschichtsbücher eingehen würden? Der Nephilim und der Throne, welche den Himmel auf die Erde stürzen ließen?
Cirillo lachte so heiter, wie ich ihn noch nie lachen gehört hatte. „Diese Geschichtsbücher werden wir selbst schreiben.“ Meinte er dann, lächelte mich noch ein letztes Mal an, dann bereitete er sich auf eine harte Landung vor, denn die Erdanziehung hier auf der Erde war mindestens um das Dreifache stärker, als in der Welt, in welcher er aufgewachsen war.
Und ganz ehrlich? Ein wenig freute ich mich schon darauf. Ich erwartete ja nicht, dass die Engel uns jemals verstanden, oder die ehemaligen Erzengel uns verziehen. Das verstand ich ja. Ich hatte ihnen alles genommen und sie auf eine >engelunwürdige< Position gezwungen, der sie niemals würden entkommen können.
Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt, was?
Und mit diesen Worten möchte ich mich hiermit verabschieden. Meine Reise, die Reise von Haylee Blackbid, der Tochter von Michael, war nun endgültig vorbei.
Wenn wir das nächste Mal voneinander hören, werden es nicht mehr meine Worte sein, die ich hier nieder schreibe. Es wird nicht meine Geschichte sein, die ihr lest, denn ich bin bloß diejenige, die die Engel gestürzt hat und Cirillo der abtrünnige, ehemalige Throne.
Bis dahin muss sich die Geschichte von ganz alleine weiter entwickeln. Die Engel müssen von selbst ihren Platz finden und die Menschen etwas völlig unmögliches akzeptieren.
Engel leben. Wir leben dort draußen, unter euch und werden ein ganz normales, fast schon menschliches Leben führen, wie ihr selbst. Die Dämonen, denen ihr heute noch nachsagt, sie seien schuld an euren Problemen, existieren nicht mehr. Sie sind weggesperrt an einem Ort, der keinen Grund besitzt und die kleine Helfer, die euch retten sollen, müsst ihr wohl ab jetzt unter euch selbst finden. Oder in euch selbst?
Sagt mir, wie poetisch seid ihr? Ich selbst will bloß endlich ein halbwegs normales Leben, an der Seite meines Gefährten führen. In einem kleinen Häuschen, irgendwo auf einer großen Wiese, mit einer schiefen Eingangstüre und einem riesigen Bett als Dachgeschoss.
Blackbird, ende!

Übersicht

Hier eine kleine Übersicht, wer mit wem verwandt ist.  ;) 

 

 

Mutter

Nephilim

Engel

Edna
Blackbird
Haylee Michael

Olive

McBird

Katya Logos

Odette

Birdsall

Lucy Uriel

Celiné

Redbird

Olympia Raphael

Marie

Bridwell

Calyle Luzifer

Sabrina

Tallbird

Tyrone Metatron

Josephine

Bird-Walker

Ryan Gabriel

Fiona

Lightbird

Lysander Grigori

 

 

Ich wünsche dir noch viel Spaß & Motivation beim Lesen & Schreiben :D

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.01.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Widmung geht an meine Bf, die für mich ebenfalls, wie ein Schutzengel ist und eine tolle Muse, selbst wenn es derzeit bei ihr hoch und runter geht. Also M.K. Solltest du jemals endlich bis zur Widmung gekommen sein... Ich hab dich lieb

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