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Prolog von Iduna

Hi, Ho! Mein Name lautet Iduna Ridder. Ich bin jetzt siebzehneinhalb Jahre alt und lebe mit meiner fünf Jahre älteren Schwester Haven zusammen. Sie ist eine neurotische Nörglerin. Trotzdem liebe ich sie.
Hm... Was ist so die letzten Jahre passiert? Freya hat gerade ihren vierten Sohn von Milan zur Welt gebracht, Haven ist eine hervorragende Designerin, ich habe vor Jura zu studieren... Okay, ehrlich gesagt zwingt Haven mich dazu, denn etwas Langweiligeres als das ist ihr offensichtlich nicht eingefallen. Und was mit meiner missratenen zweitältesten Schwester los ist, will ich überhaupt nicht wissen. Ich hasse sie und das ist alles, was ihr zu wissen braucht.
Okay, zurück zu Freya. Ja, es ist ihr viertes Kind. Wie von den Alphazwillingen und meiner Wenigkeit prophezeit hat sie lauter Alphas zur Welt gebracht. Jeder von ihnen besitzt von Natur aus rote Augen in ihrer Verwandlung. Da sie jedoch recht schwer zu kontrollieren sind und unfassbar, super, duper, toll niedlich, haben sie Heimunterricht. Milan kann sich das durch sein Erbe natürlich leisten, während Freya kein bisschen darüber begeistert ist, ihre Kinder verstecken zu müssen. Nun gut. Dafür hatten sie ja mich. Ihre Lieblingstante Iduna, die sie mit Schokolade überschüttet, selbst wenn Milan sich beklagt, dass sie davon Bauchschmerzen bekommen, ständig abschmußt und ihnen gerne nervige Geschichten erzählt. Ja... meine Jungs hassen mich mindestens so sehr, wie ich sie liebe.
Ob ihr es glaubt oder nicht, doch Haven ist unter so etwas... wie die Tierschützer gegangen. Bloß dass sie Übernatürliche beschützt. Vampire, Werwölfe die den Jägern in den Wäldern in die Hände fallen würden, seit neuersten sogar Gestaltwandler, auch wenn sie mit diesen damals eher... negative Erfahrungen gemacht hat. Zahmere niedere Dämonen und einiges mehr. Was genau... weiß ich nicht. Ich wurde niemals zur Jägerin ausgebildet. Natürlich weiß ich mich zu verteidigen, wenn es sein muss und habe schon einmal getötet. Kein Ding, auf das ich Wiederholungswert lege, ganz ehrlich. Trotzdem würde ich sagen, dass ich so zum Sagen, die normalste in meiner Familie bin. Und da ja offensichtlich jeder meiner Schwestern so etwas wie eine Aufgabe besitzt, was ich bereits seit Jahren wusste dank meiner eigenen Gabe, kenne ich natürlich auch meine. Ich bin zwar die Jüngste, doch mein Schicksal ist es die Familie wieder zusammen zu bringen, nachdem sie sich unwissendlich voneinander entfernt haben. Und wisst ihr was? Das ziehe ich durch! Auf das Jurastudium, was übrigens schon fertig finanziert ist, scheiße ich. Wen interessiert schon Jura? Mir ist auch egal, dass ich eigentlich einen Nebenjob finden sollte, oder irgendwelche Erfahrungen machen, ausziehen und etliches mehr.
Nein, ich fixiere mich vollkommen darauf, meinen Zirkel wieder zusammenzustellen. Unseren Zirkel. Den Mächtigsten der jemals existiert hat und derjenige, der alles verändert hat. Die Ridder!
Kleine Frage am Rande... wie fange ich da am besten an? Ideen? Anregungen? Vorschläge? Irgendwelche Tipps? Nein? Na gut, dann mach ich das eben alleine... Ich helf euch auch nicht, wenn ihr sie mal bräuchtet. Außer es geht ums Übernatürliche, da bin ich natürlich gerne für euch da. Oder um jemanden einen Streich zu spielen...
Ach, vergesst es. Viel Spaß Leuten, mit dem letzten Teil unserer Familie.

XOXO Eure Ridder

1. Iduna Ridder - Das quirlige Orakel der Ridder

„Komm schon! Tick tack, tick tack!“ Meckerte die blöde Kuh und wedelte mit meinem Rucksack vor meiner Nase herum. Murrend nahm ich ihr das kleine Täschchen ab und ließ es neben mich auf den Boden fallen.

„Ich fühle mich aber nicht so gut. Vielleicht habe ich ja Fieber... oder Krätze....“

Schmunzelnd verzogen sich ihre dunkelrot gefärbten Lippen nach oben und ihre dunkelgrünen Augen begannen frech zu funkeln. „Oder vielleicht will da jemand einfach bloß nicht seinen Ex sehen!“

Beleidigt, da meine Schwester einmal wieder recht hatte, streckte ich ihr die Zunge heraus. „Eine Lungenentzündung... Hust, hust.“

Lachend entwand sie mir die leere Schüssel in dem sich bis eben noch >gesunde Zerealien< befunden hatten. „Marsch, ich fahre dich auch.“

„Jipi!“ Sofort war ich wieder >gesund< genug um mich auf die Uni zu freuen. Die Beziehung mit meinem Ex ist nun schon ein paar Jährchen her. Aber da er mich dreimal betrogen hatte, wollte ich sein hässliches Gesicht nicht unbedingt erneut treffen. Leider besuchte er dieselbe Uni wie ich... um irgendwann einmal Richter zu werden.

Innerlich mich ohrfeigend, wie feige ich doch bin, sprang ich fröhlich pfeifend die Treppe hinab, während meine nur wenige Jahre ältere Schwester einmal wieder den Lift nahm. Nicht dass ihr noch ein Stöckelschuh abbrach! Gott bewahre, dann müsste sie sie ja wegwerfen.

„Was hat da so lange gedauert?“ Zog sie mich auf und hakte sich wie immer bei mir ein. Fröhlich tratschend, wie beinahe jeden morgen, verließen wir den verglasten Wohnblock, in welchen sich unser Apartment befand und warteten auf den Autojungen, welcher immer auf Abruf Havens Sportwagen vorfuhr. Insgesamt besaß sie ja drei. Den alten Wolow unserer Eltern, welchen wir einfach nicht verschrotten lassen wollten, aber auch nicht fahren... Einen breiten Geländewagen mit getönten Scheiben, für ihre Aufträge und natürlich ihre schicken Sabrio, mit welchem wir nun... im Stau standen.

„Es ist so heiß!“ Beklagten wir uns gleichzeitig und lachten darüber.

Eigentlich bin ich ja ein paar Jahre jünger als Haven, meine rothaarige, berühmte Schwester, aufgewachsen sind wir jedoch wie Zwillinge. Sie hat sich bis zu ihrem Auszug immer um mich gekümmert, ständig mit mir beschäftigt und war auch die Erste, die bemerkte, was genau meine Gabe ist. Ich persönlich habe es in meinen jüngeren Jahren nie verstanden. Erst als Haven mir das Stichwort gab, dass ich in die Zukunft sehen kann, wurde mir klar, dass ich nicht punktgenau das sehe. Die Zukunft... besaß viele Variablen. Ich kann keinen Mordanschlag in den nächsten Jahrzehnten, oder Tagen vorhersagen. Keine Naturkatastrophen und Maschinenversagen. Nein, meine Gabe ist es, dass ich das >Schicksal< sehen kann.

Während meiner Erweckungszeremonie zum Beispiel, habe ich gesehen, dass Mama und Papa mich nicht abholen kommen werden. Etwas später, habe ich Helena gesehen, Thomas neue Partnerin, seit die dumme Ziege, meine zweitälteste Schwester, verschwunden ist. Freyas Mann Milan, ihre vier Kinder, welche sie mittlerweile haben und natürlich Ginis... Entscheidung.

Hach... alleine wenn ich an ihren Namen denke, könnte ich in die Luft gehen. Bloß wenige Stunden davor, einige Tage davor ebenfalls, hatte sie versprochen für uns da zu sein, nicht zu verschwinden und immer wieder nach Hause zu kommen. Aber nein... was tat sie? Wie immer unzuverlässlich sein!

„Grummel nicht so vor dich her. Du musst ja nicht mit ihm reden.“

Nun, ja... ich musste ja Haven nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich eigentlich gar nicht an meinen Ex gedacht hatte und musterte für einen Moment ihr Profil. Wenn ich zurückdachte, an die Geschehnisse von vor zehn Jahren, als wir noch klein, schüchtern, ungezeichnet vom Leben gewesen sind, hatte sie kurze Haare und gut sichtbare Sommersprossen gehabt. Jetzt jedoch war sie reifer, größer, eleganter und witziger. Na gut, Witzig war sie davor auch schon. Ihre Geduld kannte so gut wie keine Grenze, selbst den Wesen gegenüber, für die sie sich so stark einsetzte.

Wie Freya, meine älteste Schwester, bin ich ja eher ein Hundemensch und würde eigentlich viel lieber bei ihr und meinen vier Neffen leben, östlich von Springgan, einer riesigen Stadt, in welcher wir leben. Aber als Haven, welche eher ein offensichtlicher Katzenmensch ist, mit ihrem Kunststudium begonnen hat, ist sie sofort entdeckt worden, doch leider konnte sie ihre Kleidungsstücke, welche sie seit Jahren selbst machte, nicht selbst vorführen. Sie brauchte Models und ein kräftiges Startkapital. Milan hat ihr beides mit seinem bisher eher unangetasteten Erbe ermöglicht und sie ihm in den letzten zwei Jahren doppelt zurückgezahlt.

Jetzt ist meine Schwester, offiziell, eine vielbeschäftigte Designerin, welche als >Nebenjob< Katzen aus der Kanalisation rettet. Genauer gesagt gut zwei Meter große Wildkatzen, Gestaltwandler auch bekannt als Theriantrophe welche ihre Menschlichkeit zu einem Großteil abgelegt haben, da die Menschen sie hinab in die Dunkelheit getrieben hatten.

Halb Mensch, halb Tier und verwildert zurückgelassen fürchten sie alles was kein Fell besitzt. Nach Havens >kleinen< Unfall vor zehn Jahren, wurde ihr klar, dass sie hier ansetzen wollte. Kreaturen der Nacht, zurück zur Menschlichkeit führen. In diesem Bereich helfe ich ihr natürlich, soweit es mir möglich ist und Milan ist ihr steter Ansprechpartner, während Freya den Kopf dieser Organisation, als älteste Ridder besetzt.

Mein Job ist es... wird es einmal sein, die rechtlichen Sachen für sie zu lösen. Ein Familienunternehmen, so zu sagen und meine Neffen träumen jetzt schon davon dort auch einmal mitzuhelfen. Nun, ja. Zwei von vier wünschen es sich, der dritte wiell Feuerwehrmann werden und der vierte... läuft hoffentlich jetzt bald.

Vier weibliche Ridder... Unsere Nachfahren vier rotäugige Alphawölfe. Genauso wie ich es in Freyas Schicksal gesehen habe!
„He, fahr doch einmal dort ran, bitte.“

„Bist du wahnsinnig, dann komme ich nie wieder in den Morgenverkehr hinein!“ Beklagte sich Haven.
„Bitte, bitte! Ich habe versprochen etwas mitzunehmen.“ Und einmal wieder fast vergessen.“

Stöhnend lenkte meine Schwester ein, umrundete einmal den Block und ließ mich dann bei der Bäckerei aussteigen. „Danke, wir sehen uns heute Abend.“

Haven schickte mir eine Kusshand, ließ ihre Sonnbrille über ihre teils blauen, teils grünen Augen fallen und düste weiter.
Schulterzuckend öffnete ich die Ladentüre. „Gute Morgen!“

„Guten Morgen, I. Was brauchst du heute?“

„Dich natürlich!“ Scherzte ich mit meinem Lieblingsverkäufer. Ein älterer Mann bereits, dem dieser Laden gehört und Vater meiner aller besten, liebsten, tollsten Freundin, Vera.
„Alles wie immer?“

„Natürlich!“ Lachend stützte ich mich am Verkaufstresen ab und sah zu, wie mir Veras Vater zwei Schockoschnecken einpackte. „Danke, dir. Wo finde ich den V?“

„So wie ich sie kenne bestimmt wieder vor dem PC.“ Ächzte ihr Vater und schickte mich durch die Küche hoch in die Wohnung.

„Guten Morgen, Schatzi!“ Rief ich glockenhell und gut gelaunt durch die kleine, geräumige Wohnung, in welcher es immer nach frisch gebackenem duftete.

„...kann doch nicht einfach hinausschleichen!“ Hörte ich, sich eine männliche Stimme beklagen.

Lächelnd stieß ich die Türe auf. „Hände hoch, oder ich puste dein Hirn an die Wand!“ Rief ich lautstark, mit einer verstellt tiefen Stimme hinein, woraufhin ein halbnackter Junge aus der Uni, auf die ich gehe, für einen Moment kreidebleich wurde und V begeistert zu Lachen begann.
„Du Arschloch hast mich zu Tode erschreckt!“ Beklagte sich der Junge, dessen Namen ich bisher noch nicht kannte, doch lächelte nun verlegen, währen er seine Kleidung zusammensuchte.

V schälte sich aus dem Bettlaken, nackt natürlich und spazierte herum, als wären wir bloß lästige Geschwister, die in ihrem Zimmer herumspazierten. Auf ihrem Rücken trug sie einige scheinbar wahllos zusammengewürfelten Tattoos, doch ich war eine der wenigen Eingeweihten, die wussten, woher sie stammten und vor allem >weshalb< sie diese trug.

„Netter Hintern.“ Spottete ich dem halbnackten Adonis hinterher, während dieser unter dem Bett verschwand, um seine zweite Socke zu finden.

„Was suchst du übrigens so früh hier?“ Erklang V´s Stimme aus dem anschließenden Bad, bevor ich auch bereits das Spülbecken hörte.

Ich schloss die Türe und schlüpfte zu ihr ins Zimmer. Es befand sich nicht mehr als eine schmale Dusche, ein Wc, so wie ein vollgeräumtes Waschbecken darin. Dazu duzende Hängeregale, die sichtlich überladen waren, doch V war die letzte Frau auf dem Planeten, die jemals irgendetwas ausmustern würde.

„Meine Schwester hat mich abgesetzt, hatte vergessen, dass ich dich ja abholen soll.“ Als Alibi versteht sich. Ich lenke ihren Vater ab, während sie ihren Lover hinausschmuggelt. Für was hatte man den beste Freundinnen?

Tatsächlich überragte mich V mit gut fünfundzwanzig Zentimeter. Diese Frau war praktisch übermenschlich groß, schlank, drahtig gebaut und besitzt den richtigen Hüftschwung, so wie das dazugehörige schamlose Verhalten, um jeden rumzubekommen, den sie wollte. Ihre teils braunen, teils orangen Dreadlocks, die so ziemlich wöchentlich neue Farben aufwiesen, gingen ihr bis zur Mitte des Rückens und zirka dreißig Prozent ihres Körpers waren entweder mit Tattoos, oder Piercing bestückt. Die meisten Piercing trug sie jedoch am Ohr. Manchmal peppte sie das alles auf mit einer Kette, die sie von einem Ohr, bis zu ihrem Nasenring verband. Das sahen unsere Lehrer natürlich besonders gerne.

Ich dagegen erschien neben V regelrecht... langweilig. Tasächlich hatte ich das meiste von meiner ältesten Schwester Freya. Brünette, langweilig gelocktes Haar, durchschnittlich große braune Augen, eine verdammt normale Nase und zwei unnötige Pausebäckchen, die selbst mit meinen siebzehn Jahren noch nicht hatten verschwinden wollen.

In meinem Freundeskreis und der Familie war ich der Inbegriff eines schwarzen Schafes. Ich war schon wieder viel zu langweilig um mich überhaupt selbst erwähnen zu wollen. Ich konnte nichts besonders gut, im Gegensatz zu Freya, war nicht herausragend attraktiv wie Haven, oder präsent wie damals meine >blöde Schwester über die ich niemals spreche.<

Ich bin einfach... Iduna... Zwar das Orakel unseres Coven, doch da meine Gabe von selbst kam, und sich prinzipiell nicht viel tat, stach ich nicht einmal mit meinen besonderen Wahrsagerfähigkeiten heraus.

Ächz... Mein Leben könnte wohl kaum depremierender sein. Ich kann nicht kämpfen, bin nicht kreativ, nicht klug genug um ein Genie zu sein oder sage eine Naturkatastrophe hervor. Ich bin schlicht und ergreifend das nutzlose... schwarze Schaf um das sich jeder kümmern musste.

Ich schüttelte meine innere Melancholie ab und übertönte sie mit einem Haufen Energie, die ich zu meinem selischen Selbstschutz erschaffen hatte. „Gehts los?“ Ich grinste über beide Ohren.

„Okay, wir können starten.“

Kurz weihten wir Kent, so hieß der Typ anscheinend, in unseren Plan ein, der mittlerweile recht ausgereift war. „Wow. Das klingt so, als hättet ihr das schon öfters gemacht.“ Es sollte wohl einfach nur ein Witz sein, doch da weder V noch ich schmunzelten, merkte er rasch, dass dies bestimmt kein Scherz war. „Wartet, wie viele...“

Bevor er das Gespräch vertiefen konnte, schubste ich ihn aus dem Zimmer, sodass er verstummen musste, wenn er nicht von dem berüchtigten, bösartigen Vater von V erwischt werden wollte.

An der Treppe gingen V und ich voran. Ken folgte uns auf leisen Sohlen, während ich um die Ecke spähte. Ich deutete den beiden, dass alles >Okay< sei. V und ich glitten gleichzeitig durch den Vorhang. Während V jedoch, wie immer einfach zur Glastüre schritt, blieb ich noch an der Theke stehen, um mich ordentlich zu verabschieden.

„Mister Hessen, dürfte ich Sie noch um einen klitzekleinen Gefallen bitten?“

Wie immer schenkte er mir sein herzhaftes Lächeln. „Was wünscht du dir denn, Iduna?“

„Noch so einen leckeren Schokodonut-to-go vielleicht? Hätten Sie einen übrig.“

Schmunzelnd verschwand er für mich durch die Schwingtüre in die anschließende Bäckerei, in welcher im Moment zwei Lehrlinge und seine neue Frau handwerkten. >Neu< war jedoch relativ, denn die beiden lebten bereits seit drei Jahren zusammen. V bezeichnete die Frau jedoch noch immer spöttisch als >die Neue<. Ich jedoch verstand nicht was meine Beste gegen sie hatte. Nicht nur das sie super gut backte... sie war auch noch total lieb und schenkte V immer nur das, was sie sich auch gewünscht hatte. Offenbar konnte keine Frau, außer ihrer eigenen Mutter, es ihr recht machen. Leider lebte ihre Mutter am anderen Ende der Welt... Wo wusste niemand so genau, da sie ständig umzog.

Ich deutete Ken hastig, dass er sich gebückt verpissen soll. Schnell und überraschend lautlos, schoss er durch die immer noch geöffnete Eingangstüre, wo V wartete und bog hastig um die Ecke. Genau in dem Moment kam Mister Hessen aus der Bäckerei und drückte mir einen warmen Donut in die Hand, von dem noch die warme Schokolade tropfte. Meine Augen wurden größer. „Das ist ja soooo lieb!“ Quietschte ich begeistert und schickte ihm eine Kusshand. „Bestellen Sie Batsy einen lieben Gruß von mir.“

Er zwinkerte verschwörerisch. „Und du sag meiner Tochter, das ich den Jungen, der eben hier vorbei gehuscht ist, am Samstag um punkt sechs Uhr zum Abendessen hierhaben möchte.

Verlegen ging ich rückwärts zur Eingangstüre. „Junge? Welcher Junge denn? Sie müssen noch träumen.“ Mit einem dicken Grinser verließ ich das Geschäft und flüchtete V hinterher. „Du bist total aufgeflogen.“ Motzte ich sie an. „Ken du bist am Samstag um sechs zum Abendessen vorgeladen.“ Selbstzufrieden mit meiner Errungenschaft führte ich den Schokodonut an meinen Mund. Kurz bevor ich das saftig, süße Gebäck jedoch darin verschwinden lassen konnte, stahl V ihn mir weg. „He!“
„Pech!“ Murrte sie und warf ihn glatt in den nächsten Mülleimer. „Keine vollbrachte Mission, keine Belohnung.“ Daraufhin brachen wir in einen schwesterlichen Streit aus, bis sie mir eine Kopfnuss verpasste und ich kleinbei gab. Mann... hätte ich irgendetwas von Freya gelernt, anstatt bloß ihr aussehen geerbt, könnte ich mich wesentlich besser verteidigen.

Als ich zu schmollen anfing, gab V nach und überließ mir dafür ihren Obstsalat. Das war natürlich bei weitem kein Ersatz zu dem fluffigen, heißen, schokoüberzogenen Donut, aber immerhin etwas. Als wir an der Uni ankamen, frotzelten wir uns bloß noch über irgendeinen Kleinkram, bis wir uns an der Treppe zum dritten Stockwerk voneinander trennen mussten. Ich ging weiter hinauf, während sie hier unten ihren Hörsal verschwand. Ich setzte mich derweilen mit der unfassbar spannenden Themen des Urheberrechts. Der seichte Unterricht langweilte mich bereits nach einer viertel Stunde so sehr, dass ich begann im Internet zu surfen. Ich chattete mit Freunden aus anderen Gruppen, oder sogar mit welchen aus dieser Klasse. Die meisten tauschten sich bisher über ihre Vorstellungen aus, was sie später machen wollen, oder wie lange sie diesem Unterricht noch folgen werden, bevor sie einschnarchen. Okay, das letzte kam von mir und viele fanden das überaus amüsant. Leider beklagten sich auch einige darüber, dass ich die Uni nicht ernst nahm, im gegensatz zu ihnen, was mich etwas schockierte. Ja, okay, ich nahm es tatsächlich nicht ganz so ernst... Daher stieg ich einfach aus. Aus dem Chat, nicht aus dem Klassenraum.

Ich surfte durchs Internt und verabredete mich mit V, die nach dem Unterricht ins Krankenhaus fahren wollte! Ins Krankenhaus! Ich dachte schon ich lese nicht recht... Tatsächlich ging es für sie lediglich darum Geld zu verdienen. Sie hatte von einer neuen Technik gehört, wie man Familienangehörige aufspüren konnte.

Natürlich wusste ich was ihr Anreiz war, auf so etwas einzugehen, während sie behauptete es wäre eine gute Gelegenheit für wenig Aufwand einen Zwanziger zu verdienen. Ich sagte ihr spontan zu, denn ich wusste ohnehin wo sich meine Familienmitglieder befanden. Zudem würde V einen Prämiumzuschuss erhalten, wenn sie mit einer Gruppe von mindestens zehn Leuten antanzt. Anscheinend war dies eine Studiengruppe, welche das organisiert hatte vor einigen Jahren und immer mehr in Trend geriet. Je mehr Leute sich dort bewarben und ein wenig Gene dortließen, umso höher war die Wahrscheinlichkeit jemanden aus der engeren Verwandtschaft aufzuspüren. Natürlich war dieses Projekt vollständig freiwillig und das Ergebniss wird ausschließlich an die Person weitergegeben, die sich in einem Krankenhaus seiner Wahl dafür eingetragen hat. Somit blieb alles absolut annonym und man erfuhr das Ergebnis wenige Tage später.

Ich erwartete selbstverständlich nicht irgendjemanden zu finden. Ich wollte lediglich meine Freundin unterstützen. Im gegensatz zu V hatte ich meine Familie im Blick. Ich weiß dass der großteil von ihnen hier in der Stadt ist, dass sie auf mich warten, mich stets willkommen heißen und lieben. Ich sah sie praktisch jeden Tag... Mein Coven, meine Bestimmung...

 

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Die Blutabnahme verlief überraschend schnell ab. Das Formular, welches ich davor hatte ausfüllen müssen jedoch, hatte mich glatt eine Stunde meiner Zeit gekostet. Was wahrscheinlich im Nachhinein betrachtet, weniger an den Fragen, sonder vielmehr an der Gesellschaft gelegen hatte. Mit einem aufmunternden Lächeln entließ die Ärztin mich, steckte mir einen Lollie zu, auf den ich scherzhafte anspielungen gemacht hatte, um mich selbst vom Stich abzulenken und bog freudesstrahlend an einem Flur ab, zurück zu meinen Freunden.

"He! Wieso hast du einen Lollie und ich nicht?" Beklagte sich V neckisch.

"Ich war eben braver als du und habe nicht jeden Pfleger angeflirtet der in der letzten Stunde an uns vorbei gekommen ist."

V hob korrigierend einen Zeigefinger und setzte dabei eine ernste Miene auf. "He! Es waren nicht nur Pfleger die ich angebaggert habe. Auch ein paar Ärzte." Als ob dies die Sache besser machen würde.

Lachend schubste ich meine beste Freundin von ihrem Stuhl. Zu siebent, denn mehr hatte Vera nicht auftreiben können, verfrachteten wir unsere Hintern, freudig quasselnd zu einem billigen Burgerladen. Die Fritten waren matschig und die Bürger überladen. Trotzdem machte es riesen Spaß und schmeckte lecker... solange man genug Ketchup benutzte. So war unser artig verdientes Geld fast wieder aufgebraucht. Besonders nachdem sich die Jungs noch Alkohol holten, um meine beste Freundin abzufüllen. V war ja eine Überredungskünstlerin... Leider bezog sich dies meist nur auf Männer, die alle auf sie abfuhren. Manchmal war ich auf diese Gabe schon ein wenig neidig. Nicht so sehr, dass ich je eine Szene machen würde, aber etwas mehr Aufmerksamkeit von den Jungs zu erhaschen fände ich nicht allzu schlecht wie meine Schwester.

Haven war ja beinahe eine Heilige. Eine Göttin, wenn man vielen Klatschzeitschriften glauben konnte. Sie ist talentiert, bildhübsch und hat zu allem Überfluss diesen speziellen Gendefekt mit ihrem Auge. Dank Freyas Einfluss im Rat hat jemand eine falsche wissenschaftlich belegte Studie ins Internet gestellt, in der solch transformierte Augen wie das von Haven ausgesprochen selten seien und auf irgendeinen Gedefekt hinweisen. So eine Art... back to de rouds... Zurück zum Ursprung. Wir Menschen sind den Tieren so ähnlich und der ganze Quatsch, plus einen deftigen Spritzer Sauce dazu.

Haven, die jedoch zu allem Überfluss auch noch einen Heiligenschein auf ihrem perfekten Kopf trug, machte den Medien klar, dass es sich bei ihrem linken Auge zwar um eine echte Narbe, nach einem dummen Umfall handelte, doch ihr Auge habe sie, nachdem sie jemanden kennengelernt hatte, der auch tatsächlich an diesem Gedefekt litt und früh starb, nachgeahm. Es sei lediglich eine Kontaktlinse, welche sie stets trug um auf die vielfältigkeit des Lebens hinzuweisen. Wie schnell man jemandes Leben zerstören konnte, bloß weil man ihn auf sein Äußeres beschrenkte.

Ich wusste bis heute nicht, ob ich mich nach diesem Trick übergeben, oder sie anhimmeln sollte. Okay, sie ist meine große Schwester, natürlich hasse ich sie. Zwar sind wir wie Zwillinge, Seite an Seite aufgewachsen, doch je älter ich wurde, umso deutlicher erkannte ich, dass Haven und ich völlig unterschiedlich sind. Schwestern die sich lieben, ja. Aber immer im Schatten des anderen zu stehen... nein, stets im Schatten von Haven Ridder zu stehen hatte mir einen kleinen Knicks im Bereich meines ohnehin kaum vorhandenen Selbstbewussteins eingebracht. Haven hat das Talent Leute auf ihre Seite zu ziehen. Sie hat auch das lieblich schöne Aussehen, mit dem sie jeden verzauberte.

Zu ihrem großen Glück war dies jedoch auch ihre allergrößte Schwäche. Haven hat nämlich trotz ihrer Berühmtheit, trotz ihrer zahlreichen Fans niemanden außer ihrer Familie. Ja, noch einige abtrünnig gewordenen Jäger, die sich nachts ihrer Sache anschlossen vielleicht. Aber richtig akzeptieren taten bloß wir sie. Wir kannten ihre Macken, ihre Eigenheiten. Weshalb sie schnurrt, aber dennoch Licht bündeln kann. Weshalb sie es liebt sich in der Sonne zu wälzen, ohne jemals brauner zu werden. Unser Apartment war sets aufegewärmt, als befänden wir uns in einem feuchten Tropengebiet. Leute langweilten sie rasch, Haven brauchte die Abwechslung, die Herausforderung und konnte sich ausschließlich auf das Zeichnen konzetrieren. Es gab nichts bei dem sie still sitzen blieb... außer bei ihrer stets ausgereiften Kollektionsaureifung.
Welcher Mann konnte einer solch komplizierten und ehrgeizigen Frau schon die Stirn bieten, oder sie akzeptieren wie sie ist? Haven ist eine prüde Raubkatze, die es liebt zu jagen und zu lauern. Aber genauso ziert sie sich davor angefasst zu werden. Sie ist eine Einzelgängerin, etwas... ganz besonderes.

Natürlich war meine Schwester nicht immer so. Freundlich und aufgeschlossen, ja. Die restlichen Eigenschaften traten erst nach ihrem Unfall auf. Der Tag, der unsere gesamte Familie auseinander riss... Zuerst die Schwester deren Name nicht erwähnt werden darf, dann Haven und mit ihr ich... Unser Coven lebt nebeneinander her. Trotzdem ist da in mir diese kleine, stets wispernde, allwissende Stimme die mir sagt, dass das noch lange nicht das Ende unserer Geschichte ist. Für zwei von uns fängt sie eben erst an!

2. Haven Ridder - Von einer prüden Modedesignerin zu einer geschockten Gefährtin?

Ächzend massierte ich mit der linken Hand, meine rechte Schulter. Mensch... ich wünschte es wäre nicht so schwer stundenlang in einer Position zu verweilen. Andererseits... stundenlang zeichnen war mir tausendmal lieber, als die ganze Zeit zu stehen und Stoffe abzustecken für die Models.

„Ah, du bist noch hier.“ Meine Empfangsdame schloss entschuldigend die Türe wieder, doch bevor sie es schaffte, rief ich sie herein.
„Warte, Zee. Gehst du schon heim?“ Fragte ich, denn mir war der Mantel auf ihren Schultern aufgefallen.
„J-Ja... Also wenn es in Ordnung ist. Es ist bereits nach elf und alle sind weg. Wenn du aber noch etwas...“
Ich winkte ab. „Nein, schon gut. Geh heim zu deinem Mann. Ich... werde hier auch fertig machen.“
Seufzend schob ich die mehr oder weniger gelungenen ersten Entwürfe zusammen, als mir etwas auffiel. Die ganze Zeit hatte mich daran etwas gestört. Bereits seit dem Mittagessen saß ich hier und ärgerte, dass es nicht so klappte, wie ich wollte. Aber jetzt... „Mach mal Licht.“
Wenn Zee meine herrische Stimme vernahm, welche relativ selten erklang, dann wusste sie, dass alles schnell geschehen musste. Hastig stolperte sie zum Lichtschalter, um die Oberlichter anzumachen. Wenn ich abends am Zeichentisch saß, benutzte ich nämlich bloß dessen Licht. Aber jetzt benötigte ich alles.
„Komm her.“ Ich ging zur nächstgelegenen Stehlampe und bog sie herab, um zwei Zeichnungen aneinander halten zu können. „Was sagst du?“ Fragte ich.
Zee ließ sich wie immer Zeit mit ihrer Antwort. Konzentriert musterte jeden Bogen, jeden Strich und stellte sich die Zeichnung in 3D, so wie Originalgröße vor, bevor sie sich umdrehte, ihre Augen für einen Moment schloss, bloß um dann mit eben diesen eine Erscheinung erstehen zu lassen.
„Ungefähr so?“
„Ein dunkleres Blau.“ Bat ich, während ich um die Projektion herum ging.
„Die Schleife vielleicht höher.“
„Du meinst wegen der Busenform?“
Zee nickte, das gesamte Bild mit ihr.
„Dann mache ich es hier kürzer.“
Zee war ebenfalls eine Jägerin so wie ich. Nun sind wir es nicht mehr. Wir sind so etwas wie die Nachhut geworden. Früher, vor zehn Jahren, gab es bloß Jäger, welche die Kreaturen der Dunkelheit aufspürten, exekutierten, abschlachteten, oder was sich auch sonst so spaßiges ergab. Insofern man die nötige Fähigkeiten dazu mitbrachte.
Leute wie Zee die Projektionen erschuf, Iduna, welche in die Zukunft sah und ich, die bloß Sonnenlicht bündeln konnte, bekamen zumeist Bürojobs, durften als Anwälte fugieren oder in der Krankenstation arbeiten. Vielleicht spielten wir sogar Verbindungspersonen in verschiedenen Ländern, hohen Posten und vielen mehr. Jedoch aktiv an der >Jagd< nahmen wir niemals teil.
Iduna und ich haben uns jedoch einen solchen Ort geschaffen. Wir haben ein Familienunternehmen gegründet, eine Tochterorganisation der Jäger, welche sich auf das >Heilen< spezialisiert hat. Oder wie ich es nannte >die Rückführung<.
Wie wir durch Milan vor zehn Jahren erfahren haben, sind nicht alle Monster gleich >böse<. Wie in jeder Kultur, in jedem Glauben, in jeder Familie, gibt es schwarze Schafe. So konnten drei Generationen gottgläubige Heiligenscheine besitzen, doch trotzdem tanzt ihnen irgendein Familienmitglied aus der Reihe und wird zum Beispiel ein Attentäter, ein betrunkener Frauenschläger oder Psychopath.
Leider musste ich feststellen, dass es genau diese Sachen waren, welche uns verbanden. Die Menschlichkeit, unsere Sterblichkeit, so wie der Wille zu Überleben.
Schon vor Jahren, in meiner frühesten Kindheit, habe ich mich gefragt was diese Wesen von uns unterscheidet? Was macht uns Jäger, welche mit einer persönlichen Gabe gesegnet sind, so viel besser, als ein Gestaltwandler, welcher gleich zwei oder mehr Formen besitzt?
Wie können wir Jäger uns als etwas besseres ansehen, als eine Vampirmutter, welche bloß versucht ihr Kind zu beschützen? Ihre Ernährung lief eben ein wenig anders ab, als unsere. Aber deshalb schlachte ich doch auch keine Menschen ab, welche sich rein Vegan, rein von Medikamenten, oder rein von Fleisch ernähren. Nicht wahr?
>Böse< zu sein, ist keine Eigenschaft einer ganzen Spezies. >Böse< ist eine persönliche Charaktereigenschaft. Und nicht jeder von uns besitzt sie im vollem Ausmaß.
Eine Stunde später, saß ich in meinem Wagen und fuhr nach Hause, in mein Apartment. Ich erreichte gerade die Lobby, als mein Handy einen bekannten, spitzen Pfeifton von sich gab. Stöhnend drückte ich beim Lift nicht den Pfeil nach oben, sondern nach unten in die Parkgarage.
„Es kommen gleich Gäste von mir. Können Sie am Empfang bescheid geben, dass ihnen der Weg zur Parkgarage geöffnet wird?“ Fragte ich den Lifttypen, dessen Name ich bisher noch immer nicht kannte, doch wie in jedem Luxuswohngebäude einer vorhanden war.
„Verzeihen Sie, bitte dass ich Ihnen den Wunsch abschlagen muss, doch die Parkgarage ist ausschließlich für die Eigentümer...“
Mit einem strengen Blick mittels bloß eines Auges, brachte ich den Bediensteten zum Schweigen. „Die werden keinen Parkplatz brauchen. Außer Sie wollen, dass fremde, vermutlich schmutzige Leute durch die Lobby streunen?“
Ich musste zugeben, ich wusste nicht um wen es sich handelte. In meiner Nachricht stand lediglich, dass es sich um einen Notfall handle und sie mich dringend treffen müssen, wie vereinbart. Wer, weshalb oder wie viele wusste ich nicht. Nur dass es sich um meine private Nummer handelte. Dies bedeutete, es ging um meinen Nachtjob.
„N-Natürlich, Miss Ridder.“
Die Lifttüre öffnete mit dem gewohnten >Ding<, ich stieg aus und folgte dem mit verschiedenen Blumen und Gemälden dekorierten Pfad in die Parkgarage.
Gerade als ich bei meinem flotten Sportwagen ankam, welcher ebenfalls immer von Bediensteten hier unten geparkt wurde, hörte ich, wie das Schiebetor aufging. Kurz darauf bretterte ein langes, ziemlich demoliertes Auto herein, dessen Fenster an der Fahrerseite fehlte.
Mit hochgezogenen Augenbrauen, folgte mein Blick dem Auto, welches vermutlich von einem Schrotthändler gestohlen worden war. Zumindest würde es erklären, weshalb eine alte Bekannte hinter dem Steuer saß. „Lyria?“ Fragte ich verblüfft, während das am ganzen Leib zitternde Mädchen ausstieg.
„Ha-Haven...“ Stöhnte sie und fiel mir buchstäblich in die Arme. Etwas woran ich mich niemals gewöhnen würde, denn Theriantrophe waren ausschließlich in ihrem Clan Wesen, welche den Körperkontakt suchten.
Clans bestanden bei ihnen, ähnlich wie bei uns Jägern aus Familienmitglieder. Meist sieben bis höchstens fünfzehn Personen. Dass jetzt also bloß Lyria vor mir stand, beunruhigte mich.
„Lyria, wo ist dein Clan?“ Sie verstreuen sich ausschließlich in alle Richtungen, wenn sie angegriffen wurden. Dafür fanden sie, wenn es wieder sicher wurde, an bestimmten Orten zusammen. Aber dass eine in die Kanalisation verbannte Gestaltwandlerin nun allein hier vor mir stand... mitten in der Stadt und ganz offensichtlich mit einem gestohlenen Wagen, sagte schon mehr, als ihr Blick.
„Sie sind... tot! Sie sind alle tot!“ Schluchzte sie und senkte ihren Kopf zurück auf meine Designerbluse. Dass ich voller Blut, Schmutz und anderen Körperflüssigkeiten wurde, war mir in diesem Moment vollkommen egal. Fauchend warf ich mein Haar auf die rechte Seite, sodass meine linke frei Stand und starrte auf sie, mit meinem grünen Katzenauge herab. „Wen muss ich töten?“
Anstatt jedoch zusammen mit mir ein Kampfgefauche auszustoßen, schüttelte sie hektisch den Kopf. „M-Mein Bruder... Mein Bruder ist verletzt.“
„Du bist nicht die einzige Überlebende?“ Das und die Tatsache dass sie überhaupt einen Bruder hatte, überraschte mich.
Sanft schob ich sie neben die hintere Wagentüre, wo sie sich, am ganzen Leib zitternd, dagegen lehnte, während ich diese öffnete. Erschrocken schluckte ich. Was genau hier Mann, was Blut oder verbranntes Fleisch war, konnte ich kaum sagen. Dank den besonderen Heilfähigkeiten, sogar bessere als die Werwölfe sie besaßen, schienen die meisten Verletzungen bereits am Abheilen zu sein. Trotzdem war da noch immer das große, klaffende Loch in seinem Bauch.
Ein Ausflug ins Krankenhaus war unmöglich. „Scheiße!“
Noch immer lag er in seiner halben Verwandlung. Ein langer, schmaler Schwanz hing völlig bewegungslos aus seinem blanken Hintern heraus. Bogenförmige Ohren auf seinem Haupt, verdeckt durch verfilztes schwarzes Haar. Die Reißzähne bleckte er sofort, sobald ich ihn berührte um nach seinem Puls zu suchen, welcher höllisch raste. „Er steht unter Schock.“ So wie meine gute Freundin Lyria. „Los, hilf mir ihn aus dem Wagen zu heben.
Schniefend tat sie mir den Gefallen, doch zitterte so stark, dass ich Angst hatte, sie würde keine Kraft dafür aufbringen können. Da jedoch diese Art an Gestaltwandler prinzipiell keine bösartigen Kämpfer waren, wunderte es mich, dass irgendjemand dessen gesamten Clan ausgelöscht hatte. Das warum und vor allem >wer< würde ich später klären müssen.
„Silbergeschosse?“ Fragte ich, während ich Lyria und ihren Bruder zum Fahrstuhl brachte.
„Ja, sie alle haben wie wild auf uns geschossen. Sie haben... Kinder gefangen. Sie haben sie gefoltert, damit sie schreien und uns anlocken. Es war... Es war...“
Lyria begann schon wieder zu weinen, daher entschied ich weitere Erklärungen auf später zu verschieben.
„Okay, hör mir zu. Sobald wir oben sind, muss alles ganz schnell gehen. Verstehst du mich? Also musst du versuchen dich zu beruhigen, egal wie schwer dir das auch jetzt im Moment fallen sollte.“
Lyria nickte bestätigend, trotzdem zweifelte ich daran.
Puh... Ich fühlte mich, als würde ich gleich zwei Gestaltwandler mit mir herumtragen, anstatt eines Erwachsenen. „Im Lift, da steht ein Mann. Er wird uns hochfahren in mein Apartment. Also musst du dich immer vor deinen Bruder stellen, denn du weist ja, das Menschen es seltsam finden, wenn jemand nackt ist.“
Sie nickte und wurde nun endlich hellhörig. Menschen machten ihr Angst. Sie wollte nicht mit ihnen in einem Raum sein, das verstand ich vollkommen. Trotzdem würde es ihr nun nicht erspart bleiben. „Du siehst nur mich an und... Wie heißt dein Bruder?“
„Vetjan.“
„Vetjan.“ Wiederholte ich völlig ruhig. „Du siehst nur Vetjan und mich an, verstanden?“ Ihre Augen würden sie nämlich sofort verraten. Die Iriden bei Theriantrophen waren beinahe zweimal so groß, als bei normalen Menschen und grün, während sich schwarze Schlitze, anstatt runde Pupillen in dessen Mitte befanden. Im Moment war Lyria so gestresst, dass ihre Pupillen fast rundlich aussahen, trotzdem würden ihre Iriden Menschen viel zu groß erscheinen. Das war auch mein Grund, weshalb ich meine linke Gesichtshälfte mit den langen Krallenspuren immer versteckt hielt hinter meinem dichten roten Haar.
Als sich die Lifttüren öffnete, erschrak zu aller Erst einmal der Typ von vorhin. Erschrocken sprang er zurück und zückte sein Handy. „Ich rufe sofort die Rett...“
„Nein! Keine Rettung. Er ist bloß auf einer Party abgefüllt worden.“ Log ich und versuchte so gut wie Möglich den Blick auf den Schwanz des Theriantrophen zu verdecken. Natürlich den hinteren, die vorderen Körperproportionen verdeckte seine Schwester für ihn. Auch wenn es Gestaltwandler nicht unbedingt störte nackt durch die Gegend zu laufen, waren Menschen auf dies bezogen schon etwas prüder. Ich wollte ja überhaupt nicht wissen, was ein Mann der in einem Luxushotel arbeitete, wohl im Moment über mich und meine Begleiteungen dachte. Zum Glück hatte zumindest Lyria von irgendwo her eine Weste aufgetrieben, wobei ich stark daran zweifelte dass sie darunter noch irgendetwas anderes trug, außer ihr Evaskostüm.
„Aber der Mann blutet und...“
„Hoch in mein Apartment!“ Keifte ich zornig, als er immer noch dastand und uns drei anstarrte.
„N-Natürlich, Miss Ridder.“ Zitternd drückte er den Knopf für das dreiundsiebzigste Stockwerk.
Die Fahrstuhlmusik klang fürchterlich fehl am Platz, während sich der Fahrstuhlboy sichtlich unwohl fühlte, Lyria sich größte Mühe gab nicht wild um sich zu schlagen und ich vom Gewicht ihres Bruders schier erdrückt wurde.
Dankbar atmete ich aus, sobald sich die Fahrstuhltüren öffneten. Aber nicht bloß ich. Lyria tänzelte zu der einzigen Türe, welche sich hier außen befand und zog die Karte durch, welche ich ihr im Lift gereicht hatte. Sofort piepste es und der Schalter sprang auf Grün. Daraufhin entriegelte sich die Türe und wir konnten eintreten. Dass ich kein Passwort eingeben musste, lag daran, dass meine kleine Schwester bereits daheim war.
„Iduna! Unten steht ein gestohlener Wagen, fahr ihn weg!“
Iduna überprüfte meine schwere Last, die nervöse Gestaltwandlerin und mich skeptisch. „Brauchst du mich danach noch, oder soll ich dann direkt zu Freya?“
Mein Blick glitt für einen Moment zu meiner alten Freundin, welche zornig die Zähne bleckte und Krallen meiner Schwester mahnend entgegenhielt. „Geh besser zu Freya, ich komme hier schon klar.“
Meine kluge kleine Schwester nickte und verschwand in ihrem Zimmer. Zweifellos um nicht ohne ihren geliebten Laptop wegfahren zu müssen.
„Essen steht im Kühlschrank, bedient euch, Kätzchen.“ Zog sie die Fremde und mich im gleichen Maße auf, ehe sie einen Moment später durch die Eingangstüre verschwand. Ein Piepsen verriet mir, dass sie die Türe wieder Passwortgesichert hatte.
„Ich brauche... Decken. Bring mir... Nein, halt das hier auf die Wunde.“ Ich hatte meine Jacke bereits ausgezogen und einfach auf die Wunde gepresst. Und ja, ich bin vielleicht eine Designerin welche nichts unter eintausend kauft und verkauft. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich penibel auf meine eigenen Sachen achtete. Besonders nicht im >Nachtdienst<.
„Drück fest drauf, damit kein Blut mehr durchsickert.“
Hier im Wohnzimmerlicht konnte ich Vetjans Verletzungen ganz einfach ausmachen. Die meisten waren durch Verbrennungen aus Stromschlägen entstanden. Er musste sie häufig und sichtlich lange ertragen haben, denn sie hatten ganz deutliche Dellen in seinem Körper hinterlassen. Das Fleisch darum herum, welches bereits am abheilen war, schien ebenfalls stark verbrannt gewesen zu sein, doch nun war davon nicht mehr als eine frische, dünne Hautschicht zu erkennen. Blutverkrustet, doch einige der saubersten Stellen, eben weil sie neu gebildet waren.
An seinen Armen und Beinen gab es zudem Schnittverletzungen. Keine welche Muskelgewebe durchtrennt hätten, doch eine Ader schien angekratzt worden zu sein. Um diese kümmerte ich mich zuerst. Danach musste ich die große Bauchwunde erneut öffnen, zog Silbersplitter heraus und gab ihm ein Beruhigungsmittel, welches sogar einen Elefanten umgeworfen hätte.
So arbeitete ich bis gut drei Uhr morgens.
Stöhnend ließ ich mich von meinen Hacken zurück auf meinen Hintern sinken. Das mein Boden völlig eingesaut war, meine Kleidung blutig und ich vollkommen erledigt, war mir in diesem Moment völlig egal. Seufzend betrachtete ich das Durcheinander auf dem Boden, die schlafende Theriantrophin auf meinem Esstisch und dessen narkotisierten Bruder auf dem Boden. Es war so ein Durcheinander. Aber wofür? Was ist dessen Familie bloß passiert?
Keuchend, da mein Rücken fürchterlich schmerzte, kam ich auf die Beine und weckte sanft die junge Frau, welche ich nun seit sieben Jahren kannte. Sie war eine der ersten gewesen, welche angefangen hatte mir zu vertrauen, auch wenn ich bloß eine halbe Artgenossin geworden war. Etwas in meiner DNA hatte verhindert, dass ich vollständig zu einer Theriantrophin wurde. Aber dieses >etwas< hatte auch verhindert, dass ich jemals eine vollwertige Jägerin sein könnte, jemals voll ausgebildete Kräfte, jemals drei Gestalten besitze.
Ich war nun weder das eine, noch das andere. Kein Mensch mehr, aber auch nicht ansatzweise eine Gestaltwandlerin. Deshalb zog ich es auch vor lieber alleine zu bleiben. Ich brauchte keinen Mann, der nicht verstehen würde, was ich geworden bin. Keine Freundinnen, die sich lustig über meine gespaltene Persönlichkeit machen. Alleine meine Familie war das, was mich aufrecht hielt. So wie meine Arbeit, welche meine Neffen und vielleicht auch noch einige Nichten in Zukunft über Wasser halten würde.
Sollte mir nämlich jemals irgendetwas bei meinen Aktionen zustoßen, so wären sie es, die alles erben. Nur Milan würde meine Firma bekommen und durfte mit ihr machen, was er wollte. Ohne mich wurde sie ohnehin wertlos und eignete sich dann höchstens noch als Agentur oder Hauptsitz irgendeiner neuen Firma. Das läge dann in seinen Händen.
„Lyria?“ Erschrocken sprang die junge Frau hoch und blickte sich ängstlich um, ehe sie begriff wo sie sich befand und erleichtert durchatmete.
„Vetjan?“
„Auf dem Boden. Er wird sich erholen.“ Insofern ich keinen Splitter übersehen hatte. Aber davon ging ich einmal nicht aus.
Dankbar nickte sie mir zu. „Ich muss gehen, Haven.“
Ich nickte ebenfalls. „Ich weiß, er wird bei mir in guten Händen sein. Sobald er erwacht, werde ich ihn dir bringen. Wo kann ich dich finden?“
Sie zuckte unwissend mit den Schultern. „I-Ich weiß es nicht. Ich weiß noch nicht wo ich hin soll.“
„Was ist mit den Kaltkatzen?“
„Bei den Wasserfällen?“ Sie überlegte einen Moment. „Dort ist ein guter Treffpunkt. Von dort aus, kann ich alle Clans warnen.“
Bevor sie aufspringen konnte, hielt ich sie fest. „Warte, Lyria. Du musst mir noch helfen deinen Bruder in eines der Zimmer zu bringen.“ Und unterdessen mir erzählen, weshalb zum Teufel ich mitten in der Nacht einen Fremden hatte operieren müssen!
Gesagt, getan. Lyria half mir ihren mehr als doppelt so schweren Bruder zu transportieren. In seiner menschlichen Form musste er ebenfalls so schmal gebaut, abgemagert und hellhäutig sein, wie seine Schwester. Soweit ich wusste, war sie eine Leopardin, also war er dann... „Ist dein Bruder ein schwarzer Leopard?“ Soweit ich verstanden hatte, wurden diese >besonderen< nicht gerne gesehen.
Sie nickte traurig. „Ja, unser Clan hat ihn verstoßen, deshalb ist er ein Streuner. Aber als wir Hilfe benötigten, ist er gekommen. Nur dank ihm... lebe ich noch. Er hat die Kugeln abgefangen, welche für mich bestimmt waren und hat mich meinen Instinkten entgegen weggetrieben von der Gefahr. Aber auf halben Weg zum nächsten Clan, ist er zusammen gebrochen. Und du... du sagtest doch, dass ich jeder Zeit zu dir kommen kann.“ Ihr vor Trauer getrübter Blick glitt hoffnungsvoll zu mir auf.
Über ihren Bruder hinweg, welcher nun auf der Tagesdecke lag, ergriff ich ihre Hand und drückte sie sanft. „Lyria. Ich werde immer für euch da sein. Egal was du gestohlen, oder wen du getötet hast. Und ich schwöre dir, ich finde heraus wer es auf deinen Clan abgesehen hat.“
Dankbar kniff sie die Augen zusammen und rieb für einen Moment ihre Wange an meinem Handrücken. „Du bist eine gute Freundin, auch wenn du leider weder zu meinem Clan gehört hast, noch zu meiner Familie.“
Ich grinste frech. „Und obwohl ich eine Jägerin bin, was.“
Sie grunzte genervt. „Erinnere mich bloß nicht.“
Lachend blickten wir uns einen Moment in die Augen. Lyria war die Erste gewesen, welche sich meiner angenommen hat. Sie hat mir erzählt, dass sich Jäger nicht verwandeln können. Menschen, ja. Aber alle anderen >Übernatürlichen< Wesen nicht. Wieder einmal, hatten wir die genetische Anpassungsfähigkeit der Menschheit als beneidenswert eingestuft. Natürlich sehnte sich auch in mir ein Teil danach, frei zu sein. Durch Wälder zu streifen, auf Bäume zu klettern und einfach... wild zu sein. Beute reißen! Wenn ich nur daran dachte, wie die Eichhörnchen erschrocken von mir davon stürmten, juckte es mich in den Zehen ihnen hinterher zu setzen. Einfach bloß um des Jagderfolges willen.
Aber nein.
Ich bin auch ein Mensch. Größtenteils jedenfalls. Ich besitze weder eine Zwischenform, noch eine Katzengestalt. Das einzige was mir wirklich geblieben war, waren die großen Heilfähigkeiten, meine Heißhungerattacken, dass ich bloß einmal im Jahr, am Beginn des Herbstes, fruchtbar wurde, ich fühlte denselben Instinkt wie alle anderen Gestaltwandler Kinder zu beschützen, konnte mich schneller bewegen, als alle andere, fauchen, schnurren und fühlte mich unter Menschen nicht allzu wohl. Die einzigen, welche ich wirklich an mich heran ließ, waren meine Familienmitglieder.
Na gut, meine Neffen und Milan vielleicht nicht allzu sehr. Aber dafür telefonierte ich mit den vieren fünf mal die Woche, las ihnen etwas vor und verwöhnte diese knuffigen Bälger mit allem, was sie haben wollten.
Etwas wofür ich schon oft Rüge von Freya und Milan erhalten hatte.
Aber Milan und seinem Nachwuchs ging es in meinem Fall genauso. Sie liebten mich.... aber nur wenn ich weit genug von ihnen entfernt blieb. Liebe auf Distanz so zu sagen. Jedoch keiner von uns meinte es böse. Es war... einfach unsere Natur, welche sich besser aus dem Weg ging. Nicht hasste, sondern lediglich tolerierte solange jeder in seinem Revier blieb.
„Ich bringe dich hinunter.“
Auf dem Weg erzählte mir Lyria noch, dass es alles Frauen gewesen sein sollen. Sie hatten elektrische Fallen dabei, Käfige in denen sie Jungtiere gefoltert hatten, Waffen, die Silber abschossen und sie waren bis oben hin mit dicken Platten geschützt gewesen. Ihre Krallen seien kaum durch die Silberplatten gedrungen, welche ihre gefährdetsten Teile geschützt hatten.
Also eine Spezialeinheit. Leute, die wussten was sie taten. Und es hervorragend einsetzten. Nur wer waren diese Frauen? Weshalb hatten sie nun bereits den dritten Clan ausgelöscht. Das... Das ergab doch überhaupt keinen Sinn!

 

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Wieder oben in meinem Apartment, sah ich noch einmal nach meinem offensichtlich dunkelhäutigen Patienten. Er war wohl endlich in seine menschliche Form zurück gerutscht, denn ich erkannte an seinem, menschlichen, Ohr, dass ihm ein Stück an der Oberseite fehlte. Die Narben auf seinen Armen und dem Rücken, waren bereits alt. Offensichtlich wurde er immer wieder vertrieben von den anderen, weil sein Fell schwarz war.
Weise Löwen, schwarze Leoparden und Jaguare, Mischungen zwischen Löwen und Tiger... Das wurde alles überhaupt nicht gerne dort unten gesehen. Nicht einmal Halbmenschen wie ich. An viele Clans kam nicht einmal ich ran. Bloß einige wenige erlaubten es mir mit ihnen in Kontakt zu treten, doch versteckten ihre viel zu neugierigen Kinder vor mir.
Na gut, eigentlich konnte ich es ja verstehen. Sie sind vor tausenden von Jahren, wegen ihrer andersartigkeit in Höhlen und schlussendlich hier herab vertrieben worden. Von den Menschen. So wie sich Vampire, Werwölfe, ja selbst Geister selbst beschützen, indem sie einfach tun, als existieren sie überhaupt nicht.

Mit >Menschen< jedoch, bezog ich mich größtenteils auf Jäger. Diese hatten den Menschen gezeigt, wie man Jagd auf Wesen wie die hier macht. Wie man seine Dörfer und Familien beschützt. Nicht gerade eine unserer Sternstunden...
Seufzend öffnete ich den Verband vollständig. Unter ihm hatte sich die Wunde bereits geschlossen. Sie nässte noch etwas, was gut war. So stießen die Theriantrophe die Bakterien aus, säuberten die Wunde um keine Infektionen zu bekommen. Seltsamerweise stellte ich jedoch fasziniert fest, dass dieser Gestaltwandler nicht bloß schwarzes Fell besaß, sondern auch schwarze Haut. Das Problem war nur... ich kannte Lyrias Eltern. Beide waren Jaguare gewesen, beide hatten dieselbe gräulich, blasse Haut, wie die aller Theriantrophe besessen, da sie nie ans Sonnelicht gingen. Die Haare, wenn ich mir den Schmutz, so wie Filz einmal wegdachten, musste ein hellbraun sein. Während das von Vetjan jedoch tiefschwarz war.
Obwohl, zwei normalfärbige Leoparden konnten in einem Wurf voller normalfärbiger Junge ebenfalls ein schwarzes haben. Vielleicht kam diese, für Theriantrophe, abnormale Farbe, aus dem Reich der Tiere? Interessant. Ich dachte nicht, dass ihre tierische Seite so viel Einfluss besaß.
„Lif...Lif...“ Keuchte Vetjan plötzlich und hüstetelte dabei etwas.
„Schon gut! Schon gut, Großer. Du musst nicht mehr laufen. Du bist in Sicherheit.“ Sanft streichelte ich über seine Wange, damit er meinen Geruch aufnehmen konnte. Es war dieselbe Hand, wie die an welcher sich Liria davor gerieben hatte. Vielleicht würde ihr Geruch ihn beruhigen. Tatsächlich tat es dies auch. Er atmete einmal tief ein, dann legte er seine Hand um meine und schmiegte sich in meine Handfläche.

„Lyria geht es gut. Du hast sie gerettet.“ Flüsterte ich noch leise, während seine Augenlider flimmerten. Dahinter befanden sich die smaragdgrünen Augen einer Raubkatze. Ich wusste zwar nicht, ob er mich wahrnahm, doch trotzdem achtete ich darauf, dass er bloß meine linke Seite zum sehen bekam. Zumindest solange er heilte, sollte er sich sicher fühlen, selbst wenn er sich an einem fremden Ort befand.
Zitternd stieß er den angehaltenen Atem aus. „Und du wirst auch wieder gesund. Du bist ein starker Kämpfer, Vetjan...“
Mein Blick fiel zurück auf seinen Körper. Rissige Nägel, Dreck, schuppige Haut, unrasierte Wangen, filziges Haar, eine breite, bereits mehrmals gebrochene Nase, an seiner Unterlippe befand sich ebenfalls eine kleine Narbe... Wenn ich Vetjan so sah, fühlte ich mich seltsam traurig. Er musste sein ganzes Leben lang alleine gewesen sein. Alleine unter seiner eigenen Art. Verstoßen.
Nein... ich empfand Mitgefühl. Denn ich gehörte auch nicht zu diesen einzigartigen Großkatzen. Ich gehörte nicht zu den Jägern. Konnte nicht in meinem Familienhaus leben, oder unter viele Menschen gehen. Instinkte und Sehnsüchte, welche sich einfach gegenseitig ausstachen hatten uns beide zu Aussätzigen gemacht und wir wurden auf unser Aussehen reduziert.
Vorsichtig legte ich meine Stirn gegen seine. Ein Zeichen von Zuneigung und des Willkommen seins. „Ich werde auch für dich da sein, wann auch immer du mich brauchst.“ Verspach ich leise. Er ist Lyrias Bruder, wenn auch Verstoßen. Offenbar hatte ich etwas für Streuner übrig, denn ich las sie immer und immer wieder auf. Sorgte mich um sie und peppte sie auf, bis sie selbst stark genug waren. Zumindest was Katzenfindlinge anging.
Entschlossen mich noch ein wenig mehr um diesen verwahrlosten Findling zu kümmern, auch wenn es besser wäre, ich ginge endlich schlafen, griff ich in die Lade, rechts von mir und holte Betäubungsmittel hervor. Ich war mir zwar nicht sicher, ob es lange helfen würde, doch der Puls des Wandlers raste noch immer, als wäre er in Panik. Er brauchte jedoch Ruhe um zu heilen.
Rasch war die Spritze gegeben und sein Körper sank in völliger Entspannung zurück auf die Tagesdecke. Ich holte mir eine Schere, zwei Schüsseln mit Wasser, so wie ein Handtuch in mein Gästezimmer. Dann stutzte ich seinen unförmigen Bart so weit, dass er gepflegter wirkte, wusch um seine Wunden herum und packte ihn in eine dicke Decke ein. Theriantrophe liebten Wärme mehr als alles andere. Leider gab es davon in der Kanalisation nicht allzu viel, doch hier sollte es ihm nicht daran fehlen. Ich musste nicht einmal den Thermometer höher stellen, da ich selbst es im Apartment immer aufgeheitzt ließ. Zwar beschwerte sich Iduna am laufenden Band deshalb, doch respektierte dass dies zu meinen Grundbedürfnissen zählte, um mich wohl zu fühlen.
Nun selbst schmutzig und am Ende meiner Kräfte, schickte ich eine Nachricht, dass ich morgen... na gut, eigentlich ja bereits heute, nicht mehr in die Firma kommen würde. Morgen abend brächte ich dann Vetjan zurück. Insofern er gesund genug war und ich Kleidugn auftreiben konnte für ihn. Na gut, an Kleidung sollte es einer Designerin wie mir nicht mangeln.
Während einer langen heißen dusche, überlegte ich, wie groß er wohl war, Schulterbreite, hüftbreite... Vielleicht konnte ich ihm aus Stoffen von mir etwas nähen? So schwer war das ja nicht.
Okay... Stopp! Das alles konnte ich ja auch morgen erledigen. Zu aller Erst musste ich schlafen. Viel schlafen und tief! Nackt, wie jede Nacht, ließ ich mich zwischen die Seidenbezüge fallen und genoss es, wie mein Körper genüsslich schnurrend darin versank. Mein Schlaf kam sofort und ohne Umschweife.

 

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Man sollte meinen, irgendwann gewöhnt man sich selbst als Lady an feuchte Träume, aber nein. Bisher überraschten sie mich immer wieder und brachten mich durcheinander. Ich hasste diese Träume zwar nicht so sehr, wie die Tatsache, dass ich zwischen zwei Existenzen stand, doch zumindest solange mein Patient hier im Nebenzimmer lag, könnte mein Unterbewusstsein zumindest ein bisschen rücksichtsvoller sein. Immerhin besitzen Theriantrophe, so wie alle anderen Gestaltwandler unheimlich gute Nasen. Was müsste er sich also denken, wenn er mich hier rollig geworden, durch mein Bett rutschen hörte, so wie roch?
Der Traum begann wie fast immer. Kräftige, warme Männerhände, welche mit gespreizten Finger meine Wade hoch fuhren und zärtlich damit begannen meine Schenkel an den Innenseiten mit dem Daumen zu massieren.
Hm... Obwohl so ein paar Minuten konnte ich mir bestimmt gönnen. Immerhin lag das arme Opfer ohnehin im Tiefschlaf und würde nicht so bald erwachen.
Seufzend streckte ich Arme, so wie Beine, wobei ich letztere ein wenig spreizte, um dem Objekt meiner Begierde ein wenig mehr Freiraum zu gewähren. Offenbar nahm der gesichtslose Traumtyp meine Einladung bloß zu gerne an, denn ich fühlte, wie eine seiner Hände höher glitten, über meinen nach oben gerichteten Hintern hinweg und die dünne Decke ein wenig zur Seite schoben, sodass mein blanker, weißer Hintern gut sichtbar war.
Als ich ein wenig meine Augenlider hob, erkannte ich, dass sich das silberne Licht des Mondes fast gespenstisch auf dem schwarzen Fell meines Traummannes spiegelte. Es wirkte so surreal, dass es mir bestätigte, was ich bereits wusste. Ich träumte. Das hier ist eine Ausgeburt meiner schmutzigen, doch immer gut verschlossenen Fantasie, welcher mein Unterbewusstsein hin und wieder nachging. Dementsprechend träumte ich auch immer bloß von einer Person. Nicht menschlich, aber auch nicht vollständig Katze. Ich erinnerte mich bloß noch an sein seidiges Fell, das fast dunkler als Schatten selbst gewesen war, unten in der Kanalisation, Minuten bevor das große Unglück geschehen ist.
Natürlich kannte ich sein Gesicht nicht, immerhin hatte er sich als Fellknäuel zusammengerollt gehabt und bloß grün reflektierende Augen hatten mir bestätigt, was ich angenommen hatte. Ein Gestaltwandler. Um genauer zu sein, ein schwarzer Leopard, oder Jaguar. So genau hatte ich dies im dunklen, so wie als Kind nicht unterscheiden können. Trotzdem fühlte ich ihn jetzt wieder direkt hinter mir aufragen. Größer, männlicher, stämmig gebaut und Muskeln genau an den richtigen Stellen, so wie es mir gefiel. Zumindest in diesen Träumen. Fest umklammerten seine Handflächen meine Pobacken, sodass ich angeturnt kichern musste. Dafür erhielt ich einen zärtlichen Kuss in die Beuge zwischen meinem Rücken und meinem Hintern. Dieser Kuss glitt tiefer. Seine Zunge begann eine unverkennbare Zeichnung über meine linke Backe zu zeichnen, bevor er herzhaft hinein biss, sodass ich erschrocken aufschrie, während der Polster dies dämpfte.
Es tat weh, ja. Aber gleichzeitig erfüllte mich der Schmerz mit einer Lustwelle, welcher ich mich selig entgegen wand. Sofort fühlte ich das Schmunzeln seiner weichen Lippen auf meiner Haut, ehe mein Traummann mich an meinen Hüftknochen auf die Knie zwang. Ich wimmerte ein wenig, da mir diese Position sehr unangenehm war. Am liebsten wollte ich mich umdrehen, um seinen Körper zu ertasten, ihn zu riechen und zu schmecken, doch mein Traummann gab mir keine Chance. Bevor ich mich aufrichten konnte, hatte er schon sein Gesicht in mein bereits feuchte Tal gepresst und leckte mit seiner leicht rauen Zunge von vorne nach hinten, zu dem noch immer jungfräulich geblieben Ort, an dem er ohne zu zögern mit ihr eindrang.
Keuchend drückte ich meinen Rücken nach vorne durch, um ihm eine bessere Möglichkeit zu bieten, mich aufzulecken, als ich auch schon seine schwieligen Finger an meinem höchst sensibelsten Punkt fühlte.
Panisch krallte ich mich in mein Bettzeug. Und ja, eigentlich sollte es mir fürchterlich unangenehm sein. Ich bin vollkommen erschöpft in mein Bett gefallen und nebenan lag ein mir fremder Patient, doch da dies ohnehin bloß ein Traum war, verflog dieser Gedanke fast sofort wieder.
Plötzlich begann es. Dieses unvergleichliche Schnurren, welches Theriantrophen bloß bei den ihnen vertrauten, verlauten lassen, bebte in heftigen Wellen durch meinen Unterleib. Es erhitzte meine heilige Mitte so schnell, dass ich unvorbereitet aufschrie, als ich kam. Heilige Scheiße... Ich hoffte dieser Orgasmus war nicht bloß ein Traum, sondern hatte mich auch in der Realität mit derselben Intensität überrollt. Auch wenn ich dies nicht wirklich glaubte. Traum ist Traum... In der Realität gab es so etwas Tolles bei mir niemals.
Genüsslich schmatzend zog mein Traummann seine Zunge aus mir heraus und hauchte mir einen Kuss auf den Punkt zwischen meinen Beinen, welcher gerade überfordert worden war. „So lecker...“ Hauchte er und leckte gar noch einmal über das sich heftig pulsierende Loch, ehe er mit einem Finger in mich eintauchte.
„N-Noch nicht!“ Bettelte ich, da es unangenehm zog, während ich noch immer diese heiß pulsierenden Wellen genoss. Der Traummann jedoch ließ sich nicht aufhalten. Er zog seinen Finger wieder heraus und ließ sich von meinen massierenden Kontraktionen wieder einsaugen. Küsste meinen Rücken, streichelte meine angespannte Brust und rieb etwas brandheißes an meinem Schenkel.
„Schon gut...“ Hauchte er liebevoll in meinem Nacken, bevor er mich mit seinem zweiten Finger etwas weiter spreizte. „Ich träume schon so lange von deiner seidig, weichen Haut.“ Es war das erste Mal, dass mein Traummann in meinen Träumen mit mir sprach. Interessant...
Etwas in meinem Brustkorb flatterte aufgeregt bei diesen Worten. „Oh, ja!“ Stöhnte ich und begann langsam meine Hüfte seinen Fingern entgegen zu bewegen. „Du bist so heiß! Es ist, als würdest du mich verbrennen.“ Gab ich zu, etwas was ich der Realität ebenfalls niemals tun würde. Eher würde ich vor Scham im Erdboden versinken.
Ich hörte sein selbstzufriedenes Lachen an meinem Ohr. „Würde es dir angst machen, wenn ich dir verspreche, dass ich noch heißer sein kann?“
Lüstern erbebte ich bei dieser Vorstellung in meinem Kopf. Mir war durchaus bewusst, wie er das meinte und hatte absolut nichts dagegen. In meinen Träumen niemals. Dort durfte er alles mit mir machen, was er wollte. Und ich mit ihm.
Es enttäuschte mich etwas, als er seine Finger wieder aus mir hinauszog, daher rieb ich meine Finger an seiner Hüfte um im zu zeigen, dass ich wollte, dass er weitermachte. „Langsam, Babe.“ Der Traummann hörte auf damit, mit seiner linken Hand eine meiner Brüste zu massieren und streckte dafür seine rechte nach meinen Lippen aus. „Leck sie für mich sauber.“
Verlegen strich ich mein Haar zurück und nahm seine Finger zögerlich in den Mund. Es war das erste Mal, dass ich mich selbst schmeckte. Es war... ein wenig herb. Zudem schmeckte ich nach etwas, das mir noch unbekannter war, als mein eigener Geschmack. Es war etwas Salziges, erinnerte mich an etwas Männliches. Als ich genüsslich an seinen Fingern zu saugen begann und sie mit meiner Zunge neckisch umspielte, keuchte mein Traummann angetan und begann damit selbst an meinem Ohr zu knabbern und lecken, während sich etwas festes zwischen meinen anderen Lippen bewegte.
Schaudernd saugte ich noch fester an seinen Fingern, krallte mich erwartungsvoll in das Bettlaken und gab willige Laute von mir, doch der Traummann ließ sich Zeit. Er brachte es nicht sofort hinter sich, sondern spreizte erstmal weiterhin mittels zwei Fingern die Spalte zwischen meinen Beinen und glitt dann quälend langsam durch das feuchte Tal. Es war das erste Mal, dass ich >es< spüren konnte. Seine ganze Länge, geprägt von seiner Hitze. Nicht dass ich nicht bereits oft genug einen Penis aus Versehen, oder absichtlich zu sehen bekommen hatte. So etwas konnte einem mit männlichen, nicht gerade prüden Models immer einmal passieren. Aber ihn auch leibhaftig in meinem privatesten Gebiet zu fühlen, für das er geschaffen war, machte mich ein wenig nervös.
Würde es in meinem Traum ebenfalls wehtun? Nein, immerhin ist es bloß ein Traum. Mein Traum, mit meinem perfekten Mann!
„Ich will dich schon so lange!“ Bettelte ich und fuhr mit meiner Hand nach hinten, in sein überraschend sprödes Haar um ihn fester an mich zu ziehen. Seltsam wie real sich solche Träume anfühlen konnte, wenn man erst vor kurzem das Haar eines Mannes gefühlt hatte. Das Unterbewusstsein war in meinen Augen schon immer ein unbeschreibliches und beeindruckendes Gebiet gewesen. Besonders da ich mich gerade bei meiner erworbenen Kreativität darauf verließ.
„Du bist noch zu eng und ich will dir nicht wehtun.“ Hauchte er in meinen Nacken. Jedoch um seinen Worten entgegen wirkend, entschied ich selbst ein wenig nachzuhelfen. Langsam tat diese gebeugte Stellung in meinem Rücken nämlich etwas weh. Ich ließ meine rechte Hand, auf der ich mich im Moment nicht stützte unter meinem Körper hindurch wandern und umfasste ihn genau in dem Moment, in dem er sich nach vorne schob.
Stöhnend zog sich mein Traummann wieder zurück, bloß um gleich darauf wieder in meine Hand zu stoßen, was endlich einmal mir ein wissendes Lächeln entlockte. Jedoch wurde mir dieses Lächeln sofort wieder gestohlen, als mir bewusst wurde, sein bestes Teil doch ein Tick größer war, als erwartet. Zweifel machten sich in mir breit, wie dieses scheinbar unnachgiebige Stück Fleisch bloß in mich hinein passen sollte und mir wurde bewusst, dass ich große Schmerzen haben würde.
Diese Sorgen wurden jedoch sofort im Winde zerstreut, als mein Traummann sich aus Versehen zu weit zurückzog und mit seiner feuchten Spitze gegen meinen Eingang stieß. Gleichzeitig keuchten wir vor Verzückung auf. Himmel, zu gerne könnte er genau an diesem Punkt weitermachen. „Bitte!“ Ich stemmte mich nun mit beiden Armen auf, sodass ich auf allen vieren Stand. „Ich will dich jetzt!“
Dem Nachdruck in meiner Stimme konnte er keinen widerstand leisten. Oder hatte er selbst einfach keine Geduld mehr übrig? Daher schlang er einfach seinen linken Arm um meinen Bauch, hob meine Hüfte etwas höher und positionierte sich vor dem Punkt, welcher sich für mich bereits so anfühlte, als würde er davon fließen. Das war zweifellos seine Schuld. Wegen ihm fühlte sich meine Mitte so an, als wäre irgendwo in ihr ein Damm gebrochen und würde bloß darauf warten, dass er es stopfte. Und das nicht auf die netteste Tour.
„Verspann dich nicht.“ Riet er mir noch, ehe seine Spitze auch schon eindrang. Mir wurde sofort bewusst, was er damit meinte. Jetzt da mich keine Wellen mehr überschwämmten, wollte ich, ähnlich wie wenn ich mir ein Ob einführte, ihn sofort blocken. Trotz des angewohnten Instinktes, versuchte ich mich zu entspannen. Legte meinen Kopf zurück auf den Polster und überließ meinem Traummann vollständig die Führung, während ich versuchte, nicht zu schreien.
Scheiße... Mein Traum verwandelte sich sofort in einen Albtraum, denn es fühlte sich so an, als würde man mich in der Mitte auseinanderreißen wollen. Zwar wusste ich es besser und mir war klar, dass es bloß am Beginn so sein würde, doch in diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, als endlich wieder aufzuwachen.
Ich wollte zurück in meine sichere Realität, dort wo ich mich niemals einem Mann in dieser Stellung anbieten würde. Geschweige denn in irgendeiner anderen.
Jedoch trotz meines kurzzeitigen Unwillens, so wie des unnagenehmen Schmerzes, merkte ich schon bald, dass dies alles verging. Der Schmerz verblasste und ich fühlte mich endlich einmal vollständig. Tief seufzend, atmete ich durch. Mein Traummann wartete geduldig auf meine Reaktion, welche darin bestand, auffordernd mit meinem Hintern zu wackeln.
„Zur Göttin... Du bist so eng.“ Keuchte mein Traummann eine Sekunde später, als er sich aus mir zurückzog, ehe er sich wieder genüsslich einnistete. Dankbar ihn nicht in sein nicht existentes Gesicht sehen zu müssen, vergrub ich mein eigenes im Kopfpolster, während ich mich dem allbekannten und Jahrmillionen alten Rhythmus des Lebens anpasste.
Meine Freundinnen hatten also recht behalten. Das erste Mal war nicht unbedingt etwas tolles. Zumindest nicht zu Beginn. Jedoch je länger sich mein Traummann nun bewegte umso besser wurde es. Ich konnte wortwörtlich jeden Zentimeter fühlen, mit welchem er sich immer schneller werdend in mir bewegte. Auffordernd, da er manchmal ein wenig langsamer wurde, bewegte ich mich ihm entgegen, sodass einmal ich alleine mich ihm entlang bewegte. Genüsslich stöhnend, packte er meine Hüften fester und bewegte meinen Hintern so weit weg von sich, sodass bloß noch seine Spitze in mir steckte. Dann zog er mich ruckartig an seinen Körper zurück, sodass Fleisch auf Fleisch klatschte und er sich tief in mir versenkte. Gleichzeitig keuchten wir genüsslich auf.
Erneut schob er mich von sich fort. Dieses Mal jedoch so weit, dass er gänzlich hinaus rutschte. Ein wenig empört darüber an diesem guten Punkt einfach aufzuhören, dreht ich meinen Kopf um. Jedoch konnte ich mich nicht gleich beklagen, da mein Traummann mich vollständig herumdrehte, sodass ich nun aufrecht direkt vor ihm kniete. Etwas verblüfft stellte ich fest, dass mein Traummann heute sogar ein Gesicht bekommen hatte. Verblüfft streichelte ich über seinen lediglich mit der Schere geschnittenen Bart. „V-Vetjan?“
Glücklich lächelnd, zog er mich an seine noch immer von Blutergüssen geprägt Brust und schlang beide Arme um mich. „Mein niedlicher Rotfuchs.“ Schnurrte er an meinem Hals, während er mich zärtlich liebkoste. Seufzend legte ich ihm meinen Hals dar, damit er mich besser küssen konnte, während er sich auf seinen Hintern sinken ließ. Ich bemerkte kaum, wie er seine Beine zwischen meinen Füßen ausstreckte und mich über sich zog, bis ich auf seinem Bauch hockte und sein bestes Stück sich gegen meinen Hintern drängte. „Ich liebe deine Haut.“
Ich konnte die Ehrlichkeit in seinen Worten heraushören. Zudem wurde mir bewusst, dass auch mir nun mehr Bewegungsfreiheit zustand. Meine Finger nutzten diese Chance und gingen auf Wanderschaft. Auch wenn sie bereits wussten, wie gut gebaut der dunkelhäutige Theriantroph war, so war die Erlebnis ihn zu fühlen, gleich etwas gänzlich anderes.
„Ich will dich wieder in mir, Vetjan.“ Hauchte ich, als er gerade meinen Nippel zwischen seine Lippen sog. Sofort hörte er damit auf und grinste zu mir hoch.
„Dann nimm dir von mir, was du willst. Ich gehöre ganz dir.“
Vor Aufregung wurden meine Augen ganz groß. Er überließ mir die Führung? Was sollte ich zuerst machen?
Ich entschied, erst einmal das zu tun, was mein Traummann und ich bisher immer ausgelassen hatten. Mit einer Hand schob ich mein langes Haar zur Seite, dann beugte ich mich, an seinen breiten Schultern abstützend, über sein zerschrammtes Gesicht. Zärtlich bettete ich meine Lippen auf seine und genoss es, dass seine Finger meinen Rücken ertastend, darüber strichen. Seufzend vertiefte er den Kuss, spornte mich zu einem schnelleren Tempo an, indem er seinen Schwanz an meiner Rückseite rieb und ich rutschte automatisch weiter nach hinten, bis er wieder gekonnt durch meine überhitzte und nasse Spalte streichen konnte.
Stockend keuchte Vetjan an meinem Mund, was ich als Einladung auffasste, um seinen Geschmack zu erkunden.
Der Traum-Vetjan zog mich noch enger an sich, bis meine Brüste bei jeder Bewegung seinen Oberkörper entlang rutschten. Der Schweiß machte uns beide bereits so glitschig, dass unsere Haut aneinander entlang glitt. Fast ein jeder unserer Körperteile, rieb aneinander, leckte oder saugte, bis ich es kaum noch aushielt. Ich fühlte, wie sich mein Körper spannte bei dieser erotischen Reibung, den Geräuschen unserer Leiber. Und dann... fühlte ich ihn wieder in mir. Traum-Vetjans heiß pulsierender Knochen, glitt ohne Mühe in mein, ihn fest umschließendes Fleisch ein, und ich bewegte mich von selbst auf seinem Schoß auf und ab. Mit Armen und Beinen, klammerte ich mich an seinen großen Körper, welcher sogar meiner Größe Konkurrenz machte. Ich zog ihn in einem immer schneller werdenden Rhythmus tiefer und tiefer in mich hinein. Meine Lippen fest auf seine gepresst, um nicht meine freudige Erwartung auf meinen Höhepunkt hinaus zu schreien und damit aus versehen den echten zu wecken.
Traum-Vetjan half mir dabei. Er zog mich immer fester zurück, wann immer ich mich von ihm fortbewegte. Irgendwann verlor ich völlig die Kontrolle. Ich konnte nicht mehr denken, sondern reagierte bloß noch. Stellte erstaunt fest, nachdem sich der Gestaltwandler auf einem Arm zurückgelehnt hatte und mir mit dem anderen bei meinem Gleichgewicht half, wie ich immer höher abhob. Mit großen Augen verfolgte ich das glitschige Schauspiel der Stelle, an welcher wir uns verbunden hatten. Erkannte, dass Vetjan immer weiter aus mir herausglitt, bis er einmal für einen Sekundenbruchteil völlig entschwunden war. Dann landete ich auch bereits klatschend auf seinem Schoß, mit einem Mal vollgefüllter als zuvor und tiefer in mir drinnen, als vermutlich gut für meinen Unterleib war, versank er in mir, während ich ein lautes „Ja!“ herausbrüllte. Hemmungslos erbebte ich durch den letzten, viel zu intensiven Aufschlag, presste Arme, Beine und jeden einzelnen Muskel um seinen dunklen Körper, um bloß nicht aus dieser Welt gerissen zu werden. Verzweifelt versuchte ich, einen Anhaltspunkt zu finden, an dem ich mich orientieren konnte. Aber in diesem Moment hatte die Welt kein Oben und Unten mehr. Es gab bloß noch diese brennende Hitze, welche meinen Leib erfüllte, meine Innereien zum Kochen brachten und diese heftigen Wellen, welche uns beide erschütterten.
Keuchend vor Anstrengung, ließ sich mein Traum-Vetjan auf das völlig zerwühlte Bett sinken, während er noch immer heftig pulsierte und meine Muskeln ihn auffordernd massierten. Verschwitzt, doch mit einem Seelenfrieden, den ich noch nie gespürt hatte, bettete ich meinen Kopf auf seinen Brustkorb, genoss es, wie seine Finger liebevolle Bahnen über meinen Rücken zogen.
Wie lange wir so lagen, konnte ich nicht sagen. Auch nicht wie lange ich noch pulsierte, doch es fühlte sich übertrieben lange an, für einen Traum, welcher eigentlich an diesem Punkt enden sollte.
In der Erwartung jeden Augenblick aufzuwachen und festzustellen, dass ich etwas unheimlich Peinliches geträumt hatte, schloss ich meine Augenlider und lauschte dem rasendem Herzen unter mir, so lange, bis ich in wenigen Minuten auch bereits in den nächsten Traum gezogen wurde. Und den Nächsten...

 

- - - - -

 

Scheiße!

Es war das erste Wort, welches mir durch den Kopf ging, sobald ich mich wegen dem Stand der Sonne, welche mein Zimmer bloß Nachmittags erreichte, wegdrehte. Keuchend schob ich meine Schenkel auseinadner, in der Hoffnung, der Schmerz würde gleich wieder vergehen. Bestimmt bloß ein Krampf... er würde vergehen und...
Nein! Moment! Dämlich grinsend streckte ich mich. Wow, was waren das denn für Träume gewesen? Noch immer konnte ich schwören, dass ich Schmerzen zwischen meinen Beinen habe. Doch diese Schmerzen sind doch nicht real gewesen, ich hatte sie mir bloß eingebildet... oder? Nein... Sie sind noch da.
Mein Lächeln verging und ich griff mir fluchend dazwischen. Ich war überraschend feucht, was kein Wunder nach dieser Nacht war, doch auch an meinen Oberschenkeln fühlte ich getrocknete Flüssigkeiten, mein Hals war rau und mein Körper fühlte sich nach Schweiß an, während ich den eindringlichen Geruch zweier Personen wahrnahm.
Ruckartig saß ich aufrecht und fauchte wütend den Körper an, welcher bis jetzt noch ausgestreckt neben mir gelegen hatte. Nun war auch dieser wach, halb verwandelt und blickte sich fauchend nach einer drohenden Gefahr um.
„Was suchst du in meinem Bett?“ Schrie ich den dunkelhäutigen Gestaltwandler an.
Langsam klärte sich sein Blick wieder und er musterte mich eingehend. Seine Augen wanderten auffällig interessiert, meinen nackten, geschundenen Körper hinab, bevor sich sein Raubtiergebiss zurückzog und er wieder ein scheinbar ganz normaler Mann wurde. „W-Was... Was hast du getan?“
Meine Panik gewann die Überhand, als ich das Blut zwischen den Laken bemerkte und mir bewusst wurde, dass ich nicht einfach bloß geträumt hatte.
„Wie heißt du?“
Meine Panik verwandelte sich für einen Sekundenbruchteil in Verwirrung. Das war nicht unbedingt die erste Frage die man stellte, nachdem man jemandem die Jungfräulichkeit gestohlen hatte! Meine Panik wurde zu Zorn. „Du Scheißkerl! Verpiss dich!“ Ich schlug wild um mich, fetzte einen Polster so stark gegen ihn, dass er vom Aufschlag rückwärts aus dem Bett geworfen wurde. „Verschwinde du Schwein! Fass mich ja nicht an!“
Mit Tränen in den Augen, zog ich die Decke über mich, welche sich fließend an meinen Körper schmiegte. Nicht unbedingt der Schutz, den ich im Moment benötigte, doch er musste ausreichen.
Schniefend griff ich nach dem letzten Polster, welcher noch auf dem Bett lag, denn alle anderen hatte ich bereits verschossen, und presste mein Gesicht in ihn. Gleichzeit kam jedoch die Erinnerung wieder hoch, dass ich vermutlich in jeden dieser Polster heute Nacht bereits mein Gesicht gepresst hatte und warf auch diesen fort, während sich die Türe hinter dem Theriantrophen leise schloss.
Scheiße! Scheiße! Was hatte ich bloß getan? Oder nein, was hatte Vetjan getan? Wieso... Nicht einmal Therianthrope, egal wie sehr sie verstoßen wurden, würden jemals eine Frau oder einen Mann zu so etwas zwingen. Andererseits, ich hatte mich auch nicht großartig gewehrt. Nur allzu bereitwillig hatte ich ihn eingelassen, mich an ihn geklammert und gebettelt er möge... Nein! Das genügte. Wenn ich bloß daran dachte, wovon ich angenommen hatte, es wären Träume, wollte mein verräterischer Körper mehr davon.
Ganz und gar falsch! So etwas tut eine Haven Ridder einfach nicht! Niemals! Nie! Nur über meine Leiche! Punkt aus!
Von der Decke >geschützt< glitt ich aus dem Bett, welches in mehr als einer Weise wiedergab, was heute Nacht darauf geschehen war und lief ins Badezimmer, um mich lange zu duschen. Währenddessen verheilten meine Wunden langsam wieder. Meine Beine wurden kräftiger, mein Innerstes hörte auf zu brennen und mein schockierter Geist beruhigte sich.
Bestimmt gab es für das alles eine ganz rationale Erklärung. Klar, Vetjan war schwer verletzt worden, er wäre in der Kanalisation verstorben, hätte ihn Lyria nicht zu mir gebracht. Silber ist eines der wenigen Sachen, die der Körper eines Therinantrophen nicht ausstoßen konnte. Er hätte nach Tagen an Fieber und Krämpfen leidend, einfach aufgegeben. Vergangenen Abend hatte ich ihn gepflegt und versprochen für ihn da zu sein, wenn er etwas bräuchte. >Das< jedoch war nicht in meiner Versprechung inklusive. Das würde ich ihm jetzt auch genauestens vorhalten.
„Oh Scheiße!“ Stieß ich erschrocken hervor, als ich Vetjan auf meinem dunklen, aus massiven Holz bestehenden Küchentisch vorfand. Er stand aufrecht, in seiner Zwischenform auf den Zehenspitzen und angelte nach den glitzernden Sternen meines Leuchters. „Was tust du denn da?“
„Sind das echte Sterne?“ Stellte er als Gegenfrage, bevor er seinen blanken Hintern endlich abwande, in den ich mich heute Nacht leidenschaftlich gekrallt hatte. Langsam ging er wieder in die Knie und schwand in seine menschliche Form, die mindestens genauso beeindruckend war, wie die als Halbwesen. Leider konnte ich dabei bloß zu gut beobachten, wie sich sein Blut bei meinem Anblick, an einer gänzlich unpassenden Ort sammelte und anschwoll.
„N-Nein, die sind aus Glas. Jetzt geh bitte von meinem Tisch und.. Und... Da.“ Ich warf ihm eine Decke zu, damit er sie sich umwickelte. Stattdessen starrte er sie einfach bloß fasziniert an und roch daran.
„Hier riecht alles nach dir. Ist das dein Revier?“
„Es ist mein >Zuhause<, ja. Wickel dir doch bitte endlich die Decke um, ja!“
„Weshalb? Hier ist es so schön warm.“
Kopfschüttelnd versuchte ich meine Benommenheit wegzubekommen. Okay, ruhig Haven. Nur Mut. Redete ich mir tief durchatmend ein. Er ist bloß verwirrt, vermutlich auch ängstlich.
„Na schön, dein Name ist Vetjan, richtig?“ Sein Blick glitt von meinen Füßen wieder hoch zu meinem Gesicht. Ich hatte für dieses Gespräch wieder meine rechte Seite mit meinen Haaren bedeckt, damit er mich nicht als Bedrohnung ansah.
Langsam nickte er. „Ja, und du bist meine Gefährtin. Ich bin bereits seit Jahren auf der Suche nach dir.“
Beschwichtigend hob ich die Arme. Oh ihr Götter! Helft mir, das lief ja überhaupt nicht schräg ab. „N-Nein, ich bin das gewiss nicht. Ich bin bloß ein Halbblut, verwandelt durch einen Unfall. Doch ich kümmere mich um deine Leute und dich. Wenn ihr Hilfe braucht, so wie Lyria letzte Nacht, könnt ihr immer zu mir kommen. Sagt dir das etwas?“
Bei dem Namen seiner Schwester, zuckten seine Augen vom Anblick meiner Brüste hoch. Mensch... Selbst Gestaltwandler sind bloß Männer. Nett... „Lyria. Hat sie den Angriff überlebt?“ Sehr besorgt klang er nicht, während er vom Tisch kletterte und aufrecht auf mich zukam.
Um meinen gemeinen, verräterischen Körper zu schützen, stellte ich mich hinter die Bank. Sichtlich behagte Vetjan meine Abweisung nicht. Kein wunder, nach dieser Nacht! „Ja, sie ist heil aus dem allem herausgekommen. Aber weißt du vielleicht wer euch angegriffen hat? Sie war letzte Nacht zu durcheinander um...“
„Wieso weichst du vor mir zurück?“
Genervt stieß ich die Luft aus. Gerechtfertigt sehnte ich mich gerade in diesem Moment nach meiner gewohnten Abgeschiedenheit. „Weil ich menschlich erzogen worden bin. Wir mögen es nicht, wenn Fremde in unseren persönlichen Bereich eindringen.“ Persönlicher Bereich... Als ob er so etwas kennen würde.
Geschickt sprang er über das Ledersofa, sodass ich nun zwischen dem Bücherregal, welches als Trennwand diente und dem Panoramafenster eingekeilt war. „Wir sind nicht Fremd. Wir gehören zusammen. Ich dachte, das wäre dir letzte Nacht ebenfalls bewusst geworden.“
Mein Körper erschauderte bei der Erinnerung. Oh ja, wir hatten tatsächlich perfekt zusammen gepasst. A-Aber das war nicht dassselbe! „V-Vetjan! Warte, du kannst nicht einfach bestimmen wenn...“ Er überwandt den letzten Meter welcher uns noch trennte, nahm mein Gesicht zwischen seine dunklen Hände und küsste mich unverblümt auf den Mund.
Der Schauder in mir verwandelte sich in ein erregtes Keuchen, als seine Hände auf Wanderschaften gingen und mich fest an ihn zogen. Für einen Moment vergaß ich vollkommen, dass er ja eigentlich ein Fremder ist. Überseht mit Bakterien aus der Kanalisation... obwohl mir letzteres egal sein konnte, dank meiner Heilfähigkeiten. Infektionen oder Geschlechtskrankheiten gab es bei Gestaltwandler prinzipiell nicht. Und dass mein cremfarbenes Kleid einige dunkle Spuren erhielt, war mir in diesem Moment ebenfalls egal.
Das kühle Glas in meinem Rücken war ein deutlicher Kontrast zu seiner erhitzten Statur, welche sich ohne Scham an mich presste. Genüsslich seufzte ich als sein Finger zum Saum meines knielangen Kleides wanderten, um es anzuheben. Mit Schwung packte er mich, ohne damit aufzuhören, mich zu küssen und setzte mich am Rücken der Bank ab, während er ein Knie zwischen meine Schenkel drängte.
„N-Nein! Aus!“ Hastig riss ich mich los von Vetjan. Zum Himmel, was hatte mich bloß getrieben, mich von ihm anfassen zu lassen? Schon wieder! Und dann auch noch bereitwillig mitzumachen? Nein! Das ging überhaupt nicht! Das war... flasch! Und das auf so viele weisen!
Jedoch vergaß ich, während ich versuchte, mich ihm zu entziehen, dass ich lediglich auf der Rückenlehne des Sofas saß, verlor das Gleichgewicht und fiel quietschend zurück auf den in leder gefassten Polster. Seufzend blieb ich einen Moment dort liegen, während ich überlegte, wie ich dieses Thema strickter angehen könnte.
„Ich mag diese Position.“ Schnurrte Vetjan plötzlich. Ich hob den Kopf und stellte fest dass nun, da meine Beine noch immer oben lagen, er einen tollen Einblick unter mein Kleid haben musste. Hastig zog ich sie an und rollte mich vom Sofa, um wieder auf die Beine zu kommen. Vetjan folgte mir auf den Schritt.
„Okay, das reicht. B-Bleib da bitte stehen und hör auf mir zu folgen!“
„Ich will dich aber wieder berühren. Du fühlst dich so seidig an und schmeckst lecker. Ich will dich noch einmal zwischen deinen Beinen...“
„Nein!" Meine Stimme klang unnatürlich schrill. "Unter keinen Umständen! Denk noch nicht einmal dran!“ Bat ich, während mein Gesicht vollständig rot anlief.
Enttäuscht verzog der Gestaltwandler das Gesicht. „Aber dir hat es doch auch gefallen.“
D-Das wollte ich ja auch nicht abstreiten um ehrlich zu sein. Alleine der Gedanke daran ließ mich an meinem Widerwillen zweifeln. Und dieser unfassbar getroffene Ausdruck in Vetjans Gesicht... Die zusätzlich noch zuckende Regung zwischen seinen Beinen...
Trotzdem! Nein! Punkt! Aus!
Mühsam zwang ich meinen Blick auf Vetjans Gesicht geheftet zu bleiben. „Ich weiß nicht für wen du mich hälst, Vetjan. Aber ich habe letzte Nacht bloß dein Leben gerettet. Du musst mir nicht auf... diese Weise danken. Mir wäre es lieber, wenn du mir erzählen würdest, was überhaupt passiert ist? Wer hat deinen Clan angegriffen.“
Sichtlich verstimmt ließ sich Vetjan auf mein Sofa fallen, dass sein bestes Stück dabei ansehnlich hervorragte, schien ihm nicht einmal bewusst zu sein. Verdammte Theriantrophe. Manchmal fragte ich mich ernsthaft, weshalb ich mir überhaupt diese Mühen machte? Klar, sie hatten nicht dieselben Erziehungen genossen, wie ich, waren nicht ansatzweise so prüde. Aber jemand wie Vetjan ist mir auch noch nie über den Weg gelaufen. Ich würde einem Theriantrophen als Gefährtin wegen meiner Andersartigkeit nicht einmal ansatzweise in den Sinn kommen! Das verstieße bei ihnen gegen jegliches Verständnis. Weshalb also... Was dachte Vetjan nur von mir? Vielleicht lag es ja dem Schock der letzten Nacht?
„Vetjan?“ Versuchte ich es erneut, woraufhin er mich neugierig musterte.
„Ich habe mich nicht mit dir gepaart, weil ich mich dir verpflichtet fühle. Ich tat es, weil du mein Himmel bist.“
„Himmel?“ Wiederholte ich und dachte dabei an meinen Namen. „Du meinst, meinen Namen? Haven?“
„Nein und ja.“ Korrigierte Vetjan mich, was mich bloß noch mehr verwirrte. „Du bist >mein< Himmel.“ Er fasste sich dabei an die Stelle, wo sein Herz saß. „Ich habe dich gesehen, als ich jünger gewesen bin, bevor du zum Halbling wurdest.“
Erschrocken zuckte ich bei seinen Worten zusammen. Meinte er... N-Nein, das wäre ein zu großer Zufall. Ich meine... Wie groß ist die Stadt? Geschweige denn die Kanalisation, welche darunter lag. Und die meisten Theriantrophe hatte ich noch nicht einmal getroffen.
„Ich... Ich kann nicht...“ Mir fehlten die Worte. Ehrlich gesagt wusste ich ja noch nicht einmal, was ich von ihm halten sollte. Was war Vetjan wichtig? Sorgte er sich nicht um die anderen? Kümmerte es ihn überhaupt, wo er sich aufhielt?
Normalerweise reagierten Theriantrophe immer feindlich wenn sie sich in einer fremden Umgebung aufhielten. Vetjan wirkte, abgesehen von seinen offensichtlichen Verletzungen, recht gefasst und neugierig.
„Vetjan, ich weiß wirklich nicht für wen du mich hälst. Aber ich versichere dir, dass ich nicht einmal ansatzweise als Gefährtin in Frage komme.“ Ich verschränkte meine Arme vor dem Brustkorb und warf mit einer Kopfbewegnug meine Haare zurück. „Ich bin, wie gesagt, ein Halbblut. Ich habe keine weiteren Formen. Ich bin keine von euch.“
Mühsam zwang ich mich, egal wie sehr diese Worte mich auch immer noch verletzten, Vetjan in die Augen zu sehen. Was ich erkennen durfte, überraschte mich. Er lächelte mich glücklich an!
„Am Tag sehen sie sogar noch schöner aus.“
Verwirrt blickte ich an mir herab, da ich keine Ahnung hatte, was er meinen könnte. An meiner linken Gesichtshälfte pragten noch immer die tiefen Narben der Krallenspuren, welche sogar meinen Knochen durchtrennt hatten. Aus diesen Narben stach mitten in meinem Auge, die grüne große Iris hervor, welche ich nie verbergen konnte und deshalb bloß mit meinen Haaren, oder einer Sonnebrille vor normalen Menschen verbarg. Theriantrophe störten diese Narben nicht. Sie bewunderten diese eigentlich sogar, da sie bewiesen, was für ein starker Kämpfer man war, sich gegen jemanden verteidigt zu haben. Sie trugen die ihren aus Stolz, da ohnehin bloß selten welche zurückblieben.
Im Gegensatz zu dieser linken, war meine rechte Seite völlig normal geblieben. einige blasse Sommersprossen hoben sich von meiner hellen Haut ab und ein hellblauer Irisring umschmeichelte meine runde Pupille. „Was meinst du?“
Als ich wieder fragend aufblickte, stand Vetjan direkt vor mir und umfasste meine Wangen mit einen überraschend sanften Griff. Erschrocken wollte ich zurückweichen, doch sein Blick bannte mich so schnell, dass ich auf der Stelle wieder vergaß, weshalb ich überhaupt weichen sollte. „Der Himmel. So sehe ich ihn immer.“
Theriantrophen gingen nicht mehr ans Licht. Hin und wieder stahlen sich abermutige Teenager nachts aus der Kanalisation um den Mond bewundern zu können, doch Tageslicht, oder den hellen wolkenlosen Himmel, betrachtete von ihnen niemals jemand. Natürlich... Himmelblaue Augen, mein Name ist Haven... Davon sprach er also. Deshalb nannte er mich >seinen Himmel<. Aber das bedeutete ja dann... „Du warst das damal in dieser Röhre.“
Also doch. Im Gegensatz zu mir, erinnerte er sich noch ganz genau an mich. Ich war danach zu traumatisiert gewesen und konnte mich nicht einmal mehr so genau erinnern, wie ich durch das Tunnelsystem gegangen bin. Doch sein verschreckter Anblick... Diese ängstlichen grünen Augen und das Fell, dunkler noch als die Schatten selbst, hatten sich in mein Unterbewusstsein eingebrannt wie das hell lodernde Feuer, welches bei seiner Berührung durch meinen Körper raste.
Im Gegensatz zu den etwas höher temporierten Theriantrophen, hatte ich eine normale, menschlichere beibehalten. Zumindest seit dem letzten Fieber vor zehn Jahren, welches mir die theriantrophische DNA eingebrannt hatte.
„Ä-Ähm... Soll ich später noch einmal kommen?“
Nun waren es Vetjan und ich gleichzeitig, welche erschrocken zusammenzuckten, als Idunas spottende Stimme erklang.
Hastig entfernte ich mich von dem Gestaltwandler. „Iduna! Du bist ja schon zurück!“ Stellte ich begeistert fest. „Iduna, das ist Vetjan, der Notfall welcher gestern rein gekommen ist. Vetjan, meine kleine Schwester Iduna.“
„Eine Jägerin!“ Knurrte er wütend.
Iduna hielt sich die Hand zielgenau vor den Blickwinkel, welchen sie nicht unbedingt sehen wollte. „Ich liebe diese Begrüßungen. Theriantrophen sind ja so herzlich, nicht wahr.“ Grinste sie in meine Richtung.
„E-Er hat mich nur wiedererkannt. Wir haben überhaupt nichts getan!“ Rechtfertigte ich mich, obwohl ich wusste, Iduna würde sofort merken, wenn ich log.
„Genau...“ Bemerkte sie langgezogen. „Ich bin eigentlich bloß am Sprung. Darf ich mir deine Kreditkarte ausleihen?“
Ich zuckte bloß mit den Schultern. „Mach ruhig, aber du kennst deine Shoppinggrenze!“
Iduna ächzte genervt, während sie zu meiner Handtasche ging um darin nach meinen Karten zu wühlen. ich selbst ging auf Vetjan zu, welcher sich bereits wieder in seiner halben Verwandlung befand. „Und dich werden wir einmal ganz schnell einkleiden, damit wir zu deiner Schwester kommen.“ Hoffentlich konnte man mit der nun endlich normaler sprechen, als mit... >ihm<.
Kaum hatte ich die Türe meines Schlafzimmers hinter dem dunklen Riesen geschlossen, glitt er zurück in seine menschliche Form und griff in mein noch feuchtes Haar. Stimmt... ich hatte es ja überhaupt nicht geföhnt, bloß eine Weile trocken gerubbelt und gekämmt.
Gegen meinen Willen bescherte mir der Grund >weshalb< meine Haare erneut gewaschen werden mussten, einen wohligen Schauder. „Du bist so schön.“ Hauchte Vetjan und führte einige Strähnen meiner Haare an sein Gesicht um einen tiefen Atemzug zu nehmen. „Und du riechst so gut.“
Erneut verlegen geworden, löste ich seine Finger aus meinem Haar, da er damit begann über meine nackte Schulter zu streichen. „Okay, das reicht. Bitte hör auf mich anzufassen. Du musst... Nein, ich muss dir etwas zum Anziehen finden.“
„Wozu denn? Ich bin es gewohnt nackt zu sein.“
Ich stieß genervt die Luft aus. „Ich weiß! Das ist ja das Problem!“ An meinem Kleiderschrank angekommen, angelte ich nach der dunklen Sporthose. „Probier die an.“ Ich warf sie hinter mich, doch seltsamerweise landete sie an meinem Rücken. Dieses Mal, atmete ich extra lange aus, um mich zur Ruhe zu rufen. „Vetjan...“ Begann ich langgezogen und versucht freundlich.
„Bitte verzeih mir. Ich weiß, es ist eine Schande für dich, dass ausgerechnet ein Abnormer wie ich dein Gefährt sein muss. Aber alles was ich tun kann, ist dich gut zu behandeln und dir jeden Wunsch zu erfüllen, egal wie schwer oder riskant er auch sein wird. Ich würde niemals...“
„Stopp!“ Irritiert hielt ich ihn davon ab, weiterzusprechen. „Nein, nein! >Ich< bin ganz sicher nicht deine Gefährtin. N-Nicht das ich dich nicht mega hei... Du nicht gut gebaut und attraktiv bist, aber...“ Ich deutete auf meine zwiegespaltene Erscheinung. „In diesem Fall, währe ich alles andere, als eine gute Wahl für dich, mein Freund.“ Ich betonte das letzte Wort extra, damit er es auch ja verstand.
„Du bist durch und durch perfekt, mein Himmel.“ Sanft umfasste Vetjan meine Handgelenke und legte sie sich um den Nacken, sodass wir erneut Körper an Körper standen. „Du bist mit Abstand das schönste und exotischte Wesen, das ich jemals in meinem Leben gesehen habe, Haven.“
Wieder nahmen mich seine grünen Katzenaugen gefangen. Es war fast, als wären sie magnetisch und würden ständig, sobald sie aufeinander trafen, eine Festung erbauen, welche zu verhindern versuchte, das ich klar dachte und meine Gefühle völlig blank vor diesem Theriantrophen ausbreitete. „Und wenn du dich noch einmal so vorbeugst wie gerade eben, dann werde nicht mehr bloß auf Worte bauen, dass sie dich von der Aufrichtigkeit meiner Gefühle überzeugen.“
V-Vorbeugen? Meine Wangen füllten sich bei dieser Vorstellung mit Blut, doch das blieb nicht allzu lange so, da mein Rocksaum sich gegen meinen Willen höher schob, steigerte sich zusammen mit jedem Zentimeter, welcher entblößt wurde die Temperatur zwischen meinen Beinen, bis dieser Punkt den Höchststand erreichte.
Fast sprachlos geworden, brachte ich bloß noch ein keuchendes „J-Ja...“ hervor bevor auch bereits der dunkle Kasten gegen meinen Rücken drückte. Vetjan beugte sich langsam über mich, seine Hüfte, welche sich bereitwillig gegen meine drückte, hielt meinen Rock an der Stelle über meinem Becken, damit er freie Hände bekam, welche sich suchend über meinen Körper bewegten.
Ich selbst war zur Salzsäule erstarrt. Das einzige was ich tun konnte, war jede einzelne Bewegung viel zu intensiv wahrzunehmen. Jeden seiner Atemzüge, seine Finger, wie sie über meine Haut streichelten und seine Lippen... Gott in meinem Leben hatte ich noch nie so ein prickeln gefühlt.
„Haven...“ Hauchte er leise an meinen Lippen. „Du musst atmen.“
Keuchend schnappte ich bei dieser schalkhaften Erinnerung nach Luft. Stimmt Atmen... Sauerstoff! So etwas benötigte mein Körper ja ebenfalls noch. Insofern ich nicht spontan zu einem Vampir, oder Geist mutierte.
Mich innerlich tadelnd für diese peinliche Haltung von mir, erwiderte ich seinen Kuss, welchen er mir bloß aufgehaucht hatte, zögerlich. Bisher hatte ich noch nicht so viel Erfahrung im herumknutschen. Ja, ich hatte den einen oder anderen Kuss bereits bekommen. Aber so richtig intensiv... Ich konnte es ja selbst kaum fassen, dass Vetjan mir doch tatsächlich die Führung überließ. Weshalb nur? Letzte Nacht hatte er sich einfach genommen was er wollte und mir gegeben was ich brauchte.
Jetzt jedoch. Es war, als wäre er ganz plötzlich ein völlig anderer. So zögerlich... Na gut, ich bin hier die zögerliche, das war mir bewusst. „St-Stimmt etwas nicht?“
„Wegen letzter Nacht. Es... Es tut mir leid.“
Verwirrt schob ich ihn an seinen breiten Schultern ein wenig zurück und zeichnete verlegen eine Kratzspur nach, welche einen hellen Streifen über seinen dunklen Hautton zog. „Du meinst, weil du... einfach in mein Bett gekommen bist?“
Sanft schmiegte Vetjan seine Stirn an meiner. „Nun, ja. Nachdem ich völlig orientierungslos deinem fremden Geruch in dieses Zimmer gefolgt bin und dich eigentlich wecken wollte, um herauszufinden was passiert ist...“
Wir lachten beide verlegen. „Das hat ja ziemlich gut geklappt mit dem >aufwecken<. Wenn du jede Frau in der Kanalisation so aufweckst, dann... können sich deine Nachbarn freudig schätzen.“
Missmutig knurrte Vetjan über diese Worte und küsste meine Stirn. „Einmal abgesehen davon, dass ich überhaupt nicht nah genug an andere Clans herankäme, würde ich ohnehin niemals eine Fremde auf diese Weise beschämen.“
„Oh und was bin ich dann?“ Ich lachte erheitert über seine unlogischen Worte.
„Mein Himmel!“ Stieß er selbstbewusst hervor, woraufhin ich skeptisch die Augen zusammenkniff. „Ich wusste es, sobald ich deine Haare gesehen habe.“
„Im dunkeln?“ Fragte ich, mir bewusst wie dumm diese Frage überhaupt klang. Gestaltwandler. Nachtsicht. Wieso funktionierte mein Hirn heute so schleißig?
„Ich würde dich immer und überall widererkennen.“
Ich konnte das überhaupt nicht verstehen. Woher kam das alles so plötzlich? Hatte ich Vetjan nicht heute Nacht erst in mein Apartment geschleppt, operiert und vollgepumpt mit Schlafmittel? Jetzt plötzlich tat er so, als wäre ich seine große Liebe.
Obwohl... lag es vielleicht daran? Natürlich! Vetjan musste dieses Gefühl der Dankbarkeit mit Liebe verwechseln. Immerhin verdankte er meinem Können sein Leben! „Vetjan, ich glaube du intepretierst hier etwas zu viel hinein.“
„Was tue ich?“ Fragte er verwirrt.
„Du... Du erwartest zu viel von mir. Ich habe dir letzte Nacht dein Leben gerettet.“ Sanft aber nachdrücklich schob ich ihn von mir. „Klar, du bist mir dankbar und das alles, aber du darfst diese dankbarkeit nicht mit tieferen Gefühlen verwechseln. Vielleicht sind wir uns ja tatsächlich vor zehn Jahren dort unten zufällig begegnet. Aber das bedeutet nicht dass uns... irgendein größeres >Etwas< zusamm...“ Vetjan unterband meine sanfte Prädigt so barsch, dass meine Beine nachgaben. Geschickt fing er mich ab und hob mich in seine bereits wieder starken Arme.
Ich selbst verlor mich in seinem Kuss, genoss das Gefühl seines Geschmackes in meinem Mund, während seine Zunge liebevoll über meine Streichelte und etwas weiches gegen meinen Rücken drückte.
Erst als Vetjan seinen schweren Körper über mich schob, wurde mir bewusst, dass er mich ins Bett gelegt hatte. Und auf mir lag! Erschrocken keuchte ich auf, als mir das dritte >Bein< zwischen meinen eigenen bewusst wurde, welches suchend gegen mein Hösschen stieß.
Mann! Wann hatte er sich zwischen meine Beine gemogelt? „Wa-Was tust du da?“ Ich bekam gerade wieder genug Luft um zu kapieren wohin das erneut zu führen schien.
„Dir beweisen, dass ich nicht der einzige bin, der diese Verbindung fühlt. Du kannst sie nicht leugnen.“
Natürlich konnte ich sie nicht leugnen. Ich bin eine junge kreative Frau, in ihren zwanzigern, auf der ein heißer Typ nackt drauf lag und ihre Jungfräulichkeit >unwissendlich< genommen hatte. Meine erste und schärfste sexuelle Erfahrung hatte ich von diesem, mir immer noch ziemlich unbekannten Mann! Kein Wunder das mein Körper dermaßen intensiv auf ihn reagierte.
„Oder meinst du, dass du wieder oben sein willst?“ Er grinste ein wissendes Lächeln. „Das würde mir ebenfalls wieder sehr gut gefallen.“
Für einen viel zu langen Moment spielte ich tatsächlich mit dem Gedanken mich auf ihn zu hocken und zu reiten wie letzte Nacht. Doch dann kam die >rationale< Haven zu meiner Rettung und wurde knallrot. „G-Geh runter von mir! Sofort!“
Auf der Stelle rollte sich Vetjan zur Seite und ließ mich frei. Offenbar verstand sogar ein Gestaltwandler wie er, der sich nahm was er dachte, dass es ihm gehörte, wenn eine Frau einfach keine Nerven mehr übrig hatte.
Überstürzt rannte ich aus meinem eigenen Schlafzimmer und schmetterte die Türe hart hinter mir zu. Eigentlich war es ja bloß eine normale, weise Zimmertüre. Doch in diesem Moment erschien sie mir wie ein großer Wall, welcher den Theriantrophen, der mich aus der Fassung brachte, von mir wegsperrte.
Leider nicht lange genug.
Mit einem überraschten Aufschrei, landete ich erneut in Vetjans Armen, als er die Türe nach innen aufriss, an welcher ich gelehnt hatte und dadurch dem einzigen Halt beraubt wurde, den ich in diesem Moment hatte finden können. „Ist alles in Ordnung?“
Ich nickte, unfähig ein Wort von meiner Zunge zu gleiten zu lassen, während seine deutlich wärmeren Hände auf meinen Brüsten lagen. Verdammt... Hätte ich doch zumindest heute einen normalen Schalen-BH angezogen. Aber das würde sich dann mit dem Kleid beißen.
Aber nein! Stattdessen durfte Vetjan genüsslich seine Handflächen um diese schließen und atmete tief an meinem Nacken meinen Duft ein. „Ich verstehe einfach nicht, weshalb du dich dermaßen wehrst.“ Plötzlich begann Vetjan damit, seine Daumen zärtlich reizend über meine Brustwarzen zu bewegen. Natürlich hatte mein Körper nichts besseres zu tun, als nach seinem Interesse zu erwachen. „Dein Körper ist wahrhaftig für mich gemacht. So wunderschön, rein und weich. Ein Vollkommener Gegensatz zu meinem. Deshalb würde ich mich auch bloß zu gerne wieder in dir vergraben. Dich ablecken...“ Seine Stimme wurde immer tiefer und verführerischer, während seine Finger liebevoll meine Brüste massierten. „...und deinen heißen Hintern packen, um...“
„O-Okay! Das reicht aber jetzt!“ Hektisch riss ich mich von Vetjan los, welcher eine eindeutig viel zu große Macht über mich hatte, sodass mich bereits jetzt das Gefühl überkam jeden Moment meine Beine für ihn spreizen zu wollen.
Und das ging im wachen Zustand so gar nicht!
Absolug nicht!
Nein!
„W-Wir brauchen klare Regeln. Zu aller erst!“ Ich deutete hinter ihn, doch vermied es seinen Ständer dabei gierig zu bewundern. Scheiße... dieses Teil hatte ich letzte Nacht... Kein Wunder dass ich vorhin beinahe beim Aufstehen geweint hätte! „Zieh dir bitte endlich die Hose an!“
„Gefällt dir etwa doch nicht, was dich heute morgen so glücklich gemacht hat?“
Meine Wangen glühten nun so sehr, dass ich bezweifelte auch bloß noch einen einzigen Tropfen Blut irgendwo anders in meinem Körper haben zu können. „Ganz im Gegenteil! Ich schaffe es einfach nicht mich zu konzentrieren während du ganz so...“ Ich deutet mit einer Hand über seinen Körper. „...so ganz... du bist.“
Stolz lächelnd verschränkte der Gestaltwandler seine Arme vor dem Brustkorb, wodurch seine breiten Schultern noch besser zur Geltung kamen und lehnte sich gemütlich gegen den Türstock. Offenbar hatte er nicht vor sich allzu schnell anzuziehen. Moment... Hatte ich ihn etwa gerade ein Kompliment gemacht? Nur über was? Seinen Körper, oder... das was da in der Mitte so hochstand und bloß darauf wartete, dass... Okay, nein, so wurde das niemals etwas.
„Zieh dir bitte endlich etwas an!“
„Ich finde du siehst so süß aus, wenn du ganz rot im Gesicht wirst.“
Stöhnend fuhr ich mir durch mein feuchtes Haar. „Vetjan. Ich muss dich, sobald die Sonne untergegangen ist hier hinaus schmuggeln. Zieh dir bitte einfach eine Hose an, während ich... etwas zum Essen besorge.“
Pizza. Ich brenötigte ganz, ganz dringend Fette, die meine Gedanken auf anderes lenkten.
Demonstrativ wandte ich mich ab und ging zu meiner Handtasche, in dem noch immer mein Handy lag. Darauf befanden sich etliche Anrufe. Einige von meiner Firma, andere von Zees Privatnummer und der Rest alles von Iduna.
Zudem hatte ich E-mails die ich checken musste, offenbar hatte ich sogar einen Vertrag zugefaxt bekommen.
Während ich die Nummer des nächstgelegensten Pizzaservices wählte, schaltete ich mein Faxgerät nach Tagen endlich einmal wieder ein. Meiner Schwester schickte ich eine Nachricht, dass ich heute nach Sonnenuntergang Vetjan wieder hinaus in die Kanalisation bringen würde und bei Freya bedankte ich mich wegen ihrer besorgten Nachricht.
Ich war so konzentriert auf mein Handy, dass ich Vetjan erst bemerkte, als ich praktisch in ihn hinein lief. „Verdammt...“ Stieß ich mit großen Augen hervor. Diese missratene Trainingshose verdeckte so gut wie überhaupt nichts. Mir schien es sogar, als würde sie seine ganze Gestalt auch noch betonen, wenn da dieser von mir persönlich geschnittene Bart, so wie die filzigen halblangen Haare nicht wären.
„Trage ich sie falsch?“
Ich nickte, erneut unfähig ein Wort herauszubringen.
„Oh, was habe ich falsch gemacht?“ Vetjan nahm sie bereits am Bund, um sie wieder hinunter zu ziehen, da hielt ich ihn hektisch auf.
„N-Nein! Sie steht dir! Ich war bloß überrascht, dass es dein... dein ganzes >ich< nicht gerade schlechter macht.“
„Du meinst, du fühlst dich dadurch noch mehr zu mir hingezogen?“
Was? „Was? Nein! Wie... Wie kommst du denn auf diese Idee?“
Mit einem schelmischen Lächeln, griff er Vetjan nach einer Strähne meines roten Haares, damit ich nicht vor ihm zurückweichen konnte, als er die Distanz zwischen uns schmälerte. „Ich kann hören, wie dein Herz rast. Dein Blut pulsiert erregt in deine Körpermitte und dein Geruch...“ Er sog genüsslich die Luft ein, wodurch sich seine Nasenflügel sexy blähten. Gott... Dachte ich eben dass seine Nasenflügel sexy seien? „Den würde ich gerne erneut auf meiner Zunge schmecken, bis du...“
„Vetjan! Hör auf so etwas zu sagen, bitte! Das macht es nicht gerade besser!“
„Wieso wehrst du dich dann gegen diese Anziehung zwischen uns? Ich weiß du willst mich und du weißt, dass ich dich will. Wir sind für einander geschaffen, ansonsten hätte das Schicksal uns doch niemals in unseren schrecklichsten Momenten zusammengeführt.“
Zum Teil stimmte das ja. Er wollte mich ganz eindeutig, ich wollte ihn auch, gegen jede Logik. Aber was nicht so ganz passte... „Was für schrecklichste Momente?“
„An dem Tag, an dem du mich in diesem Rohr gesehen hast?“ Er schien mich an etwas erinnern zu wollen. Aber was?
„Ich wurde kurz darauf attakiert und verwandelt. Aber was war mit dir? Was ist dir da schreckliches widerfahren?“
Betreten ließ er seinen Blick richtung Boden schweifen. „Es war nicht unbedingt einer meiner besten Tage.“ Wich er aus.
Sanft umfasste ich seine Wangen und drehte sein Gesicht zurück zu mir. Ich hatte dieses unabänderbare Bedürfnis ihm Trost zu spenden. Diesen unerklärlich einsamen Augen das zu schenken, was sie noch nie erhalten hatten. Aufmerksamkeit und Zuwendung. „Vetjan.“ Ich lächelte ihn aufmutnernd an. „Du musst vor mir nichts verbergen. Ich mache keine Unterschiede zwischen denen, welche die Theriantriophen verachtend >die Abnorme< nennen oder die, welche sie als die größten Krieger unter sich bezeichnen. Mir ist das egal. Für mich seid ihr alle im gleichen Maße besonders und bewundernswert.“
Schnurrend schmiegte er seine Wange in meine Handfläche, während er dankbar meinen Worten lauschte. „Du bist ein offensichtlich ebenfalls beeindruckender Krieger. Du bist nämlich stark, attraktiv und unverwüstlich. Ob schwarzes Fell oder nicht. Es schmälert in keinster Weise dein Können.“
Weiche Lippen trafen erneut auf meine, was mich dieses Mal auch wirklich zum Schweigen brachte. Nun ja, zumindest so lange, bis mein nackter Hintern unvorbereitet auf dem Küchentisch landete.
In Zukunft sollte ich etwas besseres, als eine leicht abstreifbare Jogginghose finden, um diesen Kater daran zu hindern mit mir >Katz und Maus< zu spielen. Auf eine recht... befremdliche Art und Weise, welche mir jedoch überraschend gut gefiel.

3. Iduna Ridder - Der ungleiche Zwilling

Ich betrat das Wohngebäude in dem Moment, in dem Haven in ihrer Kampfausrüstung einen Rucksack schulterte, in dem zweifellos Ketten klimpern. "Reiß dir nur keinen Nagel ein." Witzelte ich frech.

Haven streckte mir, keck die Zunge heraus, während wir in dem langen schwarz, weiß eingerichteten Flur aneinander vorbei rauschten. "Wenn du mitkommen willst, musst du dich umziehen." Bemerkte Haven, während sie ihre Haare zu einem hohen Zopf band. Einige Stirnfransen blieben ihr im Gesicht hängen, auf der linken Seite, um ihre Narbe, so wie das schrill grüne Auge zu verdecken, das geradezu darauf hinwies, was für ein Freak sie ist. Trotzdem machte Haven weiter. Trotz all dem Hass, der Abscheu und den Hürden, die sich ihr in den Weg stellen.

"Gehst du in die Kanalisation?"

Haven klimperte mit den Eisenketten, die sich in dem Rucksack befanden. "Ein Schlossgeist mal wieder." Ächzte sie genervt. "Will versuchen ihn zu überreden von selbst zu gehen, bevor die Jäger aufkreuzen und ihm den Gar ausmachen."

Klang spannend, besonders da ich gerne mit den alten, oft schrilligen Gespenstern redete, doch nach dem abenteuerlichen morgen, setzte ich lieber aus. "Ne, heute nicht. Ich war bisher mit Vera unterwegs und ein paar Jungs. Hab mich abgeseilt nachdem sie ihr betrunken an die Wäsche sind, jetzt will ich Deprimusik in meinem Zimmer hören." Weil mich keiner beachtet hat... Das brauchte ich nicht zu sagen, das wusste Haven auch so.

Mit einem bedauernden Blick, kam sie auf mich zu, schloss mich in ihre starken, doch zierlichen Arme und drückte mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn. "Wenn sie dich nicht sehen, dann sind sie ohnehin nicht die richtigen." Sanft nimmt sie mein Kinn in ihre perfekt manikürten Finger und zwang mich ihr gehorsam in die Augen zu sehen. Es hatte an manchen Tagen etwas befremdliches, doch heute tat es gut ein wenig mehr Realität ins Gesicht geklatscht zu bekommen. Auch wenn die Mehrheit der Menschen nichts von den beiden Seite der Welt wusste, so wurde ich genau zwischen ihnen großgezogen. Ich sah den Hass, die Bitterkeit, die Trauer und die Hoffnung auf Wunder. Haven, meine geliebte Schwester ist so ein Wunder. Gefangen in der Existenz zweier Wesen, welche von Grund auf unterschiedlicher kaum sein könnten. "Wenn einmal der Typ vor dir steht, der dich auch wirklich verdient, dann wird er vor dir auf die Knie gehen und dich anbetteln, ihm eine Chance zu geben, klar? Du bist eine stolze, attraktive junge Frau. Keine schlangenzüngige Hure, die keine Ruhe finden kann."
Ich zog einen Schmollmund. "V ist meine beste Freundin. Du bist gemein!"

Sie gab mir noch einen schnellen Kuss auf die Nasenspitze, dann drehte sie sich auch schon um. "Denk an meine Worte, Idy. Wenn dein Mr. Right kommt, dann wird es >Bumm< machen!" Schwor sie mir. An der Türe drehte sie sich noch einmal um, um mir frech zuzuzwinkern. "Und dann wird er schreiend vor deiner Familie davonlaufen."

Während ich laut auflachte, schloss sie die Sicherheitstüre und schloss für heute Nacht ab. Mein Lachen verklang erst, als ich meinen Rucksack abgestellt hatte und mir etwas zum Knabbern aus einem Schrank holte.

Haven hatte jedoch recht. Mir irgendeinen Typen an der Uni zu suchen, oder unter Menschen, war ohnehin sinnlos. Wie sollte ich ihm erklären, weshalb meine Neffen rote Augen haben? Meine schwer beschäftigte Schwester ein grünes und es sogar eine gab, deren Name nicht genannt werden darf in unserer Familie?

Nein, da war es sicherer zu warten, bis man mir irgendeinen armen Trottel zusteckte, der gut zu meinen Genen passen würde.

Meine Eltern hatte man damals so miteinander verkuppelt, wie tausend andere Jäger ebenfalls. Die Zentrale suchte schon für einen aus, darüber musste man sich keine Gedanken machen. Über belangloses wie >die wahre Liebe< oder >Mr. Und Misses Right< zu finden. Dieses Problem löst im Durchschnitt ein Rechner für uns.

Mit einem kühlen Smoothie und einer Packung Paprikachips ging ich hinaus auf den Balkon. Dort machte ich es mir auf einem Liegestuhl bequem und starrte hoch, in den dunklen, halb von schäfchenwolken, verhangenen Himmel und genoss einfach nur den Frieden hier oben.

 

- - - - -

 

Es dauerte noch zwei Tage, an denen ich völlig vergaß, dass ich mich überhaupt zu irgendeinem doofen Bluttest gemeldet hatte, bis auf einmal, frühmorgens ein Dienstbote an der Haustüre klingelte. Haven schlief, wie so oft Vormittags noch, da ihre aktive Hauptzeit sich Nachmittags und Nachts abspielte. Noch so ein >Kätzchentick<.

Dankend nahm ich das A4 große Kuvert entgegen, unterschrieb dass ich es angenommen hatte und entließ den armen Dienstboten seines Weges. Ich wusste ja was sich in diesem Päckchen befand, daher schmiss ich es einfach unbeachtet auf mein Bett, zog mich um und packte, um eine Nacht bei Vera zu verbringen. Einmal im Monat machten wir uns einen gemütlichen Mädelsabend, an dem wir uns einfach Zeit für uns nahmen. Dabei tauschten wir Klatsch aus, schminkten uns oder machten uns einfach bloß die Nägel, während wir bei irgendeiner dämlichen Quizshow mitfieberten. Manchmal trafen wir uns dann auch um das große Finale bei Worlds-Topmodel nicht zu verpassen.
Alles Dinge, die ich anfänglich mit Haven gemeinsam getan hatte. Damals... als wir uns noch alberne Kindershows angesehen haben und uns über die Erwachsenen lustig gemacht... von unseren tiefsten Geheimnissen geschwärmt... Jetzt hatte Haven jedoch nicht mehr genug Zeit dafür, auch wenn sie sich meinetwillen große Mühe gab sich diese Zeit freizuschaufeln. Wenn sie es jedoch einmal aus dem Büro schaffte für einige Zeit, dann war in ihrer kleinen, gerade erst erblühenden >Auffangstation< die Hölle los. Nicht das ich es ihr verübelte die coolste Schwester aller Zeiten zu sein, aber auch ich hatte Bedürfnisse!

Somit quälte ich eben Vera, die sich mittlerweile hatte anstecken lassen von diesem >doofen Kleinmädchenkram<, wie sie es anfänglich genannt hatte. Zwar meckerte sie heute immer noch am laufenden Band, doch wehrte sich kein Stück dagegen, oder schlug selbst solche Abende vor. Angeblich >meinetwillen<. Tja, auch in einer Rebellin steckt eben ein kleines verwöhntes Mädchen, ob man will oder nicht.

Gerade als ich überprüfe ob ich auch wirklich alles für heute Abend dabei hatte, fällt mein Blick erneut auf den Umschlag. Bestimmt wird es V spannend finden... Dachte ich, packte ihn kurzerhand ein und verließ das Apartment.

Nach der Uni traf ich mich direkt mit V. Wie immer war sie in einer kurzen Shortie unterwegs, einem bauchfreien Top und Flipflops. Sie war braun gebrannt und saumäßig heiß. Jeder Junge, der sie erblickte, starrte sie begeistert an, was mich mal wieder die Augen verdrehen ließ. Wieso suchte ich mir eigentlich stets beste Freundinnen aus, in deren Schatten ich verschwand? Bin ich massochistisch oder so?

"Pa hat schon leckere Snacks für uns im Ofen. Was sehen wir uns heute an?" Ekrundigte sich V, während sie mir einen Kuss auf die Wange gab, sich bei mir einhakt und gemütlich den Weg heimwärts anstrebte.

Es schien, als hätten wir beide bloß auf diese Frage gewartet, denn wir brachen in eine hitzige Diskussion aus. Zuerst über das Genre, dann über die Schauspieler und zum Schluss vermiesten wir uns absichtlich unsere jeweiligen Lieblingsfilme. Schlussendlich eine Filmserie in der heiße Driftboys die Hauptrolle spielten, während wir uns gegenseitig die Haare machten. Naja... eigentlich ja Vera eher mir, da man an ihren ohnehin nicht viel machen konnte.

Nach einem kurzen, aber für mich lohnenden Zwischenstopp bei Veras Vater, der übrigens überaus enttäuscht war, das Vera schon zwölf Stunden später ihren >Freund< abserviert hatte und dieser daher morgen nicht erscheinen würde und einem kleinen netten Mitbringsel von mir, schlossen wir uns in Veras vollgestopften Zimmer ein. Es dauerte etwas, da wir erst ihr Bett abräumen und frisch beziehen mussten, dann konnte der gemütliche Abend beginnen.

Wir quatschten, machten uns über einige Stunts der Schauspieler lustig und stopften jede Menge Knabberzeug in uns hinein, bis zumindest mir schlecht wurde. Veras Magen schien, ähnlich wie bei Alkohol, einfach alles zu vertragen, während ich praktisch gesehen ein Jammerlappen war.

Ein überaus gutgelaunt quirrlicher, wie ich jedoch zugeben musste.

Als ich mitten in der Nacht aus dem Bad zurückkam, hörte ich gerade noch das reißen von Papier, als auch schon eine seltsame Stille einkehrte. Gähnend rieb ich mir die Augen, als ich verkünden wollte, dass ich es nicht mehr länger aushielt, da entdeckte ich auch schon Veras Nase hinter einem Bund Papier. Zuerst wollte ich einen Witz machen, von wegen das sie ja überhaupt nicht lesen konnte, doch ihre ernste Miene, ließ den Witz auf meiner Zunge ersterben. "Was ist los?"

Ohne aufzublicken stieß V einen Satz hervor, von dem ich angenommen hatte, ihn niemals hören zu würden. "Du hast einen Bruder!"

Nicht gerade geschockt, sondern vielmehr gelangweilt, ließ ich mich auf die andre Seite des Bettes plumpsen, rollte mich auf den Bauch und streckte mich ausgiebig, bevor ich gewohnt weiter spottete. "Lass mich raten, er ist in einer Nervenheilanstalt mit fünf verschiedenen Persönlichkeiten, die sich dreimal am Tag untereinander abwechseln." Ich weiß, über psychische wie auch physische Krankheiten sollte man sich nicht lustig machen, aber wenn V mir schon so kam, musste ich kontern.

V hielt mir den Bund Papiere unter die Nase, welche überraschend viele waren, für so eine gewöhnliche Entschuldigung, dass die Firma noch keine lebenden Verwandten finden hatte können. Verdutzt starrte ich auf den ersten Zettel. Es war eine gewöhnliche, höfliche Anrede, wo mir freudig mitgeteilt wurde, dass eine Übereinstimmung zu meinen Genen zu fünfzig Prozent vorhanden sei.

Ich war vielleicht keine Überfliegerin in der Schule, aber wusste zumindest dass der Verwandtschaftskoeffizient bei Eltern zu Kinder, so wie unter Geschwistern bei einer fünfzig prozentigen Gleichheit liegt.

"Fünfzig Prozent?" Fragte ich, blätterte weiter und fand mich vor dem Zettel wieder, den ich erst vor zwei, oder drei Tagen ausgefüllt hatte. Er war in verwaschenen Großbuchstaben geschrieben, so wie es vom Formular vorgegeben war und darauf befanden sich die Daten eines Jungen, der jetzt... ich rechnete schnell nach... dreiundzwanzig sein müsste?

Ich setzte mich ruckartig auf. "Illian Leroy?" Fragte ich ungläubig und starrte V an.

Sie deutete auf die Zetteln, die nach dem ausgefüllten Formular folgten. "Es wird sogar noch besser!"

Hastig blätterte ich um und fand eine zensierte Fallakte vor. Alles was beigelegt werden hat dürfen, lag hier dabei. "Illian Leroy, geboren am selben Tag wie Haven, zum ersten Mal wegen Diebstahl, dann wegen Einbruch festgenommen..." Die Liste ging noch weiter, bis sie bis vor sieben Jahren einfach endete. "Mehrfacher Mord?" Meine Stimme überschlug sich geradezu.

"He!" Die Zetteln fielen aus meinen kraftlos gewordenen Händen, während ich in die leere starrte. V nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und zwang mich ihr in die rehbraunen Augen zu sehen. "Schon gut, das muss ein Fehler sein, Idy. Sie haben sich sicher vertan, oder es wurden irgendwelche Proben vertauscht!"

Ich schüttelte meine kurze Benommenheit ab und atmete durch. Ich. Bin. Eine. Jägerin! Sagte ich mir innerlich vor, auch wenn es bloß zu einem Teil stimmte. Ich bin niemals ausgebildet worden, während Haven zumindest ein anfängliches Training genossen hatte, ehe unser Clan aus dem aktiven Dienst ausgestiegen war. Mittlerweile machte ohnehin jeder das was er wollte.

Mit einem konzentrierten, klaren Blick, hob ich die Zetteln erneut vor mein Gesicht und ging alles systematisch durch. Weiter hinten unter der Zettelwirtschaft fand ich eine Adoptionsurkunde, so wie die Namen der Familie Leroy, welche ihn adoptiert hatte, als er gerade einmal drei Monate alt gewesen war... Drei... Monate?

Das bedeutete ja dann, dass Illian niemals eine Ausbildung genossen hatte... Niemals seine Kräfte frühzeitig erweckt wurden, damit er damit aufwachsen konnte, niemand hat ihn jemals... "Entschuldige, aber ich muss los V."

V blickte mich entsetzt an. "Wo willst du denn um diese Uhrzeit hin?"

Ich blickte auf meine Uhr am Handy. Kurz vor zwei Uhr morgens. "Zu meinem Onkel Thomas. Er weiß sicher was zu tun ist."

Ich war schon halb aus der Türe, zusammen mit den Zetteln und meinem geschulterten Rucksack, als V aus dem Bett polterte, um mir die Treppe hinab zu folgen. "W-Warte! Du kannst nicht um zwei Uhr morgens mit so einer Nachricht bei deinem Onkel aufkreuzen!" Schrie sie mir hinterher.

Und ob ich das konnte! "Ich borge mir dein Rad aus, ja." Ich war so schnell aus der Türe, dass V überhaupt nicht mitkam. Noch so etwas gutes, was wir Jäger an uns hatten. Im Durchschnitt ließen wir Menschen einfach hinter uns, wenn wir in den >Jägermodus< verfielen.

Kaum saß ich auf dem Fahrrad, trat ich auch schon los. Um zwei Uhr morgens, war es sogar hier in der Großstadt bedächtig ruhig. Es fuhren die wenigsten Autos und die Straßen, waren bis auf einige dunkle Seitengassen, recht leer.

Auf meinem ungleichen Weg, quer durch die Stadt fragte ich mich, weshalb niemand von uns etwas davon wusste. Zumindest Freya sollte es doch wissen, nicht wahr? Freya war bei Haven und meiner Geburt dabei gewesen. Sie... musste es wissen!

Trotzdem führte mich mein erster Weg zu Thomas. Er war nicht wirklich mein Onkel, aber vor zehn Jahren verlobt mit Freya und kannte unsere gesamte Familiengeschichte. Zudem war er der einzige in meiner Familie, mit einer sicheren Verbindung zur Zentrale. Mir zum Beispiel, würden die überhaupt nichts sagen.

Als ich am Rande der Stadt an einem kleinen Familienhaus ankam, dass ähnlich aufgebaut war wie unser eigenes, klingelte ich kurz, um Thomas Tochter nicht zu wecken.

Es dauerte etwas und ich musste erneut klingeln, als auch schon seine Ehefrau öffnete und mich verschlafen anstarrte, als würde sie einen Geist sehen. "Was ist los?"

"Hi, Helena. Ich weiß, es ist total spät, aber ist Thomas hier?" Wenn es etwas überaus seltsames auf dieser Welt gab, dann war es Helena. Sie war mit Abstand einer der seltsamsten Vorfälle die es je gegeben hat. Abgesehen davon, dass Helena von vor zehn Jahren gerettet worden war, kam hinzu noch, dass sie als Mensch >übernatürliches< sehen konnte. Früher, als sie noch nichts von der anderen Seite wusste, war sie Medikamenten vollgepumpt worden, ausgelacht für ihre Behauptungen und schlussendlich in einer Falle der Dämonen gelandet, während sie versuchte als Wissenschaftlerin zu beweisen, dass es dort draußen mehr als nur die Menschen gab.

Sie wurde zum Glück gerettet und verliebte sich ausgerechnet in den überaus schüchternen Thomas! Die beiden sind wie Tag und Nacht, daher ergänzen sie sich überraschend gut, auch wenn sie sich oftmals gegenseitig an die Decke brachten.

"Nein, arbeiten. Wieso fragst ausgerechnet du so etwas?" Murrte sie verschlafen. Helena war definitiv ein Morgenmuffel, das sah man ihr an.

"Ich kann aber nicht in die Zentrale, würdest du ihn für mich anrufen? Bitte! Es ist verdammt wichtig!"

Helena war offensichtlich kurz davor, einfach die Türe zuzuschlagen. "Für euch Ridder ist doch ohnehin alles wichtig. Komm gegen fünf wieder, dann kann..."
"Haven hat einen Zwillingsbruder!" Platzte es lautstark aus mir heraus. Es war wie ein befreiender Kanonenschuss, nachdem jemand den Korken in meiner Kehle gestopft hatte und meine Tränen brachen aus mir heraus. "Haven hat einen Zwillingsbruder, der mit drei Monaten adoptiert worden ist. Er sitzt im Knast, weil er mehrere Leute umgebracht hat. Wer weiß, welche Gabe er hat und wenn er... wie du in der menschlichen Welt aufgewachsen ist, dort großgezogen wurde, dann weiß er überhaupt nicht wer, oder was er ist und dass seine Gaben ganz normal sind und..."

Ich quasselte einfach vor mich hin, während mir dicke, verzweifelte Tränen die Wangen hinab liefen, woraufhin selbst die störrische Helena einknickte. "Okay, okay! Jetzt beruhige dich erst einmal, Iduna. Komm rein."

Sie führte mich in die Küche und setzte einen Kaffee auf. Den brauchten wir beide in diesem Moment. Nun ja, Helena vielleicht etwas mehr, als ich. "Entschuldige bitte, ich wollte nicht mit der Türe ins Haus fallen." Meinte ich verlegen, griff nach der Taschentuchbox und putzte mir erst einmal das Gesicht.

"Schon gut, ich weiß wie panisch du sein musst." Und ich war nicht gerade für meine Geduld bekannt, musste man anmerken. "Also noch einmal von vorne. Wie kommst du darauf dass Haven einen Zwillingsbruder haben könnte? Abgesehen mal von der Tatsache, dass Jäger prinzipiell keine Zwillinge bekommen..." Helena hielt inne. "Außer man ist wie deine Schwester mit einem Werwolf zusammen."

Ich packte die Unterlagen, welche ich erst heute Morgen zugeschickt bekommen hatte auf den übergroßen, frisch polierten Tisch. Helena, ganz Wissenschaftlerin in ihrem Element, las sich ungläubig die Dokumente durch. Zumindest den Teil, der nicht geschwärzt war aufgrund von Privatsphäre und so weiter.

"Du weißt, dass die auch gefälscht sein könnten." Meinte Helena dann, stand auf und brachte zwei heiße Tassen Espresso an den Tisch. "Vielleicht ist es ja eine Verwechslung."

Das hatte ich auch schon geglaubt... nein, gehofft! "Sieh dir das Datum an, Helena. Der Zeitstempel seiner Geburt! Sie stimmen mit Haven´s überein." Und das war eine bewiesene Tatsache, daher glaubte ich nicht an einen dummen Verwechslungsfehler. "Die haben Haven nicht in ihrer Kartei, daher kann man nicht einmal behaupten, sie hätten es gefälscht, zu welchem perfiden Zweck auch immer. Helena... das ist echt, oder?"

Helena hatte bereits das heiße Gebräu zur Hälfte hinunter gekippt und wirkte alleine aufgrund des Geschmackes wacher als zuvor. Ich schaffte es gerade einmal mit zittrigen Händen, mir Zucker hinzuzufügen. "Als Wissenschaftlerin glaube ich ebenfalls nicht an Zufälle wie diesen. Wenn es nur das Geburtsjahr wäre, dann ja. Oder zusätzlich der Monat. Aber weißt du wie gering der Zufall einer so genauen Zeitüberlappung ist? Besonders wenn deine Schwester nicht in ihrem System auftaucht. In diesem Fall hätte ich auch noch darauf beharrt, das das System einen Fehler hat. Es ist... einfach noch nie vorgekommen, dass Jäger Zwillinge bekommen."

Seufzend lehnte ich mich auf dem Sessel zurück, während Helena eine kurze Nachricht auf dem Handy tippte. "Obwohl..." Helena hielt inne, als sie meinem Blick begegnete und verstummte erneut. "Nein, vergiss es."

"Nein, sag schon was?" Rief ich aus, in der Hoffnung Helena könnte endlich Klarheit in die ganze Sache bringen. "Egal was es ist, sag es mir!"

Helenas Mund klappte auf und zu, so als würde sie mit sich selbst ringen. Erneut überflog sie die eingegeben Daten von Illian Leroy, meinem vermeindlichen Bruder, dann verzog sie das Gesicht, als hätte sie auf eine saure Zitrone gebissen. "Du weißt ja, dass alle Übernatürlichen Wesen mit Menschen kompatibel sind... und Menschen... können... Zwillinge bekommen..." Überwandt sie sich, es auszusprechen.
Ich hielt einen langen Moment inne, ließ den Satz erst einmal auf mich einwirken und... tickte erst dann aus. "Nein! Mein Vater hatte sicher niemals eine Affäre! Dafür hat er meine Mum zu sehr geliebt!" Rief ich zornig aus, als wäre das alles hier ihre Schuld.

Beschwichtigend hob Helena eine Hand. "Es ist nur eine Theorie, Iduna. Ich würde deinen Eltern niemals etwas unterstellen, keine Sorge. Aber als Wissenschaftlerin gleiche ich lediglich die Fakten ab... und Haven springt um ehrlich zu sein, etwas aus den Rahmen, was eure Familienähnlichkeiten angeht."

Erschüttert starrte ich Helena sprachlos an, doch brachte es nicht über mich, ihr zu widersprechen. Haven ist meine Schwester. Meine! Ich weiß das, denn ich bin mit ihr aufgewachsen. Ich sehe sie jeden Tag! "I-Ihre roten Haare kommen von meiner Großmutter väterlicherseits. Wir haben sogar ein altes Foto von ihr und meinem Vater zuhause!"

Helena griff über den Tisch hinweg nach meinen krampfhaft gekrümmten Fingern, während ich gegen erneute Tränen ankämpft. Mein Vater würde nie... Und meine Mutter hätte doch niemals ein fremdes Kind angenommen, oder? Sie hätte... doch irgendjemanden etwas gesagt... "Iduna! Das ist nur eine Theorie, versteif dich bitte nicht darauf. Außerdem sagt noch niemand, dass das hier..." Sie deutete auf den Namen Illian Leroy, "...auch wirklich euer Bruder ist. Es lässt sich bestimmt anders erklären." Versprach sie und lockerte meinen festen Griff, der bald die Tasse sprengen würde.

 

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Es dauerte keine dreiviertel Stunde, da stand auch schon Thomas in der Küche. Er grüßte mich mit einem kurzen Nicken, dann ging er auch schon zu seiner Frau, um ihr einen Kuss auf den Scheitel zu drücken. "Entschuldigt, es ging nicht schneller." Er gähnte und ließ sich neben sie fallen. "Um was geht es denn?"

Thomas, ein alter Freund unserer Familie, den ich liebevoll irgendwann mit >Onkel< anzusprechen begonnen hatte, hörte uns beiden genau zu, während er hin und wieder ungläubige Laute von sich gab.

"So ein quatsch. Ich kenne keine einzige Jägerfamilie die Zwillinge hätte." Helena und ich wechselten einen viel deutenden Blick. "Was? Was habe ich verpasst?"

Räuspernd wandte sich Helena ihrem Mann zu und fing das Thema zu erläutern, welches ich noch strickt für unmöglich hielt. Zum Ende hin, zuckte Thomas unwissend mit den Schultern. "Ich denke ja mittlerweile, dass in der Ridder-Familie so ziemlich alles möglich ist. Man muss sich nur deine drei älteren Schwestern ansehen..." Beschwichtigend hob er seine Hand. "Nicht böse gemeint, Iduna, ich liebe deine Schwestern, als wären sie die meinen. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass es bei uns Jägern die perfekte Beziehung nie geben wird." Schmerzverzerrt verzog er das Gesicht. "Aua!" Er blickte schockiert seine Frau an, welche ihn unter dem Tisch getreten haben musste.

"Sag das noch einmal und ich setze dich auf die Straße."

Die Augen verdrehend, jedoch belustigt schmunzelnd, wandte Thomas sich wieder mir zu. "Du weißt wie ich das meine. Außerdem habe ich mir im Gegensatz zu den arrangierten Ehen der Jäger, jemanden ganz besonderen, freiwillig ausgesucht."

Ich musste willkürlich grinsen, als ich mich daran erinnerte, wie Thomas Helena einen Heiratsantrag, mitten im HQ der Jäger machte. Dabei hatten sie beide sich in den sechs Monaten, in denen sie sich gekannt hatten, nicht einmal geküsst, oder ein Date gehabt. Er war aus heiterem Himmel einfach vor ihr auf die Knie gegangen und hatte sie einfach gefragt, nachdem sie ihm eine Ohrfeige verpasst hatte.

Zu ihrer eigenen Überraschung war ihr ein >ja< herausgerutscht, noch bevor sie sich im klaren war, zu >was< sie hier ja sagte. Wie sie etwas später gestanden hatte, dachte sie er sei übergeschnappt und hatte Mitleid mit dem armen Kerl. Bis heute sei sie ihn jedoch nicht losgeworden, da sie es einfach nicht über sich brachte, dem treuherzigen Thomas sein großes Herz zu brechen.

Ja, ja... Wer´s glaubt. Ich zu meinem Teil hätte ja nie gedacht, das ausgerechnet Thomas sich Hals über Kopf verlieben würde. Unser berechnender, über fürsorglicher Held in der... äh... schwarzen Trainingsrüstung. Aber irgendwie schien er Helena, trotz ihrer Ecken und Kanten, geglättet und für sich gewonnen zu haben.

 

- - - - -

 

Nach einem langen und ausführlichen Gespräch, so wie dem abgenommen Versprechen von Thomas, dass er sich im HQ genauer erkundigen würde, überließ ich den armen Mann endlich seinem wohlverdienten Schlaf. Ich selbst machte mich auf den Weg nach Hause, ins Apartment. V schrieb ich eine kurze Nachricht, dass sich schon bald alles aufklären würde, dann lag ich auch bereits bäuchlings in meinem Bett und starrte kopfüber hinab auf den Boden. Dort lag ein plüschiger, gelber Teppich, welcher beinahe die gesamte freie Fläche einnahm. Ungefähr in der Mitte des Zimmers stand ein weises Regal, vollgestopft mit Geschenken und Büchern, die ich dort ausstellte, so wie etwas Schmuck. Nicht dass ich häufig einen trug...

Dahinter stand mein Schreibtisch, auf dem sich ordentlich sortiert einige Hefte und Schulbücher aufreihten. Wenigstens den Ordnungsdang hatte ich gleich mit Haven... Ob wir uns >deshalb< so unähnlich waren? Ob wir uns >deshalb< stets als Zwillinge gesehen hatten, da ihr ihr tatsächlicher Zwilling gefehlt hatte? Haven war zudem die einzige Rothaarige in der Familie, die Einzige mit einer so blassweißen Hautfarbe, die dermaßen kreativ ist und hübsch. Haven stach in unserer Familie einfach heraus wie ein bunter Vogel...

Nein Quatsch! Was Helena da theoretisierte war einfach zu absurd. Obwohl... Im Grunde war ich die Einzige, die sich ohne Technik ein Bild davon verschaffen konnte. Immerhin bin ich das Orakel meiner Familie. Meine Familie ist eine Art verlängerter Teil von mir. Nur von ihnen hatte ich Visionen, daher sah ich auch Freya´s Söhne bevor sie überhaupt wusste, dass sie schwanger war, ich hatte gesehen, wie >die dämliche Ziege< abgehauen ist, zusammen mit einem Dämon. Und ich habe gesehen, dass es Haven selbst als Halbling gut gehen würde, dass sie glücklich sein würde und das tat, was sie am besten konnte und liebte... Ich sah sie alle! Selbst Milan hatte ich gesehen. Wieso also dann nicht auch Illian? Weshalb hatte ich ihn bisher nicht sehen können? Lag es daran, dass er bisher keine Rolle in unseren Leben gespielt hatte? Am mangelnden Kontakt? Wie konnte ich die einen Sachen sehen, die ich selten selbst verstand, aber nicht meinen einzigen Bruder?

Vielleicht war das alles in Wahrheit doch bloß irgendein perfider Plan meine Familie zu unterwandern? Hm... Nein, das klang mindestens genauso absurd, wie die Zwillingstheorie.

Okay, es nutzte ja ohnehin nichts darüber nachzugrübeln. Mehr als ein kleines Schläfchen schaffte ich dank der inneren Aufregung ohnehin nicht, daher stand ich bereits um sieben Uhr in der Küche und machte Frühstück. Haven, geweckt von dem Geruch gebratenen Specks, schlenderte vollkommen ausgelaugt aus ihrem Schlafzimmer, das hier in der unteren Etage lag.

Das Penthous besaß zwei Etagen, die untere mit Küche, anschließendem Wohnzimmer, Bad, einem langen Flur, einem Gästezimmer und einem Schlafzimmer. Während sich im ersten Stock fünf weitere Schlafzimmer, mit jeweils einem bequemen Badezimmer, so wie ein Büro, das jedoch eher selten genutzt wurde.

Haven hatte damals geplant, dass sollte irgendetwas mit dem Familienhaus am Rande der Stadt geschehen, könnten spontan sämtliche Familienmmitglieder hier einziehen. Zudem wurden die Schlafzimmern regelmäßig dafür genutzt heimatlose, oder gerettete Kreaturen der Nacht aufzunehmen. Für Stillschweigen des Personals sorgte Havens deftiges Trinkgeld und auf ihren Wunsch hin, waren sämtliche Videokameras im Lift, so wie dem Flur vor dem Apartment abmontiert.

"Hunger..." Schnurrte Haven und ließ sich plump auf einen Barhocker fallen. Ich stellte ihr Pfannkuchen, so wie Speck vor die Nase, wobei beide trieften vor Fett. Bei Havens Stoffwechsel war das jedoch egal. Das war in Nullkommanichts wieder abgebaut. "Wieso bist du schon wieder zuhause?"

"Bin in der Nacht nach Hause gekommen, da ich mich nicht wohl gefühlt habe." Erklärte ich ausweichend.

Hätte Haven eine Zwischengestalt und könnte sich halb in eine Raubkatze verwandeln, dann würde nun vermutlich ein Ohr zucken und ihr Schwanz gereizt auf den Boden schlagen. Da dies jedoch nicht der Fall war, schlug ihr schwesterlicher Instinkt an. "Hast du dich mit Vera gestritten?"

Ich zog eine Braue hoch, während ich die Butter schwenkte. "Nein, wie kommst du auf diese Idee."
"Weil du kochst." Bemerkte Haven. "Du kochst immer wenn du aufgewühlt bist, wie Mama."

Ich erstarrte in der Bewegung und überlegte, ob Haven und unsere >Mutter< auch irgendetwas gemeinsam hatten? "Denkst du eigentlich noch viel an Mama und Papa?"

Sie lächelte mich liebevoll an. "Ja klar. Ich vermisse sie jeden Tag höllisch."

Leider hatte ich als jüngste Ridder, am wenigsten Zeit gehabt meine Eltern kennen zu lernen. Direkt nach meiner Einberufung, um meine Gabe frühzeitig zu wecken und zu dokumentieren, hatten sie den Unfall gehabt. Meine aller erste Vision hatte darin bestanden zu sehen, wie wir unsere Eltern zu Grabe tragen. Nicht gerade ein toller Start. Seitdem hatte sich meine Vision bloß in Ausnahmezuständen gerührt. Als Milan zu uns kam, als Freya schwanger wurde, als meine dämliche Schwester einem Dämon verfiel, als Freya erneut und erneut schwanger wurde... Sogar das Haven mit gespaltenen Charaktereigenschaften aus dem Koma erwachen würde. Das alles hatte ich gesehen. Immer wieder konnte ich diese Visionen abrufen, sie waren so klar, als würde ich sie gerade eben erst erleben, ohne jemals eine Spur zu verblassen, wie es Erinnerungen normalerweise taten. Jedes Detail, jede Bewegung konnte ich abrufen...
"He! Dein Essen brennt an." Hektisch nahm ich die beschichtete Pfanne vom Herd und schob sie unter einen kalten Wasserstrahl. "Was ist denn heute los mit dir, Idy?"

Stöhnend winkte ich ab. "Ich geh in mein Zimmer... lernen oder so." Ein Zeichen für Haven, dass ich noch nicht bereit war darüber zu reden. Sie akzeptierte es, denn ihr war bewusst, dass wenn ich so weit wäre... ohnehin zu ihr käme.

Ich lief die gewundene, eiserne Treppe hoch und sperrte mich in meinem Zimmer ein. Das erste was ich tat, war die Kontaktdaten von Illian Leroy erneut durchzulesen, so wie die des Gefängnis in dem er saß. Illian... Mein Bruder? Kaum vorzustellen.

Haven und Illian. Zwillinge! Nicht einmal ihre Namen besaßen irgendeine Ähnlichkeit miteinander.

Schwer schluckte ich den Kloß in meinem Hals hinab, bevor ich an meinem Handy die Nummer wählte. Ich bekam sogar gleich eine Zusage das Gefängnis noch heute besuchen zu dürfen. Dafür musste ich jedoch meinen Personalausweis mitnehmen und die Akten, die mir gestern geschickt worden waren und mich als Schwester des Gefangenen auswiesen.

Des... Gefangenen! Ich würde mich gleich mit einem Schwerverbrecher treffen... Nun, ja, eigentlich in einigen Stunden erst! Streng genommen hatte ich doch jeden Tag mit Verbrechern zu tun, oder nicht? Wie oft sind wohl meine Schwestern irgendwo unbefugt eingedrungen, haben etwas gestohlen, oder Lebewesen getötet? Wie konnte ich da also Illian Leroy verurteilen, ohne seine Hintergrundgeschichte zu kennen?

 

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Stunden später stand ich dann davor... Vor dem Gefängnis in dem mein >Bruder< festsaß. Der Papierweg um zu ihn hinein zu dürfen, dauerte ewig. Ich brauchte beinahe zwei Stunden, in denen ich immer und immer wieder dieselbe dämliche Geschichte erzählte und die Dokumente vorzeigte. Danach musste der Beamte sogar noch in dem Labor anrufen, um sich zu erkundigen, ob diese Dokumente eventuell gefälscht sein könnte, doch auch von diesen bekamen sie grünes Licht.

Als ich dann endlich, zwei Stunden nach meinem eigentlichen Besuchstermin, endlich zu ihm konnte, warnte mich der Beamte noch unnötigerweise. „Ich will Sie nur noch einmal warnen, Miss Ridder. So ein Gefängnisaufenthalt kann Menschen verändern. Oft holt es das schlechteste aus ihnen heraus und macht sie zu noch übleren Monstern.“

Ich wusste der Mann meinte es nur gut, wollte meine junge Seele vor dem Anblick böser Männer schützen die seit Jahren keine Frauen mehr angefasst hatten, doch ich boxte ihm kumpelhaft gegen die Schulter. „Ich hatte schon schrecklichere Monster in den letzten Jahren um mich. Da mach ich mir aufgrund einiger Vorschulkinder schon nicht in mein Höschen.“
Noch einmal bedachte er mich mit einem langen, intensiven Blick, dann nickte er und deutete einem Kollegen, er solle mich in die Besucherzelle bringen. „Ich stehe auf der anderen Seite der Glasscheibe und werde darauf achten, dass er Ihnen nicht zu nahe kommt. Wenn Sie gehen wollen, dann müssen Sie sich nicht rechtfertigen. Klopfen Sie einfach an die Türe.“

Seufzend verdrehte ich die Augen. „Ja, ja.“ Dann nahm ich auch bereits auf dem Stuhl platz, welcher eine Vorrichtungen für Handschellen besaß. Wozu brauchte man denn für Handschellen zusätzliche Halterungen?

Meine innerliche Frage wurde jäh beantwortet, als die blaue Sicherheitstüre ein weiteres Mal aufging. Wie in der Privatschule, welche ich vor der Uni besucht hatte, sprang ich auf sobald zwei Sicherheitsleute, mit einem orange gekleideten Mann eintraten.

Der Blick des Fremden traf meinen. Ich erkannte darin seine überaus große Verwirrung, seine Fragen, so wie die Unschlüssigkeit, ob hier alles mit rechten Dingen zuging. Ein Mann der auf Nummer sicher ging, ganz Ridder. Mein Blick wanderte von seinen dunkelblauen Augen, hoch zu den dukelrotem Schopf. Rot!

Mit wachsendem Entsetzen, sah ich zu, wie der in orange gekleidete Mann vor mir auf einen Stuhl gezwungen wurde, nicht gerade auf die sanfte Tour, doch den Mann schien das nicht zu stören. Illian starrte einfach weiterhin mich an, mit seinen unfassbar tiefen, blauen Augen, als würde er alleine durch meinen Anblick alles erfahren, was er wissen musste. Als stünden sämtliche Geheimnisse der Welt in meinem Gesicht... Ich musste auf die Tischplatte blicken, während seine Hand- und Fußfesseln am Tisch befestigt wurden, so wie am Boden.

„Du kannst dich ruhig setzen.“ Die Stimme klang rau, als wäre sie schon lange nicht mehr benutzt worden. Oder vielmehr bloß selten...

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich den sitzenden Rotschopf von oben herab musterte. Ich prägte mir jedes Detail ein. Die kurz geschorenen, dunkelroten Haare, die fast schon braun wirkten, die dunkelblauen Augen, die schmale, elegante Nase, welche überhaupt nicht zu seinem kantigen Gesicht passen wollte, so wie die Narbe an seiner Oberlippe.

„Illian Leroy?“ Wiederholte ich keuchend und fühlte wie mein Herz dabei einen langen Moment aussetzte.

„Schön das du meinen Namen kennst. Aber wer bist du?“ In seiner Stimme schlug so viel Vorsicht mit, als würde er sich auf einem imaginären Minenfeld befinden, das jederzeit hochgehen könnte.

Die Sicherheitsleute betrachteten mich ihrerseits einen quälend langen Moment. Unter dem ganze gestarre wurde ich bockig. „Ihr könnt ruhig raus gehen. Vergleicht eure Schwänze, oder tut das was Sicherheitsleute gut können! Abmarsch!“ Ich winkte die beiden durch die Türe. Sie verschwanden schnaufend, dann war ich alleine mit Illian Leroy, meinem Bruder... dem Zwilling meiner Haven.

Ich verschränkte Arme und Beine übereinander, während ich mich am Stuhl zurücklehnte. „Sagt dir der Name Ridder etwas?“

„Welche Ritter?“ Fragte Illian mit hochgezogenen Brauen. Auch diese waren rostrot, was mich schwer schlucken ließ.

„Ridder. Das ist mein Familienname. Ich heiße Iduna Ridder. Hast du schon von uns gehört?“

„Iduna... Ridder...“ Der Fremde vor mir rollte meinen gesamten Namen über seine Zunge, sodass mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. Genauso gut hätte er schnurren können! „Was führt ein so junges Mädchen wie dich... in meine Villa Casa?“ Scherzte er humorlos.

Das weiß ich nicht. Was tat ich wirklich hier? Was suche ich hier? Antworten auf Fragen, die ich noch kaum realisieren konnte?

„Willst du mich nur schweigend anstarren?“

„Besser als die Antworten auf Fragen zu hören, die ich überhaupt nicht haben will.“ Oder zumindest nicht wusste, ob ich sie wollte. Vielleicht war das alles doch keine so gute Idee. Aber ihn jetzt hier so zu sehen... Es brachte mich völlig aus dem Konzept.

„Vielleicht kann ich dir überhaupt keine Antworten auf deine Frage geben, weil ich die falsche Person bin und wir verschwenden hier alle beide unsere kostbare Zeit?“ Schlug Illian keck vor, was mir irrationalerweise ein Lächeln entlockte.

„Ist es sehr forsch, wenn ich dich bitte mir von dem Mord zu erzählen, den du begangen hast?“

Illian machte eine, eingeschränkte, vielsagende Geste. „Ist nicht so, als wäre das ein Geheimnis. Ich habe mehrere Leute umgebracht, wurde verurteilt und sitze nun hier fest.“ Er erzählte mir lediglich das offensichtlichste und hielt mich hin.

„Wie hast du sie umgebracht, Illian.“

Illan lehnte sich auf seinem Stuhl vor, so weit es seine Ketten zuließen und unterzog mich einer langen Musterung. „Ich dachte ja nicht, dass du eines dieser Mädchen bist, das auf Mörder steht. Dafür siehst du zu anständig aus.“

Ich gab einen angewiderten Laut von mir. „Das wäre ja Inzucht. Igitt.“ Bemerkte ich und erschauderte bei diesem Gedanken. Scheiße...

„Was?“ Illian blinzelte mich verwirrt an.

„E-Es könnte sein, d-dass ich deine jüngere Schwester bin.“ Gestand ich halblaut.

Illian zog die Nase kraus. „Die freiwillige Genakte.“ Stellte er klug fest.

Attraktiv, klug und nicht auf den Mund gefallen. Drei Punkte die mich an Haven erinnerten. Oh, und das rothaarig nicht zu vergessen, obwohl das auch bloß Zufall sein könnte. So wie die Sache mit dem Geburtsdatum... den übereinstimmenden Geburtsminuten...

Okay, Iduna Ridder. Ab jetzt glaubst du nie wieder an Zufälle. Es war offiziell. Die Ridder-Schwestern besaßen nun einen Bruder.

 

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Nachdem ich meine, bereits einstudierte, Geschichte beendet hatte, dachte Illian angestrengt nach. „Haven Ridder, die Designerin ist meine Zwillingsschwester?“ Fragte er ungläubig.

„Wenn die Ergebnisse nicht gefälscht sind, dann ja.“

„Und du bist demnach meine kleine Schwester.“

Kaum zu glauben, was? „Wäre der Fazit daraus.“

„Das... klingt etwas absurd. Aber es ist nett zu wissen, dass du trotz... dem was du über mich erfahren hast, hier bist.“

Ich wurde etwas verlegen. „Nun ja... Das liegt daran, dass unsere Familie etwas speziell ist.“ Gab ich zu.

„Mit einer berühmten Designerin, die sich stark für Augenerkrankungen einsetzt, glaube ich das gerne.“

Wenn es nur das wäre... „Unter anderem, ja. Aber ich meinte viel eher die Tatsache, dass du deine Opfer mit einem manipulierten Taser getötet haben sollst. Kannst du mir darüber etwas erzählen?“

Illian deutete auf die Überwachungskamera hinter mir in der Ecke. „Ich bezweifle dass der Typ hinter der Scheibe es gut fände, wenn ich dir Horrorgeschichten erzähle, bevor du schlafen gehst.“
Ich reckte bockig mein Kinn vor. „Ich bin siebzehn, keine sieben. Außerdem glaube ich, kannst du dir vorstellen mit welchen Gestalten ich mich bisher schon herumgeschlagen habe. Wie gesagt... meine Familie ist genauso wenig normal, wie du es offenkundig bist.“

Es sollte eine Ermunterung sein, mir zu vertrauen, doch Illian wollte einfach nicht darauf anspringen, sondern deutete erneut, unauffälliger dieses Mal, zur Kamera. „Wenn du vorhast hier irgendwelche Morde zu gestehen, dann denk lieber daran, dass du dich in einem Gefängnis befindest. Hier wird alles >überwacht<.“

Wir wurden also abgehört... Es befand sich nicht nur eine Kamera hier, sondern auch ein Mikrofon. Na toll...

„Fünf Minuten noch.“ Erklang es durch einen Lautsprecher neben der Türe.

„Okay, dann eine Sache, die ich gerne loswerden möchte.“ begann ich und lehnte mich ebenfalls auf die Unterarme vor, wodurch ich Illian viel näher war, als zuvor. „Ich. Glaube. Dir.“ Sagte ich ganz deutlich. „Ich bin mir sehr sicher, dass du deine Gründe hattest zu tun, was du tun musstest. Das liegt uns im Blut. Aber ich weiß auch >wie< du es getan hast und möchte dass du weißt, dass wir alle ähnliches bewerkstelligen und noch viel mehr. Daher hinterlasse ich dir meine Handynummer, wenn ich hinaus gehe. Wenn irgendetwas ist, wenn du etwas brauchst, oder... >reden< möchtest...“ Ich ließ den Satz unausgesprochen, da Illian mich auch so verstand.

„Danke, Iduna. Es ist nett zu hören, dass es noch eine Art an Familie dort draußen gibt.“
„Ich komme wieder.“ Etwas zögerlich, da der nächste Schritt mich große Überwindung kostete, streckte ich meine Hand aus und tätschelte damit, seinen Handrücken, für eine kurze Sekunde. Dann trat auch bereits ein Wachmann ein.
„Die Besuchszeit ist vorbei. Sie müssen gehen, Miss Ridder.“

Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht gedacht, dass der Abschied mir schwerfallen würde. Doch überraschenderweise ging ich mit schweren Herzen hinaus, passierte die metallene Sicherheitstüre und blickte durch ein schmales Guckloch, Illians breiten Rücken hinterher. Drinnen in der Besucherzelle war er mir bei weitem nicht so... groß und breit vorgekommen. Ihn jetzt zwischen zwei Sicherheitsmännern hinterher zu sehen, ließ mich erkennen dass dieser Mann, Illian Leroy, diese Art an Größe bestimmt nicht auf der Straße gewonnen hatte. Diese kalte, resignierte Maske, die er getragen hatte, seine abweisend direkte Art... Mein Bruder lebte hier definitiv nicht unter Leuten, mir denen er gut auskam.

Nachdem ich meine Nummer hinterlassen hatte, checkte ich meine Anrufliste. Keine davon war von Thomas, was mich enttäuschte, dafür aber hatte ich eine Nachricht von Helena erhalten. Sie schrieb mir, dass sich Thomas seit vier Uhr nachmittags im HQ befand und für mich die Verliese durchsuchte, da erst vor fünfzehn Jahren alles digitalisiert worden war. Helena hatte trotz ihrer Sicherheitsfreigabe kaum etwas gefunden, als Allgemeinwissen über meine Eltern.

Ich dankte ihr kurz, dann rief ich meine Schwester zurück. Sie erzählte mir bloß, dass es ihr leid täte, doch sie heute länger bleiben müsse und bestimmt nicht vor Mitternacht heimkäme. Mir war das überraschenderweise recht. Ich wollte nicht reden, sondern bloß nachdenken. Was würde das Wissen über Illian wohl mit meiner Familie anstellen? Konnte er der Ersatz für meine missratene Schwester werden, welche uns verlassen hatte? Vielleicht konnte Illian ja der Auslöser sein, der uns wieder alle zusammen brachte. Das Familiendrama, welches wir benötigten um zurück zu >uns< zu finden.

Seufzend saß ich auf meinem Bett und betrachtete meine Fingerspitzen, die Illians Hand berührt hatten. Trotz des kurzen Hautkontaktes, fühlte ich noch immer das heiße Kribbeln, dass meine Knochen hinauf gezogen war. Das... seltsame Gefühl, als würde Elektrizität durch meine Blutbahnen schwimmen... Nein, keine Elektrizität. Das was ich gefühlt hatte, war anders gewesen. Heiß und elektrisierend, ja. Aber vielmehr auf eine Flüssige Art. Es war fast so gewesen, als sei flüssige Elektrizität durch meinen Körper gelaufen, hätte ihn für einen Sekundenbruchteil erfüllt und sei dann wieder verblasst.

Trotzdem kam >sie< nicht. Ich hatte keine Vision von Illian erhalten, was mich überaus verstörte. Musste ihm erst etwas schreckliches zustoßen, bevor ich eine Zukunftsvision habe? War der Knast etwa noch nicht schlimm genug gewesen?

Ich schlief früh ein, kaum dass ich das Apartment betreten hatte, stand ich unter der Dusche und nickte halb weg. Kein Wunder, nachdem ich so lange wach gewesen war. Völlig erschöpft fiel ich in einen tiefen, entspannenden Schlaf, der jedoch auch keine Vision in sich barg, egal wie sehr ich es mir auch wünschte. So funktionierte nun mal meine Gabe einfach nicht.

Lange durfte ich jedoch nicht so friedlich schlummern. Ich hörte einen Krach, fluchen und wurde davon aufgeweckt, da es normalerweise stets vollkommen Still im Apartment war. Hastig eilte ich die Treppe hinab, bloß um von einer Wildkatze zornig angefaucht zu werden.

„Iduna! Unten steht ein gestohlener Wagen, fahr ihn bitte weg!“

Ich überprüfte den dunklen Gestaltwandler am Boden, so wie das Fauchende Ungetüm mit einem gekonnten Blick. „Brauchst du mich danach noch, oder soll ich dann direkt zu Freya?“

Haven musterte Lyria einen langen Moment, welche zornig ihre Zähne bleckte. Mit denen ich übrigens bereits einmal Bekanntschaft hatte machen dürfen, vor einigen Monaten. Zum Glück war das eher glimpflich ausgegangen. „Geh besser zu Freya, ich komme schon klar.“

Das glaubte ich ihr aufs Wort. Haven kam immer mit den Gestaltwandlern klar, auch wenn diese es nur sehr ungern zugaben. Hastig zog ich mich in mein Zimmer zurück und packte alles ein, was ich benötigte. Mein Handy, Ladekabel, bestellte mir ein Taxi zwischendurch in einen Teil der Stadt, in dem ich nicht herumhängen sollte, und natürlich mein geliebter Laptop nicht zu vergessen! Meine kurze Pyjamahose wechselte ich gegen eine lange Jogginghose, mein noch feuchtes Haar band ich zu einem ungleichen Hochzopf, dann schulterte ich auch bereits meinen neonorangen Rucksack.

„Essen steht im Kühlschank, bedient euch, Kätzchen.“ Zog ich die beiden, hektisch arbeiteten Großkatzenfrauen auf. In aller Eile schlüpfte ich lediglich in meine Treter, dann war ich auch schon aus der Türe und sperrte sie von außen ab, sodass man einen Code benötigte um wieder hinein zu kommen.

Die silberne Schrottkarre, denn anders konnte man diesen Haufen Schrott nicht beschreiben, stand in der Untergrundgarage, mitten über drei Parkplätze. Es kostete mich einiges an Geschick und sehr, sehr viel Geduld, bis es endlich ansprang. Himmel, wie hatte eine panische Gestaltwandlerin den nur an bekommen? Dies war mir ein Mysterium... Kurzerhand parkte ich es in einem anderen Teil der Stadt, wo es neben anderen, vermutlich ebenfalls gestohlenen Wagen, kaum auffallen würde. Mein Taxi stand bereits Vorort. Ich entschuldigte mich, dass er so lange hatte warten müssen, dann fuhren wir auch bereits los.

Vor meinem Elternhaus stieg ich aus, bezahlte mit der Karte und bewegte mich den gepflegten Weg, die Auffahrt hinauf, so leise ich konnte. Den Ersatzschlüssel, welcher an meiner Schlüsselkarte hing, steckte ich so leise wie möglich ins Schloss, quetschte mich ins Haus und schloss genauso leise wieder ab.

Trotzdem erschrak ich, als Milan plötzlich vor mir stand. „Verdammte Scheiße!“ Stieß ich zischend aus. „Hast du mich erschreckt!“

„Ist etwas passiert?“ Fragte Milan besorgt, da ich in der Eile völlig vergessen hatte, Freya eine Textnachricht zu schicken.

Ich winkte ab. „Ach, was. Natürlich nicht. Haven hat bloß einen spontanen Notfall ins Apartment bekommen, deshalb musste ich gehen.“

Milan griff nach meiner Hand, um mich ins, wie gewohnt, chaotische Wohnzimmer zu führen, da er nachts wesentlich besser sehen konnte als ich. Leider war die Wohnzimmercouch nicht mehr dieselbe, wie die vor zehn Jahren. Es war mittlerweile... die siebente? Achte? Leider hielten Sofas unter den Krallen von Werwölfen nicht allzu viel aus. Anfänglich war Freya noch total verzweifelt deshalb gewesen... irgendwann hatte sie angefangen, dies einfach hinzunehmen.

„Weißt du was passiert ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, da war Lyria, die irgendeinen Typen zu Haven gebracht haben muss, da Haven noch ihre Designerkleider anhatte. Der Typ hatte Schusswunden und steckte in seiner Halbverwandlung fest. Offenbar sind sie in eine Schießerei gelandet, oder so.“ Mehr konnte ich auch nicht sagen, solange Haven uns nicht aufklärte.

„Okay, verstehe. Dir geht es gut? Hat dich Lyria wieder angegriffen?“
Noch einmal schüttelte ich den Kopf. „Das würde sie nicht wagen, solange Haven dabei ist und ich sie nicht zuerst angreife.“ Zumindest hoffte ich dies, denn bei Therianthrophen konnte man sich nie sicher sein. „Schläft Freya noch?“

Milan seufzte schwer. „Das Baby lässt ihr keine Ruhe. Er zahnt gerade.“

Ich verzog das Gesicht, was er leider sehen konnte. „Ich hoffe mal, dass das endlich euer letztes war. Kaum sind sie ein Jahr alt, vergesst ihr die ganzen Schwierigkeiten und wollt noch eines.“ Tadelte ich ihn schwesterlich.

„Das wirst du wohl erst verstehen, wenn du groß bist.“ Scherzte Milan und fing sich einen Tritt von mir ein.

„Papa? Ich rieche Tante Idy.“ Erklang es vom obersten Treppenansatz und katapultierte mich einen Moment lang zurück in die Zeit, als Haven und ich noch dort oben gestanden hatten. Kinder, die sich zu ihrer eigenen Sicherheit hatten beschützen lassen. Nun waren wir diese Kinder nicht mehr...
„Und ich höre einen kleinen, süßen Frechdachs, der nicht im Bett ist.“ Scherzte ich heiter.

„Tante Idy!“ Begeistert kam der Neunjährige die Treppe hinunter gelaufen, übersprang dabei gekonnt Spielzeug seiner jüngeren Brüder, über die ich bestimmt geflogen wäre und mich mindestens fünfzehnmal überschlagen hätte, bloß um gähnend in meinen Armen zu landen. „Tante Idy ist da!“ Murmelte er schlaftrunken und kuschelte sich in meine Arme.

Liebevoll lächelte ich auf den kleinen Wirbelwind hinab. Trotz der Dunkelheit, wusste ich, dass er wundervolles, Nussbraunes Haar besaß und tiefsinnige, feuerrote Iriden, welche alles ganz genau wahrnahmen. Zärtlich streichelte ich durch die kleine Mähne, die wieder einmal geschnitten gehörte und hauchte ihm einen Kuss auf den Scheitel. „Wie geht’s den anderen drei?“ Fragte ich dann an Milan gewandt.

„Das können wir auch morgen besprechen. Jetzt hole ich dir erst einmal etwas zum Schlafen.“

So leise er konnte, balancierte Milan durch das chaotische Wohnzimmer, besorgte mir einen frisch bezogenen Polster und eine warme Decke. Kaum hatte ich mich zusammen mit Ace auf die ausgezogene Couch gebettet, hörte ich das leise Tapsen von noch kleineren Füßen. Jedoch anstatt das ein fast siebenjähriger zu uns hinauf sprang, war es ein junger Wolf, mit zotteligen braunen Fell. Er zwängte sich augenblicklich, eifersüchtig wie er nun einmal war, direkt zwischen Ace und mich. Ace bekam überhaupt nichts mehr mit, so tief schlummerte der Neunjährige schon wieder.

Schmunzelnd gab ich auch dem Wölfchen ein Begrüßungsküsschen. „Hi, Romeo.“

„Darf ich auch bei dir schlafen, Tante Idy.“

Vor Schreck zuckte ich zusammen. „Meine Güte! Cain, ich habe dich überhaupt nicht kommen gehört.“ Lachte ich leise, dann winkte ich auch schon den vierjährigen auf das Sofa.

Eingekeilt zwischen meinen drei ältesten Neffen, gähnte ich noch einmal ausgiebig, dann schlief ich auch bereits wieder ein.

4. Milan Ridder - Leckeres Apfelmus und stinkende Windeln...

Als ich am morgen meine Augen aufschlug, war Freya gerade dabei sich anzuziehen. Ohne mich zu bewegen, sah ich ihr heimlich dabei zu. Das tat ich vor allem gerne, da ich die Aussicht genoss und weil es sie ärgerte, sobald sie es bemerkte.

„Wann ist Iduna letzte Nacht angekommen?“

Die Scharfsinnigkeit, welche meine süße Jägerin besaß, erschreckte mich oftmals umso mehr, da sie keine Wolfsinstinkte besaß. „Gegen ein Uhr. Woran hast du es dieses Mal bemerkt?“

Freya zog sich den Spuckefesten Pulli über den Kopf und wandte sich mir mit einem schelmischen Grinsen zu. „Weil mein Herz eine Sprung gemacht hat, sobald du mir auf den Arsch gestarrt hast.“ Dann warf sie mir auch noch ein Paar Socken ins Gesicht, bevor sie unser gemeinsames Schlafzimmer verließ.

Tief seufzend stand ich ebenfalls auf und schüttelte meinen Kopf über diese Frau. Zehn Jahre und unsere Bindung hatte in all der Zeit, keine einzige Sekunde nachgelassen. Obwohl ich zugeben musste, dass ich nach Havens Unfall mächtigen Bammel gehabt hatte, sie würde mir den Rücken kehren. Das wäre das Verderben für uns beide gewesen... Nein, zu dieser Zeit waren wir ebenfalls bereits zu dritt. Milan und Freya... Das sind wir.

Nun ja... Das und die Rasselbande, die wir uns zugelegt hatten!

„Papa! Schau, Tante Idy ist da!“ Wildes gequietsche folgte, als Iduna meinen ältesten Sohn packte, der selbst mit neun Jahren bereits stärker und wendiger war, als die siebzehnjährige und ließ sich von ihr gnadenlos durchkitzeln.

„Nur fünf Minuten!“ Schrie sie gespielt verzweifelt. „Ich wollte nur noch fünf Minuten schlafen! Habt Gnade, ihr Monster!“

Natürlich hatten die drei Jungs keine Gnade mit ihr, was sie selbstverständlich wusste. Es war schön zu sehen, dass einmal nicht wir ihre Opfer waren, daher schlich ich mich in die Küche, um eine Zweisame Minute mit meiner Frau zu verbringen.

„Denk nicht einmal daran, Tizian wird gleich durch den Krach aufwachen.“

Ich zog hinter ihr eine enttäuschte Miene. „Woher wusstest du es denn jetzt schon wieder?“ Murrte ich beleidigt, doch legte trotz der Mahnung meine Arme von hinten um sie.

Sie deutete mit einem Finger über die Spüle, wo ein verglaster Kasten hing mit vielen bunten Tassen darin. „Ah!“ Machte ich. Blöde Spiegelmagie. Dann bekam sie von mir einen Kuss in den Nacken, woraufhin ihr ein zufriedener Seufzer entfuhr.

„Weißt du was los war letzte Nacht?“
„Ein Notfall für Haven. Anscheinend wurden Therianthrophe angeschossen.“ Ich fühlte Freyas Bedrücktheit, als wäre sie meine eigene.

„Braucht Haven Hilfe?“

„Glaube nicht, sonst hätte sie uns geschrieben.“

Freya nickte zustimmend, dann nahm sie die nächste Ladung Pfannkuchen vom Herd. Als es in der Mikrowelle piepste, holte ich die steril gewaschenen Fläschchen heraus und begann Muttermilch aus dem Kühlschrank in in einen Topf umzufüllen, um diese zu wärmen.

Freya hatte bereits bei unserem ersten Sohn die Lektion gelernt, spitze Wolfszähne von kleine Babys, selbst wenn es nur einer war, nicht in die Nähe ihrer Brüste zu lassen. Somit galt seitdem das ungeschriebene Gesetz, dass sobald der erste Zahn bei einem unserer Kinder drückte, Freyas Brüste wieder ganz alleine mir gehörten.

„Milan, meine Augen sind nicht in meinem Ausschnitt.“

Ich knurrte. Gefährtinnen waren ja so gemein! „Ich hasse deine allwissenden Augen.“

Schmunzelnd drehte sich Freya herum und drückte mir einen langen, innigen Kuss auf den Mund. „Ich liebe dich auch, Babe.“ Dann verschwand sie auch bereits mit einer Ladung voll Tassen und Schüsseln aus der Küche. Ich folgte ihr und nahm das abgezählte Besteck mit. Diese Frau musste man einfach lieben...

„Hast du schon etwas von Haven gehört?“ Erkundigte sich Freya, während wir gemeinsam den Tisch deckten.

„Nein, sie hat nichts geschrieben. Aber ich ruf sie gleich einmal an.“ Gesagt, getan, bloß das der Anruf ergebnislos ausfiel. „Sie hebt nicht ab. Bestimmt schläft sie noch, es ist ja noch nicht einmal sieben Uhr.“
„Willkommen in meiner Welt.“ Seufzte Freya, gefolgt vom quengeligen Geschrei unseres Jüngsten.

„Ich geh schon.“ Während Freya nach der warmen Muttermilch sah, wickelte ich Tizian, zog ihn frisch an und ging dann hinunter zu den beiden Mädels. Iduna und Freya saßen bereits beim Tisch und versorgten die älteren Jungs. Ich platzierte den unruhigen Frechdachs auf dem angekauten Hochstuhl und fügte eine Schüssel voller Brei hinzu, während die warme Muttermilch noch abkühlte.

„Freya, kann ich dich etwas fragen?“

Die ernste Tonlage die in Iduna´s Stimme mitschwang, ließ mich hellhörig werden, während die drei älteren Jungs sich gegenseitig angifteten, oder abwechselnd lachten. Freya wechselte einen überraschten Blick mit mir, der sichergehen wollte, ob ich mehr darüber wusste, was gleich kommen würde. Ich zuckte unwissend mit einer Schulter. „Ja, klar doch.“
„Was passiert eigentlich mit Jägern, die im Knast sitzen... Also in einem menschlichen Gefängnis.“

Freya wirkte erleichtert über diese Frage. Das war Terrain in dem sie sich gut auskannte. „Sie werden von uns raus geholt und in den meisten Fällen wird auch die Anklage fallen gelassen. Menschliche Gesetzte sind nervig, aber harmlos.“ Bestätigte sie, was Iduna bereits gedacht zu haben schien.

„Und was ist mit Jägern die nicht wissen, dass sie Jäger sind. Gibt es solche auch?“

Und da wären wir wieder im gewohnt gefährlichen Terrain... „E-Es gibt keine Jäger, die nicht wissen was sie sind. Das ist so als würde ein Werwolf nicht wissen wie er sich verwandeln kann, oder ein Vampir der sich... von Gras ernährt.“ Lachte sie erheitert über diese sinnlose Frage.

Iduna klang davon nicht sonderlich überzeugt. „Aber was ist, wenn es dort draußen vielleicht jemanden... wie Helena gibt. Einen Jäger, der in der falschen Welt aufwächst. Okay, Helena ist durch und durch Mensch, aber du verstehst doch was ich meine, oder?“

„Ja, natürlich. Dadurch dass jedoch Geburten bei uns pingelig dokumentiert werden, um... wie du ja weißt, einen übereinstimmenden Partner für >uns< zu finden, entgeht der Zentrale kein... Jägerbaby.“

Iduna stützte einen Arm auf um ihr Kinn zu stützen. Dass Cain jedoch ihren Pfannkuchen stahl, entging ihr völlig. So ein Verhalten war ich überhaupt nicht von Iduna gewohnt... Gedankenverloren. Es gibt ja dutzende Bezeichnungen mit denen ich sie bezeichnen würde... aber gedankenverloren war Iduna niemals.

„Verstehe. Und weshalb gibt es bei uns Jägern eigentlich keine Zwillinge?“

Freya und ich wechselten einen besorgten Blick... Zumindest so lange, bis ich mit Apfelmus bespuckt wurde. „Tizian! Du musst das essen. Ich weiß, es riecht nicht nach Mami, aber es schmeckt trotzdem lecker.“ Schwor ich ihm und zeigte es vor. Lecker!

„Nun, ja... Du musst wissen...“ Freya schüttelte irritiert ihren Kopf. „Woher kommen plötzlich all diese Fragen, Iduna?“

Räuspernd setzte sich ihre weit jüngere Schwester auf und legte ihr Besteck zur Seite als ihr ebenfalls Auffiel, dass ihr Teller leer war. Sie begnügte sich jedoch mit einem giftigen Blick in die Runde der völlig unschuldig drein sehenden Jungs. „Nur so. Das sind eben so Dinge, die mir aufgefallen sind. Immerhin sind wir Jäger den Menschen so viel ähnlicher, als die anderen Kreaturen. Nichts für ungut, Leute.“ Meinte sie dann eher an mich gewandt. Jedoch solange sie nur Tatsachen erwähnte, war mir das völlig gleich. Ich wusste ja, dass Jäger und >Kreaturen der Nacht< sehr unterschiedlich waren. Trotzdem hatte es Freya und mich von nichts abgehalten. Ausgebremst anfänglich, ja. Aber das war dann auch bereits alles gewesen. Ridder setzten nun einmal ihren Kopf durch, egal was irgendein Rat darüber dachte, oder die Allgemeinheit als >falsch< betrachtete.

„Milan! Das Apfelmus ist für deinen Sohn, nicht für dich.“ Erklang es hinter meinem Rücken, woraufhin ich bloß wölfisch grinste. „Okay, verstehe. Nun ja... Wie dir sicher bewusst ist, ist die Geburt von etwas übernatürlichem wie >uns<, egal ob Werwolf, Vampir oder Jäger, sehr, sehr schwierig. Prinzipiell ein Kind zu bekommen, ist sehr auslaugend für den Körper. Jetzt stell dir einmal vor, was man als Mutter durchmachen muss, wenn die Hormone ohnehin bereits verrückt spielen und einem die Magie durch das Kind entzogen wird... Das ist...“ Freya suchte nach Worten.

„Nicht möglich.“ Stellte Iduna kühl fest.“

Freya nickte. „Genau!“

„Aber was ist dann mit menschlichen Müttern? Wenn ein Jäger einen Menschen schwängern würde zum Beispiel. Das machen doch die anderen Kreaturen am laufenden Band.“

Freya lächelte sanftmütig ihre Schwester an. „Dann wäre es voll und ganz menschlich, nehme ich an. Immerhin könnte das Kind seine Magie nicht von seiner Mutter beziehen. Es... gäbe einfach keinen Anstoß für das Kind, damit dessen eigene Magie erwacht, oder es prinzipiell ausprägt. Die Entwicklung im Mutterleib ist das wichtigste. Bekommt der Fötus keine Nahrung, vergeht er. Bekommt der Fötus keine Magie...“
„...versiegt seine Gabe.“ Ergänzte Iduna und wirkte nicht gerade froh über das Ergebnis.

„Wieso willst du das eigentlich wissen?“ Fragte ich und wischte mit einem Feuchttuch Apfelmus von meiner Kleidung. „Hat dich irgend ein Kerl geschwängert?“

Iduna schickte mir einen dermaßen giftigen Blick, dass ich theoretisch auf der Stelle Feuer fangen hätte müssen. „Auch wenn du das immer glaubst, aber du bist nicht witzig, Milan.“

Ich fasste mir an die Brust. „Autsch.“

„Na gut, wenn jetzt alle gegessen haben, gehen wir hoch. Iduna, übernimmst du hier unten?“ Iduna nickte hastig und begann das dreckige Geschirr einzusammeln, während Freya mit den Jungs nach oben ging. Als sie an mir vorbei kam, gab sie mir einen liebevollen Kuss auf die Schläfe. „Rede du mal mit ihr.“

Obwohl sich Iduna und Freya optisch sehr ähnlich sahen, umso unterschiedlicher waren sie vom Charakter. In der Vergangenheit war ich für Iduna, nach dem Verlust von Gini so etwas wie ihr großer Bruder geworden. Ich selbst sah sie ebenfalls als meine Schwester an, auch wenn sich unser Blut lediglich über die Jungs verband.

„Ach komm schon... Nur einen einzigen für Papa... Sei so lieb, mein kleiner Schatz!“ Bat ich Tizian, der mir starrköpfig den Löffel verweigerte, nun da er wusste dass sich keine leckere Muttermilch darauf befand. „Okay, hilf mir Iduna. Wie bekomme ich einen starrköpfigen kleinen Satansbraten dazu total leckeres, Biologisch angebautes Apfelmus zu essen?“

Iduna stellte das gesammelte Geschirr ab und kam an meine Seite. Neben Tizian ging sie in die Hocke und blickte ihn liebevoll an. „Trinkt er nur Milch?“ Fragte sie und spielte mit seinen Zehen, um ihn zum Lachen zu bringen.

„Er verweigert alles, außer seine Mutter. Das macht mich wirklich wahnsinnig.“

„Ein Ridder eben. Uns gehen Männer am Arsch vorbei.“ Grinste Iduna frech, woraufhin ich ihr durchs verknotete Haar wuschelte.

„Es ärgert mich nur so fürchterlich. Die ersten sechs Monate und die neun Monate in Freyas Bauch kann ich ohnehin nichts mit ihnen machen, weil sie nur an ihr hängen. Jetzt ist er endlich alt genug um auch feste Nahrung zu essen, alt genug um endlich mehr als nur Freya zu sehen, aber er verweigert immer noch alles.“ Trotzig steckte ich mir noch einen Löffel voller Apfelmus in den Mund. Von der kleinen Portion war ohnehin kaum noch irgendetwas übrig. Der Großteil, welcher nicht an meiner Kleidung klebte, war bereits in meinem Magen gelandet.
„Da musst du dich wohl bei einem eurer Erziehungsratgeber erkundigen. Ich bin nur die Tante, die mit ihnen spielt, sobald sie krabbeln.“ Iduna streckte sich hoch und presste ihre Lippen auf die Wange von Tizian, um Pupsgeräusche zu machen. Er quietschte vor Freude und strampelte wild herum.

„Verrätst du mir dann vielleicht, weshalb du das alles wissen wolltest vorhin?“ Bevor Iduna die Fragen als Nichtigkeit abtun konnte, hob ich eine Hand und redete rasch weiter. „Du kennst die Gesetze, Iduna. Auch wenn du nur einen Freund, oder eine Freundin schützen möchtest, schützt du damit das Kind nicht. Stell dir vor, du wärst mit deinen Visionen in der Welt der Menschen aufgewachsen... Denk nur an Helena, wie es ihr ergangen ist. Wäre es ein Werwolf, wäre ich genauso verpflichtet ihm zu helfen und ihn aufzuklären, wie es die Jäger sind.“ Ich betrachtete Idunas Hinterkopf. Was wohl im Moment darin vorging? „Wenn du etwas weißt, dann liegt es in deiner Verantwortung. Natürlich könntest du auch genauso Freya bitten sich dieser Aufgabe anzunehmen... oder Haven und Thomas. Einen Jäger deines Vertrauens.“

Iduna wandte sich zu mir um und schenkte mir ein aufrichtiges, liebevolles Lächeln. „Danke, Milan.“ Dann schnappte sie sich die Schüssel mit Apfelmus um ihn leer zu schlecken.

„Undankbare Ridder-Schwestern.“ Murmelte ich, nahm Tizian aus dem Hochstuhl um ihn in meine Arme zu legen und gab ihm sein Fläschchen. „Werd ja nicht wie deine Mama und deine Schwestern. Du bist immerhin ein Werwolf!“ Mahnte ich. Gedankt wurde mir diese Vorschrift mit einem wirklich widerlichen Windellaut, welcher Iduna laut lachend in der Küche verscheuchte. „Bringen wir dich und deine Windel mal besser zu Mama...“

5. Iduna Ridder - Freiheit und andere unerwünschte Nebenwirkungen

Milan hatte ja so recht. Egal ob Bruder, oder nicht Bruder. Illian ist ein Jäger und alleine aus diesem Grund war es meine Pflicht ihn zu unterstützen. Nach einem prüfenden Anruf bei Thomas, welcher mir versicherte das er absolut nichts über Zwillinge oder irgendwelche Ungereimtheiten bei meinen Eltern gefunden hatte, machte ich mich auf den Heimweg. So schön es auch war mit meinen Neffen zu toben und Freya zu unterstützen, wenn sie gerade wieder einmal mit Milan >stritt<, musste ich dann doch los.

Es war bereits nach dreizehn Uhr und ich hatte keine Ahnung, wie lange das alles nun im Gefängnis dauern würde. Wenn ich Illian freikaufen würde, würde er dann gleich heute hinaus kommen? Wäre es ein langer Verhandlungsweg?

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich wohl doch erst zum HQ gehen sollen und mit jemandem sprechen, der sich mit solchen Fällen befasste. Was sich jedoch im Gefängnis ereignete, überraschte mich dann doch sehr...

Bevor ich jedoch ins Gefängnis ging, machte ich mich auf den Weg zurück nach Hause... Das Apartment-Zuhause. Um niemanden zu wecken und vor allem um keinen schreckhaften Theriantrophen in die Arme zu laufen, schlich ich mich leise ein. Mit möglichst lautlosen Schritten durchquerte ich den schwarz, weißen Flur und fand mich vor einer überaus verrückten Szene wieder.

„Du warst das damals in dieser Röhre.“ Stellte Haven gerade völlig erstaunt fest, doch ich verstand kein Wort. Was ich jedoch verstand, war die Situation in welcher ich mich befand... Einer Situation von der ich dachte, niemals hinein stolpern zu würden! Zumindest nicht bei Haven...

Sie stand mitten im Wohnzimmerbereich und blickte vollkommen fasziniert in die grünen Katzenaugen, des schwarzen Therianthrophen. Der Gestaltenwandler lehnte über ihr und zärtlich seine großen Hände um ihre zarten Wangen gelegt, welche sich knallig rot verfärbt hatten. Was er in diesem Moment tun wollte, war ziemlich offensichtlich. Der Therianthroph wollte Haven küssen.

„Ä-Ähm... Soll ich später noch einmal kommen?“ Erkundigte ich mich so unschuldig wie nur möglich. Beide, Haven und der Katzenwandler sprangen erschrocken auseinander und sahen mich an, als wäre ich zur falschen Zeit, am falschen Ort gelandet. Ehrlich gesagt fühlte ich mich auch genauso.

Verlegend begann Haven zu stammeln, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr von ihr gehört hatte. „Iduna! Du bist ja schon zurück!“ Selbst ihre Stimme klang nach schriller Begeisterung. Offenbar war sie über jegliche Ablenkung erfreut. „Iduna, das ist Vetjan, der Notfall welcher gestern rein gekommen ist. Vetjan, meine Schwester Iduna.“

Anstatt mich höflich zu begrüßen, oder sich zumindest für die mangelnde Aufmachung zu entschuldigen, wurde ich wüst angefaucht. „Eine Jägerin!“

Dadurch dass Therianthrophe nur selten Schamgefühl empfanden, war es Vetjan auch vollkommen egal, dass er mit einem mächtigen Ständer vor mir stand. Einen den ganz bestimmt nicht ich ausgelöst haben konnte. Angeekelt hielt ich meine beiden Hände in einem solchen Winkel, dass ich von seinem Bauch abwärts nichts mehr sehen musste.

„Ich liebe diese Begrüßungen. Therianthrophe sind ja so herzlich, nicht wahr.“ Grinste ich in Havens Richtung, welche dadurch bloß noch röter im Gesicht wurde, bis ihre Wangenfarbe mit der ihrer Haare harmonierte.

„E-Er hat mich nur wiedererkannt. Wir haben überhaupt nichts getan!“ Rechtfertigte sich Haven so hastig, dass sie fast nuschelte. Ich konnte ihr kein einziges Wort davon glauben. Nicht so wie sie aussah...

„Genau...“ Bemerkte ich langgezogen. „Ich bin eigentlich bloß am Sprung. Darf ich mir deine Kreditkarte ausleihen?“

Haven tat unbeteiligt. „Mach ruhig, aber du kennst deine Shoppinggrenze!“ Oh, ja meine Shoppinggrenze. Nicht dass ich auch nur annähernd je daran gekommen wäre. Zumeist reichte mir mein Taschengeld und wenn ich einmal nach Havens offener Kreditkarte fragte, dann weil ich ihr etwas teures mitnehmen sollte, was sich mit meinem Taschengeld nicht ausging. Kurzerhand zog ich die Karte aus ihrer teuren Designergeldbörse und sah gerade noch, wie Haven, irgendetwas zu Vetjan murmelnd, in ihrem Zimmer verschwand.

Ein Therianthroph, der Haven den Kopf verdrehte? Das dieser Tag einmal kommen würde, sollte mich eigentlich nicht so sehr überraschen. Haven ist attraktiv, witzig und kann jeden um ihren Finger wickeln, wenn sie es darauf anlegte.

Ich musste jedoch auch eingestehen, dass diese Exemplar, trotz seiner ungepflegten Behaarung extrem heiß aussah. Groß, dunkel, sexy und er fuhr ganz offensichtlich sehr auf Haven ab.

Arme Haven... Einen Moment erwog ich es, bei ihr zu bleiben, da Haven absolut keine Erfahrung mit Männern hatte und ihnen auch eher freiwillig aus den Weg ging. Zumindest in romantischer und sexueller Hinsicht.

Sobald ich jedoch wieder an Illian dachte, verflog jegliche Sorge um Haven. Wüsste Haven, wer vermutlich dort drinnen saß, gefangen und von Menschen umzingelt, würde sie ohne zu zögern darauf bestehen, dass ich ihm half. Später einmal würde sie es mir danken. Davon war ich zu diesem Zeitpunkt überzeugt!

 

- - - - -

 

Als ich schlussendlich Kaution für Illian Leroy stellte, wurde ich anfänglich gewarnt, dass ich so etwas nicht tun sollte. Immerhin saß der Typ nicht ohne Grund bereits seit Jahren hinter Gitter. Als sie jedoch meinem sturen Blick begegneten, so wie den überraschend falschen Akten über ihn, wurde große Verwirrung breit. Laut den Akten, die bereits verstaubt irgendwo, noch immer nicht digitalisiert, in einer Schublade gelegen hatten, soll sich Illian bereits seit über fünfzig Jahren hier befinden, was logischerweise totaler Bockmist sein musste.

Laut Illians Geburtsurkunde und anderen Dokumenten, war er gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt. Ein Anruf bei seinem Anwalt bestätigte ebenfalls, dass er weit länger im Gefängnis saß, als er ursprünglich verurteilt worden war.

Alles in allem klang das alles sehr suspekt. Akten die fünfzig Jahre alt sind. Eine Geburtsurkunde die bestätigt dass er Mitte Zwanzig sei. Ein Bluttest der ebenfalls beweist, dass er Havens Zwilling sein musste! Alles sprach für Illian und gegen die seltsame Akte.

Als ich gegen neun Uhr abends vor dem Hauptgebäude wartete, kam mir ein überaus angepisst aussehender Typ entgegen. Gekleidet in schwarze Springerstiefel, einer schwarzen, maßgeschneiderten Hose, einem ebenfalls schwarzen T-Shirt und einer genauso schwarzen Lederjacke, welche er sich überzog, blickte Illian mich an, als sei ich Geisteskrank.

„Bist du verrückt? Oder einfach nur saumäßig dämlich?“ Fauchte Illian mich zornentbrannt an.

Ich verschränkte beleidigt meine Arme vor dem Brustkorb und säuselte gespielt lieb vor mich hin. „Nicht so viel dank, Brüderchen. Das habe ich doch gerne gemacht. Ich hab dich auch total lieb.“

Illian raffte die Lederjacke, woraufhin der Geruch von Staub in meine Nase drang. Langsam wurde das alles doch recht seltsam... „Danke!“ Verärgert hatte er seine Arme vor dem Brustkorb verschränkt, wodurch die Jacke spannte. Dankbarkeit klang in meinen Ohren jedoch ganz anders...

Für einen Moment erlaubte ich es mir, meinen Bruder im Licht der Straßenlaterne zu mustern. Er war groß, größer als ich, was bei meinen einen Meter, fünfundsechzig keine Kunst war. Seine Schultern waren doppelt so breit, wie meine und vorhin hatte ich noch deutlich ausgeprägte Oberarme erkennen können. Mein Bruder war also ein recht durchtrainierter Kerl. An seinen Wangenknochen hatten bereits angefangen neue Stacheln seines dunklen Bartes zu wachsen, während sein roter Schopf kaum zehn Zentimeter maß.

Auch sonst schien seine Haut nicht so schön milchig zu sein, wie die von Haven und sein eleganter, weiblicher Hüftschwung ließ stark zu wünschen übrig. Nicht, dass ein weiblicher Hüftschwung ihn weniger männlich hätte wirken lassen würde...

Blinzelnd riss ich meine Aufmerksamkeit zurück zu Illians Worten. „Im ernst, Leona. Das wäre nicht nötig gewesen! Ich sitze viel lieber dort drinnen!“ Er deutete hinter sich auf das Gebäude, durch welches man als Besucher eintrat.

„Erstens, ich heiße Iduna, nicht Leona. Zweitens, wenn es stimmt was auf dem Bescheid steht, dann bist du mein Bruder. Und für unsere Familie machen wir einfach alles!“

Illian merkte wohl, dass er mit mir nicht reden konnte, also rauschte er einfach an mir vorbei, an die geöffnete Metalltür zu, die direkt hinter uns geschlossen werden sollte.

„J-Jetzt warte doch mal!“ Ich holte locker seine schnellen Schritte ein und stellte mich auf der Gasse vor ihn. Geschickt überwand Illian meine körperliche Gehwegsperre, indem er auf die Straße lief und dort einfach mal den Verkehr aufhielt, um auf die andere Seite zu kommen.

Ungläubig lief ich ihn hinterher, nur mit dem Unterschied, dass ich Lücken abpasste und mich bei den hupenden Leuten mit einem Wink entschuldigte. Erneut holte ich Illian ein, indem ich lief, doch dieses Mal klammerte ich mich an seinen Unterarm. „Jetzt warte doch endlich! Wo willst du denn überhaupt hin? Wie kann ich dich kontaktieren?“

Er blieb endlich stehen, doch versuchte meine Hände von seinem Ärmel abzuschütteln. „Nein, ich warte nicht! Dorthin, wo alle Obdachlosen rumhängen. Und überhaupt nicht, denn du bist verrückt.“

Ich bin... verrückt? Das war echt gemein, denn Illian kannte mich nicht einmal! „W-Warum zu den Obdachlosen? Haven und ich haben ein Apartment, wenn du willst kannst du dort die erste Zeit bleiben. Uns... kennenlernen.“

„Ein Traum... eine Mädels-WG und keine davon kann ich vögeln.“ Ohne darauf zu achten, dass ich noch an seinem Ärmel hing, ging Illian einfach weiter, sodass ich neben ihm her stolperte. Mann, wie kräftig war dieser Kerl überhaupt?

„Illian, wenn du mich zumindest versuchen lassen würdest dir zu helfen, dann...“
„Helfen? Danke, von deiner Art an ungefragter Hilfe habe ich wirklich genug!“ Schrie er aufgebracht. „Dank dir habe ich kein Dach mehr über den Kopf, muss mich wieder mit irgendwelchen scheiß Leuten abgeben, kein dreimal tägliches Essen, nie meine Ruhe, ständigen Lärm...“ Er knirschte mit den Zähnen. „Ich wollte bloß in Ruhe gelassen werden, klar. Jetzt... Lass... los, endlich!“ Illian versuchte meine Finger von seinem Ärmel zu lösen, doch hatte im Gegensatz zu mir nur eine Hand dafür übrig. Bekam er eine los, griff ich mit der zweiten fester zu, so wie umgekehrt. Es ging sogar so weit, dass in ein richtiges Handgemenge ausarteten. Immer schneller und konsequenter versuchten Illian mich loszuwerden, so wie ich ihn festzuhalten. Mittels einer geschickten Drehung, die ich ernsthaft nicht hatte kommen sehen, fixierte Illian meinen Arm am Rücken und presste meinen Brustkorb gegen die nächstgelegene Hauswand. „Kannst du mich jetzt bitte endlich in Ruhe lassen!“

Wie von meinen Schwestern gelernt holte ich mit dem Fuß nach hinten aus, wie zu erwarten wich Illian jedoch dem Tritt aus. Was er weniger kommen sah, war mein rückwärts wirkender Kopfschlag, mit welchem ich sein Kinn heftig traf. Selbst ich gab einen Schmerzenslaut von mir, drehte mich herum und fand uns beide in der Ausgangsposition wieder.

Illian, verärgert sein Kinn reibend, ich an seinem Ärmel hängend. Herausfordend grinste ich zu meinem Bruder auf. „Noch eine Runde? Oder gibst du endlich auf?“

Für einen winzigen Sekundenbruchteil bildete ich mir tatsächlich ein, ein anerkennendes Zucken seiner Mundwinkel erkennen zu können, doch da war es schon wieder verschwunden und Illian blickte sich hektisch nach einer Geräuschquelle um, die ich nicht wahrgenommen hatte.
„Deckung!“ Noch während Illian mich anschrie, zog er mich an seine Brust und zerquetschte mich förmlich zwischen sich, so wie der Hauswand in meinem Rücken. Jedoch bevor ich über die unbequeme Stellung protestieren hätte können, schlug ein Schwall Kugeln neben uns ein. Immer schnell, heftiger und lauter polterten Kugeln über, unter und neben mir in die Wände, so wie den Boden. Versunken in panischer Angst, klammerte ich mich an meinen Bruder, hoffte... nein, betete er möge eine Magie beherrschen, die ihn vor diesem Kugelhagel beschützt, nachdem ich ihn gegen seinen Willen, in irgendetwas hinein gezogen hatte, von dem ich ebenso keine Ahnung haben konnte.

„Illian...“ Der erste Schreck saß mir noch so tief in den Knochen, dass mich Illians Worte erst erreichten, als seine Hand sanft über mein Haar streichelte.

„Sie sind weg. Alles ist wieder gut.“ Hauchte er neben meinem halbtauben Ohr. Dann ließ Illian mich auch bereits wieder los und zog mich in diesem Fall unbarmherzig neben sich her.

„W-Was war das? Wer und vor allem warum, hat jemand auf uns geschossen und weshalb bist du nicht verletzt?“

Illian knurrte etwas unverständliches. „Weniger Fragen stellen, schneller die Beine bewegen, Dolores.“

„Iduna!“ Korrigierte ich schnippisch, was Illian jedoch zu entgehen schien.

„Vor wem laufen wir weg?“ Schrie ich etwas lauter, über das Gehupe hinweg, welches er nun auslöste, in dem er Zickzack über die gut befahrene Straße flüchtete. Zwischen zwei eng aneinander gereihten Häusern, hielt Illian endlich inne und blickte zwischen unseren Händen und meinem Gesicht herum, als würde ihm eben erst, durch meine Worte bewusst werden, dass er mich mitgenommen hatte.

Hastig gab er meine Hand frei, die sich plötzlich eisig anfühlte. So... als hätte ihr jemand gerade eben sämtliche Wärme entzogen... „>Wir< fliehen überhaupt nirgendwo hin. Du geh nach Hause und lebe dein Leben einfach weiter. Ich sehe zu, dass ich wieder in den Knast komme.“

Dieses Mal ging Illian ohne mich los, während ich verwirrt meine rechte Hand rieb. W-Was bedeutete das alles? Ich verstand überhaupt nichts.

Okay, Illian steckt in sehr großen Schwierigkeiten, irgendjemand ist ganz offensichtlich auf seinen Tod aus. Aber... er ist doch mein Bruder! Er gehört streng genommen sogar zu meinem Zirkel, auch wenn ihm das noch nicht bewusst war. Und zusammen sind Ridder immer stärker.

Entschlossen holte ich Illian ein, der sich gerade an einer Tafel zu orientieren schien. Als er mich bemerkte, hielt er augenblicklich beide Hände in die Höhe, was mich schmunzeln ließ. „Klammer dich ja nicht schon wieder an mich. Ich komme alleine besser klar!“

Anstatt nach seinen, in die Höhe gestreckten Armen zu angeln, schnappte ich mir den Zipp seiner Lederjacke und zog die fürchterlich sture Wand neben mir her. „Ja, ja. Schon klar. Aber im Gegensatz zu dir, weiß ich ganz genau, wo man sich hier gut verstecken kann!“ Mehr Überzeugungsarbeit benötigte es dann nicht mehr und die Wand gab widerwillig nach.

6. Haven Ridder – Zurück in die Kanalisation

Geschafft! Es war bereits später Abend und der Hunger hatte Vetjan dazu getrieben, mir eine Atempause einzuräumen. Dafür hatte ich ihm das Mittagessen von gestern erwärmt, welches er nun mit den Händen hinunter schlang, als hätte es für ihn noch nie etwas besseres in seinem Leben gegeben. Etwas das der Wahrheit unangenehm nahe kam.

Ich selbst schnitt zivilisiert mein Essen auf, während ich Vetjans Profil musterte. Mittlerweile hatte ich ihn dazu gebracht, die lange Hose anzubehalten, während ich zu Jeans und einem T-Shirt wechselte. Zudem war er bereits unter der Dusche gewesen, unter meiner Anleitung natürlich. Danach hatte ich ihm beim rasieren seines Gesichtes geholfen und die verfilzten Haare geschnitten.

Ich hatte ja gewusst dass Vetjan sehr attraktiv war... aber ich hatte ja keine Ahnung >wie sehr<. Seine Anwesenheit löste noch immer dieselbe Nervosität aus, die ich empfand, seit er anwesend war... oder vielmehr über mich hergefallen war, letzte Nacht. Ich konnte selbst das Gefühl nicht abschütteln, dass Vetjan definitiv nicht zufällig hier war, sondern aus einem bestimmten Grund.

Eine verfluchte Jägerin und ein verstoßener Therianthroph... Gab es etwas lächerlicheres? Obwohl, wenn ich an die fleißige Freya, so wie den ebenfalls verstoßenen Milan dachte, erkannte ich langsam so eine Art Muster. Sogar Gini hatte ihr Herz an eine noch dunklere Kreatur verloren, doch diese war einfach nicht zu retten gewesen.

Vetjan jedoch schon. Ihn hatte ich retten können, ihn kennenlernen... Mein Herz machte einen ungewohnten Satz.

Okay, das reicht mit dem anstarren! Mahnte ich mich selbst und widmete mich wieder dem Essen, während Vetjan bereits alles hinunter geschlungen hatte und nun seine Finger abschleckte, um ja keinen Tropfen der Sauce zu verlieren. Irgendwie... war das ja sogar süß und hatte etwas von einem verwilderten Dschungeljungen.

Mit dem Unterschied, dass mich dieser >Dschungeljunge< konsequente davon zu überzeugen versuchte, ihm zu gehören. Irgendwie schräg.
Man hatte ja schon vieles versucht. An mein Geld heran zu kommen, mir die Kehle raus zu reißen, mein Gesicht zu entstellen und vieles, vieles mehr. Auch mir an die Wäsche zu gehen, war nichts neues in meiner Welt. Trotzdem... klang Vetjan so überzeugt von alldem. Es war fast so, als hätte er Visionen und nicht meine kleine Schwester.

„Wenn du möchtest, kann ich dich nach dem Essen zurück zu deiner Schwester bringen.“ Schlug ich nach mehreren Minuten schweigen vor.

„Nur wenn du mitgehst.“

Ich verdrehte die Augen. „Ich gehe ja mit, nur bleibe ich bestimmt nicht in der Kanalisation.“

„Dann bleibe ich dort auch nicht.“

Ich seufzte frustriert. „Vetjan... du kannst nicht an der Oberfläche bleiben, das weißt du. Und ich habe mein Leben hier oben. Du kannst also nicht ständig an meiner Seite bleiben, egal was du denkst, wer ich sein könnte.“

„Wer du bist!“ Fauchte Vetjan mit so viel Überzeugung, dass ich ihm für einen Sekundenbruchteil sogar glauben wollte. Natürlich wäre es schön einen Gefährten zu haben, so wie Freya ihn gefunden hatte... Aber einen Gestaltenwandler, der die Sonne nicht mehr auf seiner Haut, seinem Fell ertrug? Einen Therianthrophen, der nichts von der Zivilisation wusste, sich nicht anzupassen vermochte? Wie könnten wir beide da jemals glücklich werden?

Aber in die Kanalisation mitgehen? Einmal abgesehen davon, dass ich wie ein bunter Hund dort unten auffallen würde, bis ich mich endlich optisch angepasst hätte, könnten wir uns ohnehin niemals einem Clan anschließen. Ich, ein Halbling. Er, ein Verstoßener.

Welcher der beiden Optionen war nun die humanere?
„Vetjan, ich werde heute mit dir hinunter in die Kanalisation gehen. Ich werde dich zu deiner Schwester bringen und dann meiner Mission weiterhin folgen. Klar?“

„Kann ich mit?“ Fragte unvermittelt Idunas keuchende Stimme. Als ich mich zu ihr umwandte, stockte mir der Atem.

„Iduna! Was ist denn mit dir passiert?“ Während ich aufsprang um zu meiner völlig verstaubten Schwester zu eilen, ging Vetjan einmal mehr in Kampfstellung. Noch ein Grund mehr, weshalb ich ihn nicht hierbehalten konnte!

„Ähm...“ Begann sie und zupfte sich einige kleinere Steinchen aus den Haaren, während ich ihr den Staub von den Schultern klopfte. „Könnte sein, dass ich in einer Schießerei gelandet bin.“

S-Schießerei? Panisch untersuchte ich sie mit einem gekonnten Blick nach Schusswunden ab. Nicht schon wieder...

„Schon gut, Haven. Mich hat keine erwischt, ein anderer Jäger hat mich beschützt.“ Erschöpft schlürfte Iduna auf den Kühlschrank zu, um sich ebenfalls etwas zum Essen zu holen.

„Was ist denn passiert? Vetjan!“ Vetjans Namen sprach ich nicht mehr sorgenvoll, sondern genervt aus. „Hör auf sie anzufauchen, oder verpiss dich in ein anderes Zimmer!“

Unschlüssig blickte Vetjan zwischen ihr und mir herum. Mir war klar, dass er die Angst vor Jägern nicht innerhalb einiger Stunden einfach ablegen konnte, trotzdem wollte ich meine Aufmerksamkeit ganz dringend auf etwas anderes, als einen halbnackten, heißen Therianthrophen lenken.

Iduna überging die menschliche Großkatze fließendlich. „Nur... ein paar Verrückte. Hab einem Freund geholfen, die es auf ihn abgesehen hatten.“ Ich merkte, dass sie sich vor einer direkten Antwort darum herum drückte.

„Iduna!“ Mahnte ich sie, als sie sich zur Mikrowelle stellte, um ihr Essen zu erwärmen.

„Haven!“ Äffte sie mich nach. „Ich komme schon zurecht, keine Sorge.“

Ich betrachtete den kleinen Starrkopf, mit einer ernsten Miene. „Vergiss nicht, dass du nicht dieselbe Ausbildung wie Freya und... du weißt schon wer, hattest. Selbst ich bin nur durch meine gespaltene Persönlichkeit dazu in der Lage, etwas den Kreaturen der Nacht, entgegen zu setzen.“

Polternd schlug Iduna die Mikrowelle zu und funkelte mich zornig an. „Ich. Bin. Kein. Kleines. Kind!“ Schrie sie zornig auf. Im nächsten Moment stand auch bereits ein kampfeslustiger Therianthroph vor mir, als müsse er mich vor meiner eigenen kleinen Schwester beschützen.

Irritiert schob ich mich an ihm vorbei. „Lass das, Vetjan. Iduna ist nicht die Art Bedrohung, an die du denkst.“ Als mein Blick wieder zu Iduna fiel, war sie bereits auf den Weg, ins obere Stockwerk. „Iduna! Jetzt lauf doch nicht weg, lass uns doch reden!“ Bettelte ich. Ich hasste es wie die Pest, mit Iduna zu streiten, aber nicht sprechen zu können.
„Kümmer dich erst einmal um deinen tollwütigen Kater. Ich kann warten. Wie immer...“ Dann war sie auch schon in ihrem Zimmer verschwunden und verschloss demonstrativ die Zimmertüre.

Ich boxte Vetjan frustriert gegen den Oberarm. „Na vielen Dank auch! Idiot!“ Stampfend ging ich zur Mikrowelle, um sie wieder auszuschalten, dann stellte ich das Essen zurück in den Kühlschrank.

„Ihr Aggressionslevel war hoch. Ich wollte dich nur beschützen.“ Rechtfertigte sich der menschengroße Kater.

Im Grunde verstand ich ja seine Logik. Ab einem bestimmten alter, begegnen Therianthrophe ihren Kindern, die wie Vetjan sind, nicht mehr bloß abweisend, sondern dann werden sie sogar von allen anderen Artgenossen, egal welchen familiären Stand diese bezogen, wortwörtlich >hinaus gebissen<. Natürlich reagierte er daher auf jede Art von Aggression, ebenfalls mit Aggression, um sich selbst zu beschützen. „Vetjan, wenn wir Jäger und Menschen uns hier oben streiten, dann gehen wir uns nicht auch gleichzeitig an die Kehle. Du musst mich nicht vor einem Wortgefecht beschützen.“

„Du bist meine Gefährtin. Ich >muss< dich vor allem beschützen. Außerdem würde ich es nicht ertragen, wenn dir etwas geschehen sollte.“
Ich seufzte theatralisch aufgrund seiner felsenfesten Überzeugung in der Stimme. „Vergiss es, ich habe ohnehin keinen Nerv heute mehr für diese Art von Unterhaltung. Zieh dir noch das Shirt an, dass ich dir besorgt habe. Wir müssen in die Tiefgarage.“ Das Gespräch mit Iduna würde bis morgen früh warten müssen. Ihrer Ansicht nach bestimmt eher bis Mittag, aber darüber ließ sich diskutieren...

Zehn Minuten später schloss ich hinter mir ab und bugsierte den widerspenstigen Therianthroph in den Lift. Zu meiner großen Erleichterung stand der Liftboy heute nicht darin. Nun ja, es war auch ein später Sonntagabend. Da hatten die meisten Angestellten bereits lange frei.

In der Tiefgarage zwang ich Vetjan dann dazu, sich anzuschnallen, was sich als schwieriger erwies, als ihn ruhig zu halten in einem engen, beweglichen Lift. „Okay, ich werde jetzt den Motor starten. Das wird laut sein und wir werden uns schnell zwischen anderen Wagen bewegen, klar. Aber egal was du denkst, du wirst von keinem gesehen werden, verstanden? Also gerate bitte nicht in Panik, wenn du...“
„Ich bin schon einmal mit einem Auto mitgefahren. Ich habe keine Angst davor.“

„Sehr schön.“ In wieweit ich ihm das glauben konnte, erkannte ich hundert Meter später, nachdem ich mich im Verkehr eingegliedert hatte. Seine Krallen hatte er in den ledernen Sitz gebohrt und hinterließ mir tiefe Spuren, während er sich steif in den Rücksitz drückte.
Leicht amüsiert über dieses niedliche Verhalten, drückte ich noch etwas mehr aufs Gas. Augenblicklich wechselte der Therianthroph in seine gefährliche Zwischenform und warf seine Krallen, in das nachgiebige, teure Leder meiner Sitze. Trotz des entstandenen Schadens lachte ich heiter auf. Ja, so gefiel mir das schon besser!
Vetjan warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ach, das amüsiert dich?“ Fauchte er.

Schelmisch erwiderte ich für einen Moment seinen Blick, ehe ich mich wieder auf die Fahrbahn konzentrieren musste. „Ich habe eben einen Faible für Kätzchen in der Not.“ Spottete ich keck, doch wunderte mich dass kein bissiges Kommentar daraufhin zurück kam. Als ich wenig später einen weiteren Blick zu Vetjan riskierte, pragte dort, trotz seiner Angst vor der hohen Geschwindigkeit, ein breites, raubtierhaftes Lächeln. „W-Was?“ Fragte ich verwirrt.

Im nächsten Moment fühlte ich seine warme Hand, wie sie zart über meine Wange strich und sich dabei einige meiner Strähnen zwischen die Finger wickelten, ohne dass mir die scharfen Krallen etwas antaten. „Ich wusste immer, du würdest perfekt sein.“

Erneut schoss mir die Röte ins Gesicht. Dass Vetjan so etwas auch immer sagen musste! Das verwirrte mich und wenn ich verwirrt war, kam nie etwas gutes aus meinem Mund. Sichtlich...

„Len-Lenk mich gefälligst nicht ab, ich muss mich auf die Fahrbahn konzentrieren.“

Blinzelnd versuchte ich mich auf den Verkehr zu fokussieren, doch als die pelzige Hand langsam meinen Hals hinab strich, begann meine Atmung ihren Dienst einzustellen.

„Ich mache doch überhaupt nichts. Nur das, wonach ich mich schon so lange sehne.“

Mühsam zwang ich mich dazu, mir einzureden, dass Vetjan damit lediglich den zwischenmenschlichen Kontakt meinte. Als Verstoßener wird er in den vergangenen Jahren bestimmt nicht allzu häufig dazu gekommen sein, dass sich ihm eine weibliche Gestaltenwandlerin hin gab, oder ihn überhaupt jemand zumindest in den Arm genommen hatte. Und dann kam ich, mit meinem großen Mundwerk und versprach mich um ihn zu kümmern! So etwas ging einfach nicht! Das durfte ich nie wieder versprechen, wenn dies dann auch jedes Mal so ausarten würde.
„Ich weiß, du hast viel durchgemacht, aber du musst wirklich aufhören deine Bedürfnisse auf mich zu projizieren, Vetjan. Ich werde nicht mit dir in der Kanalisation bleiben.“

„Dann bleibe ich eben bei dir oben, in deiner Höhle.“ Versprach Vetjan, dem die Bedeutung meiner Worte noch nicht vollständig aufgegangen zu sein schien. „Ich werde jeden Tag auf dich warten, dir Essen bereiten, wenn du nach Hause kommst, dich küssen, deinen Körper streicheln, über deine Haut lecken...“ Seine Stimme wurde zunehmend rauchiger.

Räuspernd schob ich Vetjans Hand weg, welche sich gefährlich nahe am Ansatz meiner Brust befand. „Nein danke, Vetjan. Aber ich bevorzuge mein Leben so, wie es bisher gewesen ist.“ Wenngleich meine Vagina sich über meine laut ausgesprochenen Worte empörte. Oder meine Brüste... In diesem Moment spannten sie wieder und mein BH begann sich unangenehm eng anzufühlen. Zu den Himmelsgöttern... Was geschah hier bloß?

„Mh...“ Seufzte Vetjan und sog tief meinen Geruch ein. „Ich würde dir nur zu gerne Abhilfe verschaffen, mein Himmel.“

Das glaubte ich ihm aufs Wort! „A-Auch darauf verzichte ich dankend. Ich komme zurecht.“ Wies ich ihn ab.

Die restliche Fahrt setzte ich meine gesamte Kraft darauf, Vetjan abzuweisen. Egal wie verlockend mir sein Angebot auch erschien, egal wie sehr es meinen Körper danach brannte, Vetjan wieder an und in mir zu fühlen, weigerte sich mein Verstand artig, sich dieser Lust hinzugeben. So bin ich überhaupt nicht. Ich bin eine stolze, unabhängige Frau. Designerin in einer abgefuckten Stadt voller Ungeheuer und das große Vorbild einer Teenagerin. Somit durfte ich mich nicht gleich dem erstbesten Mann hingeben, der sich einbildete, ich sei seine Gefährtin. So verzweifelt war ich noch lange nicht!

Andererseits musste ich, sehr zu meinem Unwillen, eingestehen dass mich Vetjan tierisch anzog. Ich hatte die letzten vierundzwanzig Stunden Dinge getan... welche ich mir sonst bloß in meinen schmutzigen Fantasien erlaubte. Doch im Grunde war ich keine leidenschaftliche, verzogene Frau. Ich hatte nie einen Mann benötigt und würde es auch in näherer Zukunft nicht zulassen, mich an etwas zu binden, zu was ich nicht bereit war.

Zudem wie sollte ich das in den Medien erklären? Mein Dschungeljunge aus der Kanalisation ist zu >wild< als dass ich ihn einem Blitzlichtgewitter aussetzen könnte? Oder wenn ich auf einmal Babys von ihm bekam, würde doch die ganze Welt Fragen stellen, auf die ich keine Antworten geben wollte.

Oh mein Gott! Woran dachte ich da eigentlich? Zum Glück musste ich mir in den nächsten Monaten noch keine Gedanken um Fortpflanzung machen, da ich bloß zwei Monate im Herbst dazu in der Lage war. Und bis dahin waren es noch ein einige gute Wochen!

Aber was dann? Was würde mich dann erwarten? Wie würde ich meine Hitze dieses Mal in den Griff bekommen können? Bisher hatte ich meine jährliche Hitze stets damit unterdrückt, indem ich einfach an die Horrorgeschichten gedacht habe, welche ich von Freundinnen über das Erste Mal gehört hatte, oder bei der Geburt von Freyas zweitem Sohn mitmachen musste, als sie aus heiterem Himmel beim abendlichen Winterdinner zu Hause gebar.

Das waren besonders gute Gründe gewesen, mich nicht hinaus in die Welt zu stürzen und mich dem erstbesten an den Hals zu werfen. Aber nun? Jetzt hatte ich Vetjan in meinem dummen Schädel... Das hatte mir gerade noch gefehlt!

„Vetjan!“ Wie der Blitz schoss die brünette Wandlerin aus einer grob vernagelten Röhre und blieb bloß Millimeter vor ihrem Bruder stehen. Sanft legte sie ihm eine Hand auf die Wange, dann bettete er seine Stirn auf ihrer. „Ein Glück, dass es dir gut geht, Bruder.“

Nach einem kurzen Schweigemoment, den die beiden Geschwister einfach nur genossen, wandte sich Lyria mir zu. „Haven! Vielen lieben Dank, dass du dich um meinen Bruder gekümmert hast. Ich hoffe du hattest nicht zu viel Ärger mit Vetjan... Er ist... recht wild.“

Ich hatte es gerade einmal aus dem Auto heraus geschafft und benutzte nun den Wagen als Barriere zwischen Vetjan und mir, welcher bereits aus der Hose hinaus schlüpfte. „Es ging schon.“ Erwiderte ich, denn näher wollte ich ehrlich nicht darauf eingehen! „Er ist gesund, dass ist die Hauptsache. Trotzdem sollten wir uns endlich darüber unterhalten, wer euch angegriffen hat.“

Lyria nickte zustimmend. „Natürlich. Wie besprochen, habe ich die Kaltkatzen aufgesucht.“ Wo wir uns doch eigentlich hatten treffen wollen, meinte ich mich zu erinnern. „Aber sie sind weiter gezogen.“

Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du mit >weitergezogen<?“ Erkundigte ich mich verwirrt. Gestaltenwandler waren sehr reviertreu. Wenn sie das ihre aufgaben, hatte entweder ein neuer Clan seine Pfoten im Spiel, oder es handelte sich um Umbauarbeiten in den Abwasserkanälen und ähnliches.

„Das ist es ja... Ich weiß es nicht.“

Blinzelnd versuchte ich mir ein Bild vom Ganzen zu machen. „Wurden sie etwa auch getötet?“

Lyria schüttelte den Kopf. „Nein, aber ihr Geruch ist schon alt.“

„Also sind sie bereits seit längerem fort?“ Erkundigte ich mich.

„Ja, nur ohne ihre Sachen.“

Verwirrt ging ich auf Lyria zu. „Du meinst, sie sind ohne ihre Habseligkeiten einfach weggelaufen?“ Für die Kaltkatzen kein unbedingt undenkbares Szenario, doch kamen sie im Normalfall immer zurück, um ihre >Wertsachen< zu holen.

Lyria trat unsicher von einem Bein auf das andere. „Womöglich? Ich habe keine Ahnung. Ich habe etwas nach ihnen gesucht, doch ihre Spur ist so alt, ich konnte ihnen nicht folgen. Deshalb bin ich hierher... Ich dachte, wenn du zu mir kommst, dann bestimmt über diesen Eingang.“

Ich tätschelte Lyria sanft den Kopf. „Gut mitgedacht, Lyria.“ Lobte ich die Wandlerin, welche sich einen Moment der Berührung hin gab, doch dann rasch zurückzog. Egal wie sehr Lyria mich auch mochte... Es reichte nicht, um mich als Rudelmitglied zu betrachten. „Aber weißt du denn schon, wo du jetzt hingehen wirst? Deine Cousine hat doch bei den Kaltkatzen gelebt, richtig?“

„Ja... Wir werden ihnen einfach versuchen müssen zu folgen.“ Schlussfolgerte sie.

„Ich nicht, Lyria.“ Widersprach Vetjan auf einmal. „Ich kann dich nicht mehr begleiten, tut mir leid Schwester. Aber ich habe meine Gefährtin endlich wiedergetroffen und möchte sie keine Sekunde mehr aus den Augen lassen.“

Ich seufzte laut.

„Was?“ Fauchte Lyria vor Überraschung. „W-Wann? Und wo ist sie?“ Als mir Vetjan einen liebevollen Blick zuwarf und ich mit meinem einzigen, derzeit sichtbaren Auge rollte, wurde Lyria alles klar. „N-Nein! Das ist nicht wahr, oder? Sie ist ja noch nicht einmal eine richtige Wandlerin!“ Mein Schnaufen ging unter Vetjans verärgertem Knurren unter.

„Genau dasselbe habe ich ihm ebenfalls gesagt. Ich kann nicht seine Gefährtin sein!“ Schloss ich mich Lyrias Meinung an. Nicht um ihr zu gefallen, sondern weil es Tatsachen entsprach!

„Gut, dass du das genauso siehst. Es tut mir zwar leid, dass ich so etwas über dich sagen muss...“ Begann Lyria.

„Schon, gut. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“ Nahm ich ihre Entschuldigung an.

„Jetzt hör endlich auf!“ Fauchte aus heiterem Himmel, Vetjan ausgerechnet mich an.

„Wie bitte?“ Empörte ich mich. Mit einer gekonnten Bewegung meines Kopfes, warf ich meine gesamte Haarpracht zurück, sodass mein seltsam entstelltes Gesicht frei lag. „Ich bin keine Wandlerin, Vetjan. Es tut mir leid, aber Gestaltwandler finden ihre Partner einzig und alleine unter ihresgleichen!“

Mit zuckendem Schwanz und angelegten Ohren, trat er direkt vor mich hin. Je näher Vetjan mir jedoch kam, umso heißer fühlte sich mein Körper wieder an. Wie machte diese Großkatze das bloß? „Ich gehöre zu dir, so wie du zu mir gehörst. Es ist vorherbestimmt. Auch wenn ich nicht gut genug für so einen schönen Himmel wie dich sein mag.“

Rapide verschwand mein Ärger und mein Mitleid übermannte mich erneut. „Vetjan, es geht nicht darum welchen Stand wir beide, in welcher Gemeinschaft auch immer haben mögen. Hierbei geht es um etwas... völlig natürliches. Diese Art von Verbindung, die du denkst, dass wir beide sie hätten, kann zwischen zwei verschiedenen Arten überhaupt nicht sein.“

Vetjan deutete mit einer Hand, in die Richtung der Stadt. „Unsinn! Ich weiß das von deiner Familie. Ich habe von der Verbindung deiner Schwester zu den Wölfen gehört. Also ist es durchaus möglich, dass du meine Gefährtin bist.“

Lyria schob sich zwischen ihren Bruder und mich, wobei sie ihre Hand gegen seinen Brustkorb stützte. „Bruder, hör mich an. Es sind doch Wölfe, die du da mit unseresgleichen misst. Das sind... Das sind räudige Mischlinge, sie haben ihr Blut seit Jahrtausenden mit denen der Menschen vermischt. Deshalb sind sie unrein. Wir aber besitzen vollkommen klares Blut, Vetjan. >Wir< können keine solchen Verbindungen zu etwas... menschlichem eingehen. Dafür sind die nicht stark genug.“

Übrigens... ich stand noch immer in Hörweite, wenngleich ich etwas Abstand zu ihnen beiden genommen hatte!

„Aber mein Himmel >ist< meine Gefährtin! Ich spüre die Anziehung zu ihr. Und sie fühlt sie zu mir!“ Vetjan nahm meinen Blick gefangen. „Nicht wahr, mein Himmel? Du fühlst es doch auch! Wir gehören zusammen.“

Nun warf auch Lyria mir einen erwartenden Blick zu. Schlagartig wurde mir bewusst, welche Entscheidung ich zu treffen hatte. Sagte ich Vetjan zu, würde ich mein stärkstes Verbindungsglied zum Reich der Gestaltwandler dort unten für immer verlieren, da sie, wenngleich Vetjan als verstoßener in ihrer Welt galt, ich bei weiterem die Abnormste von ihnen allen war.

Nur wenn ich, wie ich eigentlich sollte, Lyria recht gab, würde ich damit Vetjan das Herz brechen. Ich würde mich damit von einem jungen Mann abwenden, der sein gesamtes Leben über nichts weiter als Ablehnung von seinesgleichen erfahren hatte. Abscheu in den Augen aller erweckte, was ihm etwas bedeutete. Nicht einmal mit seiner Schwester konnte Vetjan zusammenleben, da sie beide dafür längst zu alt waren und man sie dafür beide verachten würde.

Konnte ich so jemanden vor den Kopf stoßen? Wollte ich denn Vetjan für immer von mir stoßen? Natürlich kannte ich ihn bisher nicht gut. Na gut, ich gab zu, ich kannte seinen Körper außerordentlich gut und er den meinen... Zudem schien zwischen uns eine nicht bestreitbare Chemie zu herrschen! Aber war das wirklich wahre Liebe?

Ich ertrug die Blicke der beiden nicht länger und wandte mich deshalb ab. Was war nur los mit mir? Wieso schien mir der Gedanke an Ablehnung von Vetjans Hoffnungen, scheinbar körperliche Schmerzen zu bereiten? „Bitte, lassen wir dieses Thema vorerst einmal ruhen.“

Zielstrebig ging ich auf mein Auto zu und öffnete den Kofferraum, um an meine Ausrüstung zu kommen. Als ich den Kofferraum zuschlug, stand Vetjan vor mir und erschreckte mich. „Haven... bitte!“ Sein intensiver Blick schien mich durchbohren zu wollen. Als würde er versuchen in meinen Kopf und mein Herz einzusehen... „Gib mir die Chance mich zu beweisen, mein Himmel.“ Bettelte er nun, wieder völlig schutzlos in seiner menschlichen Gestalt.

Zu allen Göttern! Wie konnte man bei diesem Blick jemals nein sagen? Es war fast so, als würde mich eine süße flauschige Katze mit großen Kulleraugen wegen Leckerlis anbetteln. Eine gut zwei Meter große Katze... nackt... mit den Muskeln an genau den richtigen Stellen und einem Ständer, der mich beinahe betteln lassen würde.

Panisch riss ich meinen Blick los und schüttelte den Kopf. Verdammt, was war nur los mit mir? „Vetjan, ich...“

Ehe ich den Satz beenden konnte, legte Vetjan seine Hände an meine Wangen und küsste mich so zart, als sei ich eine zerbrechliche, zarte Blume. „Haven...“ Hauchte er an meinen Lippen. „Sag mir, dass du dasselbe fühlst.“ Bettelte Vetjan weiter. Meine Beine zitterten unter seiner heißen Stimme und mein Körper begann an den genau richtigen Stellen zu entflammen. „Sag es...“ Forderte Vetjan weiter, während er seine Zunge in meinem Mund versenkte und mir ein seliges Stöhnen entlockte. Seine Hände glitten meinen Hals hinab, über meine Brust und zu meiner Taille, ehe er meinen Körper zwischen sich und dem Kofferraum einzwängte. „Du willst es, Haven...“ Sagte er wieder und umfasste dabei meinen Hinter, welcher mir in seinen Händen so winzig vorkam.

Mein gesamter Körper hatte sich bereits der Hitze hingegeben, welche Vetjan in mir auslöste. Nur die Götter ahnten, wie nahe ich daran war, diesem schwarzen Gestaltwandler alles zu versprechen, was er sich jemals wünschen könnte. Doch da gab Vetjan meine Lippen frei und sah mir so lange in die Augen, bis ich wieder halbwegs zu Sinnen kam. „Haven...“ Hauchte er erneut meinen Namen, als wäre es das schönte Kompliment, dass man jemals jemand machen konnte. Ein kostbarer Schatz, welcher bloß ihm erlaubt war, in den Mund zu nehmen...
„Vetjan...“ Entgegnete ich und bemerkte erst da, dass ich auf meinen Zehenspitzen stand, meinen Körper hatte ich sogar förmlich an seinen geschmiegt, als würde ich davon kaum genug bekommen können. Und das konnte ich tatsächlich nicht! Unvorstellbar!

Ich biss mir auf die Unterlippe und zwang die sexuelle Erregung in meinen Körper zurück, was allgemeine Frustration in mir auslöste. Wie dumm war ich denn eigentlich? „Ähm... Ich meine ja... Natürlich fühle ich mich... se-sexuell zu dir hingezogen. Ganz offensichtlich sogar...“ Fluchte ich über meinen naiven Körper. „Aber sexuelle Anziehung macht noch lange keine Liebe daraus, Vetjan. Versteh das doch, bitte!“

Er lächelte liebevoll auf mich herab. „Natürlich, mein Himmel. Dann sag mir doch bitte, was dich in mich verlieben lässt. Verrate es mir und ich werde jede Sekunde unseres gemeinsamen Lebens nur für dich da sein, mein heißer Rotfuchs.“
Erneut entflammten meine Wange, doch ich war froh, dass sich mein Blut endlich entschlossen hatte sich wieder zurück in meinen Kopf zu bewegen. Verlegen strich ich mein Haar wieder auf die menschliche Seite meines Gesichtes, sodass nur noch mein grünes Auge sichtbar war. „So... So einfach ist das nicht Vetjan. Ich kann dir nicht sagen, was mich in dich verlieben lässt, oder wovon ich mich abgestoßen fühle...“ Hilfesuchend blickte ich zu Lyria. Konnte sie ihrem Bruder nicht zu Vernunft bringen? Diese schien endlich meine Not zu bemerken und schritt ein. Ich seufzte erleichtert. „Vetjan, lass Haven etwas Freiraum. Wenn über hundert Kilo reine, nackte Männlichkeit auf ihr liegen, wird sie keinen klaren Gedanken fassen können.“

Das hätte sie auch etwas feinfühliger umschreiben können, verdammt noch mal! Ich wusste ja selbst, wie dumm ich mich anstellte, aber was sollte ich denn sonst machen? Bisher war ich noch nie in eine solche Situation geraten!

„Wie auch immer.“ Ich entwand mich Vetjans Umarmung und hob die Tasche auf, welche ich scheinbar fallen gelassen hatte. Wann war das denn passiert? Ich hatte mir eingebildet, sie fest umklammert zu halten! „Vetjan wird vorerst wieder bei dir bleiben, ja?“ Vetjan gab einen unwilligen Laut von sich. „Ich weiß, das ist nicht das, was du möchtest. Aber wenn du willst, dass ich aufrichtig über all das nachdenke was passiert ist und eine ehrliche Chance von mir erwartest... dann brauche ich meinen Freiraum, klar?“

Für einen Moment schien Vetjan seine Möglichkeiten zu überdenken, doch seufzte schlussendlich. „Gut. Ich bleibe vorerst in der Kanalisation.“

Ich seufzte noch ein weiteres Mal an diesem Abend. „Sehr gut. Dann lass uns jetzt das geschäftliche Erledigen.“ Ehe ich heute überhaupt nichts mehr auf die Reihe bekomme!

 

- - - - -

 

Es dämmerte, als ich endlich zuhause ankam. Um den Gestank der Kanalisation loszuwerden, stieg ich sofort unter die Dusche, dann erst kümmerte ich mich um das heiß ersehnte Frühstück.

Iduna schien diese Nacht ausnahmsweise nach Hause gekommen zu sein, denn die Küche glänzte, als hätte sie jemand poliert. Huch, da schien jemanden eine gewaltige Laus noch gestern über den Rücken gelaufen zu sein. Na wenigstens, war es kein überdimensional großes Hauskätzchen, wie bei mir...

„Oh, du bist schon wach?“ Die Verwirrung in Idunas Stimme war durchaus berechtigt.
„Nö, ich war noch nicht einmal im Bett!“ Beklagte ich mich nuschelnd, da ich bereits einen triefend fetten, doch brennend heißen Speckstreifen im Mundwinkel zerkaute. „Du bist aber früh wach.“ Bemerkte ich mit einem Blick auf meine Armbanduhr. „Die Uni beginnt erst in zwei Stunden!

Iduna ließ sich, fertig angezogen, auf den Barhocker fallen und seufzte tief. „Ich habe auch kaum geschlafen. Ich dachte, ich setze mich vor den Fernseher, aber nun ja. Was hat dich denn aufgehalten? Bist du deinen sexy Wandler etwa losgeworden?“
Ich verzog eine unwillige Miene. „Lassen wir das Thema besser.“

Natürlich beließ es Iduna nicht dabei, sondern lehnte sich am Thresen vor und zuckte auffordernd mit den Brauen. „Sag bloß nicht, du hast dir diesen super heißen, schnurrenden Luxusbody erst aufgehübscht, um ihn dann wieder in die Kanalisation zurück zu schicken.“

Ich warf meine Arme in die Luft. „Was hätte ich deiner Meinung nach, denn sonst tun sollen? Ihn hier behalten? Er ist ein Gestaltwandler, Iduna. E-Er gehört einfach nicht hierher.“ Gott, klang ich verzweifelt!

Iduna runzelte die Stirn. Sie kannte mich einfach zu gut. „Sag nicht, der ist dir tatsächlich unter die Haut gegangen?“

Ich warf den Pfannenwender hin. „I-Ich habe keine Ahnung! Erst ist er so...“ Ich fauchte frustriert. „Und dann erwartet er dass wir aus heiterem Himmel eine glückliche Beziehung führen. Ich kenne diesen Mann doch nicht einmal!“

Quietschend grinste meine kleine Schwester. „Oh mein Gott! Hat er dich etwa geküsst?“

Himmelsgötter, kann mich denn niemand erst mal in Ruhe lassen? „N-Nei-Nein... Oder ja? Ja... okay, das hat er. A-Aber das hatte überhaupt nichts zu bedeuten! Er weiß nicht was er denken soll. Vetjan war schwer verletzt und hat seinen gesamten Clan verloren. Jetzt... Jetzt bildet er sich ein, ich sei seine Gefährtin und so einen Käse...“

Iduna prustete los. „Nicht du auch noch!“ Beklagte sie sich überraschenderweise. „Erst Freya, dann die blöde Kuh und jetzt auch noch du?“

Jedes Mal wenn Iduna Gini ansprach, versetzte es mir einen Stich ins Herz. Wenngleich es schwierig mit meiner zweitältesten Schwester gewesen war, so vermisste ich sie dennoch höllisch. Und das sollte keine Anspielung auf den Ort sein, an welchem sie offensichtlich gegangen war, mit ihrer großen Liebe, einem Dämon namens Silas. Wie jeden Tag, wünschte ich, sie würde zumindest ein kleines Lebenszeichen von sich geben, damit wir wussten, dass es ihr gutging... Aber gut, würde sich irgendetwas an Ginis Leben und Leiden ändern, wäre Iduna die Erste, die es erfuhr.

„So ist es ganz bestimmt nicht, Idy.“ Schwor ich hoch und heilig. „Wie... Wie sollte ich mir so eine Verbindung überhaupt vorstellen? Vetjan könnte niemals hier im Loft mit uns leben! Und ich in der Kanalisation?“ Ich lachte laut auf, ehe ich den Speck aus der Pfanne nahm und auf dem bereitgestellten Teller ablegte.

Iduna hielt mir auf einmal ihre Hand hin und schenkte mir einen auffordernden Blick. „N-Nicht doch.“

„Komm, so funktioniert es am ehesten, Haven. Das weißt du.“
Widerwillig rang ich mit mir. „Und wenn ich es gar nicht wissen will?“

Meine kleine Schwester zuckte mit ihren Schultern. „Wenn er nicht dein Gefährte ist, dann werde ich ihn weder jetzt, noch sonst irgendwann in deinem Schicksal sehen.“

„Aber wenn du ihn siehst?“ Erkundigte ich mich ängstlich.

Anstatt mir eine Antwort zu geben, winkte Iduna mit ihren Fingerspitzen. Ich ächzte, da ich mich dazu überwand das Risiko einzugehen. Grob patschte ich meine Handfläche auf die ihre und schloss die Augen, als könne ich damit die Realität ein für alle Mal ausblenden.

7. Iduna Ridder – Familienfeindlichkeit Spezial

„Du verarscht mich doch!“ Motzte der frisch entlassene Straftäter, während er das mehrstöckige Gebäude missbilligend musterte.

„Was spricht dagegen? Du beklagst dich doch, dass du dich unter einer Menschenmasse verstecken möchtest. Was also gibt es da besseres, als ein Hotel?“
„Ein Gefängnis, mit dicken Mauern und einer Hochserheitsüberwachung.“ Motzte mein Bruder dagegen. Ihm konnte man wohl selten etwas recht machen. Dabei wollte ich ihn weder in ein versifftes Motel stecken, noch in einen Luxusschuppen. Da war ein stinknormales, durchschnittliches Hotel doch genau das richtige, nicht wahr?
„Beklag dich nicht. Du würdest dich nicht in einem Luxushotel wohlfühlen und in einem Motel willst du schon gar nicht absteigen.“ Berichtigte ich ihn.

Herausfordernd blickte Illian mir in die Augen. „Woher willst ausgerechnet >du< so viel besser wissen, was ich will oder nicht?“

Ich zählte an den Fingern ab. „Du bist ein verurteilter Straftäter und saßt ein paar Jahre im Gefängnis, du bist auf der Flucht vor einem mir unbekannten Feind und willst untertauchen. Zudem sagt mir deine abweisende Art ganz genau, was für ein Typ Mensch du bist.“ Besonders beim letzten Satz versuchte ich möglichst abfällig zu klingen.

„Na toll. Noch so ein Gartenzwerg, der sich einbildet sich eine Meinung über mich bilden zu dürfen. Zudem, wie gedenkst du, dass ich das hier bezahle?“

Gartenzwerg? Mann, Illian konnte froh sein, dass ich seine jüngere Schwester war, sonst hätte ich ihn bereits längst stehen gelassen! Wie kam er dazu, sich so überheblich benehmen zu dürfen? Sollten sich nicht eigentlich die Leute schämen, welche eben von ihrer eigenen Familie aus dem Knast freigekauft wurden und etwas mehr Dankbarkeit zeigen?

Na gut, dieser Punkt ging an Illian, immerhin war ich tatsächlich etwas übergriffig gewesen und hatte ihn aus einer Situation befreit, bloß damit er sich einer weit gefährlicheren ausgesetzt sieht. Mein Fehler, das konnte ich durchaus zugeben. „Hier mit.“ Ich zückte die Karte meiner Schwester. „Komm jetzt.“ Ich packte Illian erneut am Ärmel und schleifte den unwilligen Zeitgenossen hinein in die Lobby. Dort saß ein gelangweilter Jugendlicher, der kaum älter als ich selbst sein dürfte und hatte die Kopfhörer in den Ohren, während er lauthals vor sich hin schnarchte.

„Hey!“ Brüllte ich etwas lauter und klatschte meine Tasche auf den Tresen. Grunzend riss es den Typen aus dem Schlaf, wobei sein Irokese gefährlich ins Schwanken geriet. „Guten Morgen.“ Grüßte ich ihn, mit einem höflichen Lächeln. „Ein Zimmer bitte.“

Für einen Moment sah er zwischen Illian und mir hin und her, ehe er ein widerliches Lächeln aufsetzte. „Natürlich... Ein Romantikzimmer für dich und deinen Freund, Süße?“

„Als ob!“ Entgegnete ich empört. „Das ist mein Bruder!“ Schlagartig verging ihm sein Lachen. „Nur ein Einzelzimmer. Und buchen Sie alles von dieser Karte ab, was auch immer er bestellt.“

Etwas zögerlich nun, nahm der Typ die schwarze Karte entgegen und zog sie durch den Cardscanner. Sofort leuchteten sämtliche Details auf, woraufhin er mir einen zweifelnden Blick zuwarf. „Ich heiße Iduna Ridder.“ Erklärte ich und kramte neben meinem Personalausweis, noch meine Vollmacht über diese Karte aus der Börse. Länger als Nötig kontrollierte er meinen Ausweis, so wie die Vollmacht, doch musste mir schlussendlich alles zurückgeben.

„Irgendwelche Wünsche, oder Vorlieben was das Zimmer betrifft, Alter?“

Illian runzelte die Stirn. „Möglichst Zentral, wenn es geht. Mit nur einem Fenster und von innen verschließbar.“

Seufzend machte er sich auf die Suche nach dem Gewünschten und reichte uns schlussendlich den dazu gehörigen Schlüssel. „Fünfzig als Einsatz auf den Schlüssel. Bekommen Sie auch zurück, wenn sie ausziehen. Abgerechnet wird alle achtundvierzig Stunden.“

„Danke.“ Erwiderte ich, schnappte den Schlüssel und folgte dem Strichcode am Anhänger des Schlüssels. „Zweiter Stock, Zimmer dreiundsechzig...“ Ich folgte der grünen Kennzeichnung bis zur beschriebenen Türe, dann sperrte ich auf und trat ein. Das Zimmer war recht anspruchslos. Dunkle Gardinen, ein mit Blümchenmuster, bezogenes Bett, so wie einige Plüschkissen. Anschließend zu einem eingemauerten Kleiderschrank, gab es eine halb offen stehenden Türe, in der sich eine genauso spärliche Einrichtung befand. Eine Dusche, ein WC, ein Waschbecken, so wie eine verpackte Seife, eine verpackte Zahnbürste und eine versiegelte Zahnpaste.

„Hm, der vierundzwanzig Stunden Laden, hat bestimmt die Sachen, die du noch brauchen kannst. Ich hol dir schnell Shampoo und so was. Irgendwelche Vorlieben?“

Illian warf, nachdem ich das Bad verlassen hatte, ebenfalls einen prüfenden Blick hinein, doch zuckte lediglich mit den Schultern. „Ich brauche nichts.“

Wirklich? Das war alles, was er zu alldem zu sagen hatte? „Hör mal... Ich weiß, es geht dir gehörig gegen den Strich, dass ich deine Kaution bezahlt habe, ohne vorher mit dir zu sprechen. Und ich sehe auch ein, dass das übergriffig gewesen ist. Es tut mir wirklich leid. Aber... kannst du mich denn kein bisschen verstehen?“

Illian ließ seine alte Lederjacke auf das Fußende des Bettes fallen, ehe er sich selbst gähnend darauf warf. „Muss ich nicht, denn es interessiert mich nicht. Wenn du mich jetzt entschuldigst. Ich bin erschöpft.“

Ich tippte ungeduldig mit meiner Fußspitze am Boden herum. „Verstehe, spiel ruhig weiter den unabhängigen, Coolen. Ich habe damit kein Problem, Illian. Aber ich bin deine kleine Schwester. Akzeptier das, denn du wirst feststellen, dass ich eine gewaltige Nervensäge bin!“

Illian gab ein humorloses „Taha.“ von sich. „Was du nicht sagst. Solltest du dich denn eigentlich nicht langsam auf den Heimweg machen, oder so? Kleine Kinder gehören doch vor Einbruch der Dunkelheit ins Bett, richtig?“

Zornig stemmte ich die Arme in die Hüften und funkelte wütend auf Illian herab. „Mach mich nicht wütend, Illian! Ich bin dei-...“ Was ich sagen wollte, ging in einer plötzlichen Vision unter.

Das letzte Mal, als ich von Haven eine Vision gehabt hatte, war gewesen, als ich ihre fein säuberlich zusammengestellte Bewerbung für die Kunstschule hinter ihrem Rücken abgeschickt hatte. Haven hatte sich vor Scham entschlossen, diesen Schritt doch nicht zu wagen und sich stattdessen einen sicheren Job zu krallen, mit welchem sie ihre Familie unterstützen könnte. Stattdessen hatte ich das unverschlossene Kuvert überprüft, es versiegelt und einfach stibitzt. Der Umschlag hatte gerade einmal den Boden des Briefkastens erreicht, als mich auch bereits eine Vision übermannt hatte. Dabei sah ich meine Schwester, als attraktive, selbstbewusste Designerin, die ihr eigenes Label raus gebracht hatte. Und das alles nur dank dieser Bewerbung!

Was ich jedoch in diesem Moment sah, war keine herrische Designerin, keine kreative Gestalterin oder liebevolle große Schwester. Es war eine Seite, welche man niemals von seinen Eltern, oder seinen Geschwistern sehen wollte. Ich konnte. wie ein unsichtbarer Beobachter dabei zusehen, wie Haven neben dem schwarzen Gestaltwandler, welchen sie gesund gepflegt hatte, in der Kanalisation auf die Knie ging. Er war wieder schmutzig und nackt. Sein Bart schien etwas nachgewachsen zu sein, doch alles in allem, schien diese Vision nicht allzu weit in der Zukunft zu liegen. Gemächlich ging sie in die Hocke, legte ihre zarten, manikürten Finger, an sein dreckiges Gesicht und hauchte ihm einen langen, gefühlvollen Kuss auf die vollen Lippen. „Es tut mir so leid, Vetjan... I-Ich war einfach dumm, verstehst du. Alles ist einfach so... so unwirklich.“

Neue Hoffnung keimte in Vetjans dunkelgrünen Augen auf, welche lediglich von einem kleinen Strahl des Vollmondes beleuchtet wurden. In ihnen tanzten tausend Sterne und ließen den herunter gekommenen Mann, mit einem Mal wie ein heißblütiges, wildes Tier wirken.

„Schwörst du es, mein Himmel? Lässt du mich bei dir bleiben? Ich ertrage keinen weiteren Tag mehr ohne dich...“ Etwas veränderte sich an den Berührungen zwischen ihnen. „Ich will dich! Ich brauche dich!“ Laut sog er Havens Geruch ein. „Ich kann keine Sekunde mehr ohne dich sein, sonst zerplatze ich, Rotfuchs.“

Haven erschauderte unter seinen Worten und ließ sich in seine Arme fallen. „Ich brauche dich auch Vetjan! Sofort.“ Als wäre ein Damm gebrochen, stürzte sich meine sonst so prüde Schwester über den heißblütigen Wildfang, welcher sich ihrer Klamotten entledigte, als seien sie überhaupt nicht da. Stoff riss, Körper rieben sich aneinander und heißeres Stöhnen erklang.

Noch nie hatte ich mich so sehnlich wie in diesem Moment auf das Ende einer Vision gesehnt! Bettelnd sie möge endlich enden, hielt ich mir beide Hände vor Augen, was jedoch die lustvollen Geräusche um mich herum nicht auslöschte. Haven bewegte sich auf Vetjan, als hätte sie dies bereits mehr als einmal getan und ehe ich mich versah, oder viel mehr >verhörte< schrie meine Jungfreuliche Schwester bereits in ungebändigter Leidenschaft, Vetjans Namen durch die wirren Gänge und bettelte ihn an, er möge sie noch härter...

„Verfickte Scheiße!“ Fluchte ich und fand mich endlich in der Realität wieder. Mein gesamter Körper prickelte, während meine Gabe abebbte, wie die immer kleiner werdenden Wellen, nachdem man einen Stein ins Wasser geworfen hatte. Als ich meine Augen öffnete, fand ich mich in einem schieren Ozean wieder. Er war so tief und schön, dass ich für einen Moment das Atmen vergaß.

Eine Hand streichelte über meine Wange, während Lippen tonlose Wörter formten. Was versuchte mit dieser Ozean mitzuteilen? Ich blinzelte vor Verwirrung zwei Male, dann schaltete sich auch mein Verstand endlich wieder ein. „Iduna? Was ist da eben passiert?“

Ich versuchte mich aufzurichten, doch da explodierte bereits ein stechender Schmerz über meiner rechten Schläfe. „Autsch!“

„Schon gut, bleib noch einen Moment liegen!“ Befahl Illian streng und drückte mich auf den Boden zurück. „Du bist auf einmal Ohnmächtig geworden und hast dir den Kopf gestoßen.

Ohnmächtig? Also hatte mich meine Vision praktisch umgehauen, bloß weil ich versucht habe, gegen sie anzukämpfen? Gut zu wissen! „Unsinn, das war bloß eine Vision. Ich hätte nicht dagegen ankämpfen sollen.“ Ich erstarrte, Moment, da Illian nicht von Jägern aufgezogen worden war, wusste er doch überhaupt nichts über die Gaben der Jäger, richtig? Verdammte...
„Ach so ist das.“ Erwiderte er und wirkte zunehmend weniger beunruhigt. „Da du niemanden berührt hast und so seltsam erstarrt bist, musst du also eine Schicksalsseherin sein. Wen hast du denn gesehen?“

Er wusste bescheid! „W-Woher weißt du das?“

„Jeder Jäger besitzt eine einzigartige Gabe.“

„Du weißt also >was< du bist?“ Entgegnete ich geschockt von seiner Gleichgültigkeit bei diesem Thema.

„Natürlich.“ Bekam ich pampig zurück.

„Woher? Ich meine... Ich nahm an, du wärst von Menschen großgezogen worden.“

Für einen Moment hielt Illian inne, ehe er ergeben seufzte. „Ja, ich wurde von Menschen großgezogen, aber ich habe bisher auch für die Jäger im Ausland gedient, nicht hier in dieser Stadt.“

Meine Augen wurden groß. „Tatsächlich?“ Fragte ich.

Illian nahm wieder Abstand und setzte sich zurück auf das Bett. „Was dachtest du denn?“

„Ich dachte, du hättest keinen Schimmer, was deine Kräfte angeht und wollte dir eigentlich jetzt alles erst einmal in Ruhe erklären. Wie kamst du denn zu den Jägern?“

Mein Bruder wurde sichtlich genervter. „Kann dir doch egal sein. Aber wenn es dich beruhigt, ich bin aufgeklärt und in Sicherheit. Mehr brauchst du nicht zu wissen.“
„Aber...“ Begann ich, doch Illian hob mahnend einen Zeigefinger. „I-Ich will doch bloß wissen, weshalb deine Organisation dich nicht heraus geholt hat.“
„Weil. Ich. Freiwillig. Dort. Drinnen. Saß.“ Wiederholte Illian nachdrücklich. „Wie du gesehen hast, ist jemand hinter mir her. Die wollen mich auslöschen, von daher war es sicherer mich im Knast eingesperrt zu lassen.“
„A-Aber so kann doch niemand leben!“ Widersprach ich ungläubig.

Mittlerweile bezweifelte ich, dass es ein Gesicht gab, dass gleichgültiger als das von Illian sein konnte. „Wie man sieht, funktionierte es einwandfrei. Lässt du mich jetzt endlich alleine?“

Ich raffte mich auf die Beine, bloß, um erneut meine Arme in die Hüften zu stemmen. „Mann, jetzt mach es mir doch nicht so schwer. Ich bin nicht dein Feind, Illian!“

Für einen Moment erwiderte Illian meinen Blick, wobei ich schwören konnte, das etwas lilanes in seinen Augen aufblitzte, ehe er auf die Zimmertüre verwies. „Danke, aber für heute habe ich wirklich genug von dir.“

„Illian...“ Seufzte ich enttäuscht. „Bitte, lass mich für dich da sein! I-Ich weiß, du kennst mich nicht... Noch nicht! Aber ich will dir nichts schlechtes. Das schwöre ich!“

„Zu freundlich. Bist du dann auch so gütig und schenkst mir ein paar Stunden der Ruhe?“

Ruhe? Oh! Natürlich musste Illian es erst einmal verdauen, plötzlich hier draußen zu sein. Geschweige denn, seiner Zentrale Meldung erstatten. „J-Ja, ist gut. Ich verstehe und komme heute Abend wieder, ja!“

„Nein!“ Stöhnte Illian genervt. „Dehn die paar Stunden gerne auf ein paar Wochen aus!“ Bettelte er genervt, während er mich unsanft zur Zimmertüre schob. „Ich komme sehr gut alleine klar.“

„W-Was willst du denn tun?“ Erkundigte ich mich.
Illian erstarrte und sah mir für einen Moment fest in die Augen. „Ich war jahrelang eingesperrt. Erstmal werde ich mir weibliche Gesellschaft anlächeln, dann sehen wir weiter.“
Ich verzog das Gesicht, als meine Vision von vorhin, viel zu klar, wieder aufblitzte. „Igitt, bitte verschon mich!“ Das musste ich wirklich nicht wissen!

„Du bist doch hier die Hartnäckige. Hättest du mal nicht auf eine Antwort bestanden.“

Das konnte ich wohl kaum abstreiten. „Ich bin bloß hartnäckig, weil du mir keine Chance gibst!“ Irgendwann würde er es mir schon danken, soviel war mir klar.“

„Yvonne... Willst du es wirklich nicht verstehen?“

„Iduna...“ Korrigierte ich, einmal mehr ungehört.
„Weder habe ich bock darauf, dich besser kennen zu lernen, noch auf irgendeine Art weitere Hilfe von dir. Ja? Ging das jetzt endlich in deinen Schädel hinein?“

Zähneknirschend wich ich Illians Blick aus. „Ist mir egal, wenn du jetzt so darüber denkst.“ Nuschelte ich, in der Hoffnung er würde es nicht hören. „Ich gebe nicht so schnell auf.“ Und irgendwann einmal, würde er mir dankbar dafür sein. Punkt aus.

8. Freya Ridder – Alltägliche Probleme, rund um die Alpha

Das Knurren unterschiedlicher Wölfe weckte mich, kurz nachdem ich einen kleinen Powernap endlich hatte einrichten können. Erst befiel mich die Sorge, meine Kinder könnten erneut mit Krallen und Reißzähnen aneinander geraten sein, etwas ganz alltägliches für mich mittlerweile. Dann jedoch erinnerte ich mich, dass mein Gefährte Milan, doch gesagt hatte, er würde heute Nachmittag für ein paar Stunden dem Treffen des Rudels beiwohnen. Normalerweise müsste ich auch dabei sein, um meinem Gefährten, der übrigens der Alpha dieser Stadt war, beizustehen, wie es das Protokoll erlangte. Doch solange mein jüngstes Kind, noch keine zehn Monate alt war, oder ich mich im siebenten Schwangerschaftsmonat befand, durfte ich solchen Treffen fernbleiben, um das Leben meines Kindes zu schützen. So zumindest lauteten die Gesetze.

„Cain? Romeo?“ Fragte ich, als ich die beiden jüngsten kauernd hinter der Wohnzimmerbank vorfand. Wo ist Ace?“

„An der Türe!“ Flüsterte Romeo, mein siebenjähriger, mit gefletschten Zähnen und einen Arm um seinen zweitjüngsten Bruder Cain geschlungen.

„Dieser dumme Junge!“ Fluchte ich. Ich wusste ja, dass sich, ins besondere junge Alphajunge, sehr gut zu wehren wusste, vor allem wenn man mit einer Jägerinmutter aufwuchs, trotzdem erlaubte ich ihnen nicht, sich irgendeiner Art von Gefahr auszusetzen.

Ich weiß, recht heuchlerisch, wenn man bedachte, dass wir Jäger unsere Kinder meist bereits mit Sieben mitnahmen, auf leichtere Jagdeinsätze... „Ace, hoch mit dir und hol Tizian!“ Befahl ich streng, während ich aus der Armlehne des Sofas, welche sich leicht öffnen ließ, eine Klinge heraus zog, die einen halben Meter maß und diese Bank mühelos in zwei geschnitten hätte.

„Aber Mama...“ Beklagte sich Ace knurrend. „Ich kann schon auf mich selbst aufpassen! Ich bin jetzt der älteste Alpha in diesem Haus...“

Ich hatte ihn so wütend angestarrt, dass selbst dieser junge Alpha nachgab. „Ab in den Keller mit euch. Und schließt ab, bis ich euch hinaus lasse!“

Noch einmal knurrte Ace unwillig, stampfte frustriert auf und lief gerade rechtzeitig von der Türe fort, als sie auch bereits von außen halb aus den Angeln gerissen wurde.

Erstarrt betrachtete ich den breit gebauten, fast den gesamten Eingang einnehmenden Werwolf, wie er sich hindurch schob und knurrend seine Zähne bleckte. Mordlust funkelte in seinen Augen und seine Arme sahen so aus, als könnten sie es sogar mit einem Elefanten aufnehmen. „Opfere mir eines deiner Jungen, dann kann der Rest von euch glücklich weiterleben, Weib.“

Einen dümmeren Satz hatte ich selten gehört. „Ace, los jetzt.“

„A-Aber Mama...“

Ich ließ die Klinge in meiner Handfläche sausen und ging in Kampfstellung. „Los jetzt, ich will sein schmutziges Blut später nicht aus euren hübschen Klamotten waschen müssen.“ Spottete ich, um den aufgepumpten Angreifer zu reizen. Er sollte sich um mich kümmern, damit meine Jungen ihre Chance ergreifen konnten.

„Gut, dann werde ich eben dafür Sorgen, dass sich kein weiterer Alpha hier erheben kann.“ Der Werwolf knackste mit seinen Fingern, während er einen begeisterten Laut ausstieß. Bestimmt war dies von Anfang an seine Intension gewesen. Er wollte mich testen. Das konnte er gerne haben.

„Komm nur, wenn du es wagst, Hündchen...“ Mit einem unmenschlichen Brüllen ging das Wesen auf mich los. Rohe Gewalt, gepaart mit einem eisernen Willen, waren nicht so leicht zu bezwingen, wie man vielleicht glauben mochte. Natürlich bin ich eine Jägerin. Ich wurde dazu erzogen, mich selbst einem Wesen zu erwehren, welches das dreifache von mir wog, oder gar ein Haus überragte.

„Verabschiede dich schon mal, von deinen Jungen.“

„Sprich du besser dein letztes Gebet!“ Forderte ich und gab ihm nicht einmal eine Chance, nahe genug an den noch immer erstarrten Ace heran zu kommen. Mit wütendem Gebrüll, sprang ich in die nächste Spiegelung, in dem Fall meine Türklinke und kam im Spiegel, hinter dem Angreifer wieder hinaus. Leider jedoch waren Werwölfe nicht so leicht auszutricksen. Er vertraute seinen Instinkten, drehte sich herum und versuchte mich in der Luft abzufangen. Diese Tat kostete ihm einen Finger, was ihn erbost aufschreien ließ.

„Jetzt lauf schon verdammt!“ Brüllte ich Ace an, damit dieser endlich aus seiner Erstarrung erwachte. Blinzelnd lief mein tapferer Sohn los, während ich einen Faustschlag in den Magen ertrug.

„Scheiße!“ Fluchte ich, als ich unsanft auf den Trümmern meiner Haustüre landete. Einmal wieder... Ich wollte ja nicht behaupten, dass es langsam zur Gewohnheit wurde, dass jemand meine Inneneinrichtung, oder meine Türe zerdepperte... Aber allmählich erkannte ich so eine Art Muster.

„Stirb, Schlampe!“ Brüllte der Angreifer und verwandelte sich mitten in meinem Flur in einen Wolf. Als Mensch hätte er mich in diesem Moment vermutlich eher erwischen können, da sich eine Wolfsverwandlung im Allgemeinen etwas dahin ziehen konnte. Besonders wenn man ein Omega war... Ein verstoßener, einsamer Wolf, ohne Rudel.

Glück im Unglück, was? Der Wolf sprang auf mich zu, doch ich schlug mit meinen Beinen nach oben aus, leitete seinen Sprung weiter, indem ich meine Fußsohlen gegen seinen pelzigen Brustkorb drückte und ließ ihn hinter meinem Kopf, gegen die Wand krachen. Bewusstlos glitt der Wolf auf Steroide auf den Boden und blutete stark aus der Nase. Die war hin... fürs erste.

„Mama? Alles Gut?“ Fragte Romeo, welcher mit seinem Bruder Cain noch immer hinter dem Sofa kauerte.

„Zur Hölle noch eins! Könnt ihr nicht zumindest einmal auf mich hören?“ Schrie ich sie an. Was wenn ich nicht gewonnen hätte? Was, wenn dieser dumme Werwolf los gesprungen wäre, ehe er sich verwandelte, anstatt den langen Weg nehmen zu müssen?

„Waaah!“

Polternd fiel Ace die Treppe hinunter. Für einen Moment schien es wie in Zeitlupe zu geschehen. Erst fiel er vorwärts, mit dem blauen Bündel, eines noch halb schlafenden, sechs Monate alten Baby, in der Hand... dann kam er auch bereits mit dem Rücken auf den Stufen auf und schrie erschrocken seinen Schmerz heraus.

„Ace!“ Rief ich, ließ den bewusstlosen Wolf liegen und rannte zurück ins Wohnzimmer. Hustend landete Ace unten, am Treppenansatz an und wirkte stark desorientiert. Erst als ich den Blick von meinem verletzten Sohn abwandte, und nach der Quelle seines Sturzes Ausschau hielt, bemerkte ich die Wölfin.

„Blöder Bastard!“ Knurrte die Wölfin meinen ältesten Sohn an. „Das Baby gehörte mir!“

Tizian? Sie hatte es auf Tizian abgesehen gehabt? Nun schien sich auch mein Jüngster der Situation bewusst zu werden und begann wie am Spieß zu schreien. Vielleicht aber, lag es bloß an seiner Windel, oder ab auch, weil er zu früh geweckt worden war. Jedenfalls schaltete etwas in mir um. „Jetzt reicht es! Finger. Weg. Von. Meinen. Söhnen.“ So schnell konnte niemand reagieren, als ich die Klinge hinauf warf, in einen der Spiegel, welche wir an die Decke montiert hatten, dort verschwand sie für eine Millisekunde, ehe sie am vergoldet wirkenden Knauf der Türschnalle, direkt neben der Treppe wieder austrat und direkt im Kopf der Werwölfin landete, um in ihrem gefletschten Maul wieder auszutreten.

Im nächsten Moment erklang ein Heulen hinter mir. Der männliche Werwolf war wieder auf die Beine gekommen. Seine Schnauze wirkte etwas schief, ein Auge war am zuschwellen und Blut tropfte von seiner Nase. Wieder ein klassischer Fall, von Austeilen, aber nicht einstecken können, was? „Ma-ma...“ Keuchte Ace und schien große Schmerzen zu haben.

Ohne noch eine Sekunde zu zögern, streckte ich meinen Arm nach oben aus, sodass aus dem selben Spiegel, durch welches ich eben ein Messer geschickt hatte, ein weiteres herausflog. Es landete mit dem Griff voran in meiner Hand, ich warf es und versenkte diese Klinge im heilen Auge des Wolfes.

Jauchzend trat er den Rückzug an. Gut so! Auch wenn ein Instinkt mich dazu antrieb, dem Angreifer den Gar auszumachen, gewann dennoch mein Mutterinstinkt die Oberhand. Panisch fiel ich neben Ace auf den Boden, während ein rotäugiges Wölfchen auf mich zu tapste, an dessen Fell sich Cain klammerte, um Schutz und Trost zu finden. Romeo war stets so einfühlsam, dass er immer wusste, was seine Brüder brauchten, ohne dass man es ihm sagen musste. Ganz im Gegenteil zu Ace, welcher ganz deutlich seinen eigenen Kopf besaß.

Schnell nahm ich den unversehrten Tizian aus Ace verkrampften Armen und legte ihn an meine Schulter. Dann erst hatte ich die Gelegenheit mich um meinen ältesten und dickköpfigsten Sohn zu kümmern. „Ace, Schatz! Wo tut es weh? Sprich mit mir, Liebling...“

Romeo trat an Ace andere Seite und schob seine dunkle Schnauze in Ace Gesicht. Winselnd leckte er dessen Tränen auf. „M-Mein Rücken. Es tut so weh, Mama!“ Jauchzte er und schniefte Lautstark.
„Schon gut... Alles Gut, du musst dich nur Verwandeln, Schatz. Verwandle dich, dann schieben sich deine Wirbeln wieder zurück in die richtigen Positionen.“ Versprach ich. Leider klappte es nicht immer, besonders wenn etwas gebrochen, oder zertrümmert war. Aber an und für sich, trat die allgemeine Schnellheilung bei Werwölfen ein, wenn sie sich verwandelten.

„I-Ich kann nicht... Es tut so weh, Mama! Ich kann nicht... Ich kann nicht...“ Heulte er vor Schmerzen und konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen.

So sehr ich in diesem Moment auch den erschrockenen Tizian trösten wollte, hatte einfach eines meiner anderen Kinder Vorrang. Nachdrücklich legte ich ihn neben Cain ab, strich ihm für einen Augenblick über den Kopf und flüsterte ihm zu, dass Mami gleich wieder da sein würde.

„Sieh mich an, Ace, Schatz... Sieh mich bitte an!“ Bat ich Ace und umfasste mit beiden Händen sein tränennasses Gesicht. „Sieh mir in die Augen, mein Liebling.“ Zärtlich streichelte ich seine Tränen fort und lächelte ihn voller Zuversicht an. Nichts lag mir näher, als in diesem Moment einen auf heile Welt zu machen, doch eben jetzt, musste ich ihm klar machen, dass ich, seine Mutter, an ihn glaubte und für ihn da war. Nur für ihn! „Genau so. Sieh mir in die Augen, Ace. Ich weiß du schaffst das. Du bist ein Alphawolf. Der stärkste von euch vieren.“
Willkürlich trat ein Lächeln in seine roten Augen. „Ma-Mama... Ich bin doch der älteste, ich muss der Stärkste sein.“

Ich lachte leicht hysterisch. „Das ist wahr.“ Trotzdem hatte es geholfen. Für einen winzigen Augenblick hatte sich Ace nicht mehr ausschließlich auf seinen Schmerz konzentriert, sodass sein innerer Wolf die Chance erhielt, die Kontrolle zu übernehmen. Es dauerte bloß einen Wimpernschlag lang, wenngleich es mir quälend lang vorkam, schon lag ein weiterer, rotäugiger Wolf auf dem alten, abgetretenen Teppichboden, der bereits mehr Krallen ertragen hatte, als gut für ihn sein konnten.
„Gut gemacht, mein Schatz! Das hast du so gut gemacht!“ Ehe sich Ace versah, nahm ich ihn in meine Arme und knuddelte ihn so fest, dass es knapp an Kindesmissbrauch vorbei schredderte. „Du bist der Beste Ace! Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz!“

Winselnd versuchte sich der Zehnjährige, wieder völlig geheilte Welpe aus meinem Klammergriff zu befreien. Bestimmt hätte er es geschafft, wenn er seine Zähne und Krallen benutzt hätte, doch in diesem Moment beließ er es bei halbherzigen Gestrampel, während meine Tränen in sein Fell sickerten.

Romeo hingegen hatte derweilen damit begonnen, über das Gesicht seines jüngsten Bruders zu lecken, woraufhin dieser seine Müdigkeit völlig vergaß und nun stattdessen heiter lachte.

Alles gut, dachte ich... Alles ist wieder gut!

Zumindest so lange, bis ein erschrockener Aufschrei erklang. Schlagartig streckte ich meine Hand erneut aus, um noch ein weiteres, hochwertig angefertigtes Mordinstrument von der Decke fallen zu lassen, da starrte ich auch bereits in zwei hellblaue Iriden. „Iduna? Hast du uns einen Schrecken eingejagt!“

„Ich euch? W-Was ist hier passiert?“

Schnell kam meine Schwester auf mich zu und ließ sich neben Tizian auf den Boden fallen. „Danke...“ Hauchte ich und ließ meine Tränen weiterhin in Ace Fell fallen, als ich auch bereits zwei menschliche Hände fühlte. Cain brauchte nach diesem Schreck, genauso seine Mutter. „Alles Gut. Alles ist wieder gut Cain...“ Auch wenn er erst drei Jahre alt war... Von seiner Mama zu hören, dass wieder alles in Ordnung kommen würde, war bestimmt beruhigender, als lediglich zu sehen, dass wieder Ruhe einkehrte.

Nun da weder der dreijährige Cain, noch der viel zu junge Tizian von ihm umsorgt werden musste, verwandelte sich auch Romeo wieder zurück. „Sind... Sind diese Werwölfe tot?“ Fragte er unsicher. Eine Frage die kein normaler siebenjähriger stellen müssen sollte...

Mein Blick zuckte hoch zu der Frau, welche bloß einen Schubs bedurfte, um die Treppe zu uns hinunter gepoltert zu kommen. Dann zu der Blutspur, welche in Richtung der Eingangstüre ins Freie verschwand. „Sie werden dir nie wieder etwas antun.“ Schwor ich. „Weder dir, noch deinen Brüdern.“

Das schien ihm auszureichen, dann setzte er sich neben seine Tante Iduna, lehnte sich Trost suchend an ihre Schulter und streichelte den Kopf seines kleinsten Bruders. Ach Romeo... Ich wünschte ehrlich, ich hätte ihm das ersparen können. Bisher hatten die Jungs noch nie gesehen, wie ich jemanden getötet hatte, an jedem anderen Tag, außer heute, hatte ich es geschafft sie rechtzeitig in den geheimen Keller zu bekommen.

„Iduna... Würdest du sie bitte nach unten schaffen?“ Mittlerweile hatten wir im Keller ein wenig umgeräumt. Der Teil mit den Waffen befand sich wie bisher, artig hinter Schloss und Riegel, während wir Käfige eingelassen hatten, in welchen jeweils zwei Betten standen, mit einer Toilette, einem Waschbecken, so wie einer kleinen Essensration und Windeln. Selbst wenn der Keller, aus welchen Gründen auch immer, von einem Feind überrannt werden sollte, konnten sie dennoch in einem der Käfige Schutz finden und diese von innen verriegeln. Somit hatten bloß noch sie Zugang zur Entsicherung. Was man nicht alles Tat, um inmitten von Menschen, etwas so besonderes zu beschützen... Es war schon hart genug für meine Jungs, dass sie nicht wie alle anderen Kinder, hinaus in die Welt gehen durften, keine Schule besuchen, oder mit anderen ihres Alters am Spielplatz sich austoben... Innerlich schmerzte es mich, meine Kinder einsperren zu müssen. Welche Mutter würde sich schon damit zufrieden geben? Dafür tat ich alles, damit sie ein halbwegs normales Leben führen konnten und hatten den Garten modifiziert. Nun schützte eine hohe Wand meine Kinder vor neugierigen Fußgängern, trotzdem mussten sie Sonnenbrillen tragen, damit Nachbarn, von ihren höheren Stockwerken aus, nicht deren roten Iriden zu sehen bekamen.

Alles in allem klang das recht abgeschieden... und das obwohl wir in einer recht großen Stadt leben! Aber was war die Option? Meine Kinder abseits von allem dass uns schaden könnte, in einem Wald großzuziehen? Weit entfernt von all meinen Verwandten und einem halbwegs normalen Leben? Nein, das wollte weder Milan, noch ich, unseren Kindern zumuten. Hier in meinem Elternhaus, besaßen wir jeden Schutz, den wir benötigten... Zumindest an besseren Tagen.

Nachdem meine Schwester meine Kinder nach unten gebracht hatte, eilte sie an meine Seite und rollte die Leiche der Frau auf die Decke, welche ich neben dieser ausgebreitet hatte. „Du ziehst, ich wische.“ Bestand Iduna darauf, was mich zum Schmunzeln brachte. Sie konnte bisher nichts mit Leichen anfangen, was ich auch gut nachvollziehen konnte. Auch ich legte großen Wert darauf, keinem Lebewesen mehr Schaden zuzufügen, als es herausforderte. Wenn es jedoch um das Leben meiner Kind ging, stellte ich alles andere dahinter an.

„Verdammte... Freya!“ Milan war Stunden früher zurück gekehrt, als wir beide es eingeplant hatten. Ich lächelte ihn traurig an und ließ mich von meinem Gefährten in die Arme nehmen. „Es tut mir so leid, Liebling!“ Hauchte er an meinem Ohr und küsste meine Stirn. Für einen Moment gab ich mich einfach seiner Umarmung hin, ehe er sich dem nächst wichtigsten widmete. „Wo sind die Kinder? Geht es ihnen allen gut?“

Ich nickte. „Ace hatte sich scheinbar eine Wirbel verschoben, als ihn >die Tussi< von der Treppe geschubst hat.“ Ich deutete auf die Decke, in welcher eine Leiche lag. Mein Messer hatte ich längst gesäubert und zurück in meine eigene Spiegelwelt geschickt.

„Aber er hat sich doch verwandelt, richtig?“

Ich nickte tieftraurig. „Ja, es ist alles geheilt.“

„Was ist mit Cain und Romeo?“

„Romeo hat auf Cain aufgepasst. Sie hatten sich hinter dem Sofa versteckt, als der Angriff begann.“
„Tizian?“ Verlangte mein Mann schlussendlich zu wissen.
„Der wurde von Ace beschützt. Oben scheint die Werwölfin mit einem speziellen Diamantschneider eingestiegen zu sein. Sie wollte sich Tizian holen. Ace hat sie scheinbar überrascht und wollte mit seinem Bruder zu mir laufen, da hat sie ihn einfach... Sie hat ihn einfach hinunter geschubst... Mit Tizian im Arm, Milan! Wie kann jemand nur so grausam sein?“

Zärtlich streichelte Milan mein Haar, während ich an seiner starken Schulter zu weinen begann. „Ach, Freya... Es tut mir so leid! Ich wünschte, ich hätte früher da sein können, aber als ich deine Angst spürte, stand ich im Stau und kam weder vor, noch zurück... Als ich es nicht mehr aushielt, bin ich einfach... hergelaufen. Zu dir. Zu unseren Kindern...“

Verblüfft blickte ich auf. Ich störte mich mittlerweile nicht mehr daran, vor meinem Gefährten zu weinen. Er gehörte zu mir, so wie ich zu ihm gehörte. Wenn ich mich vor jemandem blamieren konnte, oder mein Leben in dessen Hände legen, dann waren es einzig und allein, seine. „Du... Du bist den ganzen Weg hierher gelaufen?“ Fragte ich ungläubig.

Milan lächelte liebevoll auf mich herab. „Ich wäre geflogen, wenn ich ein Vogel wäre, mein Herz.“

Schlagartig war sämtliche Angst und Panik wie fortgewischt. Ich fühlte wie sie in mir davon sickerte... Sie löste sich buchstäblich auf, wie Tinte von Papier abgewaschen werden konnte. „Ich liebe dich!“

Milan lächelte mich plötzlich auf diese eine Weise an... welche mein Herz selbst nach Zehn Jahren noch verrückt machte. „Und ich liebe dich.“

9. Iduna Ridder – Familie ist einfach alles!

Na toll, wie zu erwarten, platzte ich ausgerechnet dann ins Wohnzimmer meines Elternhauses, als Milan eben meine älteste Schwester Freya, liebevoll küsste. So als gäbe es ausschließlich sie beide hier auf dieser Welt, sahen sie sich tief in die Augen... „Igitt!“ Spottete ich, drängte mich an ihnen vorbei zur Eingangstüre und holte die nächsten Splitter ab, welche übrig geblieben waren, um sie nach hinten in den Garten zu bringen. „Nur gut, dass ich ausgezogen bin. Jetzt muss ich mir das hier wenigstens nicht jeden Tag antun.“

Freya legte ihr tränennasses Gesicht an Milans Brust, während eine leichte Röte über ihre Wangen zog. Milan schmunzelte lediglich, ihm schien es nicht peinlich zu sein. „Danke Iduna, dass du hilfst.“

Was sollte man darauf großartig erwidern? Wäre ich ein paar Minuten früher gekommen, wäre ich mitten in einen Kampf geplatzt und hätte bestimmt mehr abbekommen, als nötig. Dank meinem Mangel an besonderen Fähigkeiten, diente ich eben bloß als Putzkraft. Was soll man machen... „Ach was, kein Ding. Mehr als in der Zentrale anrufen und wegen eines Reparaturservice eine Anfrage zu hinterlassen, konnte ich ohnehin nicht tun.“

Als ich, bestückt mit einem besonders großem Trum der Türe, an Milan vorbei wollte, packte er mich an der Schulter. „Iduna... du weißt, du hast mehr getan, als das. Du warst da, für deine Schwester, deine Neffen... Das ist tausendmal mehr, als ich habe tun können.“
Oh... So gesehen... Ich tat dies mit einem Witz ab. „Ganz ehrlich Milan. So gerne ich dich auch habe, aber ich bezweifle es durchaus, dass du mehr gegen diesen Stiernackentarzan hättest anrichten können, als Freya. Der hat die extra verstärkte Sicherheitstüre ja echt hart ran genommen.“

Milan sah auf seine Gefährtin hinab. „Welcher Stiernackentarzen?“

Während Freya ihrem Mann die gesamte Geschichte erzählte, mühte ich mich mit der Türe ab. Ich hatte nicht angenommen, dass etwas das lediglich >extra verstärkt< auch gleichzeitig >extra schwer< sein musste. Meiner Meinung nach, konnten diese verdammten Einbrecher ihr Chaos auch gerne selbst wegräumen, wenn sie es schon verursachten! Aber wer konnte in solchen Situationen schon kleinlich sein? Ich war nur froh, dass dieser Angriff noch einmal glimpflich ausgegangen zu sein schien.

Andererseits, besäße ich eine effektivere Fähigkeit, dann könnte ich zumindest an Tagen, an welchen Milan nicht zur Stelle war, an seiner Statt für Sicherheit sorgen. Ich könnte... nützlich sein. Einmal in meinem Leben könnte ich etwas anderes sein, als bloß die jüngste Ridderschwester... mit einer ineffektiven Gabe...

Stunden später kam ich müde zuhause im Apartment an. Von Haven fehlte jede Spur und ich hatte auch keine besonders große Lust sie eventuell doch noch hier irgendwo aufzuspüren... oder einen ihrer gar kratzbürstigen Gäste.

Ich schnappte mir das achtlos stehen gelassene Geschirr und stapelte alles was ich finden konnte, neben der Abwasch. W besitzen zwar einen Geschirrspüler, doch in diesem Moment brachte ich es nicht fertig, mich mit eben diesem herumzuschlagen. Danach wischte ich sämtliche Oberflächen in der Küche, so wie den Esstisch und die Beistelltischchen. Zum Schluss brachte ich noch den Abfall hinaus zum Müllschlucker, um ihn dort verschwinden zu lassen. Zufrieden betrachtete ich die Wohnung. Sie war wieder so sauber, scheinbar bereit für die erste Führung eines Immobilienmarkers. Was wollte man mehr? Nun körperlich so ausgelaugt, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte, stapfte ich hoch in den ersten Stock. Nach einem heißen Bad in Badesalz, um mich ein wenig entspannen zu können, döste ich ein wenig davon. Irgendwann zwang ich mich dazu, wieder aus der wohlig warmen Wanne zu kriechen, schlüpfte in einen kuscheligen Pyjama und... lag stundenlang wach! Ich mein Hirn ratterte. Nicht bloß dass ich mir stets Sorgen um meine älteste Schwester machen musste, nein da war auch noch dieser verdammte Kerl, den ich so gar nicht zu verstehen vermochte! Ich wünschte ich wüsste was in seinem Kopf vorging, denn nur dann konnte ich auf die richtige Weise auf ihn eingehen und sein Vertrauen gewinnen... Wieso bloß? Fragte ich mich. Weshalb ließ er mich denn nicht an sich heran? Wollte er keine Familie haben? Dachte er vielleicht... Natürlich musste Illian denken, dass wir ihn verstoßen hätten. Was auch sonst? Meine Mutter und mein Vater hatten ihn weggegeben und bloß seine Zwillingsschwester behalten. Den einzigen Sohn dieser Familie hatten sie... an jemand völlig fremdes abgetreten...

Geplagt von Schuldgefühlen stand ich früh morgens, noch vor Sonnenaufgang wieder auf und kleidete mich frisch ein. Danach machte ich mein Haar, band es geflochten auf meine rechte Seite und betrachtete mein völlig durchschnittliches Aussehen im Spiegel...

Heute hatte ich wieder Seminare in der Uni. Aber so richtig freuen konnte ich mich natürlich nicht darauf. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich irgendetwas mitbekommen würde, schon alleine deshalb, dass die Fächer seicht und völlig uninteressant waren. Aber was sollte ich denn sonst machen?

Meine Magie ist größtenteils nutzlos, meine körperlichen Kräfte lassen zu wünschen übrig und auch sonst konnte ich mich für kaum etwas begeistern. Ich war weder kreativ, noch im Umgang mit einem Hammer begnadet. Von Autos verstand ich nichts, Schusswaffen erschreckten mich und um zu schreiben, war ich bei weitem zu faul. Damit fielen ein Großteil der anstehenden Berufe für mich fort.

Nur was konnte ich schon großartig? Durch Zufall meinen verstoßenen Bruder finden und zertrümmerte Möbelstücke weg bringen? Wow... Mein Leben war ja so spannend!

Ächzend über meine innere Stimme, welche nicht gerade begnadet darin war, mich aufzumuntern, verließ ich mein Zimmer.

„Oh, du bist schon wach?“ Fragte ich verwirrt, als ich den rothaarigen Schopf im Halbdunkeln vor dem Herd herum tänzeln sah und mir sogar ein leckerer Duft entgegen strömte. Was war denn hier los?
Haven wandte sich zu mir um, mit einem Speckstreifen im Mund und nuschelte „Nö, ich war noch nicht einmal im Bett.“ Ihre Stimme klang anklagend und erschöpft. Also hatte auch sie nicht gerade eine angenehme Nacht gehabt. Muss wohl in der Familie liegen...

„Du bist aber früh wach.“ Bemerkte ich mit einem Blick auf meine Armbanduhr. Die hatte mir Milan zu meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Sie besaß goldene Zeiger, die im Licht der Sonne glitzerten, wobei der Rest der Uhr eher schlicht gehalten war. Er meinte damals, sie erinnere ihn an mich. Schlicht und hübsch, aber innerlich wahrlich bezaubernd... Damals wie heute verstand ich bei weitem nicht, was er mir damit sagen wollte. Aber sie gefiel mir, war nicht protzig und hatte sogar eine Weckfunktion. Leider hatte ich noch nicht herausgefunden, wie sie funktionierte. „Die Uni beginnt erst in zwei Stunden!“

Ich ließ mich auf einen der Barhocker fallen und seufzte tief. „Ich habe auch kaum geschlafen. Ich dachte ich setzte mich vor den Fernseher, aber nun ja. Was hat dich denn aufgehalten?“ Nun war es an der Zeit ein wenig zu sticheln! Vor allem um mich vom vergangenen Tag abzulenken. „Bist du deinen sexy Wandler etwa losgeworden?“

Haven verzog ihre Miene. „Lassen wir das Thema besser.“

Als ob! Ich lehnte mich vor und zuckte auffordernd mit meinen Brauen. „Sag bloß nicht, du hast dir den super heißen, schnurrenden Luxusbody erst aufgehübscht, um ihn dann wieder in die Kanalisation zurück zu schicken.“ Das war nicht bloß grausam, sondern auch eine wahre Verschwendung.

Vetjan war aus mehreren Gründen nicht mein Typ. Doch selbst ich konnte nicht bestreiten, dass dieser Kerl echt Hammermäßig ausgesehen hat! Schon alleine der Hautfarbene Kontrast zwischen ihm und Haven ließ die beiden, welche an und für sich bereits attraktiv waren, bloß noch schöner aussehen. Wie ein dunkler und heller Engel, die einander gefunden hatten.

„Was hätte ich deiner Meinung nach, denn sonst tun sollen?“ Fragte sie mit wedelnden Armen. „Ihn hier behalten? Er ist ein Gestaltwandler, Iduna. „E-Er gehört einfach nicht hierher.“

Ich runzelte ungläubig die Stirn. Haven konnte mir nichts vormachen. Vetjan hatte sie aus dem Konzept gebracht, das erkannte ich alleine daran, dass sie um diese Zeit überhaupt wach war! „Sag nicht, der ist dir tatsächlich unter die Haut gegangen?“

Sie schmiss frustriert den Pfannenwender hin. Wenn ich so etwas tat, bekam ich ärger dafür! „I-Ich habe keine Ahnung! Er ist so...“ Haven fauchte frustriert. „Und dann erwartet er, dass wir aus heiterem Himmel eine glückliche Beziehung führen. Ich kenne diesen Mann doch nicht einmal!“ Ihre Stimme überschlug sich praktisch, während sie an die Decke ging.

Ich hingegen quietschte begeistert! Unglaublich! Ein Mann, der Haven den Kopf verdrehte? So etwas gab es noch nie! Und er ist sogar real! „Oh mein Gott! Hat er dich etwa geküsst?“

Als ich in >was auch immer< hinein geplatzt war, schienen beide kurz davor gewesen zu sein, einander an die Wäsche zu gehen. Also hatte Vetjan es doch gewagt? Hatte er Haven geküsst, ohne dass sie ihm den Kopf abgerissen hatte? Unvorstellbar!

„N-Nei-Nein...“ Stotterte Haven mit hochrotem Gesicht. „Oder ja? Ja... okay, das hat er. Aber das hatte überhaupt nichts z bedeuten! Er weiß nicht was er denken soll. Vetjan war schwer verletzt und hat seinen gesamten Clan verloren. Jetzt... Jetzt bildet er sich ein, ich sei seine Gefährtin und so ein Käse.“

Havens Versuch das alles hinunter zu spielen, amüsierte mich zwar ein wenig, doch über all das legte sich dann doch ein überraschend dunkler Schatten. Ich musste schlagartig an meine Vision denken. Dieser Moment, in dem sich Haven Vetjan einfach hingegeben hatte. Sie schien... etwas akzeptieren zu müssen, dass, wie ich nun herausfand, längst klar war. Haven hatte ihren Gefährten tatsächlich gefunden! Vetjan interpretierte nicht einfach zu viel in die ganze Sache hinein, sondern >sah< meine Schwester schlichtweg als das an, was sie war... Seine Gefährtin. „Nicht du auch noch! Erst Freya, dann die blöde Kuh und jetzt auch noch du?“ Das konnte doch wirklich nicht wahr sein! Waren wir Ridderschwestern etwa dazu verflucht uns in das unmögliche zu verlieben? Das war doch kein Segen, sondern reine Folter!

Freyas Wölfe, Dämonen und jetzt Haven´s riesiges Schmusekätzchen. Wer würde mein Gefährte sein? Ein Poltergeist? Vampir? Nein, noch besser. Bestimmt der längst versprochene Ehemann einer anderen Jägerin, der bereits Kinder hat und bald in Pension geht. Zumindest schätzte ich mein Glück so ein!

„So ist es ganz bestimmt nicht, Idy!“ Ich brauchte einen Moment, ehe ich begriff, dass Haven sich auf Vetjan bezog. „Wie... Wie sollte ich mir so eine Verbindung überhaupt vorstellen? Vetjan könnte niemals hier im Apartment mit uns leben! Und ich in der Kanalisation?“ Sie lachte humorlos auf, ehe sie wieder nach dem Pfannenwender griff und die fast schwarz gewordenen Speckstreifen auf einen Teller schmetterte.

Sie hatte ja eigentlich recht. Ihr Verschwinden in die Kanalisation würde auf jeden Fall auffallen. Aber hier oben konnte man auch unmöglich einen Gastaltenwandler >halten<. Halten? War das überhaupt korrekt so? Immerhin ist er kein Haustier. Er ist ein Mensch, ein übernatürlicher Mensch wohl oder übel, aber bestimmt kein wildes Tier.. Nicht immer...

Okay, das ganz hatte so überhaupt keinen Sinn! Auffordernd hielt ich meiner Schwester meine Hand hin.

„N-Nicht doch.“ Beklagte sie sich.

„Komm, so funktioniert es am ehesten, Haven. Das weißt du.“ Natürlich konnte Haven nichts von meiner Vision am vergangenen Nachmittag wissen, daher wollte ich das hier so gut wie möglich ausnutzen! Vor allem dabei zuzusehen, wie Haven mit sich rang, bescherte mir eine Art von Genugtuung. Es gab bloß selten Momente, in welchen ich die Hebel in der Hand hielt. Dieser war einer jener und ich kostete ihn vollkommen aus.

„Und wenn ich es gar nicht wissen will?“

Ich zuckte gespielt gleichgültig mit meinen Schultern. „Wenn er nicht dein Gefährte ist, dann werde ich ihn weder jetzt, noch sonst irgendwann in deinem Schicksal sehen.“

„Aber wenn du ihn siehst?“ Fragte sie voller Furcht in den Augen. Langsam tat sie mir ja sogar leid, aber ob Haven sich damit besser fühlte zu wissen, dass Vetjan tatsächlich ihr Schicksal war, konnte ich kaum nachempfinden. Wie denn auch? Ich wusste zwar dass sich Haven danach sehnte, jemanden, abgesehen von ihrer Familie an ihrer Seite zu haben, mit dem sie alles teilen kann, doch ein Gestaltwandler? Man hielt sich auch bloß ein Krokodil, um aufzufallen...
Der Vergleich hinkte, das gebe ich zu, aber niemand konnte behaupten, dass ein verwilderter Gestaltwandler sonderlich unauffällig war. Besonders wenn er vierundzwanzig, sieben an meiner berühmten Schwester hing.

Auffordernd winkte ich mit meinen Fingerspitzen. Mit einem unwilligen Laut, streckte Haven mir ihre Hand entgegen und schlug praktisch in die meine ein, während sie ängstlich die Augen zusammen kniff. Als ob ihr das irgendetwas nutzen würde...

Gespielt erschrocken sog ich die Luft ein. Schlagartig riss Haven ihre Augen wieder auf und starrte mich erschrocken an, ehe sie begriff, dass ich sie bloß aufzog.

„Ha, ha!“ Beklagte sie sich beleidigt und griff wieder nach frischem Speck, um ihn auf die heiße Pfanne zu legen. „Du bist wirklich grausam, weißt du das?“

Ich kicherte hämisch. „Du doch auch, immerhin gibst du mir nichts vom Speck ab.“

Meine wesentlich erwachsener Schwester, streckte mir kindisch die Zunge heraus, ehe sie den Teller mit Speck zu mir rüber schob. „Und was soll ich dazu essen?“

Sie zuckte gleichgültig mit ihren Schultern, als ob sie das überhaupt nichts anginge.

Schnaufend ging ich zur Brotlade und entnahm ihr das Toastbrot. Während ich zwei Stück davon in den Toaster schob, entschied ich, dass es an der Zeit war. Ich war keiner der Menschen, die anderen die Wahrheit vorenthielten. Besonders wenn es um meine Geschwister ging, war mir Ehrlichkeit wichtig.

Na gut, das klang eventuell heuchlerisch, besonders da ich noch immer niemanden etwas von Illian erzählt hatte... Aber gerade deshalb musste ich Haven die Wahrheit sagen! „Weißt du... Im Grunde genommen, hatte ich gestern Nachmittag tatsächlich so etwas... wie eine Vision.“

Ich hörte hinter mir Metall auf der Kochplatte aufschlagen. Als ich mich umwandte, hätte ich schwören können, dass Haven ihr nicht vorhandenes Fell sträubte. Sogar ihre Atmung ging wie bei einer verschreckten Katze. „Wen hast du gesehen?“

Ich wandte mich ebenfalls wieder meinem Toast zu. „Dich.“

„Iduna, wenn du...“ Fauchte meine Schwester zornig, daher unterbrach ich sie lieber gleich.
„Ich mache keinen Scherz.“ Schwor ich, meinen Blick weiterhin auf den Toaster gerichtet.

„Will ich es denn wissen?“

Ich zuckte mit meinen Schultern. „Weiß nicht. Aber ich werde es bestimmt nicht für mich behalten, das habe ich euch doch damals geschworen.“

„Ja, ich erinnere mich, Idy... A-Aber du weißt doch selbst, dass man in manche... Visionen einfach mehr hinein interpretieren kann, als in...“
„Da gab es nichts zu interpretieren, Haven.“ Unterbrach ich ihr nervöses Gestammel. „Ich hab es gesehen, Haven. I-Ich kann dir nicht genau sagen wann, aber in den nächsten Wochen auf jeden Fall. Tut mir leid...“
Haven verstummte, doch als ich mich nach mehreren Minuten zu ihr umdrehte, wendete sie stumm geworden den Speck.

Was nun unter ihrem rotem Haar vor sich ging, konnte ich bloß entfernt erahnen. Bestimmt war es nicht leicht für sich. Mit dieser Vision änderte sich nämlich jetzt einfach alles! Nicht bloß für Havens Beziehungsstatus, sondern einfach... einfach alles, alles! Sie musste einen Weg wählen, der sie entweder ihren Job, oder ihr Privatleben kosten wird. Nein... Ehrlich gesagt, konnte ich mir nicht ansatzweise vorstellen, was nun auf sie zukommen würde. Wie denn auch? Haven war berühmt in dieser Stadt, obwohl nicht nur. Sie führte fast weltweit ein angesehenes Label! Für sie war es ganz normal, spontan Interviews zu geben, Autogramme oder sogar Selfies mit Fans hin und wieder...

Aber ein schreckhafter Gestaltwandler? Wie konnte sich ein ängstliches und scheues Wesen wie Vetjan in so eine Welt eingliedern? Und zwischen der Kanalisation, so wie ihrer eigenen Welt zu pendeln, war ebenso unmöglich für Haven. Es war einfach... viel zu kompliziert.

Während ich den Frühstückstisch deckte, räusperte ich mich und holte Haven aus ihren völlig versunkenen Gedanken. Allmählich musste sie ja schon zwei oder drei Schweine dort in der Pfanne gebraten haben! „Hat dich Freya eigentlich bereits angerufen?“

Mit einem glasigen Blick sah Haven hoch. „Nein, wollte sie etwa?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wir haben gestern versucht dich zu erreichen, aber vermutlich warst du noch mit Vet-... Ähm, beruflich beschäftigt. Jedenfalls, sind Freya und die Kinder gestern kurz bevor ich bei ihnen angekommen bin, angegriffen worden.“

Havens Blick klärte sich und Sorge kehrte darin zurück. „Was? Wieso sagst du mir das denn erst jetzt?“ Rief sie erschrocken aus. „Geht es Freya und den Kindern gut?“

Ich nickte. „Ja, allen geht es gut. Nur... Ace hat es ziemlich erwischt...“ Ich erzählte ihr die Kurzfassung vom Geschehenem.

„Und... Und sie sind immer noch dort?“ Fauchte sie aufgebracht.

„Natürlich, Milan traf kurz nach mir ein und die Organisation hat Freyas Türe sofort ersetzt.“ Mittlerweile mussten die bestimmt einen Vorrat an Türen für sie im Lager angelegt haben.

„Aber das ist doch viel zu gefährlich! I-Ich meine...“ Fassungslos stemmte meine Schwester ihre Arme in die Hüften. „Wieso hört Freya denn nie auf mich? Erklär mir das? Ich rede schon seit ich hier wohne, dass sie mit den Kindern zu mir kommen soll, wenn Milan nicht da ist!“ Irritiert runzelte ich die Stirn. Was ging denn jetzt ab? Haven schaltete den Herd aus und schob die Pfanne beiseite. „Hol deine Jacke, wir werden den Vollidioten jetzt Beine unter dem Hintern machen!“

Ich verstand mit einem Mal gar nichts mehr! Ehe ich mich versah, hatte Haven die Schlüssel für den Geländewagen gepackt und zog mich neben sich her, zum Auto. Jedoch egal wie sehr ich auf sie einredete, Haven blieb stur. So kannte ich sie überhaupt nicht.
Haven war doch eigentlich höflich und entgegen kommend. Aber jetzt drehte sie wahrlich am Rad! Kaum hatte sie den Motor ausgeschaltet, sprang sie auch bereits aus dem Auto und klopfte lautstark gegen die neu eingesetzte Eingangstüre. Ein verschlafener Wolf, mit finsterer Miene knurrte empört, als er öffnete und die rothaarige Furie in sein Zuhause stürmte.

Eilig folgte ich auf den Fuß. „Tut mir leid, sie war nicht zu bremsen.“ Entschuldigte ich mich bei Milan im Vorfeld.

Mittlerweile hatte es auch Freya aus dem Bett geschafft und band eben ihren Morgenmantel im Eingang zu ihrem Schlafzimmer fest. „Haven?“ Fragte sie ungläubig und suchte verschlafen nach einer Uhr.

„So, ihr packt jetzt eure Sachen. Auf der Stelle!“ Befahl Haven in einem Tonfall, den ich bloß von ihr kannte, wenn sie sauer auf mich geworden war.

„Was?“ Fragte Freya irritiert.
„Wozu?“ Fügte Milan an.
Doch Haven dachte nicht einmal daran dies weiter auszuführen, sondern fuhr unsere älteste Schwester direkt an. „Was denkst du eigentlich, was ich eben für einen Schrecken bekommen habe? Du und die Jungs ganz alleine daheim? Wie kommt es eigentlich dass du in deinem Alter, nicht ein einziges Mal daran denkst, auf deine Schwester zu hören, hä?“ Fauchte sie. „Seit ich in meinem Apartment wohne, rede ich davon, dass ihr zu mir kommt, falls Milan mal weg muss. Hier ist es offensichtlich nicht sicher genug, für sie und deine Jungs!“ Letzteres galt endlich Milan, welcher unsicher einen Schritt zurück trat, als Haven mit einem vorwurfsvoll ausgestreckten Finger auf ihn zu stampfte. „Und ja, ich weiß dass sich deine Frau ganz gut alleine verteidigen kann, aber Iduna? Oder Ace, Romeo und die beiden kleinen?“ Fragte sie, ohne die beiden überhaupt zu einer Antwort ansetzen zu lassen. „Ganz ehrlich? Mir reicht es allmählich. Andauernd muss ich mir Sorgen um euch machen und mir reicht es allmählich. Vielleicht ist das hier unser Familiensitz, unser Zuhause, und das Haus in dem ihr eure Kinder groß ziehen wollt... Aber. Es. Ist. Nicht. Sicher. Genug!“

Keuchend sah sie von einem zum anderen, während ich nicht einmal wagte einen Muckser von mir zu geben.

Plötzlich setzte sich Freya in Bewegung. Für einen Moment dachte ich noch, sie würde Haven für diese Frechheit am frühen Morgen eine knallen, doch da schloss unsere älteste Schwester, Haven einfach in eine tröstliche Umarmung!

Verblüfft wechselten Milan und ich einen Blick, ehe Haven einfach schluchzte. Sie weinte und klammerte sich so fest an Freya, dass ich für einen Moment Angst bekam, dass meine Schwester aus heiterem Himmel einen Nervenzusammenbruch erlitten haben könnte.

„Was ist passiert?“ Flüsterte Milan beinahe lautlos in meine Richtung. Ich zuckte unwissend mit den Schultern. Woher zum Teufel sollte ich das denn wissen?

Nach einem Moment ließ sich Freya zusammen mit Haven auf die Wohnzimmercouch fallen und streichelte einfach bloß dessen flammend rotes Haar. Mit einem Nicken wies sie Milan an die Jungs zu wecken. „Pack zusammen, wir fahren zu Haven.“

Milan, noch immer total überrumpelt, wechselte erneut einen fragenden Blick mit mir. Ich zuckte die Schultern. „I-Ich helfe Milan mit den Jungs.“ Offensichtlich wollte man uns los haben, aber... weshalb?

 

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Nur Dank Milan schaffte ich es rechtzeitig in die Uni, ehe die erste Stunde um war. Vorher musste er mich nämlich zuhause absetzen, damit ich hastig meine Sachen zusammen packen konnte. Währenddessen war Haven mit Milan und den Jungs, ausnahmsweise einmal in die Öffentlichkeit Essen gegangen. Romoe und Ace wussten sich ja bereits zu benehmen, außerdem befanden sich gegen halb Acht morgens, ohnehin keine Kinder beim McMonats. Eine berühmte Fastfoodkette, die so gut wie vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. Es war außerdem das erste Mal für Ace und Romeo dass sie so etwas wie Fastfood kennen lernten. Zumindest erzählte es mir so Milan, als ich mich wieder ins Auto warf und er weiter fuhr. Anscheinend wollten die beiden Jungs nie wieder etwas anderes Essen und jedes der vier Kinder freute sich über ihr Gratis Spielzeug. Cain hatte sogar einen Luftballon in der Form einer orangen Katze erhalten und nannte sie daraufhin Haven. Sehr zum Missfallen meiner Schwester, verstand sich.

Ob sich jedoch dessen Laune mittlerweile gebessert hatte, konnte ich so nicht sagen. Milan sagte, dass Freya jetzt noch nicht darüber sprechen würde, aus Respekt vor ihrer kleinen Schwester.

„Hast du wirklich keine Ahnung, was sie haben könnte? So kenne ich Haven doch überhaupt nicht.“ Milan klang unglaublich besorgt. Auch wenn sie sich aufgrund ihrer gegensätzlichen Arten quasi nicht mehr riechen konnten, liebte er Haven trotzdem noch wie seine eigene kleine Schwester. Und ja, Milan hatte tatsächlich eine kleinere Schwester, welche jedoch vor zehn Jahren, aufgrund eines Auslandsstudiums weggezogen war. Er telefonierte bloß selten mit ihr und Freya, welche damals dessen beste Freundin gewesen war, hatte ebenso völlig den Kontakt zu ihr verloren.

Ich war mir nicht einmal sicher ob Jenna überhaupt eine Ahnung davon hatte, dass Freya und Milan längst verheiratet waren und Kinder bekommen hatten?

„Nein... Nun ja, vielleicht liegt es daran, dass Haven... Ähm... Ich hatte eine Vision von Haven und in der sah ich sie mit... dem Gestaltwandler, welcher als Notfall letztens eingegangen war.“

Milan gab einen verstehenden Laut von sich, während er sich auf die Fahrbahn konzentrierte. „Ach so, also hat er etwa ein Problem, bei dem sie... Oh!“ Da ging ihm das Licht endlich auf. „D-Du meinst du hast die beiden >zusammen< gesehen?“

Ich nickte. „Jap, Vetjan ist definitiv ihr Gefährte.“

Blinzelnd sah Milan zwischen der Fahrbahn und mir hin und her. „W-Wie bitte? Aber wie... Wie sollte so eine Beziehung zu einem halb wilden Tier denn bitte funktionieren?“ Erkundigte er sich fassungslos. „Therianthrophe sind bei weitem nicht so gesittet wie wir Werwölfe.“

Himmel, das wusste ich bloß zu gut! Sie waren kratzbürstig und bereit zu jeder Zeit Gewalt einzusetzen. Ich zu meinem Teil konnte mir unmöglich vorstellen, je mit einem zusammen zu leben, geschweige denn ein sittsames Familienessen auszuhalten... „Ja, da ist die Katastrophe auf jeden Fall vorprogrammiert.“ Stimmte ich Milan zu. „Außerdem habe ich nicht ihre Wohnverhältnisse gesehen, sondern bloß... Nun ja, du weißt schon...“ Mehr als dass eine Schwester je von ihrer Familie sehen wollte...

„Oh... Oh! Das tut mir leid.“

Ich winkte ab. „Passt schon. Bei dir und Freya war es auch nicht sonderlich viel besser. Entweder sah ich sie bei der Geburt eines eurer Kinder, oder einmal sogar als ihr euch über ihre Schwangerschaft >gefreut< habt.“
Milan verzog mitleidig das Gesicht und gab einen unwilligen Laut von sich. „Das tut mir leid! Wirklich!“ Schwor er.

„Passt schon, so wurde ich wenigstens ohne eure Hilfe aufgeklärt.“ Scherzte ich, was mir einen vorwurfsvollen Blick einbrachte. Natürlich sollte ich darüber keine Scherze machen, aber ganz ehrlich, was war die andere Option? „Was denn? Wenigstens habt ihr mich nicht traumatisiert!“ Nicht gänzlich... Aber irgendwie hatte ich das seltsame Bedürfnis mich mit der menschlichen Art an Fortpflanzung erst einmal nicht zu befassen. Zudem das Thema, weshalb es mit meinem Ex nicht geklappt hatte...

„Okay, zurück zum Thema. Also wie war das? Du hast es Haven erzählt und sie ist ausgeflippt?“

Ich warf die Arme unwissend in die Luft. „Keine Ahnung! Sie hat mir heute morgen erzählt, dass Vetjan andauernd davon gesprochen habe, dass Haven seine Gefährtin sei, am Tag zuvor, als ich Abstand zu den beiden genommen hatte, um den Wandler nicht zu stressen, hatte ich dann diese Vision. Als ich es ihr heute morgen erzählte... Nein, zu erst hat sie mir erzählt was Vetjan sich >einbildet<, dann habe ich ihr vorsichtig beigebracht, dass ich es tatsächlich gesehen hätte, also dass sie seine Gefährtin sei. Dann war sie aber eigentlich, recht ruhig.“ Oder? Zumindest hatte Haven nicht viel mehr zu dem Thema gesagt. „A-Aber als ich dann das Thema gewechselt habe, ist sie total ausgeflippt und hat mich mit zu euch gezerrt.“ Natürlich war ihre Sorge nicht völlig unbegründet, doch so wie sie sich verhalten hatte, war es wirklich übertrieben gewesen!

„Ah!“ Machte Milan plötzlich, so als ob er nun Gott und die Welt verstehen würde.

„Was? Was >ah<?“

Milan schmunzelte. „Mach dir keine Sorgen um Haven.“ Sagte er schlussendlich nur noch. „Deine Schwester braucht bloß ein wenig Zeit, um das alles zu verdauen und ihre Familie bei sich. Glaube mir. Sobald Haven sich ihre Gefühle eingesteht, wird sich alles andere fügen. War doch bei Freya und mir nicht anders. Sobald sie ihren Sturkopf überwunden hatte, wurde alles perfekt.“ Gab er heuchlerisch an.

Dafür kassierte er nun einen vorwurfsvollen Blick. „Siehst wohl immer noch alles durch die rosarote Brille, was?“ Zog ich Milan auf, wissend wie schwer es die beiden eigentlich hatten. Freya wurde eiskalt von der Jägerorganisation ausgeschlossen und musste für die spezielle Ausrüstung und Möbel mehr zahlen, als alle anderen. Zudem wurde sie überhaupt nicht ernst genommen. Klar, ein paar hatten sich Haven bereits angeschlossen, da diese ebenso wenig in jeder Kreatur der Nacht, ein Monster sahen, wie wir.

Dann war da noch Milan. Wenngleich er durch den Sieg über seine Großmutter das Rudel >geerbt< hatte, besaß er keinerlei Einfluss mehr über dessen Mitglieder. Die meisten hatten sich anderen Rudeln angeschlossen und es wurden jährlich weniger. Bloß wenige enge Freunde seiner ursprünglichen Familie blieben Milan treu. Zudem gab es die anderen Alphawölfe. Sie machten Milan druck obwohl er doch ohnehin bereits, mit den Alphazwillingen Territorium getauscht hatte, um näher an Freya und seinen Kindern dran zu sein.

Bisher hatte Milan erfolgreich jeden Widerstand zurückgeschlagen, doch wie lange würde das noch gut gehen? Und was war mit seinen Jungs? Was würden die einmal Erben, wenn Milan auch bloß einen Zentimeter seines Territoriums her gab?

 

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Wenig später stand ich am Eingang der Uni und atmete für einen Moment tief durch, ehe ich hinein ging. Ich kam gerade an, als die erste Stunde endete, doch zum Glück hatte mir V einen Platz frei gehalten. Sehr zu meinem Unglück, war der freie Platz direkt neben meinem Ex. Heute traf doch wirklich ein Unglück das andere, oder?

Ich schenkte V einen vorwurfsvollen blick, woraufhin sie unwissend mit den Schultern zuckte.
„Hi, Sorry die Verspätung.“ Entschuldigte ich mich und ließ mich auf den Tisch neben ihr fallen. „Hi...“ Sagte ich dann noch zu dem Jungen, der mich vor über einem Jahr, abserviert hatte.
Er lächelte mich freundlich an. „Iduna!“ Stieß er halblaut aus und rutschte gleich ein Stück näher, um nicht so laut sprechen zu müssen. „Was für ein Zufall, dass du direkt neben mir landest.“

Ich vermied es ihm deutlich zu machen, dass ich eigentlich neben meiner besten Freundin >gelandet< war, und nicht neben ihm, doch blieb wie immer einfach freundlich. Ehrlich gesagt hasste ich Konflikte sogar ein wenig! „J-Ja, das ist nett. Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.“ Heuchelte ich Freundlichkeit.

Er winkte ab. „Lass uns später in der Cafeteria was essen gehen. Dann können wir plaudern.“

Ich lächelte ihm unsicher zu, ehe ich mich wieder an V wandte. „Was wollte er?“ Frage sie, das sie natürlich nichts hatte hören können.

„Mich später in der Cafeteria treffen!“ Stieß ich ungläubig hervor.

„Wozu?“

Dadurch dass V in meine Richtung sehen musste, hatte sie einen ebenso guten Blick auf Daniel. „Oh mein Gott, er checkt dich voll ab!“ Grinste sie und versteckte ihre Belustigung hinter ihrem Block.

Räuspernd setzte ich mich wieder gerade hin und kramte meinen Laptop aus meinem Rucksack. Als ich einen >zufälligen< Blick zu Daniel warf, lächelte mich dieser, völlig unschuldig an. Ich lächelte für einen Moment zurück, doch tat so, als würde ich mich auf das Gesagte von vorne Konzentrieren.

Tatsächlich fing Daniel V und mich, in der Pause, direkt vor der Cafeteria ab! Hilfesuchend wandte ich mich an meine beste Freundin. Ich hatte wirklich keine Ahnung wie ich auf ihn reagieren sollte. Damals waren wir recht... ungut auseinander gegangen. Er hatte mir vorgeworfen, ich sei zu sehr auf meine Familie fixiert, erzähle ihm nichts und treibe mich nachts mit anderen herum, aber mit ihm würde ich nicht ins Bett steigen.

Natürlich stimmte nicht alles davon. Ja, ich trieb mich manchmal nachts herum, aber ausschließlich in der Begleitung meiner Familie. Ja, ich erzähle nichts über meine Familie, da sie große Geheimnisse birgt und nein, ehe ich nicht verheiratet war, würde ich bestimmt mit niemandem schlafen. Nicht weil ich Gottesfürchtig war, oder so etwas und nein, mir ging es auch nicht wirklich darum, erst verheiratet zu sein. Jedoch hatte mich nie das Bedürfnis befallen, mich nackt vor Daniel präsentieren und ihm um den Hals zu fallen.

Wir hatten uns geküsst, das hatte sich gut angefühlt. Er hatte mich im Arm gehalten, meine Hand und mir Aufmerksamkeit geschenkt. Das war schön gewesen, das hatte sich auch nett angefühlt, aber nicht so sehr, dass ich sagen würde, dass ich den Rest meines Lebens mit diesem Jungen verbringen würde.

Prinzipiell hatte mich damals eher sein Humor und seine Freundlichkeit angezogen, als sein Körper. Nicht dass er schlecht aussah, oder so. V würde ihn bestimmt als >Fickbar< einstufen. Davon war ich überzeugt! Aber ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass etwas fehlt, dass... ich mich einfach nicht öffnen konnte. Weder körperlich, noch seelisch.

Hm, eigentlich war es genau wie bei V. Auch ihr konnte ich nichts von meinen Familiengeheimnissen erzählen, auch sie fand ich sexuell nicht anziehend, doch genoss ihre Nähe und Aufmerksamkeit. Schlussendlich musste ich wohl zugeben, dass Daniel für mich lediglich ein Freund sein würde und niemals mehr.

„Na, ihr zwei? Darf ich euch einladen?“

V zog eine Braue hoch, während ich höflich abwinkte. „Ach was, das brauchst du doch nicht.“
„Doch, doch! Ich bestehe darauf!“

Erneut wechselte ich einen Fragenden Blick mit meiner besten Freundin, ehe sie einen Arm um mich legte und amüsiert grinste. „Ach, Idy. Lass doch den Mann, wenn er unbedingt zwei attraktiven Mädels etwas ausgeben will.“

Augenblicklich fühlte sich Daniel bestätigt und ich musste tatsächlich meine wohl verdiente Mittagspause mit ihm verbringen... Na toll!

10. Chace Ridder - Die Werwölfin!

Es war mein aller Erster Ausflug in die menschliche Welt. Natürlich hatten wir schon die eine oder andere Exkursion gemacht, doch den Kontakt mit anderen Menschen hatte meine Familie schon immer gescheut. Na gut, ich gebe zu, so früh am Morgen, ist an diesem Ort wirklich nicht viel los, aber für mich war es einfach unglaublich!

Als geborener Alphawolf lag es mir in den Genen, dass ich mich seit meiner Geburt verwandeln konnte. Entweder war ich ein Menschenkind, oder ein Wolfswelpe. Besonders die Ausflüge mit meinem Vater und meinem Bruder Romeo genoss ich. Dann nahm Papa uns immer mit in den Wald unserer Familie, wo wir stundenlang einfach bloß durch das Unterholz streiften, auf der Suche nach Beute und diese auch erlegten. In unserer Wolfsgestalt!

Bisher war das immer das Beste gewesen! Manchmal aber durfte ich sogar Mama zum Einkaufen begleiten und mir Süßigkeiten aussuchen. Auch das lag im Rennen für meine drei liebsten Ausflüge.

Aber das hier toppte im Moment einfach alles! Na gut, so cool wie ein Lauf durch den Wald war es vielleicht nicht, aber es war einfach etwas neues. Etwas, dass ich zum Ersten und vermutlich auch zum letzten Mal machte. Ehrlich ich genoss es, aber gleichzeitig hatte ich es schwer, den Wolf in mir unter Kontrolle zu halten.

Mein Herz schlug wie verrückt, während die unterschiedlichsten Gerüche über mir zusammen brachen. Alles roch neu, interessant und ich schaffte es nicht einmal, sie richtig einzuordnen. Das Fleisch schmeckte ebenfalls... neu! Die Burger und die Pommes zwar etwas... fettig und seltsam. Nein, einfach ungewohnt. Es war nicht schlecht, nur anders, als das was Mama machte. Besonders was den Gruch anging...

Schwer atmend klammerte ich mich an das Waschbecken in der Männertoilette und betete, dass jetzt niemand hinein platzte. Ich hatte meine Sonnenbrille abgelegt und betrachtete mein gehetzt wirkendes Gesicht. Es war Rund, wie das von Romeo. Nur mit dem Unterschied, dass seine einige Sommersprossen aufwies, im Gegensatz zu meinem. Über meine Stirn fiel mein wirres Haar, dass ich heute morgen, nach dem unsanften Wecken meines Papas, nicht hatte frisieren können. Mama bestand schon seit Wochen darauf, es schneiden zu dürfen, doch ich hatte keine Lust darauf. In einem Comic hatte ich einen Superhelden gesehen, mit halblangem Haar, das total cool ausgesehen hatte. Jetzt wollte ich herausfinden, ob mir die Frisur ebenfalls stehen würde.

Bestimmt nicht, wenn es so wuschelig ab stand, wie an diesem Morgen, doch das juckte mich nicht. Vor wem sollte es mir schon peinlich sein? Mir war nie irgendetwas peinlich. Immerhin bin ich ein Alphawolf! Ich bin ein zukünftiger Anführer, mir brauchte niemals irgendetwas peinlich zu sein!

Schwer schluckend setzte ich meine Brille wieder auf, um meine roten Augen zu verbergen. Papa, welcher den Titel als Alpha seines eigenen Rudels bekommen hatte, war kein geborener Alpha, somit zeigten sich dessen roten Augen bloß, wenn er wütend wurde, oder sich verwandelt hatte. Ich hingegen, trug sie zu jeder Zeit zur Schau und würde sie niemals verbergen können, insofern mich niemand töte, um meine naturgegebene Kraft zu übernehmen.

Okay, so langsam ging es wieder. Meinen inneren Wolf kämpfte ich nieder, denn allmählich verstand er, dass mir hier niemand etwas schlechtes wollte. Zudem grummelte mein Magen noch, ich konnte mehr vertragen, als bloß die Kostprobe, welche ich genommen hatte.

Mit einem leisen Knurren, stieß ich mich ab , riss die Toilettentüre auf und lief prompt mit dem Kopf gegen etwas hartes. Fluchend rieb ich meine Stirn, während ein feminines Quietschen erklang. Für einen Moment wollte ich den oder diejenige anknurren, als ich mich ermahnte, in der Öffentlichkeit zu sein und meine Instinkte, welche ich zuhause voll ausleben konnte, unterdrückte. „Mist, kannst du nicht schauen, wohin du läufst?“ Das Knurren in meiner Stimme war gerade einmal so unterdrückt.

Doch man musste mir zugute halten, dass ich es schaffte, immerhin zog mein gesamter Körper höllisch. Je länger ich hier stand, umso dringender wollte ich in meine Kampffähige Wolfsgestalt.

Das Mädchen, in welches ich gerannt war, rieb sich die schmerzenden Wange. „E-Entschuldige, aber du bist in mich hinein ge-...“ Erstarrt schnüffelte das Mädchen in der Luft, während mir der Mund aufklappte. Mein Puls ging auf einmal schneller, als ich in diese wunderbar großen, hellblauen Knopfaugen blickte. Bezaubernd, war das Erste, was mir zu dem Mädchen einfiel.

„D-Du bist ein Wolf?“ Fragte sie schüchtern und griff sich an die Brust. „Äh... Ich meine... Ich... Ähm...“

Blinzelnd riss ich mich von ihrem Anblick los, wenngleich es mich reizte ihr die verirrte Strähne wegzustreichen. „Ja.... Nein... Ich bin...“ Stotterte ich nun meinerseits. Moment... Ich schnüffelte dieses Mal meinerseits. Nur kam ich so nahe an sie heran, dass meine Nase von einer ihrer Strähnen gekitzelt wurde. „Du bist eine... Wölfin. Aber wie...“

Besorgt blickte das Mädchen hinter sich, als würde sie nach Hilfe suchen. Aber ich würde ihr doch niemals etwas tun! Ehe ich mich versah, hatte ich meine Hand um ihren Unterarm geschlossen. „Lauf nicht weg!“ Bat ich und riss die Sonnenbrille von meinem Gesicht. „Wie heißt du?“

Das Mädchen blickte besorgt auf meine Hand, ehe sie mir wieder ins Gesicht sah und scharf die Luft einsog. Hoffnung flammte in ihrem Gesicht auf. „Du bist ein Ridder!“

Mein Herz hüpfte seltsamerweise vor Freude. Sie wusste wer ich bin!

Ich schluckte schwer, ehe ich meine Stimme wieder fand. „J-Ja. Mein Name ist Chace... Aber du kannst mich Ace nennen... A-Alle nennen mich bloß Ace.“

„Ace?“ Wiederholte sie, ehe sie nach meinen Armen fasste, sodass ich erschrocken ihre wieder losließ. Sie würde doch nicht... „Wo ist dein Vater? Meiner sucht ihn bereits so lange! Bitte, wir... >Ich< brauche wirklich seine Hilfe!“

„Was? Wieso?“ Fragte ich, dieses Mal mit einem Knurren in der Stimme. Wieso sollte eine Wölfin etwas von meinem Vater brauchen?

„Das kann ich nur mit ihm besprechen, ist er hier?“

Ich schüttelte verärgert den Kopf. Noch wenige Sekunden zuvor, hatte ich mich gefreut, dass sie mich erkannt hatte... Aber jetzt ärgerte ich mich ein wenig. „Nein, aber, wenn du vor hast einem von meinen Brüdern etwas anzutun, kannst du dir sicher sein, dass niemand der dir hilft, es überleben wird.“

Augenblicklich verschwand sämtliche Hoffnung und Angst kroch in ihr Gesicht. „I-Ich bin kein Feind.“

„Aber auch keine Verbündete!“ Knurrte ich.

Unerwartet kam das fast blondhaarige Mädchen näher und begann zu flüstern. „Du versteht das falsch, Ace. Ich bin hier, um mich deinem Vater zu unterwerfen. Ich hoffe auf seinen Schutz, nicht seinen oder euren Stand.“

Verwirrt legte ich den Kopf schräg. „Was?“

„Ich bitte dich, Ace. Lass mich mit deinem Vater sprechen. Er wird es verstehen, sobald er mich sieht. Bitte!“

Woran es lag, wusste ich nicht so recht. Ihren Worten, ihrem süßen Duft, der meinen Kopf ganz weich werden ließ, oder an der betörenden Wärme, welche von ihr ausging... Mit einem Mal wollte ich ihr einfach alles versprechen. Sie verdiente einfach... alles?

„Rachel? Was ist los?“

Hastig zog sich das blondhaarige Mädchen von mir zurück und blickte hoch zu einem Mann, der dieselben Augen wie sie besaß, so wie einen ähnlichen Geruch, wie ich im selben Moment feststellte. Trotzdem knurrte ich ihn mahnend an. Ein Werwolf!

„Nicht!“ Rachel legte eine Hand gegen meinen Brustkorb, um zu verhindern, dass ich dem weit älteren Mann etwas antat. „Das ist mein Papa! Tu ihm bitte nicht weh.“

Noch einmal blickte der Mann zwischen Rachel und mir hin und her, ehe er begriff was los war. Sofort wandte er den Blick ab und präsentierte mir in einer unauffälligen Bewegung, seinen Nacken. Eine deutliche Unterwerfung. „Du bist einer der Ridder, richtig?“

Langsam fühlte ich mich wirklich in die Enge gedrängt! Was sollte ich nur tun? Konnte ich es an diesem Mann vorbei schaffen, ohne meine Wolfskräfte offen in der Welt zu zeigen? Ich wusste es einfach nicht. Noch nie hatte mich jemand in diese Lage gebracht!

„Ja, das ist Ace. Ace, das ist mein Papa. Er sucht deinen schon seit zwei Jahren. Bereits seit er hörte, dass er helfen könnte.“
„Helfen?“ Fragte ich unwissend. „Wobei denn, zum Teufel?“

„Ace?“ Die glockenklare Stimme meiner Tante Haven erklang, während sie mit einem bissigen Lächeln den Mann vor Rachel und mir bedachte. „Was dauert denn so lange, mein Lieber Neffe?“ Fragte sie, wohl wissend, dass ein Wolf direkt vor ihr stand.

Mit erhobenen Kinn ging sie auf den Wolf zu, welcher sofort zur Seite trat, nicht aber, ohne zuvor noch seine Tochter hinter sich zu ziehen. „Wollen diese Leute etwas von dir?“

„Wer ist das, Ace?“ Fragte der Mann nun sichtlich verunsicherter, wobei das >was< ihn deutlich mehr hätte interessieren können.

„Meine Tante Haven. Tante Haven, dass sind Rachel und ihr Vater. Sie wollen irgendetwas von Papa.“
Haven warf ihr Haar zur Seite, sodass ihr grünes Auge sichtbar wurde. „Das glaube ich gerne. Jetzt sei artig und lauf zu deiner Mutter. Sie wird bereits nervös, weil du so lange brauchst.“

„A-Aber...“ Warf ich ein, doch Havens Stimme blieb höflich, aber bestimmend. „Sie sagen, dass sie Hilfe brauchen.“

„Geh zu deiner Mutter, Chace.“

„Sei nett!“ Knurrte ich, denn die beiden hatten mir doch überhaupt nichts getan. Hastig lief ich zu meiner Mutter und berührte sie am Arm, um ihre volle Aufmerksamkeit zu erhalten, während ich leise in ihr Ohr flüsterte. „Dort ist ein Mann mit seiner Tochter, die Hilfe von Papa wollen.“

Sie unterzog meinen Körper einen prüfenden Blick. „Haven ist jetzt alleine mit ihnen?“ Fragte sie, ehe sie die restlichen fünf anwesenden Gäste der Filiale unter die Lupe nahm. Dieses mal viel strenger, als beim Betreten.

„Sie sind nett, Mama! Wirklich. Sie sagen, dass das Mädchen Hilfe braucht und...“ Ich hielt einen Moment inne. „Sie ist eine Wölfin.“

Die Augen meiner Mutter füllten sich schlagartig mit großer Sorge. „Setz dich Ace.“ Befahl meine Mama plötzlich, völlig in ihrem >Jägermodus< wie sie es gerne nannte und ich gehorchte aufs Wort. Ich wusste, wenn sie diesen Ton einschlug, dann ging es weit mehr als bloß darum, dass wir uns benahmen. Es ging um unser aller Leben!

Ich nickte, dann nahm ich ihren Platz neben Tizian ein, welcher bisher von Mama mit Karottenmuß gefüttert worden war. Während ich einen Arm um meinen kleinen Bruder legte, welcher mit Bedacht zur Wand gedreht worden war, um seine Augen zu verbergen, sah ich Mama hinterher. Sie verschwand zu Haven, ohne jedoch irgendetwas zwischen ihren Blick zu uns, so wie ihrer Schwester kommen zu lassen. Dabei lehnte sie sich, wie eine unbeteiligte Passantin, an eine Wand und schnappte sich wahllos einen Reiseführer, oder irgendeine der vielen Broschüren die dort am Flur zu den Toiletten daneben hingen.

„Weißt du was die wollten?“ Natürlich hatte Romeo, trotz des Flüsterns jedes Wort verstanden.
„Mit Papa sprechen.“ Antwortete ich. Denn von mehr wusste ich auch nicht. Er hatte Cain an der Hand, da er Mama nach wollte, doch lockte ihn mit einer Pommes wieder zu sich zurück.

„Wer sind die?“ Fragte Romeo weiter, doch auch darauf hatte ich keine passende Antwort.
„Ich weiß es nicht, Romeo.“ Knurrte ich daher verärgert, doch ohne meine Stimme zu heben. „Du weißt genauso viel wie ich... Sie kommen!“

Tatsächlich kamen Mama und Tante Haven mit den beiden Wölfen zurück, was mich etwas sprachlos machte. Während sich Mama, wie eine Verteidigungswand, vor mir und meinen Brüdern aufbaute, flankierte Tante Haven die beiden so, dass sie auch nicht über einen Sitz auf uns gesprungen kommen könnten. Nicht dass ich es auch bloß einen von ihnen zugetraut hätte. Von ihnen ging keinerlei Aggression aus, sondern vielmehr Furcht und Nervosität.

„Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich mit meinem Gefährten gesprochen habe. Bis dahin, meiden Sie mich besser.“ Murrte meine Mutter, fast so bösartig wie ein Wolf.

„I-Ich weiß und... und hätte ich geahnt, Sie hier anzutreffen, wäre ich Ihnen oder Ihren Kindern natürlich nie zu nahe gekommen!“ Schwor er, ehe er in einer schier beiläufigen Bewegung seinen Nacken für sie entblößte.

Mama würde dem Mann natürlich niemals in den Nacken beißen, oder gar sein Genick brechen. Auch wenn sie keine Wölfin war, so stand sie in der Hierarchie als Gefährtin eines Alphas viel weiter oben, als dieser Mann. Ich roch schon förmlich wie der arme Mann an Kräften einbüßte. Einzig seine Tochter schien ihn bei Kräften zu halten... weil er ohne Rudel war.
„Können wir sie nicht ins Rudelhaus verwaisen?“ Fragte Romeo aus heiterem Himmel.

Verwirrt sahen alle zu ihm, was ihn unruhig in seinem Sitz winden ließ. „S-Sie sind Rudellos.“ Erklärte er sich nach einem kurzen Schweigen. „Sie brauchen Hilfe.“

Mama bedachte Romeo mit einem so langen Blick, dass ich schon annahm, sie würde sofort an die Decke gehen, doch stattdessen stieß sie ihren angehaltenen Atem einfach aus, ehe sie nickte.

„Gut, ich werde einen Anruf für Sie machen. Wehe Sie lassen mich das bereuen, klar!“

Rachel, das hübsche Mädchen, welches bisher hinter ihrem Vater gestanden hatte, verbeugte sich plötzlich tief. Sie unterwarf sich völlig, als würde sie auf das sofortige Todesurteil warten. „Danke dass Sie Papa und mir diese Chance geben.“

Tante Haven ließ sich neben Romeo auf die Bank sinken, ehe sie ihm einen halbherzigen Klaps auf den Hinterkopf verpasste.

Rachel und ihr Vater verschwanden, schwer zu meiner Missgunst. Viel lieber hätte ich noch weiter mit ihr gesprochen! Nun war mir der Appetit doch vergangen...
„Was fällt dir ein, deine Mutter um so etwas zu bitten?“ Fragte Tante Haven meinen Bruder, welcher völlig ahnungslos wirkte.
„Wieso? Sie sind schon länger ohne Rudel und der Mann wirkt am Ende seiner Kräfte. Bestimmt kann er sich nicht einmal mehr verwandeln und das ist Grausam.“ Auch ich hob eine Braue, während meiner Mutter sich für ein Telefonat entschuldigte. Romeo klang völlig unbeteiligt, während er diese mitfühlenden Worte aussprach. Manchmal fragte ich mich wirklich, ob in Romeo auch bloß ein Funke an Gefühlen sitzt, oder ob er bloß Instinktiv reagierte. Er erinnerte mich an einen Roboter, der einfach nur das naheliegendste von sich gab. Romeo war kein bisschen Territorial, er teilte einfach alles mit wem auch immer und tröstete unsere jüngeren Brüder mehr instinktiv als intuitiv. Dass er wirklich einmal ein starker Alpha werden würde, bezweifelte ich. Sogar Cain mit seinen jungen drei Jahren zeigte mehr Kampfgeist als Romeo. Eine richtige Schande...

„Findest du? Habt ihr denn eine Ahnung was es bedeutet ein weiblicher Wolf zu sein?“ Wir beide schüttelten unseren Kopf.

Sie zog eine Braue hoch, ehe sie wieder in ihren doppelten Burger biss. Wir warteten noch einen Moment auf eine Erklärung, doch die kam leider nicht mehr.

11. Haven Ridder – Besuch im Loft

Ob es früher Nachmittag war, oder bereits später, konnte ich auf Anhieb nicht einmal sagen. Meine Beine waren so schwer wie schon lange nicht mehr und meine Haut juckte, als hätte ich mich in Juckpulver gewälzt. Mehr knurrend vor meinem innerlichen Ärgernis, dass ich nicht einmal in Worte fassen konnte,stampfte ich zu meinem Kleiderkasten und angelte frische Kleidung daraus hervor.

Als ich nach wenigen Minuten, mit einer völlig verwuschelten Mähne mein Schlafzimmer verließ, stockte ich erst einmal und besah das entstandene Chaos. Nur langsam erinnerte ich mich, dass ich meine Schwester eingeladen hatte, in nächster Zeit hier zu bleiben, in Idunas und meiner Wohnung.

Mehr oder weniger >eingeladen<...

Jedenfalls war nun meine gesamte Familie anwesend. Haven, welche eben mit Cain schimpfte, da er mit seinen drei Jahren noch immer alles in den Mund steckte, um es zu zerkauen. Milan, Freyas Gefährte, welcher seltsamerweise irgendwie beleidigt aussah, während er Tizian hielt und so tat, als könne er Aces schnellem Geplapper ohne Probleme folgen. Oh, und natürlich den stillen Romeo nicht zu vergessen. Dieser hatte Idunas Videospielesammlung in ihrem Zimmer gefunden, oder aber vielleicht hatte sie diese ihm auch geliehen? Jedenfalls saß er vor einer kleinen Konsole, welche er in der kleinen Leseecke an eine Steckdose angeschlossen hatte und spielte darauf völlig konzentriert.

Als Freya mich bemerkte, stöhnte sie über das entstandene Chaos. „Es tut mir so leid, Haven... Ich schwöre dir, ich räume alles auf und...“

Ich hob abweisend eine Hand. „Noch eine Entschuldigung von dir und ich klebe dir den Mund zu. Lass mich erst mal Kaffee trinken.“

Sanft lächelte sie mich an. „Dann lass ihn wenigstens mich machen. Als Entschädigung, dass wir dich geweckt haben.“

Schmunzelnd ließ ich mich neben Milan auf einen Hocker fallen, während meine ältere Schwester versuchte herauszubekommen wie meine Kaffeeschiene funktionierte.

Ich deutete auf einen rot leuchtenden Knopf. „Erst Wasser in den leeren Tank geben.“

„Ah!“ Machte sie und entriegelte einen Mechanismus an der Seite, während ich mich an Milan wandte.

„Ist alles in Ordnung?“

Seufzend legte Milan seinen jüngsten Sohn auf dem Krabbelteppich zu seinen Füßen ab und verzog missmutig das Gesicht. „Tizian mag mich nicht.“

Okay, das hatte ich nicht kommen gesehen und sah verwirrt zu dem kleinen Wonnebrocken zu Milans Füßen. „Nur um das klar zu stellen. Du sprichst von deinem Sohn, richtig? Der so... an die sechs Monate alt ist?“

Er nickte geknickt, woraufhin ich mitleidig seine Hand tätschelte. „Oh Milan, wie kommst du denn darauf? Du bist sein Vater, natürlich liebt er dich.“

Tizian hatte es aus eigener kraft geschafft sich aufzusetzen und steckte einen beißfesten Beißring in den Mund, während er „Ma. Ma. Ma. Ma. Ma.“ brabbelte.

„Schon klar, aber trotzdem!“ Meckerte er, wie ein kleines Kind. „Tizian ist schon sechs Monate alt!“
Ich rollte mit den Augen. „Und?“ Hakte ich weiter nach.

„Die anderen Jungs haben auch ab diesem Alter angefangen, mich wahrzunehmen und haben mit mir gespielt.“

Blinzelnd wechselte ich einen amüsierten Blick mit Freya. Sie stellte eben drei Tassen heraus, ehe sie zu ihrem Gefährten ging. „Sieh doch lieber mal nach Romeo. Seit Iduna ihm dieses Spiel gezeigt hat, hat er keine halbwegs menschliche Reaktion mehr von sich gegeben.“

Forschend suchte Milans Blick nach Romeo, ehe er begriff, dass seine Frau ihn versuchte fort zu scheuchen. Seufzend gab er nach. „Komm gleich wieder.“

Kurz beobachteten wir, wie Milan hinüber ging zu Romeo, dann erst kam Freya auf die andere Seite des Tresens und setzte sich nahe neben mich. So nahe, dass ich meinen Kopf auf ihre Schulter legen konnte und tief ihren familiären Duft einatmen. Das hatte ich schon viel zu lange nicht mehr getan. „Geht es dir besser?“

Ich nickte stumm.

Sie legte liebevoll einen Arm um meine Schulter. „Das mit Vetjan hat dir ganz schön den Wind aus den Segeln genommen. Konntest du dich zumindest ein wenig ausruhen?“

Erneut nickte ich, doch wollte besser nicht weiter darauf eingehen. „Wo ist eigentlich unser kleines Schwesterlein? Sollte sie nicht längst zuhause sein?“ Ich gähnte ausgiebig und wünschte meine Träume hätten nicht von eben besagtem Therianthrophen gehandelt.

„Keine Ahnung, wann kommt sie denn für gewöhnlich nach Hause?“

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, ehe mir bewusst wurde, dass mein Handy noch an der Steckdose neben meinem Bett hing. „Hm.... Manchmal ist sie noch mit ihrer besten Freundin Vera unterwegs.“
„Oh, die die keinen guten Einfluss auf Iduna hat?“

Ich bleckte die Zähne und nickte. „Ja genau die. Hoffentlich findet sie an der Uni bessere Freunde, die eher zu ihr passen.“
Freya schnaufte abwertend. „Sieht eher nicht so aus, als würde es Iduna an der neuen Uni gefallen. Sie wirkt nicht unbedingt begeistert von ihren Fächern.“

Ich schmunzelte. „Würde ich auch nicht. Aber solange sie nicht weiß was sie will, sehe ich ihren Lernweg eher praktisch entgegen.“

Freya seufzte, doch ging nicht näher darauf ein. Sie sah natürlich meine Denkweise ein und war froh, dass ich mich um unsere jüngste Schwester kümmerte. Freya hatte schon immer ein Problem damit gehabt, Iduna und mich gehen zu lassen. Anfänglich hatten wir noch zusammen gelebt. Aber durch meine... Andersartigkeit, wurde uns alsbald bewusst, dass ich nicht mit den Wölfen unter einem Dach leben konnte. Nicht dass ich sie alle nicht liebte... Aber es ging einfach nicht.

Als ich mich nach meinem Studium nach einer passenden Wohnung für unsere mittlerweile ausgeprägten Pläne umsah, bot ich an, Iduna zu mir zu nehmen. Es war gefährlich für sie, mit diesen kleinen pelzigen Ungetümen auf dermaßen engen Raum zusammen zu leben. Immerhin besaßen diese, im Gegensatz zu Iduna, Klauen und Zähne.

Wir nahmen es den kleinen Satansbraten selbstverständlich nicht übel, aber alles musste man dann doch nicht über sich ergehen lassen, nicht wahr?

„Zurück, zu deinem Therianthrophen...“ Begann Freya auf einmal wieder, woraufhin ich stöhnte. „Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie du das alles regeln möchtest? Immerhin bist du... bekannt. So etwas kann stressig für ein Wesen wie-“

„Ich weiß!“ Fauchte ich.

„Und ich weiß, dass du das weißt. Nur... Ich wollte bloß sagen, dass du dir Zeit lassen solltest, ja? Er läuft dir schon nicht davon.“ Sanft versetzte sie mir mit der Schulter einen Schubs. Ich schmunzelte. Nein, Vetjan würde bestimmt nicht vor mir davon laufen, wenn dann war eher ich diejenige, welche davon lief. Dies aber aus berechtigten Gründen!

„Oh, ich glaube der Kaffee ist endlich abgelaufen!“ Begeistert klatschte sie in die Hände und nahm die erste Tasse heraus, ehe sie die nächste darunter stellte.
„Nur Milch.“ Antwortete ich, als sie auf den Zucker und das Glas mit Milch neben dem Kühlschrank deutete.

Ich nahm eben meine Tasse in die Hand, als das Telefon läutete. Das, welches bloß hinab in die Lobby funktionierte! Kurz wechselten Freya und ich einen fragenden Blick, ehe Milan aufsprang.
„Entschuldigt, ich habe vergessen euch zu sagen, dass die beiden Wölfe von heute morgen hierher kommen. Ich hoffe das ist für dich in Ordnung?“ Der letzte Satz galt offensichtlich nur mir.
Ich blickte an mir hinab, dann winkte ich gleichgültig ab. „Was macht ein Wolf mehr, schon aus. Jetzt habe ich ohnehin keine Chancen mehr gegen die Flöhe.“ Scherzte ich, wofür ich ein ärgerliches Knurren kassierte. Ein natürlich rein neckisches.

„Kratzbürste.“ Bekam ich zurück, woraufhin ich mich grinsend zu meiner älteren Schwester umwandte.
Sie lächelte mich liebevoll an, sichtbar erleichtert, dass ich ihnen dermaßen entgegen kam. Dann ging sie um die Theke herum und hob Tizian auf ihre Arme. „Jungs, geht ihr mal hoch in die Gästezimmern?“ Ihre Stimmlage war teils mütterlich, teils in einem strengen Befehlston. Augenblicklich horchten alle drei Jungs auf und hörten auf mit ihren Beschäftigungen.

„Was ist los?“ Erkundigte sich Ace mit großen Augen.
„Hoch!“ Dieses Mal war jegliche Mütterlichkeit verschwunden.

Grummelnd packte Ace seinen jüngeren Bruder Cain und half ihm die Treppe hoch. Romeo folgte anschließend, mit seiner kleinen Konsole in der Hand. Ich bezweifelte jetzt schon, dass Iduna diese je wiedersehen würde!

„Du bist ja streng.“ Zog ich meine Schwester auf, während Milan an die Seite seiner Frau trat. Er war an das Telefon gegangen und hatte erlaubt, dass die beiden >Besucher< hoch geschickt werden durften.

Liebevoll küsste er Freya auf die Schläfe. „Willst du nicht auch mit Tizian hochgehen?“ Seine Stimme klang bettelnd, doch in seinem Blick lag reine Sorge. Natürlich wollte Milan weder seine Gefährtin, noch seine Söhne in die Nähe irgendeiner Art von Gefahr lassen, egal wie klein diese auch erscheinen mochte.

„He, was ist mit mir?“ Beklagte ich mich halblaut. „Muss ich nicht beschützt werden?“

Milan stahl mir meine Tasse mit Kaffee und grinste frech. „Als ob sich das kleine Kätzchen einen Nagel abbrechen würde, wenn sie mal ein wenig Körpereinsatz zeigt.“
Ich fauchte bösartig an Freya vorbei. Milan hatte Glück, dass seine Frau zwischen uns stand.

„Mädels! Beruhigt euch. Dort drüben spielt gleich die Musik.“ Meine Schwester deutete in Richtung der Eingangstüre, an welcher es kurze Zeit später klopfte. Knurrend baute sich Milan vor seiner Gefährtin auf.

„Ruhig, Bello. Ich geh selbst an die Türe.“

Stampfend, damit der Wolf auf der anderen Seite hörte, dass ich kam, trat ich vor die Eingangstüre. Ich öffnete sie und beäugte den Mann mittleren Alters einen langen Augenblick lang. Danach ging mein Blick hinab zu dem kleinen Sonnenschein. Wäre sie keine Wölfin, würde ich glatt sagen, sie sei furchtbar niedlich und würde einen entzückten Laut von mir geben. Und das obwohl sie wie alt war? Elf, zwölf?

„Willkommen in der Villa Kunterbunt.“ Scherzte ich und ließ die beiden ein. Der ältere Wolf beäugte mich seinerseits und schien zu überlegen, wie vertrauenswürdig ich wohl war. Schlussendlich blieb ihm keine andere Wahl, er ging der Wand entlang, an mir vorbei, was leider bloß einen Meter Abstand zwischen uns brachte. Und ja, ich hatte mit voller Absicht eine Wohnung mit einem schmalen Eingangsbereich gewählt. Es war sicherer so.

Neben sich zog er seine Tochter mit sich, stets darauf bedacht, dass ich ihr nicht näher als nötig kommen würde. Dann schloss ich den Eingang und folgte den beiden, in gebürtigen Abstand. „Was sind sie? Sie wirken wie eine... Jägerin, aber riechen nicht danach.“

Mit rollenden Augen, trat ich an die Seite meiner Schwester. „Ein gescheitertes Genexperiment.“ Scherzte ich abweisend, ehe ich nach meiner verschwundenen Tasse mit Kaffee suchte. Dann erst erinnerte ich mich, dass Milan sie bloß einen Moment zuvor geklaut hatte. Murrend ging ich auf die andere Seite des Tresens und holte mir eine neue Portion.
„Milan...“ Unterwürfig trat der fremde Wolf vor und beugte sich so tief, dass ich für einen Moment davon ausging, er würde einfach vorne über kippen und eine Purzelbaum aus dem Stand versuchen wollen. „Meine Luna.“ Fügte er dann genauso unterwürfig hinzu.

Milan schien beschwichtigt zu sein und knurrte zustimmend. „Manuel.“ Begrüßte er den Mann, dann reichte er ihm überraschend die Hand. Auch Manuel, der fremde Wolf war über die Maßen verblüfft. Mit großen Augen ergriff der Wolf diese und schluckte schwer.

Natürlich reichten einem Alpha niemals einen Körperteil. Nicht einmal den kleinen Finger, wenn man nicht dessen engster Gefährte, oder die Gefährtin war. Normale Alpha, wohl gemerkt!

„D-Danke dass Sie mich empfangen! Uns... Dass sie uns beide empfangen!“ Besserte er sich verlegen aus, dann erst führte er seine Tochter vor. „Das ist meine Tochter Rachel. Mein Sorgenkind.“

„H-Hallo.“ Erwiderte das Mädchen schüchtern. Sie war zwar bereits mindestens zehn Jahre alt, doch wirkte in diesem Moment wie ein zerbrechlicher, dreijähriger Zwerg. Besonders da sie zwischen zwei sehr großen Männern stand.

Milan ging plötzlich in die Hocke, lächelte das Mädchen freundlich an und reichte ihr die Hand. Mit einem fragenden Blick hinauf zu ihrem Vater, welcher zustimmend nickte, ergriff sie dessen dargebotene Hand. „Hallo, Rachel. Es freut mich deine Bekanntschaft zu machen.“
Anstatt jedoch die Hand des Mädchens zu schütteln, so wie ich es erwartet hatte, zog Milan dessen Handgelenk zu sich und sog tief die Luft ein. Das Mädchen erschreckte sich jedoch genauso wenig wie ihr Vater vor dieser Geste. Sie schienen es gewohnt zu sein.

Im Gegensatz zu Freya und mir, welche sofort in Kampfstellung gingen. Nun ja. Freya nahm zumindest so etwas ähnliches ein, mit ihrem bereits eingeschlafenen Baby im Arm.

„Ich habe zwar nicht daran gezweifelt, doch ich wollte mich einfach selbst noch einmal davon überzeugen. Bitte verzeih mir, Rachel.“ Milan ließ die Hand des Mädchens los, wuschelte ihr durchs Haar und deutete dann auf das gemütliche Eck, welches ich mir zurecht gemacht hatte. „Wenn du magst, kannst du dort gerne mal hinunter in die Stadt schauen. Die Aussicht ist einfach unglaublich!“

Mit großen Augen vor Aufregung, blickte das Mädchen hoch zu ihrem Vater. Dieser nickte erneut zustimmend, dann düste sie auch bereits dorthin. Milan ließ jedoch Manuel mit wesentlich weniger Vertrauen an den Tresen zu uns Frauen treten. „Tut mir leid Schatz. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sanft küsste Milan seine Gefährtin auf die Schläfe, mal wieder, dann streichelte er seinem jüngsten, selig schlummernden Sohn über den Hinterkopf. „Aber ich habe den >Verfall< einfach noch nie gerochen. Ich war einfach neugierig.“

Der Verfall... Das Schlimmste was einem Werwolf passieren konnte. Das war eine genetische Mutation, welche es nicht zuließ, dass sich der Werwolfvirus, welcher normalerweise bei einem Biss in den Körper eines Menschen injiziert wurde, ausbreitete. Daher starben manche Menschen an diesem Virus. Man sagte, sie waren nicht stark genug um den Wolf in sich zu entwickeln, doch eigentlich war es ein genetischer Makel. Einer der zwar verhinderte, dass man sich verwandelte, doch gleichzeitig greift er das Immunsystem, was dazu führte, dass man daran starb.

So lief es bei allen Gestaltwandlern ab. Bei Wölfen war es der Biss. Bei Werkatzen, wie in meinem Fall, das Blut. Nicht immer schafften es >infizierte< sich zu verwandeln, was ihr Todesurteil war. Für manche vermutlich sogar ein Segen, wenn man genauer darüber nachdachte.

Werwölfe jedoch, die geboren wurden, besaßen den Virus natürlich schon immer in sich. Sie besaßen die Sinne und die Kräfte bis zu einem gewissen Grad in ihrer Kindheit. Aber ihre wahre Stärke, kam erst mit der Pubertät, wenn ihr Wolf praktisch aus ihnen heraus brach.

Rachel stand ebenfalls kurz davor. Nur noch wenige Monate, oder Jahre, dann würde auch sie in die körperliche Pubertät kommen, ihr Wolf würde ausbrechen und sie würde ihre gesamte Stärke erhalten.

Doch da Rachel offensichtlich dasselbe Gen besaß, wie manche anderen Menschen, würde ihre erste Verwandlung dazu führen, das sie zwangsläufig starb. „Du kannst es riechen?“ Fragte ich neugierig.

Milan nickte. „Normalerweise wird das Gen aktiviert, sobald eine Person den Virus injiziert bekommt. Dann riechen wir, ob derjenige stirbt, den wir gebissen haben, oder sich verwandelt.“ Erklärte er. Den Rest konnte ich mir zusammenreimen.
„Dadurch dass Rachel jedoch mit dem Virus geboren wurde, aber noch inaktiv ist, ist das Gen auch aktiviert.“
„Reagiert aber noch nicht auf den inaktiven Virus, richtig.“ Stimmte mir Milan zu.

„Was zwangsläufig dazu führt, dass Rachel an ihrer ersten Verwandlung...“ Der Mann schluckte schwer. „Dass sie es nicht schaffen würde.“

Freya umfasste ihren kleinen Tizian fester und sog tief seinen Geruch ein. Etwas dass ich sie schon häufig habe tun sehen, bei jedem ihrer Babys. Doch nachvollziehen konnte ich diesen elterlichen Drang ganz und gar nicht. Babys riechen nach Babys. Punkt aus. „Weiß sie es?“ Fragte meine Schwester nach einem langen Moment des einheitlichen Schweigens.
„Ja. Ich habe es ihr erzählt, sobald sie alt genug war.“ Ich konnte buchstäblich dabei zusehen, wie der Werwolf mit sich kämpfte. Trauer und Wut über diese Ungerechtigkeit in seinem Leben, spielten in seinen Augen und brachten ihn beinahe dazu, loszuweinen. Jedoch tat er es nicht. Natürlich würde er nicht vor seiner Tochter darüber weinen.

„Versteht sie es denn?“ Erkundigte ich mich weiter. Bei Kindern war die Sache mit dem Tot immer so eine Sache. Solange sie es nicht selbst erlebt hatten, was diese Endgültigkeit des Todes für ein Loch in ihrem Herzen hinterlassen konnte, war es einfach ein Teil ihres naiven Lebens. Ein >etwas< das kommen konnte. Mehr nicht.
„Ich denke schon... Rachel ist sehr lebensfroh und wir unternehmen so viel wie wir können. A-Aber ich denke, dass sie einfach denkt, dass sie verwöhnt wird... Nicht, dass es... Dass es einfach ein Versuch ist, ihr ein möglichst schönes Leben zu bieten... So lange wie es eben hält.“
Ich sah wie sich Freya eine Träne aus dem Augenwinkel wischte und sehnsüchtig zu dem kleinen Mädchen blickte. Auch ich konnte in diesem Moment nicht meinen Blick von der Kleinen nehmen. So begeistert wie sie hinaus starrte und sich sichtlich über etwas amüsierte, was sich da unten abspielte, konnte man kaum glauben, dass sie im Sterben lag.

„W-Wir suchen schon so lange nach einem Heilmittel... Etwas, dass uns vielleicht ein wenig mehr Zeit verschafft, wisst ihr. I-Ich habe bereits alles aufgegeben. Mein Rudel, meine Familie, meine Arbeit... Ich habe dem allen den Rücken gekehrt, nur um sie glücklich machen zu können. Um ihr dabei zuzusehen, wie sie alles erlebt, was nur im möglichen Rahmen steht.“

Plötzlich knurrte Milan und schob sich wieder vor Freya. Verwirrt kam ich um den Tresen herum und zog die Brauen kraus. Was war jetzt los? Ich stand kurz davor loszuheulen, weil ich Mitleid mit dieser kleinen zweiköpfigen Familie empfand, ahnte dass wenn Rachel bei der Verwandlung starb, ihr Vater ihr augenblicklich folgen würde. Ohne Rudel, ohne einen Sinn um weiter zu leben, würde er es einfach beenden und seiner Tochter folgen. Dorthin wo sie für immer glücklich sein können.

Doch Milan wirkte auf einmal wieder wie der große böse Alpha der einem mit einem Hieb den Kopf von den Schultern trennen konnte. „Wenn du denkst-“

„Nein!“ Ergeben hob Manuel seine Arme. „Nein, >darum< würde ich niemals bitten. Lieber folge ich ihr in den Tot, als andere unter demselben leiden zu lassen, was ich die letzten Jahre durchgemacht habe.“

Beschwichtigt ließ Milan seine roten Augen wieder verklingen. DA verstand ich. Milan hatte angenommen, dass Manuel darum bat, eines seiner Kinder zu opfern, damit Rachel ein Alpha werden konnte. So viel Taktlosigkeit hätte ich noch nicht einmal einem Dämon zugetraut! Erst seine Leidensgeschichte erzählen und dann um so etwas bitten? So etwas tat doch niemand, welcher bei voller geistiger Gesundheit war!

„Ganz im Gegenteil, Milan. Ich werde jede dieser kostbaren Sekunden mit ihr auskosten. I-Ich bin bloß mit Rachel hierher, weil... weil ich hoffte, du und deine Familie wüsstet vielleicht eine Lösung? Etwas, dass ihr Leben qualitativ verlängern würde? Irgendetwas ohne Spitäler und... >Opfer<.“ Hoffnungsvoll und mit geröteten Augen, die nichts mit seinem Wolfsteil zu tun hatten, erwiderte Manuel die Blicke von Freya und Milan. „Eure Familie ist legendär, selbst bei den Wölfen drei Staaten weiter. Ich weiß, ich bin ein Fremder und es ist viel verlangt. Ihr habt selbstverständlich absolut keinen Grund euch Gedanken über unsere Zukunft zu machen. Das sehe ich vollkommen ein. Aber ich habe bis auf mein kleines Mädchen... nichts mehr zu verlieren.“

Okay, selbst einem gefühllosen Dämon mussten doch in einer solchen Situation Tränen kommen, nicht wahr? Schniefend wischte ich mit dem Saum meines Morgenmantels über mein Gesicht. „Okay, Freya leg los.“ Befahl ich. „Eine Verwandlung wie meine kommt selbstverständlich nicht in Frage, die Werwölfe haben auch keinen Plan, sonst gebe es bereits seit langem eine Pille oder sonst was dagegen. Was können die Jäger bieten?“

Freyas Mund öffnete und schloss sich ein paar mal, während es in ihrem Hirn sichtbar ratterte. „I-Ich müsste Thomas fragen. O-Oder besser noch Helena, sie kennt sich mit so etwas besser aus und arbeitet für die Jäger.“

„He!“ Beklagte sich Milan auf einmal. „Was denkt ihr, was ihr beide da macht? Er ist ein Fremder, wieso sollten wir ihm helfen? Und noch dazu jemand der sein Rudel hinter sich gelassen hat.“

Ich bezweifle dass Milan jemals von zwei Frauen so bösartig wie in diesem Moment angestarrt worden war. Zumindest sah man dem taffen Alpha, welcher vier Alphasöhne unter Schwertanstrengung und Einsatz seines Lebens aufzog an, dass er etwas weißlich an der Nase wurde.

„Das ist ein kleines Kind Milan!“ Schimpfte Freya.

„Genau! Ob Wolf, Kröte oder Waschbär. Für ein Kind tut man einfach alles!“ Fügte ich fauchend an.

Räuspernd wandte sich Manuel, der Vater von Rachel ab und betrachtete sehnsüchtig seine Tochter. Ich zweifelte nicht daran, dass ihm in diesem Moment einige Tränen entwischt waren, welche er unauffällig versuchte fort zu wischen. „I-Ich danke euch. Auch wenn ihr nichts erfahren solltet... Ich danke euch trotzdem.“

Ich war zwar keine Werwölfin, sondern das genaue Gegenstück zu diesen gefährlichen Jägern, doch trotzdem konnte ich nicht anders. Appellierend an meine menschliche Seite, trat ich an die Seite des Werwolfs und legte meine Hand auf seine Schulter. Er zuckte unter meiner Berührung zwar zusammen, doch entzog sich dessen nicht. „Wenn es irgendetwas gibt... Egal was, dann finden wir es.“
„Und wenn nicht, setzen wir uns ohnehin über die Naturgesetze hinweg.“ Spottete Freya.

„Typisch Ridder.“ Maulte Milan, sichtlich überstimmt und beleidigt weil seine offizielle Autorität so einfach untergraben worden war. Und dann auch noch von seiner eigenen Gefährtin!

Für einen Moment zuckten Manuels Mundwinkel und ein kleiner Funken Hoffnung kehrte darin zurück. Ich zu meinem Teil hoffte viel eher, dass für das kleine Mädchen nicht bereits jede Hilfe zu spät kam.

 

- - - - -

 

„Rachel!“ Der Ruf erklang so plötzlich und voller Freude, dass wir alle erschrocken zusammen zuckten. Es war Ace, welcher sich sichtlich lautlos aus dem Zimmer geschlichen hatte und nun halb über dem Geländer hing. „Du bist da!“ Stellte er dann verblüfft fest, ehe sich ein breites Grinsen über sein halbes Gesicht zog.

Schneller als ein menschliches Auge ihm vermutlich hätte folgen können, lief der Junge die Treppe hinab, ignorierte alle Anwesenden vollkommen und blieb abrupt vor dem blondhaarigen Mädchen stehen. „Ich meinte eigentlich, schön dass du da bist. Willst du etwas mit mir spielen? Wir haben ganz viele verschiedene Spiele, manche sind auch erst für ältere Kinder, aber die kann ich auch schon im Flug.“ Gab er an, wobei man zweifellos erkannte, dass er mit voller Absicht angab.

Freya rollte mit den Augen, während Milan knurrte. „Chace, du solltest doch bei deinen Brüdern bleiben und auf sie aufpassen!“

Völlig verständnislos blickte Ace zu seinem Vater auf. „A-Aber es ist doch bloß Rachel.“ Meinte er dann so unschuldig, dass mein Herz ganz weich wurde. Der Kleine war auch wirklich zu niedlich und naiv für diese Welt.

„Und was, wenn es nicht Rachel gewesen wäre?“

„Dann hätte ich mich genauso lautlos wie ich hinaus geschlichen bin, auch wieder zurück gegangen.“

Milan knurrte und gab ihm eine leichte Kopfnuss. „Dummkopf!“ Schimpfte er dann. Es war offensichtlich nicht die Antwort gewesen, auf die sein Vater gehofft hatte. „Es hätte sonst wer vor eurer Zimmertüre stehen können.“

„A-Aber es ist doch Rachel!“ Wiederholte der Junge, als würde das einfach >alles< erklären. „Sie ist meine Freundin und ich habe mir schon immer jemanden in meinem Alter als Freund gewünscht.“
Ich unterdrückte einen Lachanfall und ertränkte ihn, es besser wissend, in einem Schluck Kaffee. „Milan, lass es gut sein.“ Entschied Freya plötzlich, ehe ihr Blick hoch ging. „Kommt runter, Jungs.“

„Kaffee?“ Bot ich Manuel an, welcher staunend die drei rotäugigen Alpha betrachtete. Romeo stand auf der zweiten Treppe von unten und deutete seinem Bruder sich an seinem Hals festzuhalten. Lachend ließ dieser sich von seinem Bruder die Treppe huckepack hinunter tragen.

„Mama, ich muss Pipi!“ Sagte der jüngste der Runde schlussendlich, was vermutlich auch der Grund für den spontanen Ausflug gewesen sein musste.

„Hier, halt mal.“ Kurzerhand drückte Freya ihrem Gefährten das Baby in die Hand, welches noch immer tief schlummerte. Manuel war klug genug von jedem der Kinder genügend Abstand zu halten.

„W-Was wird das denn jetzt?“

„Dir wurden die Hosen geklaut.“ Witzelte ich, wofür ich ein ärgerliches Knurren erhielt. Ace hatte derweilen Rachel an der Hand genommen und sie zu einem der Reisekoffer gezogen, welche noch nicht ausgepackt worden waren. Romeo kam in Wolfsgestalt zu mir und verwandelte sich hinter dem Tresen zurück in seine menschliche, nackte Form. „Hier.“ Ich hielt ihm ein Päckchen mit Kirschsaft hin, von dem ich wusste, dass er sie liebend gerne trank. Ace war eher der Typ der auf die mit Orangengeschmack standen.

„Danke, Tante Haven.“ Schmunzelnd verstrubbelte ich sein viel zu langes Haar. Es reichte ihm bereits fast bis über die Augen.

„Tante?“ Fragte Manuel plötzlich und stellte den entgegen genommenen Kaffee ab, während das Treiben allmählich wieder seinen gewohnten Gang einnahm.

„Ich bin Freyas Schwester.“ Ich deutete auf meine entstellte Gesichtshälfte. „War ein blöder Unfall und da mein Körper nicht so gut auf Therianthrophenblut reagiert hat, vermutlich wegen meiner Gabe der Lichtmagie, bin ich so etwas... wie ein Hybrid. Oder zumindest nicht tot.“

Er klappte erstaunt den Mund auf, doch schloss ihn dann auch schon wieder verdutzt. „I-Interessante Familie.“ Sein Blick glitt zurück zu Rachel, welche tatsächlich neben Ace aufblühte. Dieser umgarnte das Mädchen ganz schön. Er sah sie mit einem Blick an, welcher ahnen ließ, dass dieser Junge sein Herz ganz offensichtlich verloren hatte.

Rachel hingegen, war etwas schüchterner, doch ging mit einem Zauberhaften Lächeln auf seine Späße ein. Einmal, als sie nicht hinsah, ertappte ich ihn sogar dabei, wie er ihr Profil studierte. Als sie dann wieder zu ihm blickte, wandte er sich ganz schnell dem Spiel zu, welches er vor ihr ausbreitete.

Manuel schien das jedoch überhaupt nicht zu bemerken. „Es ist immer wieder schön, sie so ausgelassen sehen zu dürfen. Kinder sind noch so... ungetrübt.“

Vom Alter gezeichnet. Naiv. Oder wie man es auch immer nennen wollte. Sie sahen die Welt noch in Kunterbunt, statt in den einzigen zwei Farbrichtungen, welche wir Erwachsenen zuließen.

„Schau mal Rachel! Wenn ich das mache...“ Geschickt balancierte Ace den Würfel auf der Nase und ließ ihn dann hinunter fallen. Den Trick hatte ihm Milan einmal gezeigt und er schien richtig gut bei Rachel anzukommen. Als der Würfel dann die kleinste Zahl anzeigte, war er total enttäuscht, doch Rachel lachte so ausgelassen, dass ihm alsbald wieder ein Lächeln auf den Lippen lag.

Noch einen weiteren Moment beobachtete ich, wie die beiden Plauderten. Es war einfach herrlich ihnen dabei zuzusehen. So würde man Rachel nicht einmal ansehen, dass sie im sterben lag. Man würde nicht einmal auf die Idee kommen! Da begann auch Ace bereits hinter sich zu zeigen, zu seinem jüngsten Bruder Tizian, welcher in Milans Armen allmählich unruhig wurde. Freya stand bereits wieder neben ihrem Gefährten und säuselte irgendetwas lautlos. Ob es Tizian galt, oder dem noch schmollenden Milan, konnte ich nicht beurteilen.

Danach ging sein Zeigefinger weiter zu Cain, welcher eben auf die beiden zukam. Er hatte sichtlich vor dem Spiel mit der noch unbekannten Person beizuwohnen. Freya bemerkte es im selben Moment und machte Milan darauf aufmerksam. Es war das erste Mal, dass sich Cain jemanden freiwillig auf diese Weise näherte. Abgesehen von Romeo verstand sich. Als der dreijährige bei ihr ankam, wollte er gar nicht zum Spiel, sondern fasste neugierig in ihr Haar. Etwas unsicher was sie tun sollte, oder zu reagieren hatte, lehnte sich Rachel nach hinten um seinen noch grobmotorischen Fingern zu entkommen. Jedoch anstatt ihr Haar zu ziehen, streichelte der Junge liebevoll darüber und machte „Ai, ai.“

Kichernd lehnte sich Freya an ihren Gefährten, selbst Manuel schmunzelte amüsiert. „Sie hatte schon immer ein Händchen für kleine Kinder. Irgendwie himmeln alle unter fünf meine kleine an.“

Selbst ich schmunzelte bei dem Anblick, doch Ace knurrte. „Lass sie in Ruhe, Cain. Sie mag das nicht und ist kein Haustier!“
Und das ausgerechnet von ihm? Demjenigen, der Rachel ohne groß zu kennen, einfach als >Freundin< beanspruchte? Sein Vater hatte recht. Ace war ein Dummkopf. Aber ein niedlicher!

Nachdem Cain endlich etwas anderes entdeckte, Rachel sich ebenfalls wieder entspannte und Ace das Gefühl hatte, dass seine neue Freundin nicht mehr vergrault wurde, deutete er noch auf seinen letzten Bruder. Romeo stand jedoch noch immer, scheinbar unbewegt neben mir. Von Freyas und Milans Blickwinkel aus, konnten sie ihn nicht sehen, dafür hatte ich einen genauen Blick auf ihn. Nicht einmal Manuel bemerkte es, aber ich tat es! Leider etwas zu spät, da ich zu sehr von den drei spielenden Kinder abgelenkt gewesen war, doch nun da ich es bemerkt hatte, winkte ich Freya, hinter Manuels Rücken, verstand sich.

Romeo tat... eigentlich überhaupt nichts und genau das war es, was mir Sorgen bereitete.
Gespielt beiläufig, trat Freya heran, während sie einen ebenso belanglosen, amüsierten Blick mit Manuel wechselte. Dieser richtete dann sofort wieder seinen Blick auf seine Tochter, die bloß für einen Moment zu Romeo sah, um sich auch dessen Gesicht zum Namen einprägen zu können.

Das war auch der Moment, in dem ein leises, aber deutlich wahrnehmbares Knurren aus Romeos Kehle erklang. Seine Augen leuchteten so intensiv, dass ich für einen Moment die irrationale Angst bekam, es könnten Laserstrahlen daraus hervor schießen, doch das war selbstverständlich unmöglich! Sein gesamter Körper war in Lauerstellung, die noch nicht fertig ausgeprägten Muskeln bis ans zerreißen gespannt, sein Kiefer mahlte, während seine Kehle vibrierte. Nur noch einen Augenblick und Romeo würde einfach losstürmen, soviel war mir klar.

In einer flüssigen Bewegung, legte ich meine Handfläche über seine Augen und zog ihn hinter dem Tresen an mich. Für einen Moment wehrte sich der noch so junge Alpha, doch dann erschlappte er und lehnte einfach bloß noch zittrig an mir, klammerte sich buchstäblich an meinen Morgenmantel und wartete einfach nur dass das Gefühl verging.

„F-Freya, ich denke Romeo hilft dir bestimmt gerne mit Tizian oben.“ Meinte ich dann und hob den Knirps auf meine Arme. Sein Herz hämmerte dabei gegen seine schmale Brust und in seinem Blick lag reine Verwirrung, während sich sein Gesicht rot verfärbte.

„Na komm, mein Großer.“ Sie nahm Romeo über den Tresen in Empfang und wandte sich dann an Milan, welcher ihr mit Tizian im Arm gefolgt war. Geschützt zwischen seinen Eltern stehend, erlaubte sich Romeo erneut einen Blick auf Rachel zu werfen und ich konnte seinen Blick viel besser nun erkennen. Daran lag keinerlei Aggression, wie ich zuerst angenommen hatte. Es war... Sehnsucht?

Milan und Freya erkannten es ebenfalls augenblicklich und wechselten einen unsicheren Blick. Ich schluckte schwer. „Scheiße.“

12. Iduna Ridder – Du verstehst es vielleicht nicht... aber ich darf dich nicht aufgeben.

Seufzend ging ich, anstatt nach der Mittagspause, zurück in den Unterricht zu kehren, einfach weiter, die kurze Treppe mit vier breiten Absätzen hinab und verschwand durch die geöffnete Türe. Dann wartete ich einen Moment, ehe ich vorsichtig den Kopf hinaus streckte. Ganz recht! Ich würde ab jetzt Schwänzen, denn trotz des Dramas mit meiner Familie, hatte ich nicht auf Illian vergessen! 

Illian der nach Jahren im Gefängnis, ganz alleine in einem schmuddeligen Hotelzimmer saß! Ich holte tief Luft und überlegte mir gut, wie ich von hier zurück ans obere Ende der Stadt kam. Ich musste die halbe Stadt durchqueren, bloß um zu diesem blöden Hotel zu kommen. Andererseits besaß ich noch Havens Kreditkarte... Kurzerhand entschied ich etwas Geld davon abzuheben, ehe ich mir ein Taxi kommen ließ.

Kaum hatte ich den ersten Schritt auf den Parkplatz gesetzt, als mich bereits eine Hand an der Schulter berührte. „Na hast du dich verlaufen, I?“ Vera grinste verschlagen. „Ich hatte eigentlich noch vor, mich mit einem Jungen zum Knutschen zu treffen vor der nächsten Stunde und habe dich hier herum trödeln sehen. Falls du dich auf zur Exkursion machen wolltest, die ist doch erst um zwei Uhr.“ Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr.

Exkursion? Hoppla, wie hatte ich das nur vergessen können? Es als unwichtig abstempelnd, konzentrierte ich mich auf das wesentlichere. „Ach so!“ Ich lachte. „Tja, dann hast du es ja eilig, oder? Ich meine... um wieder rechtzeitig zurück sein zu können.“

Sie stöhnte. „Ja, ich bezweifle, dass das gut für mich ausgehen würde, wenn ich die sausen lasse. Ist zwar unüblich dass sie Erstsemester in eine richtige Verhandlung lassen, aber >Glück für uns<, was?“ Äffte sie unseren Lehrer amüsiert nach. Plötzlich hielt sie inne, als würde ihr etwas auffallen. „Wieso bist >du< eigentlich >hier<?“

Betreten suchte ich nach einer Ausflucht. „A-Also ehrlich gesagt... Meine... Meine Schwester ist Krank, meine älteste Schwester Freya. Milan arbeitet und sie hat vier Kinder die sie privat unterrichtet. Du weißt schon...“

Vera stöhnte genervt. „Ach, die Besserwisserin. Okay, und was hat das mit deiner versuchten Flucht zu tun?“

Als Besserwisserin würde ich Freya natürlich niemals bezeichnen, doch Vera konnte ich natürlich genauso schlecht anvertrauen dass es an den Augen der vier Jungs, so wie ihren spontanen Verwandlungen lag, dass sie nicht an öffentliche Schulen durften. Somit hatte sich Vera in den Jahren selbst ihr Hirngespinst zusammen gereimt. Aber egal, es könnte auch schlimmer sein, nicht wahr? „Genau, jedenfalls liegt sie mit Fieber im Bett, bei uns im Apartment. Milan hat mich ja heute morgen bloß schnell vor der Arbeit hier abgesetzt und Haven hat sich frei genommen, um ihnen zu helfen.“
Vera verzog das Gesicht. „Igitt Kinder und auch noch ein Patient dazu. Da würde ich lieber den restlichen Tag in der Uni hocken, anstatt mich nach Hause zu stehlen.“ Witzelte sie, wobei ich das überhaupt nicht so sah. Eigentlich wollte ich auch nichts lieber als zuhause bei ihnen zu sein und einmal nach langer Zeit meine Familie auf einem Haufen genießen, egal wie sehr das an meinen armen lädierten Nerven zerren würde. Aber da draußen war noch jemand, der zur Familie gehörte. Zumindest würde er das schon bald, wenn es nach meinem Kopf ging.

„Egal, aber ich bin es gar nicht von dir gewohnt, dass du tatsächlich schwänzt! Wieso willst du überhaupt dorthin zurück? Ist ja voll anstrengend mit so vielen Leuten auf einem Haufen, um die man sich auch noch kümmern muss.“

Ich verzog das Gesicht, denn ich hatte ehrlich gesagt keine Lust, weiter über meine gefälschten Pläne mit ihr zu diskutieren. „Es ist meine Familie. Da sehe ich das nicht so eng.“ Ich ging ein paar Schritte weiter, doch hatte keine Chance gegen Vera. Sie folgte mir einfach.
„Du? Okay, das klingt zwar sehr nach dir, aber irgendetwas stimmt da noch nicht, richtig? Willst du nicht zur Sicherheit eher einen frommen Abstecher in die Kirche machen und für deine Schwester beten, dass sie keinen Nervenzusammenbruch bekommt?“ Witzelte Vera.
„Ha. Ha.“ Erwiderte ich amüsiert, doch sah ein, dass ich ohnehin keine Chance hatte. Unter keinen Umständen würde ich sie zu allem Überfluss auch noch mitnehmen zu Illian! „Okay, du hast mich... Da ist jemand, den ich besuchen will...“
„Stopp!“ Vera packte mich am Arm und betrachtete mich besorgt. „Du... Du willst doch nicht diesen Straftäter besuchen oder?“

„Er ist mein Bruder!“ Erwiderte ich ernst geworden.

Sie verzog besserwisserisch das Gesicht. „I, so gerne ich dich auch habe. Aber manchmal bist du echt naiv.“ Meinte sie rein freundschaftlich, was mich jedoch keinesfalls besänftigte. „Wer weiß was er angestellt hat, Liebes. Und keine Ahnung was er dir antun würde, wenn er nicht hinter Gittern säße.“ Irgendetwas an meiner Miene schien mich überraschenderweise verraten zu haben, denn ihre Gesichtsmuskeln entglitten ihr für einen Moment. „Moment... Er sitzt nicht mehr hinter Gittern? Seit wann?“

Verlegen trat ich von einem Bein auf das andere. „S-Seit ich... ihn... frei gekauft habe?“ Gab ich geschlagen zu und wappnete mich schon mal auf eine gehörige Predigt. Welche prompt folgte.

„Sag mal... Spinnst du?“ Sie klopfte mir dreimal mit den Knöcheln auf den Kopf. „Hallo? Ist da jemand zu hause? Iduna, das kann doch nicht dein Ernst sein, oder? Du hast da eben deinen potenziellen Mörder oder gar Vergewaltiger frei gelassen. Keine Ahnung was davon schlimmer ist, aber es ist definitiv nicht gut. Na ja, im besten Fall ist er bereits über alle Berge. Im schlimmsten wird er Lösegeld für dich von Haven fordern!“

So hatte ich ehrlich gesagt noch nie darüber nachgedacht. Aber dafür wusste ich etwas, auf was Vera niemals kommen würde. Illian hat nicht zum Spaß getötet. Und es waren auch keine Menschen gewesen. Doch das konnte ich ihr schlecht auf die Nase binden. „Unsinn. Du verstehst das nicht, Vera. Er ist meine Familie. Und das was er getan hat, hatte er nicht...“
„Wenn du mir jetzt mit so einen Blödsinn kommst, wie >er hatte seine Gründe<, schlage ich dich Bewusstlos, klaue dein Handy und petze alles deiner Schwester, damit sie dir die Hölle heiß macht.“
„Vera, ich bin doch nicht vollkommen verblödet! Natürlich habe ich mir zu aller erst Informationen über ihn eingeholt. Ein Freund unserer Familie hat ihn durchleuchtet und gab mir grünes Licht.“ So mehr oder weniger...
„Und der fand es nicht für nötig, dass du erst deinen Schwestern etwas sagst, ehe du so etwas tust?“
Ich brauste auf. „Gott verdammt, für wen zum Teufel hältst du dich eigentlich? Meine Mutter? Vera, das ist mein Bruder! Du verstehst das vielleicht nicht, weil du zu Selbstbezogen bist, um irgendetwas um dich herum wahrzunehmen... Aber ich zu meinem Teil >liebe< meine Familie. Ich würde einfach alles für sie tun und sei es nur meine Schwester Pflegen, während sie krank ist und auf ihre Kinder aufpassen. So etwas tut nun mal eine Familie für einander. Und jetzt entschuldige mich bitte. Da ist jemand aus meiner >Familie< der mich braucht!“ Damit zog ich ab. Ich wusste selbst, wie sehr ich sie verletzt haben musste, doch ganz ehrlich, in diesem Moment hatte ich einfach keine Geduld für dieses blöde Spiel, mit einem einfachen Menschen. Im Gegensatz zu Vera wusste ich bescheid. Meine Welt hatte mehr Aspekte als bloß Arbeit und Spaß. In meiner Welt ging es, um so viel mehr und daher würde ich mich bestimmt nicht von ihr ausbremsen lassen.
Womöglich war ich nicht so trainiert wie Freya, so talentiert wie Haven oder mit erstaunlichen Fähigkeiten geboren worden, wie meine Neffen. Aber ganz ehrlich? Ich bin eine Ridder! Und Illian ist das auch! Ein Coven kümmerte sich bekanntlich, um seine Leute, wenngleich sie mittlerweile nicht mehr alle Jäger waren. In meinem Zirkel spielte dies also absolut keine Rolle.

 

- - - - -

 

Es dauerte gut eine dreiviertel Stunde, ehe ich vor dem Hotel ankam. Aus Frust hatte ich mir kein Taxi gerufen, sondern war direkt zur nächsten Bushaltestelle gestampft. Erst als ich davor gestanden hatte, bemerkte ich es und ärgerte mich über mich selbst. Nicht nur, dass ich meine beste Freundin vor den Kopf gestoßen hatte, nein, jetzt fuhr ich auch noch in die falsche Richtung! Gut gemacht, Fräulein Ridder!

Ächzend stieg ich eine Stadtion später aus, stieg um und arbeitete mich bis zum Hotel vor. Am Empfang schien tagsüber jemand anderes zu sitzen. Eine schlaksige Frau, mit zu viel Make-Up und einem leicht verrückten Lächeln im Gesicht. Zudem standen ihre Augen total seltsam vor, sodass sie ein wenig wie ein Chamäleon wirkte! Mit einem kurzen, aber höflichen Lächeln, eilte ich an ihr vorbei, hoch zu meinem vermeidlichen Bruder und klopfte dort dreimal an die Türe. Ich stand bestimmt an die fünf Minuten an der Türe. Jedoch nicht, weil ich penetrant sein wollte, sondern weil ich von der anderen Seite der Türe rauschendes Wasser vernahm. Seufzend wartete ich, bis er endlich fertig war und klopfte noch ein viertes Mal an.

Als die Türe daraufhin aufgerissen wurde... stand irgendwie niemand davor! Verwirrt trat ich einen Schritt hinein, woraufhin mir eine dicke Dampfwolke entgegen kam. „Illian?“

„Zieh mich noch an.“ Erwiderte er und warf die Türe zum Bad hinter sich zu. Ich zu meinem Teil, sah das öffnen der Türe, als Zeichen, dass ich hinein kommen sollte und tat dies sogleich, jedoch nicht, ohne hinter mir abzuschließen. Staunend betrachtete ich die Ausrüstung, welche innerhalb von nur wenigen Stunden, aus scheinbar heiterem Himmel hier erschienen sein musste. Träumte ich das nur? Ein voll Funktionstüchtiger PC, sichtlich einer der Hochleistungen brachte, ein großer Bildschirm, welcher die gesamte Seite des Raumes einnahm, an der vorher noch ein kleiner Röhrenfernseher gestanden hatte, so wie unzählige Waffen kugelten an diversen Stellen herum. Scheinbar arbeitete der PC eben an irgendetwas, denn die Zahlen und Zeichen rasten bloß so über den Bildschirm. Ich selbst kannte die Sprache nicht, in welcher er das alles wiedergab, doch schien sie hauptsächlich aus Schlaufen und Strichen zu bestehen. Was war das nur?

„Ähm... Hast du einen Waffenladen, oder so überfallen? Oder ist sonst irgendetwas passiert, von dem ich wissen sollte?“ Erkundigte ich mich und betrachtete die Uhrzeit genauer, welche unten links am Bildschirm angezeigt wurde. Die war definitiv nicht auf unsere Weltlage eingestellt.

„Nö, alles bestens.“ Erhielt ich nur einen Augenblick später als Antwort, ehe ich auch bereits zur Seite geschoben wurde.
„He!“ Beklagte ich mich, dann saß Illian bereits vor dem PC, hob das kabellose Headset auf und nuschelte irgendetwas hinein.

„Ist da dein Coven dran? Oder deine Dienststelle?“

Er deutete mir mit einem Finger, ruhig zu sein, dann plapperte er darauf los, als gäbe es keinen Morgen. Für einen Moment hielt ich es für eine Art Singsang, als Illian aus heiterem Himmel zu Lachen begann! Du Himmel, mein Bruder hatte ein männliches Lachen!

Verlegen wandte ich mich ab und konzentrierte mich auf die Utensilien auf dem Bett. Konnte denn ein männliches Lachen sexy wirken? Oder bildete ich mir das bloß ein? Außerdem raste auf einmal mein Herz wie verrückt. Für einen Moment, dachte ich, ich hätte mich bloß vor dem unerwarteten Lacher erschreckt, doch stattdessen fühlte ich, wie ich nervös wurde. Zum Teufel, es gab tatsächlich so etwas wie ein männliches, sexy Lachen und ausgerechnet mein Bruder besaß es! Wie ungerecht...

„So, nun zu dir.“
Es dauerte einen Moment, ehe ich bemerkte, dass Illian wieder zu mir sprach. Als ich mich umwandte, lag in seinem Blick einmal mehr Distanz und Abneigung. So viel zu dem sexy Lachen, was! „Was ist mit mir?“ Erkundigte ich mich und hoffte, einigermaßen gefasst zu wirken.
„Gute Frage. Was zur Hölle, suchst du schon wieder hier. Habe ich dir gestern nicht zu genüge gesagt, dass ich keinen Wert auf Kontakt zu dir oder deinen Schwestern lege?“

„Unseren Schwestern.“ Korrigierte ich mit hochgezogenen Brauen. Als ich mich auf das Bett Plumpsen ließ, pieckste etwas in meinen Hintern. Ein kurzer Schlagstock und ich warf ihn seufzend zu dem anderem Zeug.
Grummelnd verfolgte Illian mit seinen Augen, wohin mein Wurfobjekt gelandet war. „Du zerstörst meine Ordnung, beweg dich wo anders hin.“

Ich dachte nicht einmal daran. „Lenk jetzt nicht ab. Ich weiß ja, dass wir gestern einen schwierigen Start hatten, Illian. Und natürlich kann man Vertrauen nicht aus dem Nichts aufbauen, aber ich möchte trotzdem gerne, dass du mir die Chance gibst, dich ein wenig besser kennen zu lernen.“

Missbilligend schnalzte Illian mit seiner Zunge, dann wandte er sich dem Bildschirm zu seiner rechten zu. Ernsthaft? Er war so kindisch und ignorierte mich einfach? Das würde ich bestimmt nicht auf mir sitzen lassen. „Müsstest du nicht eigentlich jetzt im Kindergarten sein, oder in der Vorschule?“

Empört verschränkte ich meine Arme unter meiner Brust. „Ich gehe an die Universität!“ Korrigierte ich ihn.
Da wandte sich Illian mir erneut zu. Sein Blick schweifte mit einem Mal von meinem Gesicht tiefer, zu meinen Brüsten, dann weiter zu meinen überschlagenen Beinen und wieder zurück zu meinem Gesicht. „Ernsthaft? Wie alt bist du denn?“

Ich konnte es nicht fassen... Illian glaubte mir nicht? Wie gemein! „Ich bin achtzehn!“ Log ich.

Illians Gesichtsausdruck wurde etwas dunkler und sein Blick schien mich durchbohren zu wollen. Er wusste, dass ich log. Nase rümpfend entschied ich doch die Wahrheit zu sagen. „Na gut, ich werde in ein paar Wochen achtzehn.“

„Didi, dir muss bewusst sein, dass ich dir an deiner Nasenspitze ansehe, dass du lügst.“
„Iduna!“ Korrigierte ich nachdrücklich. „Und ich bin wirklich siebzehn!“

„Gut, wie schön für dich.“ Dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu. Stöhnend wollte ich schon wieder meinen Mund öffnen, um etwas über seine Bindungsängste und Angst vor Nähe heraus zu lassen, als Thomas Bild auf einmal vor ihm erschien. „Kannst du mir sagen wer das ist? Er durchleuchtet mich bereits seit Tagen und versucht Informationen über mich zu bekommen.“
„Ein Freund der Familie.“ Erklärte ich. „A-Aber woher weißt du, dass er dich durchleuchtet?“

„Ich habe Freunde, die mir so etwas sagen. Richte ihm am besten aus, dass er es lassen soll. Meine Freunde sind nicht gerade nett zu denen, die mich durchleuchten wollen und dabei so hartnäckig vorgehen.“

Verblüfft stimmte ich zu. „O-Okay...“ Immerhin wollte ich nicht, dass Thomas oder Helena irgendetwas geschah. „Ich hatte ihn gebeten etwas über Zwillinge unter Jägern heraus zu finden, vermutlich ist er dadurch auf deine Existenz gestoßen.“

Mit einem Mal wirkte Illian noch genervter als jemals zuvor, seit ich ihn kennen gelernt hatte. „Also wirklich. Die werden immer hartnäckiger. Verdammter Fortschritt.“

„Wer denn?“ Erkundigte ich mich, während ich mein Handy zückte und eine rasche Nachricht an Thomas verfasste.

„Alle, die etwas von mir wollen.“
„Und wer ist das?“ Fragte ich, weiterhin auf mein Handy schielend.

„Geht dich noch genauso wenig an, wie am vergangenen Tag. Wem schreibst du überhaupt? Hoffentlich diesem blondhaarigen Typen, den du nicht auf mich hättest ansetzen sollen.“

„Ich habe ihn doch nicht auf dich angesetzt! Er muss bei seiner Recherche... Himmel, wieso erkläre ich dir das überhaupt? Wenn ich, als nicht aktive Jägerin schon auf dich gestoßen bin, was denkst du, was Thomas erst heraus finden kann?“

Illian schnaufte. „Gar nichts, wird der Spießer über mich heraus finden.“ Er tippte irgendetwas in einer Art Schnellschreibmodus, wie ich noch nie jemanden hatte schreiben sehen und unzählige Texte brausten über den Bildschirm, sodass mir beinahe schwindelig wurde.
„W-Wie machst du das?“ Oder viel mehr, was würde geschehen, wenn er damit fertig wurde?
„Alles auslöschen was meine Existenz bestätigt. So.“ Er schlug so fest auf die Enter-Taste, dass ich schon dachte, die Tastatur müsste unter dem Druck durchbrechen. Stattdessen aber blieb sie heil.
„Was? Das hast du einfach mal so schnell... veranlasst?“

„Ich bin paranoid, deshalb habe ich mehr, als genug Sicherheitsmaßnahmen. Und jetzt...“ Er wandte sich wieder mir zu und stützte dabei seine Unterarme auf seine Schenkel. „...zu dir.“

„Mir?“ Fragte ich etwas erschrocken.
„Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass ich... dir zumindest danken sollte.“ Darauf aufmerksam gemacht. Aha? „Deshalb, danke dass du mich über den Kopf deiner Familie hinweg einfach frei gekauft hast, auch wenn ich es immer noch vollkommen unverständlich finde. Egal. Deine Sache.“ Speiste er ab, ehe ich ein Wort über die Lippen bringen konnte. „Aber ich habe Feinde... Mächtige Feinde, die dir und deinen Schwestern erheblich schaden können. Von daher ist es besser, wenn ich, nachdem ich meinen angestauten Kram erledigt habe, direkt weiter ziehe.“

Ohne darüber nachzudenken, schnappte ich mit meiner freien linken Hand, nach seinem Unterarm. „Nein! Du kannst jetzt nicht einfach so weggehen!“ Entschied ich und würde mich auch keinesfalls davon abbringen lassen. „I-Ich weiß, ich erscheine dir im Moment nervig und... und es ist bestimmt zu viel für dich, zu erfahren, dass du da draußen doch noch eine Familie haben kannst. Aber... Egal ob Dämonen oder deine eigene Dienststelle. Du gehörst jetzt zu uns, Illian. Und wir kümmern uns bedingungslos, um unsere Familie.“
Die Augen verdrehend, lehnte er sich zurück, sodass meine Hand von seinem Arm rutschte. „Hör zu. Es ist ja nett und das alles. Aber ich kann >das< was auch immer du da versuchst im Moment einfach überhaupt nicht gebrauchen. Tu einfach so, als hättest du mich nie getroffen und lass die Sache auf sich beruhen.“

Ich betrachtete verwirrt meine kribbelnde Handfläche. Da! Es war schon wieder passiert. Ich hatte Illian irgendwie berührt und selbst durch den Stoff seines langärmeligen Pullovers hindurch, konnte ich ganz deutlich dieses seltsame Prickeln spüren, welches anscheinend nur in Illians direkten Nähe aufzutreten schien. Was stimmte bloß nicht mit meinem Körper?

„Tut mir leid, aber das kann ich nicht akzeptieren. Und mit einem >Dankeschön< ist die ganze Sache auch nicht gegessen.“ Entschied ich und griff ganz einfach und hinterhältig sein Gewissen an. „Okay, ich verstehe ja, dass du wie gewohnt weiter machen willst. Offensichtlich bist du ein Einzelgänger, im Gegensatz zu meinen Schwestern und mir. Aber nach alldem was ich getan habe, bist du es mir zumindest schuldig, mich besser kennen zu lernen. Nur mich!“ Schwor ich hoch und heilig.

„Ich hatte dich um nichts gebeten. Weder das Geld, noch deinen Tipp für die Unterkunft.“ Quittierte er eiskalt.

Wie gemein! „Du wirst es aber trotzdem tun, Illian!“ Bestand ich darauf.
„Nein.“ Bekam ich starrköpfig zurückgeschleudert.

„Ich verlange ja überhaupt nichts dramatisches. Nur... Verbring nur einen Nachmittag mit mir, oder ein Abendessen von mir aus.“ Schlug ich vor.

„Ich gehe nicht mit kleinen Kindern aus.“

Ärgerlich kniff ich die Augen zusammen, doch seine Worte spornten mich bloß weiter an. Ich wusste zwar nicht recht, was genau mich da ritt, aber den Teufel würde ich tun und meinen eigenen Bruder einfach ziehen lassen! Nicht, ehe ich nicht alles versucht hätte.

„Es ist nur ein halber Tag, Illian. Was hast du schon zu verlieren?“

Desinteressiert, wandte sich Illian wieder dem PC zu und begann erneut zu tippen. „Ich habe einfach wichtigeres zu tun.“

„Das kannst du doch auch heute Nacht noch erledigen, oder morgen dann. Du bist mir das Schuldig, Illian!“ Bestand ich weiter darauf, wenngleich es ohnehin aussichtslos zu sein schien. Mein wenig älterer Bruder war mindestens so störrisch wie ich. Iduna, die verwöhnte kleine Schwester und Illian, der vergessene Bruder. Wieso nur hatten unsere Eltern ihm das angetan? Hatten sie etwa ihre Gründe gehabt? Gedacht, er würde keine Kräfte entfalten, oder ihn gar als Bedrohung angesehen?

Nein, das alles wollte ich einfach nicht glauben. Außerdem hatte ich vor, es besser zu machen, als alle anderen. Na gut, bestimmt war >sich aufzudrängen< nicht gerade eine meiner besten Einfälle, doch zweifelte ich nicht daran, dass wenn ich bloß zu lange das Hotelzimmer verließe, er seine Sachen packen würde und einfach untertaucht.

„Geh jetzt einfach, Hayley. Ich muss arbeiten.“

„Iduna!“ Brauste ich mürrisch auf. „Na gut, wenn der PC das einzige ist, was dich davon abhält mir zu folgen, dann ziehe ich dir einfach den Stecker!“ Ich wollte nach dem Verteiler angeln, an dem der Pc, so wie der Bildschirm hingen, doch ehe ich ihn erreichte, erhielt ich mit einem Kugelschreiber, einen schmerzhaften Schlag über die Fingerkuppen.
„Autsch!“ Beklagte ich mich.

„Raus jetzt!“
Ich versuchte es erneut, doch Illian war wieder schneller. Er war so geschickt, wie es bloß ein trainierter Jäger sein konnte. Oder Werwolf. Oder Dämon. Oder... Oder... Oder... Einfach so gut wie jeder, außer mir.

Apropos! Wenn ich diesen Schalter nicht erreichte, dann gab es da bestimmt eine andere Stelle, die ich wesentlich einfacher erreichen könnte. Ich verschränkte meine Arme vor dem Brustkorb und vergaß völlig, dass mein Handy noch auf dem Bett lag. „Na gut. Du wirst selbst sehen, was du davon hast.“ Damit brauste ich aus dem Zimmer. Natürlich folgte mir Illian nicht. Bestimmt war er erleichtert, dass ich endlich fort war und kümmerte sich wieder, um das, was er hundertmal wichtiger fand, als seine eigene Familie.

Aber aus irgendeinem Grund, wollte ich, dass er mich beachtete. Ich wollte nützlich sein, ihm zeigen, dass ich für ihn da sein würde, egal was er angestellt haben mochte, würde oder wie er auch immer über mich dachte! Das war mir alles völlig egal. Mir war nur meine Familie wichtig. Sie war zu jeder Zeit, mein Dreh und Angelpunkt gewesen. Meine Schwestern hatten auf mich aufgepasst, hatten für mich gesorgt und überschütteten mich sogar jetzt noch jeden Tag mit ihrer schier unendlichen Liebe. Und genau das wollte ich doch für Illian sein. Sein Anker, sein Zuhause. Einfach etwas, woran er endlich festhalten konnte, so wie ich an meiner Familie... unserer Familie. Auch wenn es nicht immer ganz rund bei uns lief.

„Entschuldigen Sie?“ Die gruselige Chamäleonfrau hob ihren Kopf vom Pc, auf dem sie mit dem allbekannten >Adler-Such-System< irgendetwas im gefühlten Zeitlupentempo eintippte.

„Ja?“ Fragte sie mit einer kratzigen Stimme. „Ich weiß, es ist eine seltsame Frage und wenn sich jemand beschwert, nehme ich selbstverständlich sämtlichen Ärger auf mich. Aber könnten sie bloß für eine Sekunde... den Strom abstellen in den Hotelzimmern?“

Für einen langen Moment sah mich die Frau an, als würde sie auf irgendeine Art Pointe warten. Sie schien wohl zu denken, das sich sie verarsche. Als ich fragend die Brauen hob, lehnte sie sich in ihrem ausgeleierten Stuhl zurück. „Nur damit ich das richtig verstehe?“ Fragte sie und angelte nach dem Päckchen Zigaretten, welche rechts von ihr gelegen hatten. „Ich soll in dem Hotel, dass ich, wohl gemerkt, seriös betreibe, einfach mal so...“ Sie schnippte mit den Fingern „...den Strom abstellen? Was denken Sie was ich bin? Techniker?“

„Nicht mal für einen fünfziger?“ Fragte ich lockend.
Sie leckte über ihre bemalten Lippen und setzte eine Zigarette an. Dann entzündetet sie diese langsam, legte das Päckchen gemächlich zurück an seinen Platz und hustete erst einmal ihre Lungen aus der Brust.

Stöhnend holte ich meine Börse aus der Tasche und schmetterte ihr einfach mal hundertfünfzig hin. „Nur zwei Sekunden, dann können sie sich einen gemütlicheren Sessel kaufen, der vielleicht sogar eine Stütze für die Füße inklusive hat.“

Jetzt kniff sie die Augen zusammen, nahm erneut einen tiefen Zug und stand auf. „Wenn wer fragt, du hast Wasser verschüttet, da gab es einen kurzen Wackler.“

„Deal.“ Ich strahlte über beide Ohren und lehnte mich bequem an den Empfangstresen, der überraschend sauber gehalten zu werden schien. Dabei schob ich unauffällig die beiden Scheine über den Rand hinaus, sodass sie auf der Tastatur zum liegen kamen.

Nicht einmal eine Minute später, vernahm ich das surrende Geräusch von Elektrizität. Als ich erneut zur Tastatur sah, konnte ich in der Spiegelung des gläsernen Aschenbechers erkennen, dass der PC der Hausherrin eben wieder hoch fuhr. Sehr gut!

„War das eben...“ Illians Stimme erklang im Eingang, nur wenige Meter hinter mir, ehe ihm ein Licht aufzugehen schien.

Mein Lächeln wurde bei seinem fassungslosen Blick, bloß noch breiter. „Glaub nicht, du könntest mich einfach so abspeisen, Brüderchen.“

„Hast du eben den Strom abstellen lassen, bloß damit mein PC abstürzt?“ Ich nickte stolz. „Ich habe Backups.“ Gab er bloß darauf.
„Und ich den ganzen Tag Zeit.“ Mahnte ich. Einen langen Moment stand Illian einfach vor mir und musterte mich eingehend. Erst da fiel mir auf, dass er überraschend schnell hierher gekommen war. Ist er mir etwa doch hinterher gelaufen? Tat es ihm leid, mich so hinaus geworfen zu haben und er wollte doch noch eine Chance? Hoffentlich hatte ich sie nicht unbewusst verspielt!

„War nur ein Wackeln im Stromnetz. Ist schon vorbei, Sir.“ Krächzte die Frau, welche eben für dieses >Stromwackeln< hundertfünfzig Mäuse verdient hatte! Sie nahm einen neuen Zug von der Zigarette und betrachtete meinen Bruder von oben bis unten, mit einem Blick, den ich zu gut kannte. Sie checkte ihn aus. Widerlich!

„Dafür dass du behauptest fast achtzehn zu sein, verhältst du dich aber ziemlich kindisch.“ Illian schenkte der Frau nicht einmal einen zweiten Blick, dafür schien dieser mich jedoch töten zu wollen.

„Ach wirklich?“ Fragte ich provokant und ging mit verschränkten Armen ein paar Schritte auf ihn zu. „Gut, vielleicht bin ich ja kindisch, aber dann bist du Undankbar. Okay, ich gebe zu, du kennst mich noch nicht gut, aber genau das will ich ja ändern. Du bist mein Bruder, selbst wenn ich die letzten siebzehn Jahre meines Lebens, keine Ahnung von dir hatte! Und ich will verdammt sein, wenn ich dich einfach so aufgebe. Außerdem was ist nur so schlimm daran? Hä?“ Drängte ich ihn zu einer Antwort, doch Illian wich nicht einmal einen Millimeter vor mir zurück. Klar, ich besaß keine eindrucksvolle Stärke, oder war besonders groß. Für ihn musste ich vermutlich wie kläffender, zahnloser Hund klingen. „Das einzige was ich mir wünsche, sind ein paar Stunden mit dir. Und wenn du danach immer noch abhauen willst...“ Ich warf die Arme in die Luft. „...dann bitte schön. Dann weiß ich wenigstens, dass ich alles versucht habe. Aber auch, wenn wir bisher keinen Kontakt hatten... bist du meine Familie. Und wir Ridder geben unsere Familie niemals auf! Das liegt nicht in unserer Natur, wie dir bewusst sein sollte.“ Illian sog tief die Luft ein. „Außerdem scheint es dir ohnehin leid getan zu haben, dass du mich einfach hinaus geworfen hast. Sonst wärst du mir nicht sofort hinterher.“ Ha! Damit hatte ich ihn. Eins zu null für Iduna. He, he!

Statt etwas darauf zu erwidern, hielt mir Illian einfach mein Handy hin, dass ich vorhin vergessen hatte. „Oh...“

Als ich danach griff, hielt er es noch einen Moment länger fest und lehnte sich ganz nah herab zu meinem Gesicht. Doch auch ich wich keinen Millimeter vor ihm zurück. „Ich wollte dir das bloß bringen, sonst wärst du bloß noch einmal bei mir aufgekreuzt!“

Seine Worte versetzten mir einen Stich. Natürlich wollte er dies mit allen Mitteln verhindern. Das sah ich jetzt auch ein. Arschloch!

„Also wirklich.“ Mischte aus heiterem Himmel die Frau hinter mir mit. „Jetzt geben Sie ihrer Schwester schon den einen Tag, den sie sich mit ihrem großen Bruder wünscht. Wird sie schon nicht umbringen.“ Qualmend ließ sich die Frau auf ihren abgenutzten Sessel sinken und begann, erneut fürchterlich langsam, auf der Tastatur zu tippen.

„Sie haben leicht reden. Verbringen Sie doch einen Tag mit dieser Quasselstrippe.“
Die Frau gab einen abwertenden Laut von mir. „Hab schon meinen eigenen Neffen an der Backe. >Die< ist Ihre eigene Plage.“

„He!“ Empörte ich mich. Merkten die beiden überhaupt, dass ich noch sehr wohl hier stand? „Egal, du bist ja ohnehin schon hier unten. Also können wir doch auch einen kleinen Ausflug machen.“

Vor sich hin grummelnd, schien irgendetwas in Illians Hirn zu rattern. Nach langem Zögern jedoch, gab er nach. „Aber nur heute!“

„Abgemacht.“ Ich entwand ihm mein Handy und schlug mit der rechten ein. Jedoch ließ ich nicht sofort wieder los. „Aber genauso wirst du morgen und übermorgen, und jeden weiteren Tag mit mir ausgehen müssen.“
Für einen Moment entglitten ihm die Gesichtszüge, doch Illian fasste sich schnell wieder. „Wieso sollte ich?“

„Hätte ich gewusst, dass ich bloß mein Handy bei dir liegen lassen muss, um dich aus dem Zimmer zu bekommen, hätte ich keine hundertfünfzig für ein Stromwackeln bezahlt. Ergo, schuldest du mir die nächsten Zwei Wochen, jeden Tag einen Ausflug. Mindestens!“ Wow, ich klang ja knallhart. Gut gemacht, Iduna. Lobte ich mich selbst.
„Also ob! Eine Stunde, einmal die Woche!“ Konterte Illian, genauso unnachgiebig.“

Ich fasste seine Hand fester, als er sie mir entziehen wollte. Bestimmt hätte er es gekonnt, doch irgendwas hielt ihn noch davon ab.
„Fünf Nachmittage!“

„Ein halber Tag am Wochenende.“

Mann, war der Starrsinnig. Aber meine Finger kribbelten so wohlig, während so etwas wie elektrische Spannung darüber zog, sodass ich nicht vorhatte zu früh aufzugeben. Es war das erste Mal, dass ich mich meinem Bruder wahrlich nahe fühlte! Und das wollte ich mit allen mitteln auskosten.

„Drei Nachmittage und ein gemeinsamer Ausflug am Wochenende, das gesamte Monat lang.“

Seine Nasenflügel begannen zu beben. „Du willst einfach nicht nachgeben, was?“ Fragte er und drückte meine Hand fast schmerzlich fest.
„Nicht bevor ich nicht habe, was ich will!“ Entgegnete ich. Wieso fühlte ich mich bei diesem Streit bloß so... so gut? Adrenalin schoss durch meine Adern, mein Herz pulsierte aufgeregt und das prickeln breitete sich langsam auf meinen gesamten Körper aus.

„Drei Nachmittage die Woche. Punkt. Aus.“

Für einen Moment überdachte ich, ob ich nicht noch mehr heraus holen sollte, hatte aber Angst, dass er doch wieder abblockte. „Einverstanden.“ Illian entzog mir seine Hand so schnell, dass ich für einen Moment das Gefühl bekam, vornüber zu kippen. Tat ich aber zum Glück nicht, doch dass sich das kribbelnde Gefühl so schnell verzog, hinterließ in mir ein seltsam trübes Gefühl.

„Na siehs´te.“ Krächzte die Hotelbesitzerin, oder zumindest Managerin. Was auch immer sie sein mochte. „Jetzt könnt ihr eine große und glückliche Familie werden. Aber wenn´s geht, dann nicht ausgerechnet hier. Sonst vergrault ihr mir noch die Kunden, weil sie denken, das hier ist ein Familienhotel.“

Stöhnend wandte ich mich ab und folgte Illian nach draußen. „Gut wohin willst du gehen?“

Seine Worte überraschten mich zwar, doch zauberten sie mir ein genüssliches Lächeln auf die Lippen. Für einen Moment blickte ich einfach bloß dankbar zu ihm auf und ergötzte mich darin, gewonnen zu haben. So ein Sieg, auch wenn er unbedeutend sein mochte, tat richtig gut! Ob sich Jäger nach einem erfolgreichen Kampf vielleicht auch so fühlten?

Ich gab zu, ich glaubte nicht wirklich an den Deal, doch nachdem ich noch am selben Tag, Illians Nummer aus ihm heraus gekitzelt hatte, mit dem Versprechen bloß anzurufen, wenn ich in Gefahr geriet... Ja, nicht wenn ich bereits mitten drin steckte, sondern ehe ich in Gefahr kam. Seine Worte, nicht meine! Jedenfalls, durfte ich nur zu solchen Zeiten Anrufen. Aber niemals eine Nachricht schicken! Würde ich ihm bloß eine senden, würde er das Handy augenblicklich entsorgen. So ein Kontrollfreak.
Na wenigstens hielt sich Illian an unseren Deal. Wie gesagt, ich rechnete schon fast nicht damit, aber die kommenden zwei Wochen blieb Illian in diesem Hotel. Was er tat, wenn ich nicht da war, wusste ich nicht. So nahe ließ er mich dann auch wieder nicht an sich heran, aber er gab sich sichtlich mühe.

Mühe... In Illians Fall bedeutete dies, dass er dreimal die Woche mit mir >abhing<. Jeden Montag, Dienstag und Freitag, holte ich ihn direkt hier, um vier Uhr ab. Dann fuhren wir durch die Stadt und... ich plapperte. Eigentlich tat ich kaum etwas anderes. Ich zeigte Illian die Sehenswürdigkeiten, zeigte ihm, wo ich am liebsten Eis aß, erzählte ihm von dem Spielplatz in meiner Nähe, an dem ich mit Haven und Gini damals gerne gewesen war. Zumindest ehe... Nun ja, ehe sie uns verlassen hatte.

Es war das erste Mal, dass Illian mich nach irgendetwas in meinem Leben fragte. Er erkundigte sich, wieso ich erst nach dem siebten Treffen mit ihm, etwas von einer weiteren Schwester erzählte. Na gut, er hatte von ihr gewusst, aber da ich sie nie erwähnte, hatte er auch nicht nachgefragt.

„E-Es war einfach schmerzhaft, weißt du.“ Antwortete ich und balancierte in diesem Moment über einen Zaun, der vor ein paar Jahren aufgrund seines alters abgetragen worden war. Nun war hier bloß noch eine steinerne Erhöhung, in welcher damals Eisenstangen gesteckt hatten. Ich leckte weiter an meinem Zitroneneis. „Sie war so stark und... Ehrlich gesagt, hat sie schon sehr bald unsere Ältere Schwester Freya mit ihrer Gabe übertroffen. Das schaffte sie jedoch bloß mittels Dämonenblut. Davon erfuhren wir jedoch auch erst, kurz ehe sie untergetaucht ist, mit ihrem Dämonenfreund Silas.“ Ich spie seinen Namen ärgerlich aus.

„Der Dämonenfürst Silas?“ Erkundigte sich Illian dann neugierig geworden.

„Ja, er hat Gini einen Deal angeboten, den sie nicht ausschlagen konnte. Der Dämon in ihr war schon zu stark ausgeprägt. Nur Silas konnte sie noch davon befreien, doch offensichtlich schien er mehr Freude daran zu finden, sie als sein Spielzeug zu behalten.“

Illian wirkte irritiert. „Und wieso habt ihr sie bisher nicht gerettet? Ich dachte, euch ist Familie so wichtig?“

Ich musste schwer schlucken. Die Erinnerung dieser Vision überrollte mich, als würde ich sie gerade eben erst erleben. „Weil sie glücklich geworden ist, indem sie uns aufgegeben hat.“

„Was?“ Hinterfragte Illian unverständlich.
„Am selben Tag, als Haven den Unfall hatte, welche zu... ihrer gespaltenen Persönlichkeit führte...“ Führte ich aus, ohne Wörter zu verwenden, welche die Gruppe, die eben auf uns zukam, mich als verrückt wirken ließen. „...schloss Gini den Vertrag mit Silas. Daraufhin verschwanden sie. Freya und ich kamen gerade erst im Krankenhaus an. S-Sie lief vor, um sich nach Haven zu erkundigen, aber es war so spät und ich müde... Sie erlaubte mir, dass ich in der Cafeteria noch etwas für mich holen durfte. Als ich schlussendlich zu ihnen stieß... >sah< ich es.“

Milan gab einen erkennenden Laut von sich, während ich stehen blieb. Die Gruppe zog vorbei. „Ich sah Gini mit Silas. S-Sie haben sich eine... Welt geschaffen, in der wir keinen Platz haben.“

„Wie meinst du?“

„Nun ja... Sie haben ein Haus, was ich erkennen konnte. Irgendwie war diese Vision... seltsam vernebelt und es war schwer etwas zu erkennen, aber ich sah Silas wie er... aus einem Familienwagen stieg. Er lief eine Einfahrt hoch, unserem Haus nicht einmal unähnlich und begrüßte Gini wie seine Frau. Sie... Sie wirkte einfach so glücklich. Richtig unbeschwert, wie ich sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Neben ihnen saß ein Paar. Ein älteres, offensichtlich ihre Nachbarn. Sie verdrückten Kuchen und Silas säuselte etwas darüber, wie glücklich er jetzt mit ihr war. Er meinte, es sei die richtige Entscheidung gewesen, mit ihr weg zu gehen. Dass... Dass ihre Krankheit besiegt sei und Gini nun mit ihm ein normales Leben leben konnte. Als Familie...“

„Oh.“ Machte Illian.

Räuspernd setzte ich weiter ein Bein vor das andere, im Wissen, dass der Zaun gleich aus sein würde. „Egal, wir sind auch ohne sie zurecht gekommen. Wenn sie sich lieber mit einem Dämon herum plagen will, dann bitteschön, das ist ihre Sa-... Wah!“

Unerwartet gab ein loser Stein an der Außenseite meines linken Fußes nach. Ich verlor den Halt und fiel seitlich von der höchstens dreißig Zentimeter reichenden Erhöhung. Dabei verknackste ich jedoch mein Gelenk und stieß einen Schmerzensschrei aus, bloß, um im nächsten Moment, in Illians Armen zu landen. Den Schmerz ignorierend, da es sich nicht nach einer Zerrung oder gar einem Riss anfühlte, prustete ich los. Durch meinen, nicht gerade akrobatischen Akt, war mein Eis irgendwie gegen seinen Kopf gefallen und rutschte nun, gefühlt so langsam wie in einem Film, seine linke Gesichtshälfte hinab.

Der Blick den ich kassierte, hätte mich vermutlich direkt ins Grab befördern müssen, doch er stellte mich kommentarlos ab. Behutsam, doch schob mich, sobald es ihm möglich war, von sich. „Setz dich.“ Befahl Illian streng, während mein gesamter Körper zu glühen begann. Bisher hatte ich es nicht gewagt Illian zu umarmen, oder ihm gar mehr, als am Arm zu berühren. Für meine Schwestern war es etwas ganz selbstverständliches. Wir kuschelten uns aneinander, reichten uns die Hände wie Freundinnen und nahmen uns gegenseitig ohne zu zögern in den Arm, wenn wir es brauchten.

Bisher hatte ich angenommen, dass Illian und ich uns einfach noch nicht nahe genug standen, um zumindest ein wenig >geschwisterlich< wirken zu können. Aber, dass er mich so schnell von sich schob, schmerzte dennoch ein klein wenig. Vielleicht auch mehr, als dass ich zugeben wollte? Jedenfalls überdeckte das Gefühl, den Schmerz in meinem Knöchel.

Kurz testete Illian, in wie weit ich meinen Knöchel verrissen hatte, doch segnete es dann als harmlos ab. „Kannst du auftreten?“

Ich wollte schon >ja< sagen, als mein Mund etwas ganz anderes entkam. „E-Es tut noch etwas weh.“ Bemerkte ich kleinlaut.

„Okay, komm her, Tollpatsch.“ Illian zog mich an der Hand hoch, natürlich nachdem auch der letzte Rest an Eis, aus seinem Gesicht entfernt war, dann legte er einen Arm um mich und stützte mich, während wir nebeneinander her gingen. „Wird es so gehen?“ Der Zweck heiligt doch die Mittel, oder würde ich für diese kleine Lüge schon in der Hölle landen?
Vorsichtig trat ich auf und versuchte einige Schritte. Na gut, es zog vielleicht noch ein wenig, aber richtige Schmerzen hatte ich auf jeden Fall nicht. Nicht, dass ich ihm das die nächsten zehn Minuten gebeichtet hätte, sondern ließ mich bis zur Bushaltestelle, mittels welcher ich schlussendlich nach Hause fahren würde, von ihm stützen.

Ehrlich gesagt tat es gut. Genauso wie die Nachmittage zuvor. Seine Nähe hatte etwas, dass mein Blut wie verrückt fließen ließ. Mein Herz spielte seltsamerweise verrückt und das kribbeln, welches er bei jeder noch so kleinen oder zufälligen Berührung bei mir auslöste, machte mich schon ganz verrückt.

Einerseits hasste ich mich dafür, doch wusste nicht, was ich dagegen tun könnte? Ich weiß, es war total krank, aber langsam beschlich mich das Gefühl... dass ich mich zu Illian hingezogen fühlen könnte. Auf eine nicht sehr schwesterliche Art und Weise!

Ja, Illian war... Nun ja, er sah wirklich heiß aus! Er war verschlossen und griesgrämig. Starrköpfig und nicht gerade eine Plaudertasche, was mich wahnsinnig machte.
Ich fühlte mich als hätte ich in den letzten Wochen so viel... nein, mein ganzes Leben vor ihm ausgebreitet, doch das einzige was ich von ihm wusste, war dass er Illian Leroy hieß. Illian ist mein Bruder und eigentlich dürfte ich nicht solche Gefühle haben.

Aber ich wusste auch, dass es nur daran liegen konnte, dass ich ihn einfach noch nicht so gut kannte. Er strahlte etwas wirklich... männliches ab, was mich zu ihm zog. Das Kribbeln, das Herzrasen, seine Geheimniskrämerei.

Vielleicht sah ich ihn ja bloß als >Abenteuer< an? Vielleicht hatte ich meine Instinkte als Jäger einfach zu lange ignoriert und jetzt schlugen sie völlig wild aus?

Ach was machte ich mir hier eigentlich vor? Ich war einfach verrückt geworden. Das ist alles!

Illian ließ mich los, damit ich mich auf die Bank des kleinen Bushäuschens setzen konnte und stieß einen dermaßen bedeutungsschweren Seufzer aus, dass ich schon dachte, er würde gleich wieder irgendetwas gemeines sagen, wie so oft. Meist verabschiedete er sich nach einem Treffen, mit den Worten >endlich habe ich es hinter mich gebracht< oder ähnlichem. Es schmerzte, aber das war nun mal Illians Art...

„Na gut. Ich glaube, ich bin so weit.“ Natürlich verstand ich kein Wort davon! Wozu war Illian bereit? „Von mir aus mach ein Treffen mit deinen Schwestern aus... Nur deinen beiden Schwestern!“ Mahnte Illian streng.

Seine Worte kamen so überraschend, dass es ewig dauerte, bis ich die Aussage verstand, welche hinter diesen, gefühlt wirren Worten steckte. „D-Du... sagst...“

„Ja, verdammt.“ Er raufte sich das Haar, wie immer wenn, ihn etwas besonders ärgerte. Wohl gemerkt, sein fast zehn Zentimeter langes Haar! Wie das so schnell wachsen konnte, war mir bis heute ein Rätsel geblieben. Als ich nachhakte, antwortete Illian mit den Worten >gute Gene< und speiste mich damit ab. „Aber es muss noch diese Woche sein.“ Mahnte Illian.
Ehe er noch irgendeine weitere Mahnung, Zeitlimit oder gar Drohung anhängen konnte, sprang ich auf und fiel meinem Bruder um den Hals. „Das wirst du nicht bereuen!“ Schwor ich, als auch bereits mein Bus einfuhr.
„Das tue ich doch bereits schon.“ Murrte er und schob mich von sich. Nicht so nachdrücklich, wie ich es eigentlich erwartet hatte, doch trübte es meine Laune kein Stück. Fröhlich tänzelte ich in den Bus, mir Illians skeptischen Blick auf mein >verletztes< Bein, durchaus bewusst.

13. Haven Ridder - Wenn das Licht ihren Schatten annimmt...

Meine Haut brannte, meine innere Unruhe war schier unerschöpflich und am laufenden Band, brachte mich gefühlt gar nichts zur Weißglut. Fauchend lag ich in meinem Bett, voller Seidenlaken, welche ich normalerweise auf meiner Haut genoss. Ich mochte das Gefühl, da es mich ein wenig daran erinnerte, wie es wäre, wenn ich tatsächlich Fell hätte. Nur meine Polster waren vollkommen in Kunstpelz gepackt, da ich es nicht ab konnte, wenn man ein Tier verletzte. Doch der Kunstpelz befriedigte meine Bedürfnisse genauso gut, wenngleich ich das Gefühl von richtigem Fell genossen hatte.

Ärgerlich warf ich mich herum, wodurch mir meine Mähne ins Gesicht flog. Schon wieder! Egal was ich tat, ständig sah ich Vetjan vor mir. Sein gefährliches Grinsen, seine starken Muskeln, das weiche Fell, die ebenso federleichten Lippen...

Mit einem Schrei, der meine Wut aus mir heraus strömen lassen sollte, sprang ich aus dem Bett. Gehüllt in meinen kuscheligen Lieblingsmorgenmantel, setzte ich mich an meinen Zeichentisch. Gegen jegliche Vernunft, zitterten meine Finger und es juckte unter meinen Nägeln, als würde dort jeden Moment etwas hervorbrechen. Krallen, die Knochen spalteten, als seien sie nichts weiter als Papier. Krallen, die einst auch mich verletzt hatten und zu dem machten, was ich jetzt bin...

Doch ich wusste es besser. Weder kam ein Raubtiergebiss aus meinem Kiefer, noch Krallen aus meinen Nägeln, oder gar zumindest ein beweglicher Schweif aus meinem verkümmerten Rest von Steißbein.

Kurz ließ ich meinen Kopf auf das beleuchtete Zeichenbrett fallen, ehe ich zu einem meiner zahlreichen Stifte griff. Ja, ich hatte ein paar mehr bestellen müssen, da sie unter meinen Wutausbrüchen, viel zu schnell brachen. Verärgert setzte ich zu einem Strich an, doch die Linie wurde nicht so gerade, wie ich es mir wünschte. Stattdessen ertappte ich mich einmal mehr dabei, wie nach nur wenigen Minuten, die Umrisse von Vetjan vor mir auf dem Zeichentisch entstanden.

Ärgerlich schlug ich auf die Taste, welche das gesamte Bild augenblicklich auslöschte. Erneut setzte ich an. Zeichnete fließendes Fell, dass sich über die Haut einer weiblichen Gestalt ergoss. Mit einem wütenden Laut, zerbrach der Stift und ich betätigte erneut dieselbe Taste. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Murrte ich verärgert.

Besäße ich einen Schwanz, würde er in diesem Moment herum peitschen und gar Möbel spalten, so verärgert war ich über mich selbst. Zumindest so lange, bis mein Magen zum Grummeln begann. Ergeben schlüpfte ich in bequeme Kleidung, band mein Haar hoch und ging nach draußen in mein... überfülltes Wohnzimmer. Mehr oder weniger...

„Guten Morgen, Haven.“ Flötete Freya liebevoll, was ich mit einem Grummeln quittierte. Danach grüßte mich auch Romeo, welcher ganz deutlich wahrnahm, wie unwohl ich mich fühlte.

„Willst du was mit mir spielen?“ Fragte er, offensichtlich darauf bedacht, mich auf andere Gedanken zu bringen. Mein Blick schweifte weiter, zu Iduna, welche gestern etwas später heim gekommen war und überraschenderweise nach einem männlichen Wesen gerochen hätte. Ihre Antwort war gewesen, dass sie das Mittagessen unfreiwillig mit ihrem Ex hatte verbringen müssen, welcher es, wie sie heute wusste, es total auf Vera abgesehen hatte. Als sie Vera erwähnte, wirkte sie etwas bedrückt, was bedeutete, sie hatte streit mit eben dieser gehabt.

„Wieso spielst du nicht mit Ace und Iduna mit?“

Er zuckte mit den Schultern. „Weil du Ablenkung gebrauchen kannst.“ Na, was hatte ich gesagt? Romeos einmaliges Gespür für andere, war einfach unglaublich. Seufzend beugte ich mich hinab und küsste ihn sanft auf den Scheitel.

„Später vielleicht. Erst mal muss ich Besorgungen erledigen.“

Er legte den Kopf schräg. „Wenn du jetzt zur Arbeit gehst, kommst du vor der Dämmerung nicht zurück.“

Kleiner Schlaudachs! Ich kniff die Augen zusammen, doch sah dann ein, dass er bloß ein kleiner Junge war. Gerade einmal acht Jahre alt und erst gestern hatte er die Liebe seines Lebens getroffen. Eine Liebe, die schon bald sterben würde, was ihm jedoch nicht bewusst zu sein schien. „Danke für den Versuch, Schlaudachs. Aber ich würde lieber arbeiten, weißt du.“

Er nickte, als würde er mich vollkommen verstehen. Dann wandte er sich ab, nahm die Konsole aus seiner hinteren Hosentasche und nahm wieder dort platz, wo er bisher Stunden verbracht hatte. Auf dem bequemen Stuhl, neben dem Fenster, wo Rachel gestern lange hinaus gesehen hatte um Springgan von oben betrachten zu können.

Seufzend holte ich mir ein Fertiggericht aus dem Kühlschrank, stellte es eine Minute in die Mikrowelle, dann warf ich mich neben Freya, welche absichtlich den Fernseher lauter stellte, um ungewollte Lauscher auszusperren. „Wie geht es dir heute?“

„Hab schon wieder einen Stift zerbrochen.“ Maulte ich verärgert, wollte aber lieber auf ein anderes Thema lenken. „Wie geht es Romeo? Er scheint seine Trennung zu Rachel besser wegzustecken, als ich bei Vetjan.“

Freya warf einen langen, aber besorgten Blick auf ihren Sohn. „Ich glaube nicht, dass er verstanden hat, was gestern Abend passiert ist. Ace hat direkt nach dem Aufwachen nach Rachel gefragt und mich den halben Tag angebettelt, dass sie wieder her kommen darf.“

Ich kicherte. Der arme Junge. „Und Romeo?“
„Nichts... Nicht ein Wort. Zwar haben Milan und ich gestern Abend mit ihm gesprochen, doch ich bezweifle, dass er es verstanden hat.“

„Wie meinst du?“

Freya stöhnte. „Nun ja, du weißt ja, normalerweise bindet man sich nicht an seinen Gefährten, wie man es bei >Liebe auf den ersten Blick< beschreiben würde.“ Mein Herz raste, als ich an Vetjans Version von >Liebe auf den ersten Blick< dachte. „Man fühlt sich natürlich zu einander hingezogen und... Milan hat mir auch anvertraut, dass sein Wolf damals sofort einen Beschützerinstinkt mir gegenüber entwickelt hätte. Aber... wir kannten uns doch auch bereits davor und nun ja... Es war definitiv nicht wie bei Romeo und Rachel.“

Ich überlegte angestrengt, während ich die Nudeln kaute. Bäh! Nur halbwarm... „Vielleicht liegt es daran, dass er ein geborener Alpha ist und seine zweite Natur bereits auslebt. Milan konnte sich doch erst in der Pubertät verwandeln, so wie neunundneunzig Prozent aller anderen geborenen Werwölfe.“

Sie nickte zustimmend. „Daran haben Milan und ich auch gedacht, nachdem wir noch bis spät in die Nacht sämtliche Möglichkeiten durch gegangen sind.“

„Was auch bedeutet, dass sich Rachel... an ihn bindet, sobald sie sich verwandelt.“

Freya stöhnte, drehte sich herum und ließ ihren Kopf auf meinen Schoß fallen. „Ich mache mir so Sorgen, um ihn. Was wenn... Wenn sie schon verbunden sind? Und Rachel... du weißt schon... Ich habe so Angst, um Romeo.“

Ich konnte mir vorstellen, was für Horrorszenarien Freya im Moment durchlebte. Fürsorglich streichelte ich ihren Hinterkopf, während ich in der anderen Hand, vorsichtig mein Fertiggericht abstellte. „Das verstehe ich gut, Freya. Und ich weiß, ich werde jetzt gleich wie die mega Bitch klingen... Aber du musst Romeo von Rachel fern halten, so lange es geht.“
„Ich weiß.“ Antwortete sie, doch klang dabei alles andere als überzeugend.
„Freya?“

Sie seufzte und drehte sich herum, sodass sie am Rücken lag und zu mir auf sah. „Einen Wolf von seiner Gefährtin fern zu halten ist so... als würdest du ihm die Luft zum Atmen langsam entziehen, bis er... verrückt wird und nicht mehr bei klarem Verstand bleiben kann. Sobald du... diese Sache mit Vetjan geklärt hast, wirst du es verstehen. E-Es ist einfach unmöglich Romeo von ihr fern zu halten und würde ihm mehr Schaden als helfen. Glaub mir das, Haven.“
Ich grummelte verärgert vor mich hin, während das Jucken in meinem Körper von neuem Begann. Ja... Ich wusste ganz genau, was meine Schwester meinte. „Und sagen wir, morgen früh erhalten wir den Anruf, sie ist... du weißt schon. Es wäre vorbei für sie. Was würde dann aus Romeo werden? Jetzt hängt er ja noch nicht an ihr. Sie haben sich nicht verbunden, noch nicht einmal miteinander gesprochen!“

Im Gegensatz zu Vetjan und mir. Wenngleich ich bezweifle, dass ein achtjähriger so etwas ähnliches wie plötzlich entstandene, sexuelle Begierde erleben würde, nur weil er das Mädchen seines Lebens sah. Dafür war er einfach noch zu jung. Nein, bei Romeo würde es sich definitiv anders äußern. Bestimmt würde er Besitzanspruch auf sie äußern und sie, als seine Gefährtin markieren, durch den Biss. Aber alles andere würde nicht mehr sein, als eine enge, freundschaftliche Verbindung zwischen ihnen. Irgendwann würde er dann für seine beste Freundin, anfangen mehr zu empfinden, sie umwerben, ihr Geschenke machen und sie küssen wollen.

Alles andere kam hoffentlich nicht in den nächsten dreißig Jahren auf uns zu. Ach... wem machte ich da etwas vor? Jungs sind einfach fürchterlich Frühreif.

„Ich sollte Helena anrufen.“

Ich sah auf die Digitalanzeige an der Mikrowelle. „Wann hatten Manuel und Rachel die Untersuchung bei ihr?“

„Um zwölf. Helena und Thomas mussten die beiden hinein schmuggeln, um die besten technischen Geräte der Organisation nutzen zu können. Die beiden scheint das Schicksal des Mädchens ebenfalls mitzunehmen.“
Ich seufzte. „Natürlich. Die beiden wünschen sich doch schon lange ein Kind. Auch, wenn sie noch keines bekommen konnten, ist ihr Elterninstinkt schon da.“ Witzelte ich.

„Okay, ich rufe mal an.“ Freya sprang auf, überprüfte noch einmal jedes ihrer Kinder, dann verschwand sie in ihr Zimmer. Seufzend griff ich wieder zu meinen Nudeln, doch entschied, dass sie das kalte Mahl nicht Wert waren. Ich erwärmte sie erneut in der Mikro, dieses Mal richtig, doch dann waren sie eine Zeit lang einfach zu heiß, um sie zu essen.

Genervt stocherte ich darin herum. Irgendwie fühlte ich keinen Hunger mehr. Ich fühlte so gut wie jeden Zentimeter meiner Haut. Wie sie juckte und meine Muskeln unangenehm zogen. Meine Ohren wirkten überempfindlich und das Licht der Glühlampen brannte in meinen Augen, während mein Blut schier zu kochen schien, doch fühlte ich mich nicht heiß an.
Stöhnend schob ich das Essen von mir und wartete bis Freya zurück kam. Kaum hatte sie den Raum betreten, schoss ich in mein Zimmer. Dort zog ich mich wieder nackt aus, schoss meinen geliebten Morgenmantel einfach quer durch den Raum, dann stellte ich mich unter die eiskalte Dusche. Ach, wie ich das hasste!

Erst als ich fror, stieg ich aus der Duschkabine und fühlte mich gleich wieder viel menschlicher. Viel besser! Ich zog mich nach kurzer Zeit schon frisch an, band mein triefend nasses Haar hoch und betrachtete mein gehetzt wirkendes Äußeres im Spiegel. Jap, so musste es gehen. Mit einem kurzen „Bis später!“ verschwand ich aus der Wohnung und lief regelrecht aus dem Gebäude. Aus irgendeinem Grund, nahm ich nicht einmal einen Wagen, sondern eilte lediglich auf Highheels durch die Straßen von Springgan.
Oh ja! Das tat so gut! Ich atmete die frische Luft ein, welche natürlich geschwängert war von diversen unangenehmen Körpergerüchen, so wie den Abgasen der Autos. Es tat aber trotzdem überraschend gut. Der kühle Wind auf meiner Haut, die kalten Tropfen, die meinen Nacken hinab liefen. Ich hielt überrascht an. Moment... Was?

Verdammt, ich bin zur Hälfte eine Gestaltwandlerin. Eine Therianthrophin! Wir bevorzugten warme Orte, mit mindestens dreißig Grad. Um uns pudelwohl zu fühlen, benötigten wir solche Temperaturen, doch aus irgendeinem Grund... brauchte ich in diesem Moment Kälte. Ich verstand gar nichts mehr.

Schneller dieses Mal, eilte ich zu meiner nahe gelegenen Firma, in welcher ich mit dem Lift ganz nach oben fuhr. Viele grüßten mich, doch wirkten viel eher irritiert. Ich hatte natürlich nicht auf meine Sonnenbrille vergessen! Die würde ich niemals irgendwo liegen lassen. Auch dass ich mal triefend Nass in die Firma kam, oder mit wirren Haar, war jedem egal. Das waren sie von mir gewohnt. Besonders wenn ich mal vormittags hier sein musste, sah ich aus wie eine Laiche, was meine Kollegen bloß als >niedlich< empfanden, da ich offensichtlich kein Morgenmensch zu sein schien.
Genauer gesagt, war ich nicht einmal ein Mensch... aber davon mal abgesehen, stimmte es, was sie über mich sagten.

Keuchend warf ich die Türe meines Büros einfach zu, doch bereute es sofort. Es war stickig und warm hier drinnen! Ekelerregend! Ich hatte gerade mal meine Tasche auf meinen Zeichentisch geworfen, da ging ich auch bereits wieder zurück zur Bürotüre, um die Klimaanlage, welche ich bisher noch nie benutzt hatte, voll aufzudrehen. Seufzend stand ich unter einer der Lüftungen und ließ mich kalt anblasen. „Oh ja!“ Stöhnte ich erleichtert. Das war viel besser.

„Wow!“ Zee, meine Empfangsdame und gleichzeitig auch meine Sekretärin, zumindest nachts, schloss eilig die Türe hinter sich. „Wer hat dich denn so verunstaltet? Waren das deine Neffen?“

Fragend öffnete ich ein Auge. „Wieso?“ Ich sah an mir nun doch hinab, doch fand ich hatte wie immer einen exzelenten Geschmack.
„Deine Haare!“

„Sie sind noch nass, ich weiß.“ Winkte ich ab und hielt mein Gesicht wieder hinauf zur Klima. „Könntest du aber noch ein wenig hinab drehen? Es ist so heiß und stickig hier drinnen.“

Zee schien die Welt nicht mehr zu verstehen, doch tat worum ich sie bat. „Aber du magst es doch so warm in deinem Büro. Und wenn du das Fenster kippen würdest, wäre es auch nicht so stickig hier drinnen.“

Ich fauchte ärgerlich, während sie zum Fenster eilte und drei davon kippte. Augenblicklich drang noch ein weiterer Luftzug um meinen Körper und ich seufzte überglücklich. „Perfekt!“ Lobte ich.

„Okay, du machst mir angst. Ich rufe deine Schwester sofort an.“

Blinzelnd riss ich mich aus dem Genuss der Kälte und schaute Zee verwirrt an. „Wieso mache ich dir denn Angst?“

„Deine Haare! Sie haben weiße Strähnen! Du stehst unter der Klima, die du nicht mal wolltest... Du verhältst dich... Keine Ahnung... Was ist passiert?“

Ich fasste auf meinen Kopf. „Was sind sie?“ Hatte sie eben >weiß< gesagt?

„Strähnen, Mädchen! Du hast weiße Strähnen!“ Irritiert hielt sie inne und steckte das Handy wieder ein. „Hast du das noch gar nicht bemerkt?“ Fragte sie, während ich meinen Zopf öffnete und vor den Spiegel trat, welcher in der Nähe meines Schreibtisches, an der Wand, befestigt war.

„Scheiße!“ Stieß ich erschrocken hervor, während mir teils weises, teils rotes Haar, noch feucht, über die Schultern fielen. Als ich die Sonnenbrille abnahm, um es besser sehen zu können, sprang ich glatt einen Schritt vor meinem Abbild fort. „W-Wieso...“ ich deutete auf mein Spiegelbild und warf Zee einen angsterfüllten Blick zu. „Was passiert da mit mir, Zee?“

Sie hob unwissend ihre Arme. „Ke-Keine Ahnung.“

„Wieso sind die weiß?“ Ich nahm eine Strähne und zeigte sie Zee.
„Keine Ahnung...“ Wiederholte sie.
„U-Und meine Augen! Wieso sind sie...“ Erneut betrachtete ich das helle Grün im Spiegel. „Wieso sind sie beide grün auf einmal?“

Zee riss sich anscheinend aus ihrer eigenen Panik und schüttelte den Kopf. „Okay, genug jetzt. Wir bringen dich sofort ins HQ, dort werden sie dich durchchecken.“

„Nein!“ Empörte ich mich fauchend. „Kommt gar nicht in Frage! Die werden mich hochkant hinaus werfen, wenn die mich so sehen!“

„Du bist immer noch eine Jägerin, Haven...“

„Nein, das bin ich offensichtlich nicht! Und sie werden auch ncihts tun, weil sich meine gesamte Familie von ihnen abgewandt hat, Zelda! Sieh es ein, wir sind keine Jägerinnen mehr. Wir sind... Keine Ahung... Ein Haufen abstrakte Attraktionen im Zirkus, aller höchstens!“ Fuhr ich aus meiner Haut. Plötzlich hielt ich inne und musste schmunzelnd, ehe ich amüsiert loslachte. „Ich bin ja so dumm!“ Murmelte ich und schlug mir sogar gegen die Stirn. Dass ich darauf nicht sofort gekommen bin!

„Haven? Alles okay? Du machst mir schon wieder angst.“

Beschwichtigend hob ich eine Hand. „Schon gut, Zee. Alles ist gut jetzt. Ich weiß schon, woher das kommt.“

Und da war es... Ich entspannte mich zum ersten Mal, seit über vierundzwanzig Stunden. Mein Herzschlag verlangsamte sich, mein Puls wurde ruhiger und etwas warmes breitete sich in meiner Brust aus. Natürlich lag diese Veränderung nur an Vetjan! Freyas Verbindung zu Milan, hatte ihn verändert. Ginis Verbindung zu Silas, hatte sie verändert. Nun war anscheinend einfach ich an der Reihe.

Etwas in mir fühlte sich auf einmal einfach nur wohlig an und erfüllte meinen gesamten Brustkorb, während etwas in meinem Bauch kribbelte. „Ich habe meinen Gefährten gefunden, deshalb war ich auch so lange nicht in der Firma. Tut mir leid, Zee. I-Ich habe einfach nicht mit...“ Ich deutete auf mein Spiegelbild, welches allmählich wieder normal wurde. Die weißen Strähnen verschwanden, wurden erfüllt von dem knalligen rot meiner natürlichen Haarfarbe und das Grün in beiden Augen verblasste allmählich wieder. Nein... Nicht in beiden! Nur das rechte wurde wieder blau, so wie es sein sollte. „... so einer Veränderung gerechnet.“

Zee bekam große Augen. „D-Du hast was?“

Meine Wangen verfärbten sich leicht rötlich. „Ich habe... meinen Gefährten gefunden.“ Es war das erste Mal, dass ich es voller Liebe und Hingabe aussprach. Mein Gefährte... Vetjan hatte mich in >Ordnung< gebracht. Er war mein fehlendes Stück, zu meiner anderen Seite gewesen. Der Grund für meine >Andersartigkeit<, mal davon abgesehen, dass ich verwandelt wurde und nicht als Therianthrophin geboren.
Ich blickte hinab auf meine Finger und tat zum ersten Mal, seit meines schrecklichen Unfall etwas, dass ein jeder Gestaltwandler wie im Schlaf beherrschte. Ich klappte meine zierlichen, doch tödlichen Krallen aus.

Überrascht davon, dass es tatsächlich klappte, lachte ich auf. „Es funktioniert! Zee, sieh dir das an! Ich kann es! Ich kann es endlich!“

Zee wirkte nicht halb so begeistert von meiner Veränderung, wie ich es tat. Aber klar, Theriantrophe waren auch nicht unbedingt als >Friedliebend< bekannt. „Moment, was bist du dann eigentlich?“ Fragte sie plötzlich. „Ein Albino von irgendetwas?“

Ich zuckte unwissend mit meinen Schultern. Fast zeitgleich eilten wir zu meinem Pc. Ich setzte mich und sie startete ihn. Während ich mich einloggte, diskutierten wir gewagt weiter.
„Eine weiße Löwin, vielleicht?“ Sie musterte meine Statur. „Nein, etwas zierlicheres.“ Meinte sie dann. „Ein Albinoerdmännchen.“ Zog sie mich dann auf, wofür sie einen Stoß von mir in die Seite bekam.
„Sei ja nett, sonst fress ich dich noch!“ Mahnte ich neckisch.

„Okay, realistisch... Vielleicht ein Schneeleopard, doch die haben ja diese dunklen Tupfen drinnen.“

„Serval?“ Riet ich mit, ehe ich das Verzeichnis der Jäger aufrief.
„Die haben ganz leichte Tupfen drinnen.“
„Karakal, hätte ich noch gefunden.“ Meinte ich nach längerem Schweigen.
„Oh, jetzt hab ich es!“ Rief sie plötzlich aus, als hätte das alles auf einmal Sinn für sie gemacht. „Ein Schneefuchs!“

Mein Blick sauste durch die Datenbank. „Nö, die gibt es nicht bei den Therianthrophen.“
Zee verzog das Gesicht. „Ach, ja. Canoidea.“ Bemerkte sie dann. „Dabei hätte ich sie vom Aussehen eher zu den Katzenartigen gesteckt.“

Ich winkte ab. „Nicht ablenken, Zee. Konzentriere dich.“

„Ja, ja.“ Antwortete sie darauf.

„Oooh!“ Stießen wir beide plötzlich hervor.
„Schau nur wie süß!“ Quietschte ich.

„Und diese großen Ohren! Wo kann man sich so ein riesiges Kätzchen besorgen?“ Himmelte Zee ihrerseits die Bilder über den Karakal an, welche ich aufgerufen hatte.

„Also wenn das keine Wildtiere wären, würde ich glatt ein Dutzend Kätzchen bestellen.“

Ich kicherte und fühlte mich überraschenderweise so gut, wie schon lange nicht mehr. „Pass nur auf, dass du nicht am Ende als Futter für sie endest. Das sind richtige Raubtiere!“ Mahnte ich sie bloß, doch wusste, sie machte lediglich scherze. Im Gegensatz zu mir, lebt sie in einer einfachen Wohnung und ich wusste, was ich ihr bezahlte. Von daher würde so eine Investition ihre Rahmen sprengen.
„Okay, such mal weiter, schauen wir, was noch in Frage kommt.“

 

- - - - -

 

Es wurde spät in der Nacht, Zee und ich pflegten nicht bloß unsere Freundschaftliche Beziehung, nein wir schufen sogar eine ganz neue Kollektion. Zumindest, würden wir das morgen tun. Heute fertigten wir lediglich Skizzen und neue Ideen an. Dabei ließen wir uns von Raubkatzen nur zu gerne inspirieren. Dazu aßen wir ein halbes Restaurant leer, welches ihr Essen, regelmäßig, an uns auslieferte.

Gegen vier Uhr kam ich wieder zuhause an. Natürlich schlief bereits alles. Sogar Iduna, und ja! Ich spähte für einen Moment in ihr Zimmer und war sehr froh darüber, meine kleine Schwester zu sehen.

Von einem seltsamen Impuls gepackt, trat ich lautlos an ihr Bett heran und ließ mich vorsichtig auf die Ecke des Bettes sinken. Zärtlich streichelte ich ihr, vom Schlafen, wirres Haar glatt.

Es dauerte nicht lange, da wachte sie aus ihrem tiefen Schlaf auf und murmelte irgendetwas. „Schlaf weiter, meine Süße.“ Flüsterte ich und küsste ihre Schläfe.

„Nicht absagen.“ Bettelte sie auf einmal.

„Was?“ Fragte ich nach. „Was soll ich denn nicht absagen?“ Spielte ich ihr Spiel mit, da ich wusste, sie träumte gerade eben von irgendetwas.
„Du bist immer so gemein zu mir, Illian.“

„Killian?“ Überlegte ich laut. Oder hatte sie tatsächlich Illian gesagt? Ibian? Nein, klang auch nicht richtig. „Von wem sprichst du?“ Ich weiß, gemein meine kleine Schwester auszufragen, während sie schlief, aber ich hatte diesen Namen noch nie gehört.

„Haven?“ Fragte Iduna auf einmal und erwachte dieses mal wirklich aus ihrem Schlaf. Gähnend setzte sie ich auf und rieb ihre müden Augen. „Was ist los? Ist irgendetwas...“
„Sch...“ Machte ich und drückte sie zurück ins Bett. „Schlaf einfach weiter. Ich wollte bloß nach dir sehen.“

Iduna nickte, doch ihre Augen fielen währenddessen wieder zu. „Ach so.“ Nuschelte sie dann und rutschte zurück unter die Bettdecke. „Wie spät ist es?“

„Du hast noch zwei Stunden.“ Hauchte ich leise, während ich sie schön unter der Bettdecke einpackte. Ich wusste ja, wie schnell ihre Füße froren.

„Nur noch zwei Stunden? Scheiß auf Schule...“ Murrte sie, doch war am besten Weg wieder einzuschlafen.

„Sch...“ Machte ich wieder, doch sie war schon fort, im Land der Träume. Killian also? Wieso hatte sie diesen Namen noch nie erwähnt? Ich schmunzelte. Eventuell war es ja ein Student aus der Uni, oder einer ihrer Professoren, die gemein zu ihr waren.

Statt mich selbst schlafen zu legen, blieb ich eisern wach. Ich kümmerte mich, um die mit nach Hause gebrachten Entwürfe und überlegte, was ich noch anfügen konnte. Schlussendlich, war ich überraschend zufrieden mit meinem Ergebnis. Mal sehen, wie es später in der Firma aussehen würde.

„Haven?“ Fragte Iduna auf einmal, ngläubig darüber, mich um sieben Uhr morgens, vollständig bekleidet, im Wohnzimmer vorzufinden. „Wieso bist du wach?“

Ich sprang auf und schlenderte in den Küchenbereich, um das bereits gerichtete Müsli zu ihr zu schieben, sobald sie sich gesetzt hatte. „Und du hast schon alles her gerichtet... Moment, du warst doch heute Nacht in meinem Zimmer, richtig?“

Ich schenkte ihr Milch in eine Schüssel ein. „Ja, ich wollte nach dir sehen. Du wirktest, als hättest du einen Albtraum gehabt.“

Iduna dachte scharf nach und schien zu versuchen, sich an ihren Traum zu erinnern. „Tatsächlich?“

„Ja, du hast irgendetwas geplappert. Etwas über jemanden, der dir Schwierigkeiten macht?“ Tastete ich mich vorsichtig heran.

Iduna stützte eine Hand auf, während sie das Vollkornmüsli mit weißer Schokolade und getrockneten Himbeeren auf die Milch schüttete und es vermischte. „Nun ja, ich hatte... Ehrlich gesagt, bin ich im Moment ziemlich mit Vera zerstritten. Sie ist böse auf mich, weil ich etwas gemeines gesagt habe. Dabei ist sie diejenige, die alles immer so gelassen sieht und ihre Nase überall hinein steckt.“ Empörte sich Iduna in ihrer gewohnten Quassellaune.
„Dann... sprich mit ihr darüber.“
„Habe ich ja schon. Deshalb streiten wir auch.“

Ich rollte mit den Augen, ehe mir eine Erkenntnis kam. „Worin hat sie sich denn eingemischt?“

„Na weil ich ihr erzählt habe, dass Freya mit den Kindern bei uns ist. Sie wusste ja, dass Milan, mein Schwager mich letztens zur Schule gebracht hat. Daraufhin war sie neugierig und war auch noch so dreist zu sagne, dass ihr das total gegen den Strich gehen würde. So viele Kinder um die man sich kümmern muss und noch eine kranke Schwester...“ Sie stutzte, als ich die Stirn runzelte. Was hatte ich verpasst? „Oh, ja ich habe gelogen und behauptet, Freya sei erkältet und Milan hätte viel in der Arbeit zu tun, deshalb sind die Jungs und unsere Schwester hier.“

„Aha!“ Machte ich, verstehend. Manchmal halfen eben bloß Lügen, denn die Wahrheit würde jemand wie Vera ohnehin nicht glauben. „Aber das ist ja dann ihre eigene Meinung, oder?“
„Genau, das dachte ich mir auch erst. Aber dann wollte sie mich überreden, dass wir was unternehmen. Ich sagte aber, ich muss heim, mich um Freya kümmern, dabei wollte ich bloß Zeit mit meinen Neffen verbringen, weil ich mir nicht sicher war, wie lange es dauert, bis Milan und du euch wieder an die Kehle geht...“ Witzelte sie gemeiner weise.

„Das war dann vorgestern, richtig? Aber du kamst doch relativ spät. Bist du dann etwa doch noch mit ihr unterwegs gewesen?“

Iduna hielt inne und nickte dann zögerlich. „Wie spät ist es?“ Fragte sie plötzlich und sah auf die Uhr. „Mist, ich muss schon los. Ähm... Danke jedenfalls für das Frühstück.“
„Warte, ich fahre dich. Ich muss die hier noch...“
„Schon gut, stress dich nicht. Ciao!“ Und fort war sie.

Irritiert betrachtete ich die zu geworfene Türe. Was war das denn?

„Idy schon weg?“ Erklang die verschlafene Stimme von Milan aus dem ersten Stock. Ich sah hoch und nickte dann. „Ja. Seltsamerweise ist sie eben regelrecht geflüchtet.“

Milan hielt inne und schnupperte dann in der Luft. „Haben wir jemanden zu Besuch?“

Ich schüttelte den Kopf, ehe ich selbst schnüffelte. Meine Nase war mindestens genauso fein wie die eines Werwolfes. Und genau das war auch das Einzige, was ich wahrnehmen konnte. Meine gesamte Wohnung stank nach ihnen.
„Also ist keine andere Katze anwesend?“

Ich schüttelte erneut den Kopf. „Nein, ich bin die Einzige hier unten. Wieso?“ Außerdem konnte ich keine wahrnehmen.

Milan kam die Treppe, mit in die Höhe gestreckter Nase herunter und folgte der Spur, bis er einen Meter entfernt von mir stehen blieb. Irritiert beäugte er mich. „Du riechst nach Therianthroph, aber nicht nach Kanalisation...“
Ich grinste breit. Ja, Gott verdammt, ich grinste so breit, ich hätte mich glatt als Clown bewerben können. Anstatt etwas zu sagen, klappte ich meine Krallen so selbstverständlich aus, als hätte ich mein ganze Leben lang nichts anderes gemacht. Als Milan mit offenen Mund wieder von meinen Klauen auf blickte, stockte ihm der Atem. „Deine Augen! Sie sind nun beide grün!“

Stolz grinste ich vor mich hin. „Deshalb war ich auch gestern so unruhig. Meine Haut hat gejuckt, mein Blut gekocht, meine Muskeln waren verspannt...“ Mittlerweile machte das alles so Sinn!

„Deine Verwandlung hat sich abgeschlossen!“ Stieß er begeistert hervor, ehe sein Gesichtsausdruck besorgter wurde. Vorsichtig schob er mein Haar zur Seite, welches ich, wie gewohnt, stets über mein linkes Auge hängen ließ. „Deine Narbe ist jedoch geblieben.“ Meinte er traurig und streichelte über meine Wange. „Und die Farbe auch.“

Anstatt betrübt darüber zu sein, denn ehrlich gesagt, war es mir völlig egal geworden, ließ ich mein zweites Auge ebenfalls seine Form ändern, woraufhin Milan erneut große Augen bekam. „Ach du... Unglaublich, wie ist das nur passiert?“

Kurzerhand erzählte ich Milan davon, wie schrecklich und reizbar ich mich die letzten beiden Tage gefühlt hatte. Anfänglich dachte ich, es sei Liebeskummer, gepaart mit der Sehnsucht nach meinem Gefährten gewesen. Aber gestern Abend dann... Puff... „Plötzlich konnte ich es. I-Ich wusste wie einfach es sein würde und... tat es.“
„O-Okay, aber haben Zelda und du heraus gefunden, welche Art du bist?“

Ich verzog das Gesicht. „Nein, leider nicht. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich meine Form ändere, oder ob es das mit...“ Ich deutete auf meine Hände. „...dem hier schon gewesen ist.“

„Wärst du sehr traurig, wenn es nicht so wäre?“ Darüber musste ich erst nachdenken. Wie würde ich mich fühlen, wenn meine ausklappbaren Krallen das Einzige gewesen war, dass sich an mir verändert? Und meine Augen? Das würde einzig die Therianthrophe in der Kanalisation beeindrucken. Im besten Fall... „Ach Mist!“ Fauchte ich verärgert.

„Was ist?“

„Ich wollte eigentlich bald wieder unten sein in der Kanalisation, habe es aber total vergessen.“ Ich raufte mein rotes Haar. „Aber nach dem Angriff auf euch, Vetjan und gestern kam dann auch noch Rachel dazu... Ich hab es einfach vergessen, Milan.“
„Vorgestern.“ korrigierte er mich, doch fasste mich, mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen, an den Schultern. „Ganz ruhig, erst Mal, Haven. Komm runter. Du hast noch den ganzen Tag zeit. Außerdem kannst du nicht die ganze Welt retten, dich um uns kümmern und an deinen Gefährten denken. Das ist einfach zu viel für dich.“
Ich stöhnte genervt und ließ meinen Kopf gegen seine Schulter fallen. „Ich muss aber etwas tun, Milan. Das habe ich Lyria versprochen.“

„NA gut, dann fahr einfach jetzt. Zieh dich um und fahr in die Kanalisation, wenn du es nicht weiter aufschieben willst.“
Murrend drehte ich mich herum und stampfte durch die Wohnung, auf das Sofa zu, auf welchem ich bisher gezeichnet hatte. „Das geht nicht. Ich muss in die Firma. Letzte Nacht hatten Zee und ich einen kreativen Lauf. Den darf ich nicht einfach so stehen lassen. Es ist mein erster seit Monaten. Und er ist richtig, richtig gut!“

Lachend betrachtete Milan die Rohskizzen. „Gut, dann überlass es einfach mir.“

„Was? Du willst in die Kanalisation?“ Fragte ich ungläubig.

Milan lachte. „Unsinn, ich meinte, dass ich mich, um deine Skizzen kümmern werde.“

„Du willst als Modedesigner arbeiten?“ Hinterfragte ich noch ungläubiger, wofür ich einen undankbaren Blick kassierte.
„Hör mir doch mal zu! Es sind doch bloß ein paar Zetteln, richtig? Die Scanne ich ein und schicke sie Zee ins Büro.“

Ich gab einen erkennenden Laut von mir. „Das kann sogar funktionieren. Okay, klar so machen wir das. Ach ja! Auf meinem Zeichentisch befinden sich auch noch ein paar Dateien. Komm mit.“

Ich zeigte ihm, welche ich meinte. Daraufhin benutzte er meinen Scanner und verband alles zu einer Mail, während ich im Bad verschwand, um mich fertig zu machen. „Danke, du bist der Beste!“ Lobte ich Milan, als ich aus dem Bad kam, gab ihm einen Kuss auf die Wange, dann sauste ich auch bereits los.

Freyas irritierten Blick bemerkte ich wohlauf, als ich an ihr vorbeilief. „Wüsste ich nicht, dass du deinen Gefährten gefunden hast, wäre ich jetzt berechtigt eifersüchtig.“ Meinte sie mit hochgezogenen Brauen, rein sarkastisch, während ich in meine Arbeitsstiefel schlüpfte. „Ich hoffe doch, dass du dich nicht vor ihm umgezogen hast.“ Zog sie mich dann weiter, mit einer gespielt strengen Stimme auf.
Ich fauchte sie empört an. „Natürlich nicht!“

Daraufhin grinste sie wissend. „Du gehst in die Kanalisation.“
Nun grinste ich wieder meiner ältesten Schwester zu, ehe ich mich der Türe zuwandte. „Aber bloß um zu arbeiten!“

Ob ich Vetjan begegnen wollte, oder nicht, war mir noch immer nicht ganz klar. Einerseits... hatte er mir ehrlich gesagt, gleich zwei Geschenke gemacht. Das erste war gewesen, dass er mich überhaupt als seine Gefährtin entdeckt hatte. Niemals hätte ich zu träumen gewagt, dass mich jemand lieben würde, ohne dass er sich an meinem Geld bereichern, mich beherrschen wollte, weil ich eine Frau bin, oder gar jemand war, den ich einmal nicht über mein Leben belügen musste. Nie hatte ich mir sicher sein können, aus welchen Gründen sich Leute für mich interessierten.

Gut, bei meiner Familie war es mir glasklar. Sie liebten mich, mit starker Gabe, oder ohne. Mit einem deftigen Makel im Gesicht, oder ohne... Ihre Verbundenheit zu mir war einfach... etwas ganz besonderes, was ich ehrlich zu schätzen wusste.

Das Zweite Geschenk, welches ich ehrlich nicht erwartet hatte, war dass sich mein Körper auf den meines Gefährten einstellte. Genauso, wie sich ein wenig etwas in Freyas DNA verändert hatte, damit sie überhaupt Werwolfskinder austragen konnte und so für eine beeindruckend starke nächste Generation sorgte, musste sich etwas bei mir geändert haben.

Nun war ich dazu Fähig meine Krallen auszufahren, eventuell sogar meine zweite Gestalt anzunehmen! Oh Mann, das musste ich unbedingt versuchen! Bisher wusste ich zwar noch nicht genau >wie< ich es anstellte, doch Lyria würde mir hierbei ganz bestimmt eine große Hilfe sein. Das musste sie einfach!

Ich kam am üblichen Ort an und ging zu meinem Kofferraum. Da es helichter Tag war, konnte ich davon ausgehen, alle Therianthrophen in den Tiefen der dunklesten Kanalisation versteckt vorzufinden. Bestimmt schliefen sie noch alle, bis auf die gut trainierten Wachposten.

Sobald ich meine Kampfausrüstung befestigt hatte, zwängte ich mich durch einen schmalen Spalt in eine Röhre hinein. Scheinbar hatten Arbeiter sie erst vor wenigen Tagen neu angebracht. Die Wandler jedoch hatten keine Zeit gescheut, dort wieder einen halbwegs begehbaren Durchgang zu schaffen. Eben diesen benutzte ich und stellte mich in, gut geschützt von Brettern, dahinter hin.
„Okay, Haven.“ Redete ich mir motivierend zu. „Du bist jetzt eine... fast, richtige Therianthrophin. Alles was dir fehlt, ist... die Verwandlung zu vollziehen.“ Das was ich Über Verwandlungen wusste, war dass weder Mond, noch Sonne Einfluss darauf hatten. Auch das Alter spielte keine Rolle, geschweige denn spezielle Eigenschaften, welche man mitbringen musste. Jedes Baby konnte sich verwandeln, so wie jeder, der es ins Seniorenalter schaffte.

Ich klatschte in die Hände. „Na komm schon!“ Befahl ich mir selbst, schloss die Augen und stellte mich breitbeinig hin. „Na los...“ Ich atmete tief ein, ehe ich die Luft anhielt und abwartete. Als ich nach gut eineinhalb, angestrengten Minuten, wieder Luft holen musste, schnappte ich hastig danach. Gut, das war schon einmal nichts. Meditation? Vielleicht musste ich ja erst mein... inneres Raubtier finden? So schwer konnte das ja nicht sein.

>Rotfuch< zuckte es durch meine Gedanken und mich wurde rot. Ein Fuchs konnte es wohl kaum sein. Aber wie löste ich sie aus?

Nach gefühlten zehn Minuten, war ich meinem Lösung noch immer keinen Schritt näher gekommen, aber das war kein Problem. Eine weitere Stunde später, welche ich durch das unendliche Labyrinth der Springgan Kanalisation irrte, konnte ich die erste Spur eines Clans ausmachen.

In den Vergangenen Jahren, hatte ich mir bereits einige Tricks einfallen lassen, um friedlich mit einem dieser Gruppierungen in Kontakt zu kommen. Als erstes, hatte ich es mittels kleinen Zettelchen auf >Geschenkkörben< versucht. Leider war ich wenig später damit eingefahren, da ich nicht daran gedacht hatte, dass sie womöglich niemals das Lesen gelernt hatten.

Danach hatte ich Tonbänder dagelassen... Diese waren jedoch stets vor Schreck an der Wand gelandet, in einer Pfütze verendet, oder sind überhaupt nicht erst beachtet worden.

Erst hiernach war ich kreativer geworden. Kleidungsstücke, benötigten sie nicht. Pflegeprodukte noch weit weniger. Essen nahmen sie bloß an, wenn es für ihre gesamte Gruppe reichte. Was blieb also, abgesehen von Schrott?

Jap, genau das hinterließ ich ihnen. Alte Blumentöpfe, die sie tragen konnten, wenn sie flohen, Körbe, Haarspangen zum Beispiel, nahmen sie gerne für Kinder an. Dinge, welche Geräusche verursachten, hassten sie, weil es ihren Standort preis gab. Jedoch Papier, Stifte zum Zeichnen oder gar dutzende an Plastikflaschen benutzten sie andauernd.

Oh! Da erinnerte ich mich an eine witzige Aktion mit Klopapier. Nachdem ich eines Nachts eine Großpackung davon dagelassen hatte, konnte man beinahe überall in der Kanalisation eben jene wiederfinden. Offensichtlich hatten sich die Kinder köstlich damit amüsiert gehabt.

Schmunzelnd legte ich eine Klopapierrolle ab, mit einem bunten Zettelchen darauf. Dadurch würde, falls Lydia sich in eben jener Gruppe befinden sollte, wissen, dass ich es war. Grün bedeutete dass ich sie sprechen wollte. Gelb, stand für die Sachen, welche ich ihr damals, auf ihren Wunsch hin, gebracht hatte. Und rot sollte eine Warnung sein.

Nach und nach teilte ich weitere Rollen aus, mit kleinen grünen Papierstückchen darauf, an ausgewählten Kreuzungen, da sie sich dort Therianthrophen häufiger über den Weg liefen.

Es dauerte quasi den gesamten Vormittag, bis ich endlich bekannte, extra laute, Tapse aus einer halbhohen Röhre vernahm. „Lyria?“ Fragte ich, doch hatte insgeheim die Hoffnung, es würde Vetjan sein. Alleine der Gedanke an ihn, ließ mein Herz höher klopfen und für einen Moment die Tatsache vergessen, dass es vermutlich nicht so klug wäre, ihm erneut über den Weg zu laufen. Zumindest nicht allzu früh, denn immerhin wusste ich noch immer nicht was ich dann mit ihm tun sollte. Nicht so richtig...

„Lyria, bist du das?“ Fragte ich vorsichtig nach, als sich der kommende Körper noch immer nicht zu erkennen gab, sondern anhielt und zu Fauchen begann. Hastig warf ich mein Haar auf die rechte Seite, sodass man bloß noch mein grünes Auge erkannte. „I-Ich bin alleine.“ Schwor ich.

Nun kamen die Schritte, wesentlich leiser, näher und sie trat, in all ihrer nackten Pracht, vor mich. „Du sorgst für ganz schön Unruhe, so früh am Morgen. Suchst du etwa meinen Bruder?“ Fragte sie, mit in die Hüften gestemmten Armen, so wie einem mahnenden Ausdruck im Gesicht.

„N-Nein!“ Entgegnete ich hastig. „Ich habe nach dir gesucht. Wie geht es dir? Gab es wieder Vorkommnisse?“

Sie stieß einen lauten Seufzer aus und ließ sich in die Hocke sinken. Ich tat es ihr gleich, bloß dass ich mich dabei an eine halbwegs saubere Stelle, an der Wand lehnte. „Nein, aber die Clans sind aufgewühlt. Du hast sie ganz schön erschreckt, daher musste ich sie erst beruhigen. Ich sagte meinem Clan, dass du nur nach mir gefragt hast und... danke für die Rollen. Die Kinder flippen immer total aus.“ Sie grinste über beide Ohren, doch hatte dabei immer noch den Ausdruck einer Raubkatze auf den Lippen.

„Sehr schön. Und entschuldige, dass ich für einen solchen Wirbel gesorgt habe. Aber ich kann dir versprechen, das ich genau deshalb nun hier bin. Die letzten Tage waren etwas... speziell, daher tut es mir leid, dass ich nicht eher zu Stelle war.“

Sie schnaubte abweisend. „Ist ja nicht dein Problem. Ich bin sicher, dass du dort oben wesentlich besseres zu tun hattest.“
So Sachen, wie im Selbstmitleid zu ertrinken und aus meiner Haut zu platzen? Ja... Ja... so etwas ähnliches war es bestimmt. „Nichts ist mir wichtiger als ihr. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass ihr nicht bloß meine Freizeitbeschäftigung seit. Aber ich habe einfach zu wenige... Lyria?“

Lyria stand so plötzlich in einer aufrechten Position, dass ich ihr kaum mit meinem Blick folgen konnte. Sobald ich ebenfalls aufrecht stand, strengte ich meine, leider nicht so gut funktionierenden, Lauscher an. Lyria ihres waren selbstverständlich wesentlich sensibler. Es dauerte einen angestrengten Moment, doch da hörte ich es. Das verzweifelte Schreien eines Kindes! Es weinte und schrie sich die Seele aus den Leib, rief nach seiner Mutter. Dann war da noch etwas... „Blut!“ Stießen wir gleichzeitig hervor, woraufhin ich einen eigenartigen Blick von Lyria kassierte.
„Das erkläre ich dir später.“ Schwor ich, ehe wir gleichzeitig los sprinteten. Noch im Lauf, glitt Lyria in ihre andere Gestalt, sehr zu meinem Leidwesen, da sie nun quasi durch die Kanalisation schoss. Schon nach wenigen Metern, hatte sie mich abgehängt, daher konnte ich nichts weiter tun, als dem schrecklichen Schrei zu folgen. Scheinbar war jemand vor uns bei dem Kind angekommen, und dies ging nicht unbedingt gut für eben jenen aus!

Nur Sekunden darauf, folgte der nächste Aufschrei. Er war wesentlich menschlicher und endete in einem schrecklichen Gurgeln, was mir in früheren Zeiten ganz bestimmt mein Essen hätte hoch kommen lassen. Nur einen Augenblick später traf ich auf einem Schlachtfeld ein. Eine Gabelung in sieben verschiedene Richtungen, mit einer kleinen Anhöhe. Von oben baumelte ein winziger Käfig von der Decke. Kaum größer als ein Katzentransporter und darin schrie, und wütete eine genauso kleine, pelzige Kreatur.

„Lyria! Duck dich!“ Rief ich aus, ehe ich bereits einen Dolch durch die Luft sausen ließ. Die weibliche, definitiv menschliche, Gestalt, welche eben versuchte mit einem Elektroschocker auf Lyria los zu gehen, bekam mein Wurfgeschoss direkt zwischen die Augen. Meine, mehr oder weniger, Freundin, hatte gerade einmal genug Zeit, mir zuzunicken, ehe etwas, dass stark einem Schlagstock glich, ihren Oberarm traf. Wütend setzte sie sich gleich drei Angreiferinnen zur Wehr, während noch mehr, aus unterschiedlichen Gängen heraus strömten.

Ausgestattet mit gänzlich neuen Kräften, klappte ich meine Krallen aus, als sei es etwas, dass ich bereits seit meiner Geburt tat. Fauchen stürzte ich mich auf zwei Angreiferinnen, ehe sie Lyria, buchstäblich, in den Rücken fallen konnten. Sehr zu meinem Leidwesen, waren diese Frauen extrem gut ausgerüstet. Meine Krallen konnten kaum durch den dicken Stoff schneiden, daher verursachte ich lediglich minimalen Schaden.

Eigentlich war ich bei weitem kein Fan von Schusswaffen, vor allem, da Therianthrophen das Talent besaßen, den Geschossen, insofern sie einen Gewissen Abstand zum Vorteil hatten, auszuweichen. Und wenn sie zu nahe standen, erreichte man selten mehr, als eine Fleischwunde, welche sich recht bald wieder schließen würde.

Dieses Mal jedoch, war eine Schusswaffe definitiv von Vorteil. Ich stieß die beiden Angreiferinnen von mir und tat das, was mir eigentlich überhaupt nicht in den Sinn kommen würde, wenn ich gegen Therianthrophen kämpfen müsste. Ich zog die kleine Waffe, welche in meinem Stiefel, rein aus Sicherheitsgründen steckte, man wusste ja nicht, was sonst noch alles hier unten herum streunte und drückte ab. Zwei Schuss später, lagen beide Frauen tot am Boden. So machte ich weiter. Leider hatte ich kein Wechselmagazin mitgebracht. Wer in einer solchen, normalerweise friedlichen Situation, wie meiner, dachte schon an so etwas banales, wie Wechselmagazine, weil einem eine ganze Gang von verrückten Tussis anfällt, verdammt noch mal? „Bleib am Boden!“ Rief ich wieder, als Lyria versuchte, sich auf die nächsten Gegner zu stürzen. Gehörig blieb sie in der Hocke und leistete sich lediglich Ausweichmanöver.
„Rückzug!“ Befahl plötzlich eine Stimme aus dem Dunkeln. Ich erwischte noch gut fünf weitere, ehe mir die Munition ausging. Die Angreifer packten ihre teils verletzten, teils Toten und zogen sie, oftmals zu zweit, ohne Rücksicht, hinter sich her.
„Los! Wir müssen ihnen folgen!“ Rief Lyria zornentbrannt, doch ich packte sie am Oberarm und riss sie zurück. „Nicht! Denkst du, sie haben nicht vorsorglich noch mehr Fallen, als diese da, aufgestellt?“ Ich deutete hoch zu dem Kind. Die lauten Schüsse mussten das Mädchen wohl erschreckt haben, denn nun kauerte sie in einer metallenen Ecke und hielt sich wimmern die Ohren zu.

Lyrias Blick wurde mitfühlender. „Ich hol sie da runter!“ Fauchte sie schlussendlich, während ich mich, um die gefallenen Kämpfer kümmerte. Zwei Frauen, beide Tot lagen in der Nähe des Käfigs. Zudem drei Männer, wovon es lediglich einer Geschafft zu haben schien. Ich achtete penibel darauf, dass er lediglich mein grünes Auge zum Sehe bekam, da ihm ein Vertrauter Anblick wesentlich weniger in Panik versetzen würde.
Zittrig atmend, starrte der schwer Verletzte Mann zu mir hoch. Er war zurück in seine menschliche Form geglitten und schien unsagbare Schmerzen zu haben. „Sag mir wo es weh tut.“ Befahl ich einer strengen Stimme. Das einzige was er tat, war mich anzufauchen.

Ich fauchte meinerseits zurück und war gewillt, ihm eine Kopfnuss für seine Starrköpfigkeit zu verpassen. Natürlich tat ich dies nicht! „Ich hab dich kämpfen gesehen. Du siehst vielleicht aus wie eine von uns und riechst danach... Aber du kämpfst wie ein Mensch.“
„Jäger.“ Korrigierte ich kalt. Es machte ohnehin keinen Sinn, irgendetwas abzustreiten. Hinter mir hörte ich Lyria am Käfig hantieren. „Hier!“ Ich warf ihr einen Dietrich hoch. Dessen Anwendungszweck hatte ich ihr bereits am Anfang unserer >Freundschaft< gezeigt. Seitdem war sie recht geschickt darin geworden. Übernatürlich geschickt, verstand sich. „So, jetzt sag, wo du schmerzen hast, oder ich finde es heraus, in dem ich dich von oben bis unten abtaste!“ Mahnte ich herausfordernd. Einen Augenblick langen, einen viel zu langen, welcher ihm unfassbare Schmerzen bereiten musste, erwiderte er meinen Blick. „Ich kann dir helfen!“

„Ich heile.“ Erwiderte er ohne zu zögern.
„Gut, dann eben abtatschen!“ Drohte ich und streckte meine Arme über ihm aus. Augenblicklich versuchte er fauchend von mir fort zu kommen und offenbarte mir damit, wo der Schmerz am heftigsten war. „Du bist irgendwo hinunter gefallen?“ Riet ich und tastete seine wackelige Hüfte ab.

„Als ich versuchte...“ Er stieß fluchend die Luft aus und deutete nun in die Richtung des Käfigs. Also hatte er sich beim Sturz verletzt. Ich sah mich rasch um und bemerkte, worauf er gefallen sein könnte. „Es war so eine verdammte Waffe. Sie hat mich bewegungsunfähig gemacht.

„Eine Schockwaffe.“ Nun entdeckte ich auch die beiden Einstichstellen dieses gefährlichen Gerätes. Es hatte ihn am unteren Rücken getroffen, danach musste er ganz schön heftig auf der Erhöhung aufgekommen sein. „Lyria, ich könnte dich hier brauchen.“ Ohne Röntgengerät konnte ich keine genaue Diagnose von dem Bruch stellen, in welches ich natürlich niemals, in meinen gesamten Leben nicht, einen Therianthrophen hinein bekommen würde, egal was auch immer ich versuchte.

„Bin hier.“ Erwiderte sie und kam direkt auf der anderen Seite, des Verletzten Therianthrophen auf. In ihrem Arm, hielt sie das kreischende Kind, dass kaum älter als vier Jahre alt sein konnte. Es zappelte in Lyrias Armen und schrie die gesamte Zeit nach seiner Mutter... dabei streckte sie ihre Hand nach einer der toten Frauen aus. Betroffen kniff ich die Augen zusammen... Ich kannte diesen Schmerz... Ich fühlte ihn bis heute, obwohl ich schon lange erwachsen geworden war und mir meine Schwestern ein guter Elternersatz gewesen waren. Trotzdem ersetzte dies nicht das Original.
„Kümmere du dich um den Starrkopf. Gib sie mir.“ Der Therianthroph schien direkt wieder hoch fahren zu wollen und mich alleine für die Idee umbringen, nur weil ich der Kleinen Trost spenden wollte. Natürlich kam er aufgrund der extremen Schmerzen nicht allzu weit.

„Wage es ja nicht, ihr-... Wieso gibst du diesem... diesem Monster das Kind! Es ist unschuldig und klein!“ Fauchte und tobte der Therianthroph zornig.

Lyria redete behutsam auf ihn ein und half ihm beim durchatmen. Natürlich war sie wesentlich geschickter, was das Erkennen von Brüchen anging, immerhin hatte sie das von ihrer Mutter gelernt, welche einst Heilerin gewesen war.
Da wurde mir etwas bewusst... Auch wenn weder Lyria, noch Vetjan etwas dazu gesagt hatten, doch auch sie hatten erst vor kurzer Zeit ihre Eltern verloren... Auch sie waren Waisen, wenngleich sie beide Erwachsene waren und gingen damit tausendmal besser um, als ich. Dabei war ich ebenfalls Erwachsen...

„Hey, Kleine... Sie mich an... Komm, sieh mich an.“ Bat ich und strich ihr geflecktes, braunes Haar aus ihrem verdreckten Gesicht. „Genau so. Sieh nur mich an. Wie ist dein Name?“
„Naia.“ Antwortete sie mit bebender Lippe, während sie um Fassung kämpfte. Sie versuchte... stark zu sein. Es brauch mir das Herz.

„Naia...“ Ich lächelte sie liebevoll an. „Das ist ein wunderschöner Name. Und wie heißt deine Mama?“

„Na-Nakita.“

Ich deutete hinter mich, ohne jedoch dabei zuzulassen, dass sie noch einen Blick auf die frische Leiche werfen konnte. „Ist deine Mama Nakita dort hinten?“

Sie nickte und ihre Lippe bebte noch heftiger.
„Okay, hast du einen Papa, zu dem ich dich bringen kann?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ist dein Papa auch hier?“ Sie schüttelte erneut den Kopf. „Weißt du wer er ist?“ Sie zögerte, doch sah dann bedrückt zu Boden. Also musste er tot sein. „Gut, dann... Ähm, hast du einen Bruder oder eine Schwester?“ Versuchte ich es weiter. „Irgendjemanden, der dich aufnehmen kann.“

„Mein Clan.“ Erwiderte sie bloß.

„Ich verstehe, Naia. Du bist wirklich ein tapferes Mädchen. Weißt du eigentlich, wie beeindruckt ich von dir bin?“ Sie sah überrascht auf in mein grünes Auge. „Während ich hier unten gekämpft habe, zusammen mit Lyria, habe ich gesehen, wie unfassbar stark du gekämpft hast. Du hast den Stäben ganz schön zugesetzt. Da kannst du mächtig Stolz auf dich sein. Das hätten nicht viele an deiner Stelle geschafft.“
Okay, hier sollte ich wohl anmerken... das war nicht unbedingt das, was man zu einem kleinen Kind sagte, wenn es gerade den letzten verbliebenen Verwandten verloren hat. Das war mir schon bewusst. Nur was sollte ich sagen? Mama ist jetzt im Himmel? An einem besseren Ort? Das würde sie nicht verstehen, sondern mich einfach für verrückt halten. In ihrer Welt gab es lediglich vier Daseinsphasen. Die Geburt, das Kindesalter, Erwachsen sein und den Tot.

„Deine Mama hat jetzt die vierte Daseinsphase durchschritten, so wie die meine, als ich in deinem Alter gewesen bin.“ Ihre Augen wurden noch um eine ganze Spur größer. Na gut, ich war etwas älter gewesen, doch nicht einmal ansatzweise so stark wie Naia. „Deine Mama ist auch schon weiter gezogen?“

Ich nickte. „Ja, sie wurde mir entrissen, so wie dir die deine.“ Erklärte ich weiter, ohne in Details zu gehen. „Das bedeutet, dass nun dein Clan mit dir zusammen, ihren Letzten Weg gehen muss. Warst du da schon mal dabei?“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lyria dem unbekannten Therianthrophen auf die Beine half. Er zischte vor Schmerzen und musste sich auf sie stützten, um überhaupt irgendwie auf den Beinen bleiben zu können.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Gut, dann werden dich Lyria und... der andere da, mitnehmen, ja.“

„Na komm, Naia.“ Lyra streckte dem Mädchen die Hand entgegen. „Ich bringe euch an einen sicheren Ort.“

„Und ich schaue, dass ich den bösen Frauen hinterher komme.“ Versprach ich. Sanft schubste ich das Mädchen Lyria entgegen, welche diese hastig hinter sich her zog. „Na gut...“ Seufzte ich und überprüfte mein Waffenarsenal. Auf eine solch gewaltige Übermacht war ich zwar nicht eingestellt, aber etwas zu Spionieren, schadete bekanntlich nie. So leise wie möglich, folgte ich einer der Schleifspuren. Einige Meter weiter bemerkte ich jedoch, dass die Schlägerfrauen, wohl ihre Toten und Verletzten hoch genommen haben mussten, da von einem Moment auf den anderen, die Spuren plötzlich endeten.

An einem Kanaldeckel, welche eigentlich fest verschlossen sein sollten, führten viele verschiedene Spuren zusammen. Ach hier kamen die also rein! Seltsam... Eigentlich besaßen alle Kanaldeckel einen Spezialriegel, welcher lediglich von Kanalarbeitern geöffnet werden konnten. Und eben diesen Schlüssel mussten sie sich beim Abfallverband abholen kommen. Auch das war vor Jahrzehnten von der Organisation so eingefädelt worden, damit niemand willkürlich dort hinunter steigen konnte. Somit erfuhren sie jeglichen Einsatz dort unten, stets als erstes.

Vorsichtig kletterte ich die eiserne Leiter hinauf und versuchte den Deckel anzuheben... „Aber er lässt sich ja gar nicht...“ Ich hielt irritiert inne. Weder wackelte der Deckel, noch konnte man ihn irgendwie drehen. „Verdammte, Miststücke!“ Zischte ich. Da war doch irgendetwas Faul, verdammt!

 

- - - - -

 

Nach einem langen Telefonat... war ich genauso ratlos wie bisher. Es gab lediglich einen kleinen Satz an Spezialschlüssel, welche diese Kanaldeckel entriegeln und nach einer raschen Prüfung, befanden sich alle an Ort und Stelle. Jemand von der Organisation wurde anscheinend ausgeschickt, um eben jenen Deckel zu überprüfen. Danach soll dieser sogar im Laufe des Tages noch versiegelt werden, für den Fall, dass es doch einen, zufälligen, Mechanismus geben sollte, durch welchen man ihn auch ohne Schlüssel öffnen konnte.

Somit musste ich mich auch darum nicht mehr kümmern. Stattdessen suchte ich den Kampfort erneut auf. Die Therianthrophen hatten ihre Gefallenen bereits abgeholt. Zweifellos würden sie diese direkt auf ihre eigene Weise ehren, welche ich bisher nicht kennen gelernt hatte. Derweilen sammelte ich die fallen gelassene Kampfausrüstung auf. Einiges davon war hoch Modern. Die Elektroschocker waren so stark eingestellt, dass sie auf Menschen tödlich und auf Therianthrophen betäubend wirkten. Ein abgetrennter Lederschutz war extra dick und sichtlich nicht Industriell hergestellt worden. Alleine schon die Falle... Verdammt, wer machte so etwas bloß? Und weshalb? Wer konnte bloß einen dermaßen großen Hass auf Therianthrophen haben, auf diese kostspieligen, so wie vor allem, schreckliche Taten zurück zu greifen? Es war mir ein Rätsel...

Da ich wusste, dass ich in den nächsten Stunden nichts mehr erreichen konnte, tat ich das einzige, was mir übrig blieb. Ich fuhr heim und legte mich direkt aufs Ohr. Leider schaffte ich es lediglich für vier Stunden, dann machte ich mich auch bereits wieder auf, um in der Kanalisation nach meiner alten Freundin zu suchen.

Dieses Mal hinterließ ich jedoch keine Zettelchen, sondern positionierte mich direkt an der Kreuzung, an welcher sämtliche Spuren längst beseitigt worden waren und wartete dort, bis sie endlich auftauchte. Überraschenderweise trug sie ein unnatürlich, breites Lächeln im Gesicht!

„Hi, Lyria. Wie geht es Naia und deinem unwilligen Patienten?“ Ich glaubte es kaum, doch ihr Gesicht konnte tatsächlich noch mehr Strahlen! Sie glich schon beinahe der Sonne höchst persönlich!

„Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dir nur jemals dafür danken kann!“ Es wurde noch verrückter... Lyria fiel mir um den Hals und küsste mich mit einem lauten Schmatzer auf die Wange! Hatte sie nicht eben erst noch einer Beerdigung bei gewohnt? Oder hatte ich doch irgendetwas verpasst?

„Ähm... Wofür denn?“ Fragte ich und tätschelte ihren Rücken, da ich nicht so recht wusste, was ich sonst tun sollte. Lyria umarmte mich nicht unbedingt jeden Tag, oder freute sich gar in solchen Ausmaßen, mich zu sehen.

„Du hast meinen Gefährten gerettet! Ohne dich hätten wir beide den Angriff heute Nacht nicht überlebt!“

Heute Nacht? Ich war so irritiert von ihrer ungewohnten Laune, dass es gar einen Moment länger, als gewöhnlich dauerte, ehe mir bewusst wurde, was genau sie damit meinte. „D-Du hast deinen Gefährten gefunden?“ Stieß ich überrascht hervor, doch freute mich ungemein für sie.
„Ja! Kannst du das glauben? Er ist mein! Er gehört mir und wir sind wirklich wie für einander geschaffen!“ Schwärmte sie, ehe ich etwas realisierte.

„Wie... Wie meinst du das?“

„Nun ja, er ist so stark und dickköpfig. Er ist schon seit vielen Jahren der Clanführer und seine Tante war eine Heilerin. Es war seine Cousine, die wir da gerettet haben und jetzt rate mal, zu was er mich ernannt hat...“

Ich schüttelte unwissend den Kopf.
„Zu seiner neuen Clanheilerin! Einfach so!“

Nun war ich noch irritierter. Ich bin erst vor... sechs Stunden von hier fort gegangen, das musste irgendwann gegen dreizehn Uhr gewesen sein. Plötzlich war Lyria so gut wie verheiratet, und ihr Gefährte, welcher übrigens ein hohes Tier in dem Clan war, ernannte sie auch noch in eine solch wichtige Position! „Wow!“ Stieß ich stockend hervor. „Ähm... Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Das ging... Das ging wirklich schnell und... und ich freue mich für dich. Es ist doch etwas gutes, oder?“ Erkundigte ich mich sicherheitshalber.

Sie sprang vor Begeisterung in die Luft. „Oh ja! Kannst du dir das vorstellen? Jemand wie ich... die eine so bedeutsame und starke Persönlichkeit als >sein< bezeichnen kann.“ Sie gab einen seltsamen, katzenartigen Ton von sich, den ich noch nie gehört hatte. „Und wie er mich genommen hat die letzten Stunden... Er ist so hingebungsvoll!“

„Okay!“ Stieß ich erschrocken aus. „Das sind auch schon wieder zu viele Details, Lyria!“ Blockte ich sie ab, doch sie hatte bereits viel zu viel gesagt. Himmel, was war das bloß mit den Therianthrophen und ihren verrückten Sexualtrieb. Man sollte meinen, sie würden sich mehr um die fragwürdige Hygiene in ihrer Umgebung sorgen machen, in welcher sie hausten. Aber nein, auch das war für sie völlig normal.

Sie schmunzelte. „Ach ja, vergessen. Ihr seit da oben ja prüde!“ Nun ja, nicht alle. Aber ich war es ganz bestimmt. Zumindest... neunundneunzig Prozent meines bisherigen Lebens war ich es gewesen!
„Genau...“ Antwortete ich in die Länge gezogen. „Also noch einmal, meinen... herzlichen Glückwunsch.“ Meinte ich dann völlig aufrichtig. „Ich freue mich für dich, dass du dieses Glück gefunden hast.“ Sie lächelte mich überglücklich an.

„Bist du ebenfalls gekommen, um meinen Bruder zu treffen? Ich bin sicher, er verzehrt sich nach dir, so wie du nach ihm.“
Meine Wangen brannten von der plötzlichen Röte in meinem Gesicht. „N-Nein! Ich bin wegen wichtigen Ermittlungen hier!“ Korrigerte ich sie streng.
„Wer soll das sein?“ Fragte sie auf ihre übliche, nichts wissende Weise.
„Das ist niemand bestimmtes, Lyria. Ich bin hier, um mich nach den Leuten umzusehen, die heute Mittag... vergangene Nacht hier gewesen sind. Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, du könntest mir helfen, ihre Spuren zu verfolgen.“

Sie nickte. „Na klar. Mein Gefährte ist ohnehin eben bei einer Ratssitzung. Ich muss nämlich noch ins Rudel eingeführt werden. Das heißt, wir haben Zeit.“
„Sehr gut.“ Antwortete ich erleichtert. „Ich habe die Spur dieser Jägerinnen bis zu einem Kanaldeckel zurück verfolgen können.“ Ich deutete den Gang entlang, welchem ich heute gefolgt war. Zusammen gingen wir ein ganzes Stück, während Lyria, mit erhobener Nase, versuchte etwas zu wittern.

„Ja, sie sind ganz sicher hier lang.“ Bestätigte sie meine Vermutung, als wir unter dem Kanaldeckel standen.
„Mittlerweile ist er versiegelt worden, das heißt von hier kommen sie nicht mehr hinein. Aber...“
Lyria stand urplötzlich hinter mir und drückte mir eine Hand auf den Mund. Einen Moment erwog ich es, mich gegen sie zu wehren, doch als sie in mein Ohr zischte, erkannte ich, dass nicht sie meine Angreiferin war. „Wir haben Gesellschaft.“ Flüsterte sie beinahe lautlos und versuchte etwas in einem nahe gelegenen dunklen Gang zu erkennen. Als sie es tat, fauchte sie bösartig, während sie in ihre Zwischenform glitt.
„Haven Ridder, nehme ich an.“ Es war keine Frage, sondern die Feststellung einer jungen Frau. Definitiv etwas älter als ich, mit endlos langen Beinen und einem Blick, welcher bloß ein Todesengel verteilen konnte.

Ich hob mein Kinn, als ich sie erkannte. „Rumina Cavaler...“ Entgegnete ich mindestens genauso kalt. Wenn es Jäger gab, welche ich zutiefst verabscheute, dann war es der Cavaler Coven. Ein Zirkel voller Frauen, welche zu wahren Monstern ausgebildet werden. Ja, ich weiß, meine Familie ist ebenfalls kein Unschuldslamm... Aber was diese Frauen abzogen, war weit weniger als die Verteidigung eines riesigen Geheimnisses. Sie waren Märtyrer und unterschieden nicht zwischen Human und vollkommen bösartig. Für diese Frauen waren alle Kreaturen der Nacht nichts weiter als Trophäen mit welchen sie prahlten.

„Eine Schande, dass wir uns so kennen lernen müssen und...“ Sie bedachte meine Hände, an dessen Enden lange gebogene Krallen saßen, passend zu einer Wildkatze. Dann glitt ihr Blick zurück in mein Gesicht, wo eben beide Augen grün glühen müssten, wie die der Therianthrophen. „mein Beileid, zum Verlust deiner Menschlichkeit, Liebes.“

Zorn erfüllte mich, als dieser Abschaum mich dermaßen herablassend behandelte. „Dein Haar?“ Fragte Lyria überrascht hinter mir. Noch immer stand ich schützend vor ihr. Ihr würde nichts unter meinem Schutz geschehen.
„Oh glaube mir, in mir steckt hundert mal mehr Menschlichkeit, als in dir.“ Entgegnete ich. „Ich kenne die Geschichten über dich. Du und deine... Amazonenarmee seit einfach nur... barbarisch.“ Spie ich aus.

Sie runzelte lediglich ihre Stirn. „Das denkst du bloß, weil dich das Schicksal dieser widerwärtigen Kreaturen ereilt hat. Wärst du bei uns aufgewachsen, so wie es geplant gewesen war, würdest du nicht unter diesem Fluch leiden müssen und... die Welt mit den Augen sehen, wie ich sie sehe.“

Was? Das war neu. „Freya hätte niemals zugelassen, dass wir in einen anderen Coven kommen! Besonders nicht in deinen. Unsere Eltern wären...“
„Deine Eltern wollten dass ihr in unseren Zirkel kommt!“ Entgegnete Rumina selbstsicher. „Sie wollten dass ihr stark werdet und diese Monster bekämpft... und nicht sie fickt oder zu ihnen werdet!“

Lyria hinter mir drehte beinahe durch. Sie wollte genauso gerne Blut sehen, wie ich es tat, doch mein Jägerkodex verhinderte, dass ich Rumina auf der Stelle den Kopf abriss.
„Was weißt du schon? Ich bin froh, dass ich von Freya groß gezogen wurde und nicht von jemanden wie dir!“
„Deine Schwester hat euch schwach gemacht, aus Angst. In meinem Coven gibt es keine Angst. Wir leben und Sterben für einen Überzeugung! Eine Überzeugung welcher auch du und Iduna beiwohnen solltet.“ Sie hielt einen Moment inne, ehe sie meinen Blick auf eine besondere Art festigte. Ich wusste... das nächste was ihren Mund verließ, würde reine Provokation sein, um einen Krieg auszulösen. „Georgina hätte ein besseres Leben verdient, als das, an der Seite eines Dämons!“

Noch nie in meinem Leben hatte ich eine Wut wie diese empfunden. Für einen Moment hatte ich doch tatsächlich das Gefühl, als würde mein wallendes Blut in heißen Strömen aus mir heraus sickern, ehe ich verstand, was es tatsächlich war... Fell! Ein fauchen entkam meinem verzerrten Maul und meine Zunge konnte zum ersten Mal in meinem bisherigen, entstellten Leben, über eine Reihe, messerscharfer Zähne lecken.

„Lauf... Mäuschen.“ Warnte ich Rumina Cavalar und drei ihrer Anhängerinnen, ehe ich auch bereits los stürmte.

Was danach geschah... Ich konnte es kaum beschreiben. Es war wie ein Rausch. Ich schien mich in einem gänzlich anderen Körper zu befinden, vollgepumpt mit Adrenalin und etwas wilden, dass ich noch nie zuvor gespürt hatte. Aber ich wusste was es war... Das Raubtier in mir. Reflexe, welche aus meiner unterbewussten Jägerinnenblut stammte, gepaart mit dem Instinkt einer wahren Jägerin. Primitiv stürzte ich mich auf den Kopf der Ersten. Als ich ihr Blut schmeckte, empfand ich eine perverse Freude darüber, Beute gerissen zu haben. Die erste in meinem Leben. Doch damit genügte ich mich nicht. Ich musste mehr reißen. Meine Familie vor Eindringlingen Schützen und der Bedrohung ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.

Lyria, meine Gefährtin in diesem Kampf, warf sich auf die zweite Frau, welche in einem erstickenden Schrei das Zeitliche segnete.

Mir sicher, dass meine erste Beute ihr Leben ausgehaucht hatte, warf ich sie beiseite, als sei sie ein Stoffpuppe, wischte mir über den Mund und starrte der weit größeren Bedrohung in die Augen.
Lyria wollte sich bereits auf Rumina stürzen, doch ein Handzeichen von mir und sie hielt inne. Ein Knurren ließ meinen Körper erbeben. Frisches, warmes Blut tröpfelte auf die schwarzen Tüpfel, welche in einem starken Kontrast, zu meinem sonst weißem Fell stand.

Rumina zog ihre Waffe. Dieses Mal, schien sie auf mich vorbereitet zu sein, doch ich war es ebenfalls. Noch ehe meine Feindin abdrückte, hatte ich mich bereits in die Luft katapultiert, die Kugel zischte lediglich Millimeter von meinem inneren Oberschenkel vorbei und hätte definitiv meinen Bauch getroffen, hätte ich nicht rechtzeitig reagiert.

Jedoch hatte Rumina nicht gänzlich darüber nachgedacht, welches Manko ihre Waffe befand. Ja, Schrot war definitiv schmerzhafter, wenn es in den Körper eines schnell heilenden Wesens eintrat, doch die Ladezeit, welche eine solche Waffe bedurfte, war es bei weitem nicht Wert.
Siegessicher lief ich auf sie zu. Alles wurde schwarz, und ich fand mich über der dritten Leiche wieder. Mein Schwanz! Ja mein Schwanz, peitschte verärgert hinter mir von links nach rechts, während ich nach weiteren Bedrohungen Ausschau hielt. Aber nein. Da war niemand.
Niemand, außer einer am Boden knienden Lyria.

Langsam kam ich wieder zu Sinnen und die Hitze verließ mich. Nur einen Moment später, stand ich in zerfetzter Kampfmontour vor Lyria und legte verwirrt den Kopf schräg, während ich metallisches Ausspuckte. „Igitt! Blut!“ Stellte ich schockiert fest. Angeekelt spuckte ich noch mehrere Male aus, doch der Geschmack ließ sich nicht so leicht loswerden, wie gehofft.

„W-Was bist du?“ Fragte Lyria mich auf einmal und mir wurde bewusst, dass meine Kleidung erhebliche Risse aufwies. Ach deshalb liefen Therianthrophen hier unten, also stets nackt herum. Da hatten es die Werwölfe einigermaßen besser, da sich ihre Kleidung, zusammen mit deren menschlicher Gestalt auflöste, wenn sie zum Wolf wurden.

„Ähm... Ein Karakar oder Serval, oder sowas. Zumindest denken wir das.“ Während ich die Worte aussprach, bemerkte ich erst, wie dumm das war. Nein, ich hatte doch Tüpfel gesehen!

„Du... Du hast ausgesehen wie mein Bruder, nur weiß!“ Stieß sie nun hervor und schien immer noch völlig überrumpelt zu sein, von dem, was sie gesehen hatte.

„Es gibt keine weißen Jaguare oder Leoparden.“ Korrigierte ich sie.

„Nein...“ Entgegnete sie atemlos. „Ich habe... Ich habe noch nie einen gesehen, aber ich habe davon gehört. Sie sind... Sie sind heilige Wesen!“

Ungläubig warf ich meine Hände in die Luft. „Also echt jetzt! Dein ernst? Weiße Tiger und Löwen so wie schwarz Jaguare und Leoparden, sind eine Schande der Natur. Aber ein weißer Leopard ist auf einmal heilig? Was ist das denn für eine Verkackte Logik?“

 

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Als der Liftboy mit einem >Bing< vor mir erschien, zog er irritiert die Brauen hoch, doch sagte nichts zu meinem entstellten Outfit. „Passiv, aggressive, künstlerische Freiheiten.“ Rechtfertigte ich mich, ehe ich einstieg und mich hinter ihm, an die Spiegelwand lehnte. Der Junge nickte lediglich, dann drückte er den obersten Knopf.

Als ich ins Apartment trat, war es fürchterlich still. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es weit nach Mitternacht war. Das Gesicht hatte ich mir gewaschen und meinen Mund ausgespült, um das schreckliche Blut los zu werden, doch so richtig sauber fühlte ich mich trotzdem noch nicht. Meine Jacke hatte eigentlich am ehesten überlebt, während meine Hose, so wie mein Shirt nicht mehr zu retten waren. Seufzend verbannte ich einfach alles davon in den Mülleimer, dann trat ich unter die Dusche.

Eine weiße Leopardin also. Davon hatte ich noch nie gehört. Während ich, hinter einem Unfall, in einem zehn Minütigen Stau gestanden hatte, hatte ich mein Handy zu Rate gezogen und tatsächlich einen winzigen Eintrag im öffentlichen Netz darüber finden können. Albino Leoparden und Jaguare waren noch viel seltener, als weiße Löwen, Tiger, so wie, schwarze Leoparden und Jaguare. Im Grunde war es nichts außergewöhnliches, nichts einzigartiges. Es war schlichtweg... zu selten. So selten, dass >wir< bösen, bösen Jäger einfach noch nie ein Exemplar zu Gesicht bekommen hätten.

Aber irgendwie, passte es doch, richtig? Vetjan, der schwarze Leopard und Haven, die, nicht so reinrassige, weiße Leopardin. Wenigstens war meine Färbung nicht so skandalös, wie die der anderen Wandler.

Seufzend ließ ich meinen Kopf gegen die Fliesen der Duschkabine sinken und wünschte mir sehnlich Vetjan her. Von Lyria hatte ich leider nicht mehr allzu viele Informationen erhalten. Sie war einfach zu perplex gewesen, um nur einen klaren Satz zu formen. Schlussendlich war sie zurück zu ihrem Gefährten gelaufen, hatte mich einfach stehen gelassen, um ihn nach seinem Rat zu fragen.

Ich war gegangen. Ich konnte einfach nicht länger auf das Blutbad hinab schauen, welches ich angerichtet hatte. Würde ich nicht das Blut auf meiner Zunge schmecken, oder gar die zerrissene Kleidung sehen... würde ich glatt denken, ich wäre kurzzeitig im Körper von jemand anderem gesteckt.

Seltsam zittrig auf den Beinen, blieb ich nicht in meinem Schlafzimmer. Stattdessen zog ich frische Kleidung an und schlich mich hoch ins Zimmer von Iduna. Natürlich schlief sie noch immer tief und fest. Als ich mich jedoch an sie kuschelte, seufzte sie erneut den Namen, welchen ich bereits einmal von ihr gehört hatte. „Illian...“

„Wer ist Illian?“ Erkundigte ich mich leise, doch erhielt einmal mehr keine Antwort.

Morgens weckte mich Iduna, indem sie mich an der Schulter rüttelte. „Was machst du in meinem Bett?“ Fragte sie gähnend und entwandt sich meiner Schraubstockartigen Umarmung.

Ich gähnte meinerseits und folgte ihrem Beispiel. „Dasselbe wie du.“

Sie schenkte mir einen genervten Blick, doch erwiderte nichts darauf. „Wieso bist du dann in meinem Zimmer? Hast du kein eigenes?“ Zog sie mich frech auf.

Für einen Moment überlegte, weshalb ich eigentlich zu Iduna gegangen war. Weil ich mich... schrecklich fühlte? Einsam war und mich vor mir selbst ekelte... mich selbst nicht mehr verstand? Aber wie sollte ich Iduna nur erklären, was ich letzte Nacht getan hatte... Ich hatte doch tatsächlich Leben zu verantworten.

Na gut, es war vielleicht nicht das erste Mal, dass ich tötete, aber danach hatte ich stundenlang geweint, mich schrecklich gefühlt und habe tagelang gezittert. Heute jedoch... Heute hatte ich mich >gut< dabei gefühlt. Ich hatte einen ernst zu nehmenden Gegner mit meinen eigenen Händen zur Strecke gebracht!

„Sag bloß, du bist schon zu alt geworden, um mit deiner großen Schwester ein Bett zu teilen.“ Argumentierte ich nun meinerseits, da ich das Geschehene einfach vergessen wollte.
Iduna rollte mit den Augen und stand auf, um zu ihrem Kleiderkasten zu gehen. „Stell dir vor, das bin ich tatsächlich bereits!“ Schnurrend rollte ich mich im Bett herum, wie eine faule Katze... Oh! Ich konnte doch tatsächlich schnurren.
„Was war das denn?“ Fragte Iduna, plötzlich misstrauisch geworden.

Ich runzelte, gespielt irritiert die Stirn. „Anscheinend kann ich doch schnurren. Witzig.“ Ich lachte leicht übertrieben, doch sie schien es überhaupt nicht zu bemerken, dafür war sie sichtlich noch zu müde. „Aber von dir sehe ich auch eine ganz neue Seite.“ Bemerkte ich nach kurzem Schweigen. Währenddessen hatte sich Iduna bereits ins Bad zurück gezogen, um sich zu waschen und frisch einzukleiden.
„Was meinst du?“ Fragte sie in normalem Plauderton aus dem Bad, während ich etwas lauter rufen musste.
„Wer ist denn dieser Ominöse Illian?“ Irgendetwas fand seinen unwilligen Fall zu Boden und kam poltern auf den Fliesen auf. Zumindest war es nicht Iduna.

„Äh... Ähm... Illian, wer?“ Fragte sie völlig nervös, während ich ihr Herzklopfen förmlich bis hier her rasen hören konnte.

„Sag du es mir. Du hast seinen Namen, voller Leidenschaft heute Nacht gestöhnt.“ Ärgerte ich sie übertrieben.

Mit hochrotem Kopf, so wie einer Tube Zahnpasta in der Hand, erschien sie wieder in ihrem Zimmer. „Ich habe gestöhnt?“

Kichernd grinste ich hämisch zu ihr auf, ehe sie bemerkte, dass ich bloß einen Scherz machte. „Oh Mann! Du bist so blöd!“ Uh, das klang ja beinahe wie ein Fauchen!

„Und, wer ist er? Ein anderer Student? Ist er süß?“

Iduna wurde noch röter und machte daher am Absatz kehrt, zurück ins Bad. „Er ist niemand wichtiges!“ Erläuterte sie, nicht gerade informativ.

„Stehst du auf ihn?“
„Igitt!“ Kam es aufmüpfig zurück. „Natürlich nicht!“
„Also, kennst du einen Illian an deiner Uni!“

Für einen Moment schwieg Iduna, ehe ein kleinlautes „Ja, ich kenne einen Illian...“ erklang.
„Und? Stehst du auf ihn?“ versuchte ich es gleich noch einmal.
„Unsinn! Und jetzt hör auf, so etwas zu sagen. Du bist peinlich.“

Betroffen fasste ich mir ans Herz. Autsch! Teenager waren wirklich gemein. „Dann sag mir wer er ist, sonst muss ich ihn noch persönlich in der Uni besuchen gehen.“

„Na viel Glück dabei!“ Murrte sie, mit der Zahnbürste im Mund. Okay, natürlich konnte ich unter den tausend Schülern dort, nicht einfach so einen Illian ausmachen. Wer wusste schon, wie viele Illians dort wohl herum liefen?

„Er wäre niemand, wenn wenn du seinen Namen nicht nachts nennen würdest.“

„Da ist nichts, verdammt noch mal!“ Empörte sie sich aus dem anderen Raum.
„Ist er gemein zu dir? Oh! Er ist ein Lehrer, richtig? Du stehst auf einen...“
Iduna trat aus dem Bad und bewarf mich mit einem Handtuch. „Jetzt gib endlich Ruhe! Ich will wirklich nicht darüber sprechen.“

Seufzend gab ich nach und warf das Handtuch zurück. „Na gut. Aber dafür machst du das Frühstück. Sonst löchere ich doch weiterhin mit Fragen.“

Sie stöhnte Frustriert, dann verschwand sie ein letztes Mal im Bad. Wenig später hörte ich sie ein Stockwerk tiefer in der Küche werken, also war es ihr scheinbar sehr wichtig, dass ich nicht nachhakte. Ich tat es auch nicht. Lieber drehte ich mich, mit Tränen in den Augen, herum und suchte Trost in einem ruhelosen Schlaf.

Die kommenden Tage waren der reinste Horror für mich. Mein Körper fühlte sich mittlerweile... geradezu ausgeglichen an, doch mein Geist rannte, als würde er keine Müdigkeit mehr verspüren können. Nicht nur, dass mich meine Schuldgefühle für das plagten, was ich getan hatte. Zudem verfolgte mich Angst, wegen dem, was nun geschehen würde. Was würde die Organisation nun gegen mich unternehmen? Würde meine Familie unter meinem schrecklichen Fehler leiden?

Und dann war da noch Vetjan... Himmel, ich kannte ihn doch nicht einmal! Trotzdem setzte mein verdammtes Herz einen Sprung aus, wenn ich an sein umwerfendes Lächeln dachte, an die Blicke, mit denen er mich bedacht hatte. Als sei ich das schönste Wesen, welches jemals auf Erden gewandelt war! In seinen Armen hatte ich mich nicht nur wohl gefühlt, sondern auch sicher. Nun war es so, als würde ein verdammter Teil von mir fehlen. Und das... Das wurde mit jedem einzelnen Tag immer schlimmer.

Natürlich bemerkte meine Familie die Veränderung. Sie wussten, dass etwas nicht mit mir stimmte, doch sie respektierten scheinbar, dass ich nicht bereit dazu war, zu reden. Ich konnte es nämlich nicht. I-Ich wusste einfach nicht wie ich mich ausdrücken konnte.

Die Tage schwammen einfach so vor sich dahin... Die aufkommenden Szenarien spielten sich immer und immer wieder in meinem Kopf ab. Was würde nun geschehen. Wie viel Schaden hatte ich meiner Familie zugefügt? Und was war mit Vetjan? Vermisste er mich so sehr, wie ich ihn?

Wah! Ich hielt es kaum noch aus. Mein Kopf platzte, die Decke schien sich immer tiefer und tiefer auf mich herab zu bewegen, während mich das nagende Gefühl von Schwäche immer fester packte. Ehe ich mich versah, sprang ich mitten in der Nacht aus meinem Bett. Ich musste einfach laufen. Etwas anderes tun, als darüber nachzudenken, was alles passieren könnte. Das machte mich wirklich verrückt!

Ehrlich gesagt, machte ich mir nicht einmal Sorgen um meine Aufmachung. Dass ich lediglich in kurzen Shorts, so wie einem seidenen Trägershirt, die Treppen bis ins Erdgeschoss hinunter lief, war mir dabei völlig egal. Den letzten Teil musste ich mit dem Lift hinunter fahren, um dort in meinen Wagen zu steigen.
Hatte ich denn nicht... laufen wollen? Nein, dort wo ich hin wollte, musste ich so schnell wie es mir möglich war, hin kommen! Es war wie ein Sog, welcher an mir zog, mich vorwärts riss und beinahe ertrinken ließ, wenn ich nicht bald Halt finden würde.
Sekunden... Nein, Millisekunden dauerte es noch... Dass ich mir Strafzetteln einhandelte, war mir völlig egal. Es interessierte mich auch überhaupt nicht, denn es betraf mich nicht wirklich. Nichts zählte mehr, abgesehen von diesem peinigenden Sog!
Ehe ich mich versah, stand ich am nächstgelegenen Eingang zur Kanalisation und schob dort eine Tonne bei Seite. Stöhnend zwang ich mich hinein und war kein Stück erfreut über die Kälte der Wände.

Als ich drinnen war, lief ich ohne nachzudenken los. Aber nachzudenken, war auch überhaupt nicht notwendig. Mein Körper wusste auch so, wohin ich musste und dass so gut wie jede Sekunde zählte. Ich bog an Kurven ab, welche ich in all den Jahren noch nie gesehen hatte, zog an einem verwirrten Wandler vorbei, welcher sich so sehr über mein plötzliches auftauchen, so wie verschwinden erschrak, dass er glatt die Wände hoch ging. Immer schneller trugen meine Beine mich, bis ich das Gefühl hatte zu fliegen.

Mir war nicht kalt, ich war nicht erschöpft und meine barfüßigen Sohlen taten noch nicht einmal weh, als ich so über den Beton trampelte. Irgendwie hatte ich zwar eine Ahnung, was mich antrieb, doch so richtig verstehen wollte ich es noch nicht, da ich dieses Gefühl noch nie in meinem Leben empfunden hatte.

Ich bog um weitere Ecken. Raste in einer Geschwindigkeit durch die Kanalisation, welche mancher bestimmt als >halsbrecherisch< beschrieben hätte, aber ich fühlte mich vollkommen sicher. Es gab keinen Grund mich um meine körperliche Verfassung zu sorgen, denn etwas anderes, lag mir tonnenschwer im Magen.

Plötzlich... Ohne dass ich es erwartet hatte, verging das Gefühl und reine Erleichterung durchströmte mich. Da hockte etwas dunkles, in einem ebenso dunklen Gang. Als normaler Mensch, oder gar als Jägerin, hätte ich es als Schatten abgetan, doch mein wilder Blick, erkannte die Umrisse dieses Mannes ohne Zweifel. So klar, als stünde ich ihm bei hellem Sonnenschein gegenüber, musterte ich seinen zusammengefallenen Körper. Vetjan hatte seine Arme kraftlos um seine Beine Geschlungen und sein Rücken war schwächlich gekrümmt. Es schien fast so, als hätte ihn jegliche Lebensfreude einfach verlassen.

Mein Herz verkrampfte sich, als er trübe den Blick hob. Ich wusste es plötzlich... Das hier hat mich angetrieben. Mein Gefährte... Langsam, um ihn nicht zu erschrecken, ging ich in die Hocke und legte meine, viel zu hellen Finger, an seine, beinahe, nachtschwarze Haut. Seine Augen glühten in einem solch schönen Grün, dass ich nichts weiter tun konnte, als ihn anzulächeln. Vetjan... „Es tut mir so leid, Vetjan... I-Ich war einfach so dumm, verstehst du. Alles ist einfach so... so unwirklich.“ Das war alles, was ich über die Lippen brachte. Es war alles, was ich sagen konnte, den mehr fiel mir einfach nicht ein, als ich nun, schuldbewusst, vor ihm saß. Es war meine Schuld! Nur weil ich ihn so lange hier unten alleine gelassen hatte. Ohne Familie, ohne Clan, ohne... mich! Es ist alles einfach meine Schuld. Sein gesamter Zustand!

Therianthrophe benötigten den Zusammenhalt einer Familie. Für sich alleine konnten sie kaum überleben. Besonders nicht, wenn sie wie Vetjan waren!

Mit einem Mal keimte Hoffnung in seinen wunderbaren Augen auf, sodass sie beinahe wie Sterne im Dunkeln leuchteten. „Schwörst du es, mein Himmel? Lässt du mich bei dir bleiben? Ich ertrage keinen weiteren Tag mehr ohne dich...“

Wahrere Worte waren vermutlich nie gesprochen worden. So viel Sehnsucht und Hoffnung sprachen daraus hervor, wie es kein gebrochenes Wesen, wie Vetjan es eigentlich mehr fühlen sollte.

Er hatte... Natürlich hatte Vetjan gedacht, dass ich ihn hier unten zurückließe. Dass ich ihn verstieß, so wie alle anderen es ebenfalls getan hatten, seit er zum Mann gereift war und nicht mehr den Sonderstatus >Kind< einnahm.
Langsam schienen die Lebensgeister in ihn zurück zu kehren und er packte mich an den Armen. „Ich will dich! Ich brauche dich!“ Seufzte er, während er meinen Geruch tief in sich aufnahm und sich darin suhlte, als sei ich eine längst verloren geglaubte Droge. „Ich kann keine Sekunde mehr ohne dich sein, sonst zerplatze ich, Rotfuchs.“
Ich erschauderte unter der Intensität seiner Worte. Nichts und niemand hatte mich jemals so sehr berührt wie Vetjan. Und dabei meine ich nicht bloß das körperliche, was offensichtlich zwischen uns sehr gut funktionierte. Es war auch der geheime Wunsch nach etwas, dass bloß uns alleine gehört. Etwas, dass uns niemand nehmen oder streitig machen konnte. Einen Platz, sei er auch noch so klein, welchen wir mit niemanden jemals teilen mussten, oder uns entrissen wurde. Vetjan war so sehr mein, wie ich die sein war. Das zeigte doch vor allem meine Verwandlung ganz deutlich. Ich war ein Spiegelbild seiner selbst.

„Ich brauche dich auch, Vetjan. Sofort!“ Dieses Mal ließ ich mich ohne zu zögern gehen. Ich blendete meine Umgebung völlig aus. Vergaß was wir waren, wo wir uns aufhielten und dass wir überhaupt keinen Plan für die Zukunft hatten.

Gierig nahm ich seinen herrlichen Geschmack in mir auf, während sein kratziger Bart über meine empfindliche Haut kratzte. Seine Hände rieben viel intensiver über meinen Körper, als jemals zuvor und schienen mich regelrecht in ihn hinein quetschen zu wollen.
Ich hörte Stoffe reißen, doch konnte dessen Ursprung nicht wahr nehmen. Das einzige was ich wahr nahm, war Vetjan. Seinen Duft, seine Muskeln, der Geschmack seines gesamten Körpers... Mein! Alles gehörte mir. Das alles würde ich niemals wieder hergeben, nicht einmal für den ach so wichtigen Sauerstoffen, welchen jedes Lebewesen benötigte.
Aber ich benötigte Vetjan nicht nur körperlich, sondern ebenso für meine Psyche. Das war auch der Grund, weshalb ich ihn, splitterfasernackt und ohne zu zögern, mit zum Auto schleppte. Die meiste Zeit schaffte ich es kaum, mich auf das Autofahren zu konzentrieren, doch das war auch nicht wichtig. Ich benötigte etwas für uns, dass uns diese verdammte Kanalisation niemals geben konnte. Oder gar das Apartment hoch oben, über Springgan. Nein, es musste etwas anderes sein. Etwas dass mir etwas bedeutete und Sicherheit schenkte. Ehe ich mich versah, stand in der Einfahrt, hoch zu meinem Familienhaus. „Nimm die Schlüssel aus dem Fach da.“ Ich deutete auf das Handschuhfach, doch als Vetjan es geöffnet hatte, starrte er lediglich verwirrt dort hinein.

Schmunzelnd deutete ich auf die goldenen, so wie silbern Schlüssel. „Das mit der Maus darauf.“ Er nahm das klimpernde >etwas< heraus und hielt es mir fragend hin. Ich nickte und stieg aus, anstatt es ihm abzunehmen. „Na komm schon.“

„Wohin?“ Fragte er verwirrt und folgte mir in geduckter Haltung. Er hatte Angst, dass sah man Vetjan ganz deutlich an. Bisher hatte er sich noch nie so ungeschützt bewegt.
„In mein Elternhaus. Hier bin ich groß geworden.“ Hellhörig musterte er das Haus mit den kleinen Fenstern, welche den best möglichsten Schutz boten, welche man vor Kreaturen der Nacht nur besitzen konnte. Natürlich besaß das gesamte Haus keinen Schutz gegen Therianthrophen. Das wäre ja auch etwas zu paranoid gewesen, da sich diese Wesen niemals im freien bewegen würden.

Als ich abwartend neben der Türe stehen blieb, musterte Vetjan mich neugierig. „Was tun wir hier?“

„Ich will dich für einen Tag... Eine Nacht, in deinem Fall, entführen.“

„Wozu?“

Ich schmunzelte. „Damit wir für uns sind, Dummkopf. Hier stört uns kein Therianthroph, kein Jäger, noch nicht einmal eine kleine Maus.“ Witzelte ich amüsiert.
„Und wie kommen wir da hinein? Soll ich ein Fenster für uns einschlagen?“

Lachend legte ich eine Hand auf auf seinen Oberarm. „Ganz ruhig, Vetjan. Es wäre einfacher, wenn du einfach die Schlüssel in deiner Hand benutzen würdest.“
Mit einem seltsamen Blick, bedachte er meine Hand auf seinem Arm. Er wirkte... irgendwie Glücklich, doch da war noch mehr. War es Unglaube?

Zärtlich streichelte ich mit den Fingerspitzen hoch zu seiner Schulter und lehnte mich an ihn. „Es ist der viereckige, in silber.“

Fragend sah er in meine Augen und schien sich darin genüsslich zu verlieren. Als Vetjan sich nicht weiter bewegte, sondern mich einfach nur anstarrte, stieß ich ihn sanft einen Schritt vor. „Na los jetzt. Sonst holen wir uns noch eine Erkältung!“

Verlegen suchte Vetjan besagten Schlüssel und versuchte Ratlos sein Glück. Stolz sah ich dabei zu, wie Vetjan etwas vollkommen menschliches, zum aller ersten mal in seinem Leben tat. Er öffnete eine Eingangstüre. Das mich so etwas simples einmal dermaßen berühren würde, konnte ich selbst kaum glauben.

Schmunzelnd küsste ich seine Schulter, sobald er es schaffte den Schlüssel, richtig herum, ins Schloss einzuführen.
„Und nun? Es tut sich nichts.“
„Du musst ihn noch drehen.“ Bei dieser Lektion half ich ihm ein wenig, doch die Klinke drückte er ganz alleine hinunter.

„Es riecht nicht nach dir hier.“ Murrte er mit erhobener Nase.
„Ich bin auch bloß selten hier. Bisher haben meine Schwester, mein Schwager und meine Neffen hier gelebt.“

„Haben sie es dir weggenommen?“ Fauchte Vetjan ärgerlich, während ich wieder abschloss.
„Nein, ich bin gegangen, weil sie, bis auf meine Schwester, Werwölfe sind.“ Er knurrte auf eine kätzische Art. „Keine Sorge, sie sind sehr liebe Menschen. Aber leider... vertrugen sich unsere anderen Seiten auf dauer nicht so gut miteinander.“ Kicherte ich verlegen.

Vetjan legte beide Arme um meine Taille. „Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du bereits mit einem anderen Mann zusammen gelebt hast.“

Schmunzelnd schlang ich meine Arme um seinen Nacken. „Er ist der Gefährte meiner Schwester. Und meine Neffen sind noch Kinder. Du musst dir also überhaupt keine Gedanken machen. Du bist... mein Erster und Einziger Mann.“

Vetjan lehnte sich zu mir herab und hauchte mir einen sanften Kuss auf die Lippen. Enttäuscht sah ich ihm hinterher, da ich nicht mehr als nur das erhielt. „Und ich habe nur für dich überlebt. Ich wusste, du bist dort draußen und würdest mich eines Tages wiederfinden.“

Tadelnd schüttelte ich den Kopf. „Das konntest du doch überhaupt nicht wissen können! Wir waren Kinder, Vetjan und haben uns nicht mehr als drei Sekunden lang gesehen.“

Er zog mich noch fester an seinen Körper. „Ich habe drei Sekunden lang den strahlenden Sonnenhimmel gesehen. Deshalb wusste ich es.“

Verlegen senkte ich den Blick, während mein Herz, wie verrückt klopfte. „Tut mir leid, dass ich es so lange nicht begriffen habe... und du so gelitten hast, Vetjan. Ich wusste nicht, dass du...“
Er hob sanft mein Kinn an, damit ich ihm wieder in die Augen blickte. „Es wäre dein gutes Recht gewesen, dich von mir abzuwenden. Ich bin...“
„Du bist perfekt!“ Entgegnete ich, ehe er den Satz beenden konnte. „Du bist mehr als perfekt, Vetjan. Du bist so stark, dass ich neidisch bin, aufrichtig und direkt. Ich kenne niemanden, der mutiger ist als du, Vetjan.“ Oder verständnisvoller... „Ich weiß, wir kennen uns noch überhaupt nicht und das will ich ab diesem Moment ändern. Unter anderem, habe ich dich deshalb hierher gebracht. Dadurch kannst du meine Welt kennenlernen und... und wir sehen einfach, wohin es uns führt...“

Er nickte, während er seine Stirn gegen meine sinken ließ. „Alles was du willst, meine Liebste.“

 

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Wenn ich etwas nicht beschreiben konnte, dann waren es meine Gefühle für Vetjan. Oder gar, wie sich Liebe genau anfühlte. Freya hatte die unerwartete Chance gehabt, Milan erst kennen zu lernen, ehe sie sich in ihn verliebt hatte. Ja, gut. Ihr Start war ein wenig... kompliziert gewesen, doch trotz beider Vorurteile, waren sie nun glücklicher als jemals zuvor. Somit konnte ich mich an deren Beispiel nicht messen.

Mehr jedoch, hatten meine unerwarteten Gefühle eine Ähnlichkeit zu der von Gini, meiner wenig älteren Schwester, welche verschollen war... Nein, >geflohen< war eher das Wort, welche ihren Abgang beschrieb. Wie oft hatten wir versucht sie ausfindig zu machen, zu erfahren, wohin zum Teufel sie verschwunden war und wie es ihr ging? Doch das einzige was wir hatten, war Idunas unheilvolle Vision über Gini.

Natürlich war ich wütend auf meine Schwester, weil sie uns einfach so zurück gelassen hatte. Aber trotz allem ist sie meine Schwester und wenn ich nun ihre Familienfotos, welche wir Iduna zu liebe abgehängt hatten, nun schmerzhaft betrachtete, ließ es mich an die Guten Zeiten mit ihr erinnern.

Gini war mir, ehe sie so abweisend geworden war, eine gute Schwester gewesen. Sie hatte viel mit mir gespielt, mich ermutigt stets stärker zu werden und hatte zu jeder Zeit ein Strahlen in mein Gesicht gezaubert. Einst hatte sie sich mit mir verschworen, sodass wir unseren Eltern einen Streich mittels unserer Kräfte gespielt hatten. Natürlich war er nicht besonders ausgereift gewesen, genauso wenig wie unsere Kräfte. Trotzdem sind mir dies meine liebsten Erinnerungen an sie.

„Noch eine deiner Schwestern?“

Vetjan war, ausnahmsweise einmal, ohne Probleme, aus der Dusche gestiegen und hatte sie sogar selbst abgedreht. Ich war sehr stolz auf ihn. Nach nur drei Tagen konnte er schon ein paar >menschliche< Sachen ganz alleine erledigen. Nun ja, an seiner Intelligenz hatte ich auch keine Sekunde gezweifelt. „Georgina, meine zweit älteste Schwester.“
Vetjan legte den Kopf schräg. „Ich habe hier noch kein Bild von ihr gesehen.“ Und ja, dieses Wort hatte ich ihm beigebracht! Er wusste wie man mit einem Fotoapparat umging und war mehr als begeistert davon. Vetjan liebte, zu meiner großen Überraschung, die Fotografie.

„Sie lebt auch nicht mehr hier. Sie hat sich... von uns abgewendet und lebt nun mit einem Dämon zusammen. Zumindest soweit wir es sagen können.“
„Wie lange ist sie schon fort?“

„Ein paar Jahre...“ Antwortete ich ausweichend und Vetjan erkannte, dass ich das Thema nicht vertiefen wollte.

„Du siehst viel hübscher aus, als sie.“ Versuchte er mich aufzumuntern, doch scheiterte damit so kläglich, dass ich doch willkürlich Lächeln musste. Spinner!

„Nun ja, ihre Zeit wird auch nicht spurlos an ihr vorbei gegangen sein. Wenn sie sich so weiter entwickelt hat, wie sie da gewesen ist... Muss sie heute eine richtige Schönheit geworden sein.“ Überlegte ich laut und streichelte mit dem Daumen über das alte Familienfoto, von Freya, Gini, Iduna und mir. Es war ein Jahr nach dem Unfall unserer Eltern gewesen.

Vetjan streichelte über mein frisch gewaschenes Haar. „Willst du es weiter versuchen?“
Seufzend packte ich die Kiste wieder zurück in den Schrank, dort wo es Freya bisher aufbewahrt hatte und schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann es ja doch nicht, so wie ihr. Ich bin eben keine richtige Therianthrophin. Damit werde ich mich abfinden müssen.“

„Unsinn!“ Empörte sich Vetjan, so wie ich es stets tat, wenn er sich selbst schlecht redete. „Du bist-...“ Das klingeln des Haustelefones, ließ ihn erschrocken herum fahren, während er gleichzeitig in seine gefährliche Halbverwandlung schlüpfte. Zornig fauchte er seine potenziellen Gegner an, doch ich bezweifelte, dass sich die Telefongesellschaft jemals freiwillig einen Kampf einem Wesen wie ihm liefen wollen würde.

Schmunzelnd streichelte ich über seine Schulter. „Schon gut, das sind bloß meine Schwestern.“ Beruhigte ich ihn.

„Das Geräusch ist furchtbar!“ Brauste mein Gefährte auf. Etwas dass ich nur zu gerne nachempfinden konnte, doch es half nichts.

Einen Moment später ging ich ran. „Ja?“

„Hi, ich bin es, Iduna.“ Flötete meine Schwester nervös.

„Was gibt es? Ist alles in Ordnung bei euch?“

„Ähm... Ja... Schon, wieso fragst du?“

Ich runzelte irritiert die Stirn. Weshalb stammelte meine Schwester denn so nervös? „Nun, ja. Freya hat versprochen, dass ihr euch nur meldet wenn es sich, um einen Notfall handelt.“

„Oh!“ Stieß sie erschrocken hervor. „Ach ja, das tut mir so leid! I-Ich war nur so aufgeregt und habe nicht gleich nachgedacht...“ Im Hintergrund erklang die Durchsage eines Busses und kündete die nächste Stadtion, mit dessen Umstiegsmöglichkeiten an.

Schmunzelnd lehnte ich mich an das halbhohe Regal, welches sich, als überraschend bequem herausgestellt hatte. „Schon gut. Was gibt es denn, Süße?“

„Nun ja. Ich hätte da etwas, worüber ich mir dir und Freya unbedingt so bald wie möglich sprechen müsste. Hast du eine Ahnung... Also könntest du dir schon denken, wann du eventuell wieder für ein paar Stunden entbehrlich sein könntest? Ich weiß von Freya, dass Gefährten gerade am Anfang, in den ersten paar Wochen eine Auszeit füreinander brauchen. Und es tut mir auch total leid, dass ich dich stören muss...“
Lachend bremste ich ihr nervöses Geplapper aus. „Idy! Stopp. Sag einfach, was dir am Herzen liegt. Und ich schaue, dass ich dir helfen kann. Versprochen.“

Sie seufzte erleichtert auf der anderen Seite der Leitung. „Ähm... Nun ja, es geht darum, dass ich euch beiden jemanden vorstellen muss. Du weißt ja noch... Diesen Killian, nachdem du mich gefragt hast... I-Ich denke... ihr solltet ihn auch kennenlernen.“
Mein Herz klopfte vor Aufregung, als ich das hörte! Iduna, meine kleine, unschuldige, viel plappernde, süße Schwester, hatte endlich ihren ersten Freund! Ich hatte größte Mühe meine Nerven zu bewahren und musste daher erst einen Moment lang die Luft anhalten, ehe ich mich räusperte und wieder halbwegs sachlich klang. „Gut, ja natürlich sehr gerne. Soll ich, am Wochenende oder so, hoch in die Wohnung kommen?“

Ich hörte Iduna nervös mit ihren Fingernägeln auf etwas klappern. „N-Nein, das dauert zu lange und ich schiebe das ohnehin bereits so lange vor mir her... Wie wäre es... mit morgen? Zum Mittagessen? Oder später?“

Mein Grinsen breitete sich so sehr über mein ganzes Gesicht aus, dass es schon beinahe schmerzhaft wurde. Meine kleine Schwester wurde endlich erwachsen! Ich war ja so stolz! „Gut, ja morgen zum Abendessen klingt machbar. Davor kann ich Vetjan in der Kanalisation absetzen, falls er nicht alleine hier bleiben mag.“ Schlug ich vor und fühlte lediglich einen Moment später, Vetjans Finger, an meinem Unterarm. Sanft schloss er mich in eine Umarmung. Natürlich wollte er nicht, dass ich weg ging. Auch wenn es sich in diesem Fall nicht unbedingt um einen Notfall handelte, so musste ich trotzdem für meine kleine Schwester da sein. Und wenn sie einen großen Schritt vorwärts machte, auf dem Weg, eine tolle Erwachsene zu werden, dann würde ich sie mit allem Unterstützen, was mir zur Verfügung stand. Ohne Ausnahme!
„Perfekt! Du bist die Beste! Danke, Haven. Ich habe dich Lieb!“

Gerührt seufzte ich. „Ich habe dich auch lieb, Iduna.“

14. Iduna Ridder – Männer sind einfach Scheiße!

Fertig angezogen, betrachtete ich das Outfit, welches mir meine Schwester vor Monaten einmal mitgebracht hatte, da sie der Meinung war, es würde mir unsagbar gut stehen. Zugegeben, es passte wie angegossen und schmeichelte meinem Hautton. Zudem kamen besonders meine Augen zur Geltung, nun da ich mein Haar zu einem lockeren Zopf gebunden hatte. Doch konnte die Tatsache, dass ich heute einmal wirklich hübsch aussah, ausschließlich dank Havens Sinn für Mode, nicht darüber hinweg täuschen, wie unsagbar langweilig ich neben ihr wirkte. Haven hatte so gut wie alles. Sie besaß eine Figur, welche zum Anbeißen war, strahlende Augen, flammendes Haar und ein Lächeln, dass Herzen höher schlagen ließ...

Nur, wieso musste ich mir ausgerechnet jetzt wieder Gedanken darüber machen, wie normal ich im Gegensatz zu ihr wirkte? Noch dazu besaß Haven Narben, wodurch man doch eigentlich sagen könnte, es rundete ihren, sonst viel zu perfekt wirkenden, Look ab. Es gab ihr etwas... verwegenes.

Kopfschüttelnd, klatschte ich mit den Handflächen auf meine geröteten Wangen. Zum Himmel noch eins! Das konnte doch nicht wahr sein! Konzentriere dich, Iduna Ridder!

Gut. Okay... Ich schaffe das heute! Es ist ja nicht so, dass ich meinen Schwester einen Bruder vorstelle, von dem ich bisher, als Einzige etwas gewusst hatte... und das bereits seit Wochen! Zur Hölle, jetzt fühlte ich mich wieder mies! Gut gemacht Gewissen!
„Idy? Bist du fertig? Der Portier hat bereits den Wagen vorfahren lassen.“

Ich seufzte und ließ den Kopf hängen, während ich mitten in meinem Zimmer stand. Sollte ich das alles nicht noch ein wenig länger aufschieben? Immerhin... was konnte ich ihnen schon über Illian erzählen? Einen jungen Mann, den ich eigentlich immer noch nicht so richtig kannte.

Ein Räuspern erklang hinter mir und ich fuhr erschrocken herum. „Romeo? Was ist los?“

„Du bist bedrückt.“ Stellte er sachlich fest, als würde er mir das offensichtliche erzählen.

Schmunzelnd ging ich vor ihm in die Hocke. „Das hast du bemerkt?“
„Ist nicht zu übersehen.“ Bemerkte er neunmalklug, woraufhin ich kicherte.

„Okay, du hast recht. Ich fühle mich nicht so gut, weil ich heute deiner Mama und deiner Tante etwas erzähle, von dem ich schon viel länger etwas weiß, als sie es tun.“
Neugierig geworden, schloss er die Türe hinter sich. „Ist es etwas schlimmes? Bekommst du dafür ärger?“
„Nö, ich denke nicht. Na gut, sie werden sich bestimmt nicht darüber freuen, da deine Mama es gewohnt ist mich zu beschützen... Und Tante Haven... Nun ja, sie ist jemand... der die Dinge einfach gerne selbst in die Hand nimmt.“
„Also hast du etwas böses angestellt.“
Kichernd wuschelte ich ihm durch sein feines, dunkelbraunes Haar und betrachtete einen Moment lang dessen wunderschönen, so wie aber auch furchterregenden roten Iriden. Währen die nicht das Zeugnis von seiner wahren Herkunft, könnte man glatt annehmen, er sei ein empathischer Jäger. Nun ja, auf seine Weise war er das wohl dann aber auch. Immerhin sind Werwölfe genau das. Familienbewusst, Reviertreu, so wie wilde Tiere, wenn man sie reizte. „Nein, nicht wirklich. Und das werden die beiden auch noch einsehen, wenn sie so weit sind. Versprochen.“ Ich zwinkerte meinem Neffen zu, ehe ich wieder auf die Beine kam und mich einmal genüsslich streckte, woraufhin ich jedoch dann wiederum mein blödes Kleid richten musste. „Bis später, Romeo. Und ärgere deinen Papa nicht zu viel.“

Ich verließ mein Zimmer und schloss mich meinen beiden Schwestern an. Haven sah, wie immer, einfach himmlisch aus. Sie trug einen schwarzen Anzug, der ihre Beine besonders betonten, während sie oben hin, eher zugeknöpft war.

Freya selbst musste ich, beinahe schon ärgerlich, aus Milans Griff entwinden. Er maulte etwas beleidigt darüber, dass sie viel zu heiß aussah, als dass er seine Gefährtin so auf die Straßen lassen würde.

„Du spinnst ja! Ich habe Wachstumsstreifen, von deinen vier Söhnen, Schwabbeltitten vom vielen Stillen und meine Beine haben auch viel zu wenig Training gehabt, die letzten Jahre. Ich kann froh sein, wenn nicht alle Männer schreiend davon rennen, sobald ich das Lokal betrete.“

Milan knurrte ärgerlich und zog Freya mit mehr Nachdruck, als nötig an sich, ehe er sie leidenschaftlich küsste und ihren Lippenstift dabei praktisch inhalierte. Angeekelt wandte ich den Blick ab. Igitt... Erwachsenengeknutsche!

„Die werden alle schreiend davon rennen, wenn sie es wagen auch bloß einen Blick nach dir zu riskieren, denn ich werde ihnen die Haut abziehen und ihre Augäpfel-...“ Freya schlug ihrem Gefährten mit der Hand auf den Mund.

„Milan! Kinder!“ Zischte sie ärgerlich, wenngleich sich im Moment alle vier wieder im oberen Stockwerk befanden. Obwohl dies mit deren Supergehör nichts zur Sache tat.

„Ich will es nur gesagt haben!“ Knurrte der Alphawerwolf, mit, vor Zorn, geröteten Iriden. Im nächsten Moment legte sich sein Ärger wieder und sein Blick glitt ein weiteres Mal über dessen Gefährtin. „Und danach werde ich dich vergessen lassen, dass es noch andere Männer, außer mich gibt.“

Vor Scham gerötete Wangen, wandte Freya den Blick, dem Boden zu. Also schaffte es Milan, trotz der letzten zehn gemeinsam verbrachten Jahren, immer noch Freya zu beeindrucken und ihre Gunst zu gewinnen, wann immer er es darauf anlegte. So stellte ich mir wahre Liebe vor.

Jemanden, selbst nach Jahrzehnten noch dermaßen zu lieben, ein ganzes Leben mit eben dieser Person verbracht zu haben und dennoch... dennoch einander niemals überdrüssig zu werden. Einander zu überraschen und da zu sein für einander, egal in welcher Lebenslage man sich auch befand.

„Idiot.“ Murrte meine Schwester, doch küsste ihren Mann liebevoll auf die Wange. „Pass gut auf unsere Jungs auf.“

„Und du erwarte nicht, das Kleid später noch einmal anziehen zu können, wenn du heim kommst.“

Ich wusste, Milan hatte es bestimmt flüstern wollen, trotzdem hörten Haven und ich seine Worte viel zu deutlich. Kichernd wandten wir unsere Blicke, der Eingangstüre zu. Nur, um eine Moment später jeweils einen Klaps auf den Hinterkopf zu erhalten. „Ihr habt nichts gehört. Ist das klar?“ Knurrte Freya, fast so furchterregend, wie eine richtige Wölfin.

Schweigend grinsten wir sie an und folgten ihr aus dem Hotel. Natürlich hatte es sich Haven nicht nehmen lassen, ihren Sportwagen frischen Wind spüren zu lassen. Sehr zum Leidwesen, unserer aller Frisuren! Vierzig Minuten später standen wir an einem sündhaft teurem Restaurant. Normalerweise wartete man Monate, um dort einen Tisch zu ergattern, doch für Haven schien stets einer reserviert zu sein. Nun ja, bei dem Trinkgeld, welches sie gerne gab, war es ja eigentlich kein Wunder...

Als ich ausstieg, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als wieder auf dem Rücksitz platz nehmen zu können. „Das war eine blöde Idee... Lasst uns doch wieder heim fahren!“ Bettelte ich, erfolglos.

Sehr zu meinem weiterem Leidwesen, strich mir Freya eine lose Strähne hinter das Ohr und kniff mich anschließend neckend in die Wange. „Dir muss dieser Kerl ja wirklich wichtig sein.“

„Nicht nur das. Sieh nur wie rot sie schon ist.“ Schloss sich Haven dem neuen Spiel >ärgern wir den Teenager< an.

Missmutig, schenkte ich den beiden blöden Kühen einen Blick, welcher sie eigentlich in Rauch aufgehen lassen sollte. Nun ja, zum Glück beherrschte ich solche Kräfte nicht. Zu deren Glück, verstand sich...

„Ha. Ha. Wenn ihr glaubt, dass ihr witzig seit, dann habt ihr euch getäuscht.“

Haven legte einen Arm um meine Schultern und zog mich in das Restaurant hinein. „Ach, das ist bloß deine bescheide Meinung.“
„Ich finde uns witzig.“ Schloss sich Freya Haven an.

Danke... Genau das brauchte ich... Zwei Schwestern die mich ärgern und... Illian!

Mein Herz machte einen überraschten Satz, als ich ihn, lässig an der Bar gelehnt, stehen sah. Mein Mund klappte auf und ich konnte meinen Puls für einen Moment lang nicht mehr kontrollieren. Er sah... Wow... Einfach nur Wow! Auch wenn Illian in seiner Lederkluft cool aussah, stand das kaum zur Debatte, wenn man ihn in einem schwarzen Anzug gesehen hatte! Seine rotbraunen Haare hatte er zurückgekämmt, was seine kantigen Gesichtszüge unter diesem Licht noch deutlicher zur Geltung brachte.

„Idy? Was ist?“ Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich stehen geblieben war und errötete nun peinlich berührt, als mir bewusst wurde, dass ich da eben meinen Bruder schmachten anstarrte.

Zur Hölle, was stimmt bloß nicht mit mir? Bin ich verrückt? Oder einfach bloß bereits dermaßen verzweifelt, dass ich einen ekelerregenden Fetisch entwickelt hatte? Bin ich vielleicht sogar einfach bloß krank und Halluziniere? Ja, genau daran musste es liegen!

Ich wollte eben dazu ansetzen, einfach kehrt zu machen, als Illians Blick den meinen Traf. Oh nein! Oh nein! Oh nein! Oh nein! Hatte er mein Gaffen etwa bemerkt? Meine Wangen strahlten doch nicht, wie ein Atomkraftwerk, oder?

„Bist du krank?“ Erkundigte sich Freya mütterlich und wollte mir bereits an die Strin greifen, als ich mich auch schon, nicht gerade ladylike, aus den aufdringlichen Fängen meiner Schwestern rettete, indem ich mich aus Havens Umarmung wand und unter Freyas ausgestreckten Arm hindurch tauchte.
„Benehmt euch!“ Zischte ich, wobei ich es doch war, der man das sagen sollte.

Mit möglichst so viel Würde, wie ich noch aufbringen konnte, schritt ich auf Illian zu, welcher auf seine Uhr am Handgelenk schielte. „Ihr seit pünktlich.“ War seine Begrüßung, welche jedoch wie ein Vorwurf klang.
„Dir auch einen schönen Abend.“ Gab ich schnippisch zurück.
„Was ist mit dir? Hast du Fieber?“

Hach... Nicht er auch noch! Ich rollte mit den Augen und stöhnte genervt. „Es war eine windige Fahrt hierher. Ignoriere es einfach. Jetzt komm.“

Haven und Freya waren, heimlich zu uns schielend, an den Empfang getreten. Haven musste nicht einmal ihren Namen sagen, denn der Mann, welcher dahinter stand, grüßte sie, als sei sie eine alte Freundin, welche zu Besuch kam.

„Dann bringen wir es mal hinter uns.“ Stöhnte Illian, extrem genervt klingend, während er ein schweres Getränk, geradezu hinab stürzte. Ich runzelte die Stirn, doch kommentierte seine Trinkgewohnheit natürlich nicht. Was wusste ich schon davon, wie viel Illian vertrug, oder eben nicht?

„D-Der Anzug steht dir.“ Murmelte ich halblaut, während ich auf fast lautlosen Sohlen, neben Illian her ging.
„Ich hasse Anzüge.“ Kam es von ihm zurück, was ich beinahe schon erwartet hatte. Zu meinem Outfit sagte er natürlich nichts!

„Benimm dich, wenn wir bei ihnen sind!“ Zischte ich, einen Moment, ehe wir in Havens Hörweite kamen. Hm... irgendwie hatte ich das Gefühl, so etwas heute schon einmal gesagt zu haben. Vielleicht hatte ich ja recht und Illian passte besser in diese Familie, als mir bisher bewusst gewesen war?

Endlich standen wir vor Haven und Freya, welche einen vielsagenden Blick wechselten. Natürlich bedeutete dieser nichts Gutes, denn immerhin dachten sie noch immer, ich würde ihnen Illian, als meinen festen Freund vorstellen. Da ich niemanden besser kannte, als diese beiden, ahnte ich bereits, dass sie von meiner Herrenwahl bei weitem nicht begeistert waren. Na wo sie recht hatten... Aber das würden sie auch noch verstehen.

„Freya und Haven Ridder, richtig?“ Galant nahm Illian, jeweils besagte Hand entgegen und gab beiden einen keuschen und vor allem altmodischen Handkuss auf den Handrücken. „Es ist mir eine große Freude, Sie beide endlich kennen zu lernen.“ Ich wusste in diesem Moment nicht recht, wem von uns der Kiefer tiefer gesunken war. Mir, weil Illian die beiden tatsächlich umwerfend, höflich anlächelte, oder die meiner Schwestern, aufgrund seines altmodischen Auftretens? Ich war, im Gegenteil zu meinen Schwestern, jedoch sprachlos geworden!

„D-Danke. Und du bist Illian Leroy, richtig?“ Begann Haven. „Bisher hat sich Iduna ja eher geziert und wollte uns nicht wirklich etwas über dich erzählen.“
„Leider, man kann ihr ehrlich nichts aus der Nase ziehen.“ Witzelte Freya, leicht nervös. Offenbar wusste sie nichts mit der Situation anzufangen. Haven war diesbezüglich jedoch weitsichtiger. „Oh, wollen wir vielleicht an unseren Tisch gehen? Im sitzen lässt es sich doch bequemer tratschen.“

„Liebend gerne, die Damen. Darf ich euch die Mäntel abnehmen?“

Ich zu meinem Teil schaffte es noch immer nicht meinen Mund zu öffnen. Während Illian so unfassbar freundlich und zuvorkommend meinen Schwestern gegenüber war, schien es fast, als sei ich Luft für ihn. Nun war ich beeindruckt und gekränkt im gleichen Maße! Wie schaffte er das bloß immer wieder?

„Danke, du bist wirklich sehr aufmerksam.“ Lobte Freya Illian überschwänglich.

„Vielen Dank, Illian. Ja, das ist richtig nett von dir.“ In einer flüssigen Bewegung übergab er die Jacken an den zuständigen Mann, welcher die Mäntel, darunter auch meinen, nachdem ich ihn selbst übergeben hatte, in Verwahrung nahm.

Nachdem wir zum Tisch geführt worden waren, schob Illian meinen Schwestern den Stuhl zurecht, während ich mich plump auf den meinen fallen ließ. Also wenn meine Miene nicht aussagte, wie fassungslos ich war, wusste ich auch nicht weiter...

Ein Kellner kam, um unsere Bestellungen entgegen zu nehmen, doch wir bestellten einheitlich bloß spritziges Wasser. Eigentlich trank ich es lieber mit einer Zitrone darin, doch ich fühlte mich auch so bereits ausgeschlossen genug.

Was stimmte hier nicht? Bin ich durch diese Türe gegangen und in einem, mir vollkommen fremden, Paralleluniversum gelandet? Illian war so freundlich, wie bereits seit Wochen noch nie und meine Schwestern hingen geradezu an seinen Lippen! Hier stimmte doch irgendetwas beim besten Willen nicht!

Mein Denken verabschiedete sich jedoch in dem Moment, in welchem sich Illian, auf die Ellenbogen gestützt, über den Tisch zu mir lehnte und etwas schalkhaftes in meine Richtung flüsterte. Für einen Moment hatte ich das unglaublichste Gefühl auf der ganzen weiten Welt. Ich starrte in seine wunderschönen Ozeanaugen und fühlte mich praktisch, wie von der Meeresströmung hinfort gerissen. Entführt in eine Märchenwelt, in welcher es ausschließlich ihn und mich gab.

Blinzelnd riss ich mich los und verzog das Gesicht. Hatte er mich etwa vorhin, als aufdringliches Gör beschrieben? Moment, um was ging es überhaupt? „Hä?“ Fragte ich genauso dämlich, wie ich mich fühlte... Warte, was?

„Wo wir uns kennen gelernt haben, wollte Freya wissen, Dummerchen. Willkommen zurück in der Realität.“ Tadelte er mich lachend, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen, welches er eben aus einem Tagtraum geholt hatte. Ich musste mir ordentlich auf die Zunge beißen, um nicht etwas genauso bissiges zu erwidern!

Räuspernd strich ich über mein, ohnehin perfekt sitzendes Kleid und hoffte inständig, damit meine Nervosität abwischen zu können. Dann lassen wir die Katze eben mal aus dem Sack... „Ich... Ähm, Illian ist nicht von meiner Uni, so wie ihr dachtet.“ Zögerte ich das unvermeidliche hinaus. Himmel noch mal, weshalb fiel es mir nur so schwer die Wahrheit auszuspucken? Sonst konnte ich doch auch kaum meine Klappe halten!

Meine Schwestern nickten wortlos und hingen dabei an meinen Lippen, als würde ich ihnen einen Actionroman vorlesen und eben zum spannendsten Teil kommen.
Erneut öffnete ich den Mund einen Spalt, doch kein Ton drang aus meiner Kehle hervor. Mein Blick verfing sich ein weiteres Mal in dem Ozeantiefen von Illians Iriden... Plötzlich wurde mir bewusst, was nicht stimmte. Weshalb ich diese vier Worte nicht aussprechen konnte. Denn... wenn ich sie aussprach... würden sie wahr werden!

Räuspernd kam ich auf die Beine. „I-Ich komme gleich wieder, gebt mir bitte einen Moment!“

Ich rauschte an dem Kellner vorbei, welcher eben unsere Essensbestellung aufnehmen wollte. Haven würde schon wissen, was ich essen möchte und für mich das übliche mit bestellen. Ich selbst jedoch, eilte in einem Tempo, dass laufen ähnelte, auf die Toiletten zu und warf hinter mir die Türe zu. Mit pochendem Herzen zog ich mich vorwärts, bis ich die Waschbecken erreichte. Dort klammerte ich mich an die Marmorablage und keuchte so heftig, als sei ich Kilometerweit gerannt. Mein Kopf drehte sich, mein Puls raste und mein Herz zog sich krampfhaft zusammen.

„Verdammt!“ Fluchte ich und wischte mit einer ärgerlichen Handbewegung, die perfekt gestapelten Handtücher von ihrem Platz, zwischen den vier Waschbecken. „Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ Fluchte ich und erblickte etwas, dass ich nicht sehen wollte. Mein Spiegelbild!

Eine einzelne, unerwünschte Träne hatte sich aus meinem Augenwinkel gelöst und lief nun lautlos meine gerötete Wange hinab, während ich mich selbst durch zusammengekniffenen Augen an funkelte. „Was zur Hölle denkst du dir eigentlich?“ Fragte ich mich selbst mit zornerfüllter Stimme. „Bist du... bescheuert? Doch! Ja, klar das muss es sein! Ich bin einfach irgendwann einmal als kleines Kind auf den Kopf gefallen.“ Ich lachte hysterisch auf. Was dachte ich mir da eigentlich? „Du hast es doch von Anfang an gewusst, Iduna! Illian ist...“ Ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal. „Illian ist dein...“

Ärgerlich kniff ich die Augen zusammen und wünschte mich an einen ganz anderen Ort. „Illian ist dein...“ Ich fluchte zischend. „Er ist dein Bruder, du dumme Gans!“ Stockend betrachtete ich mein Spiegelbild... „E-Er ist... Illian i-ist dein Br-Bruder....“ Keuchte ich atemlos, während meine Brust sich noch krampfhafter um mein Herz schloss. Ja, Leute so sieht es aus... Illian Leroy ist mein Bruder. Er ist... mein Bruder und ich... bin eine Verrückte, denn wie jeder weiß verlieben sich normale Geschwister nicht ineinander. Und... Und wenn ich nicht normal bin, dann kann ich doch bloß noch verrückt sein, oder?

Stöhnend ließ ich mich wieder gegen das Waschbecken fallen. „Er ist dein Bruder, du blöde Gans!“ Wiederholte ich beinahe lautlos. „Dein verdammter Bruder!“ Was bedeutete, ich durfte mich unter keinen Umständen in ihn verlieben. Nur... Wieso zur Hölle tat ich es dann? Wie war so etwas nur bei einem geistig normalen Menschen möglich?

 

- - - - -

 

Haven Ridder:

Ich bin keiner der Menschen, die das Unheil vom Dach riefen, wenn es bevor stand. Jedoch bekam ich mehr und mehr das Gefühl, dass hier irgendetwas gewaltig schief lief. Freya, welche Iduna irritiert hinterher gestarrt hatte, schenkte nun mir einen Blick, der mir bewies, dass sie dasselbe dachte wie ich.

„Ich werde mal nach ihr sehen.“ Entschuldigte sie sich und ich gab dem Kellner einen Wink, dass wir noch ein wenig Bedenkzeit benötigten. Illian, welcher selbst verwirrt wirkte, blinzelte mit gerunzelter Stirn.

Vielleicht war ich nicht unbedingt die Spezialistin bei Teenagerlieben... aber zwei verliebte sahen einfach völlig anders aus. Als wir das Restaurant betreten hatten, hatte ich eine gewisse Spannung in der Luft, deutlich wahrnehmen können. Idunas Herzschlag war rapide in die Höhe geschnellt und ihr Herz hatte einen Freudessprung nach dem anderen gemacht, sobald sie Illian erblickt hatte.

Gut, ich musste zugeben, dass Illian deutlich zu alt sein musste für sie. Zudem stand er nach Tönungsmittel, wenn auch bloß dezent und bloß für eine solch spezielle Nase wie mich wahrnehmbar.

Als er sie jedoch dann angesehen hatte... Für einen Moment hatte ich tatsächlich befürchtet, ihm würde das Glas aus der Hand fallen. Ich hatte schmunzelnd neben Freya gestanden und war mir, trotz meiner Einwände bewusst gewesen, dass Illian in meiner kleinen Schwester etwas ganz anderes, als einen Zeitvertreib sah.

Sobald die beiden jedoch einander gegenüber gestanden hatten, hatte sich deren Chemie schlagartig verändert. Illian war passiv und abweisend geworden, während Iduna geradezu durch die Decke gehen zu wollen schien. Natürlich hatte ich es auf einen, noch nicht beendeten, früheren Streit geschoben. Doch mittlerweile, hatte ich das Gefühl, dass hinter alldem so viel mehr steckte.

Iduna hatte uns etwas sage wollen. Etwas, dass ihr schier das Herz zerrissen hat und Freya und mir einen Stich im Herzen versetzte. Nur, um was ging es?

Seufzend nippte Illian an seinem Glas, ehe er mir seine Aufmerksamkeit zuwandte. „So hatten du und deine Schwester euch sicherlich nicht den Abend vorgestellt, richtig?“ Versuchte er es humorvoll, was ich ihm hoch anrechnete.

„Ehrlich gesagt, ist er doch recht spannend geworden.“ Belächelte ich seine Wortwahl. „Ich nehme an, Iduna hat es verdient, egal aus welchem Grund du sauer auf sie sein magst.“

Illian warf einen verstohlenen Blick in die Richtung, in welche Iduna verschwunden war. „Sagen wir... sie macht es mir nicht gerade einfach.“ Man merkte, wie sehr er versuchte, nicht zickig zu klingen.

Ich lehnte mich vor, um etwas mehr Vertrautheit zwischen uns zu schaffen. „Sie ist ein offenes Buch, Illian. Ich verstehe nicht, weshalb du versuchst ihr alles so schwer zu machen.“

Illian lehnte sich seinerseits vor. „Iduna übertritt einige Grenzen, die ich strickt ziehe. Sie ist sehr offen, ja. Aber das macht es auch einfacher sie zu beleidigen und zu verletzen. Und ja, sie gibt sich große Mühe mit offenen Karten zu spielen, jedoch bevorzuge ich es, aus Sicherheitsgründen für mich zu bleiben.“

Ich wusste selbst wie offenherzig Iduna war. Feurig, auf eine ganz liebevolle Art und Weise. Mit ihr befreundet zu sein, war eines der einfachsten Dinge auf dieser Welt. Sie nicht zu lieben fast unmöglich. Was man jedoch dabei glatt übersehen konnte, war die Tatsache, dass Iduna auch eine junge Frau geworden war. Hier war vermutlich eben der Punkt gekommen, in dem ich Idunas Ehre verteidigen sollte. Der Moment, in dem ich Illian klar machen sollte, dass er meine kleine Schwester ohnehin nicht verdient hatte, besonders da sie noch so unfassbar jung in meinen Augen war. Sie mag vielleicht siebzehn sein, doch in meinen Augen war sie keinen Tag älter als sechs Jahre...

Was jedoch aus meinem Mund kam, war etwas gänzlich anderes. „Du schätzt es vielleicht für dich zu bleiben, ich jedoch habe zu meinem Teil noch nie gesehen, dass Iduna sich für etwas engagiert, dass sie nicht interessiert. Ich bin mit Iduna aufgewachsen, als wären wir Zwillinge. Seit dem Tod unserer Eltern verbrachten wir so gut, wie Tag und Nacht zusammen. Ich weiß nicht, was oder wie viel sie darüber erzählt hat, oder ob sie es überhaupt je erwähnt hat. Aber Iduna bindet sich grundsätzlich bloß an ihre Familie. Sie mag... naiv erscheinen, da sie ausgesprochen gutmütig ist, ja. Okay, vielleicht ist sie es sogar ein wenig.“ Gab ich unter schmunzelnden schwesterlichen Stolz zu. „Aber auf was ich hinaus will, ist, dass Iduna sich bloß Mühe bei Leuten gibt, die sie liebt... oder zumindest diejenigen, die ihr wichtig sind. Und du bist ihr wichtig, das merkt man.“

Illians Blick trübte sich, als er bemerkte, dass ich versuchte ihm etwas unterschwellig klar zu machen und seine Stirn runzelte sich erneut. „Was willst du mir damit sagen?“

Ich erkannte in seinen Augen, dass ihm die Bedeutung dessen, im selben Moment klar geworden war...

„Genau das was du gerade denkst, Illian.

Bisher hat sich Iduna aus persönlichen Gründen von der Liebe eher fern gehalten. Seit ein paar Wochen jedoch... scheint sich auf dies bezogen etwas verändert zu haben. Was... mehr oder weniger gut ist. Wie du bestimmt weißt, ist sie etwas übereifrig... aber sie besitzt die treuste und aufrichtigste Seele, die ich kenne.“

Illian wirkte plötzlich seltsam grüblerisch.
Wenn ich jedoch an den Blick dachte, den er Iduna geschenkt hatte, zu beginn. Wie er sie angesehen hatte... als gäbe es plötzlich nur ihn und sie auf dieser Welt. Das hatte... mich doch tatsächlich neidisch gemacht. Ja, Illian war danach augenblicklich verschlossen geworden, aber in diesem anfänglichen Moment, hatte er, wenn auch bloß für Sekunden, Gefühle durchblicken lassen.

Andererseits bin ich etwas entsetzt, dass sich Iduna für einen deutlich älteren Typen interessierte. Einen Mann in meinem Alter, der gänzlich das Gegenteil von ihr zu sein schien, gefiel mir nicht so recht.

 

- - - - -

 

„Illian ist... was?“
Erschrocken fuhr ich herum und starrte entgeistert in die Augen, welchen meine bis auf ein paar Nuancen gefährlich ähnelten. Freya, meine älteste und stärkste Schwester stand in der Türe, welche, beinahe lautlos, hinter ihrem Rücken zufiel und starrte mich mit offenen Mund an.

„Oh...“ War alles, was in diesem Moment meinen Mund, irrationalerweise verließ.

„N-Nichts da >oh<! Hast du eben gesagt, dass Illian...“ Sie sah sich prüfend in dem länglichen Raum um und checkte mit einem Blick die geschlossene Türe, ehe sie dennoch ihre Stimme senkte. „...dein Bruder ist? Ähm... Unserer, meine ich. Wie kommst du auf so etwas?“

Somit zur Katze im Sack... Verlegen kratzte ich mich am Hinterkopf. „Nun ja, das war eine Geschichte, die... etwas komplizierter ist.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen, stand meine große Schwester nun vor mir und stemmte ihre Hände in die Hüfte, während eine mütterliche Autorität aus ihr heraus sprudelte. Ich hatte sie sehr, sehr oft diese Geste machen sehen, wenn einer ihrer Söhne etwas angestellt hatten. Es war so zu sagen... Die Lunte, ehe sie in die Luft ging. In einem Eiltempo, ratterte ich die gesamte Geschichte von Illian und mir hinunter, während ihr Ärger sichtlich verflog und lediglich Unglaube zurück blieb.
„U-Und dieser Test ist... er ist echt?“ Erkundigte sie sich und stützte sich neben mir am Waschbecken ab. Ich nickte stumm. Zwar besaß Thomas keinen Test von Illian, um diese Hypothese zu widerlegen, doch die ursprüngliche Bescheinigung wirkte in seinen Augen sehr echt. Außerdem hatte ich ihm bereits vor Wochen verboten weiter in diese Richtung Nachforschungen anzustellen, auf Illians Mahnung hin.

„A-Aber...“ Begann Freya erneut, ehe ihr etwas aufging. „Ach deshalb, hast du dich vor ein paar Wochen nach der Sache mit den Zwillingen erkundigt? Du denkst, dass unsere Eltern Illian weggegeben haben? Nur wieso sollten sie das tun?“

„Das weiß ich eben nicht! Ich zerbreche mir nun schon seit einen Monat den Kopf, aber mir fällt einfach kein triftiger Grund ein. Zudem hätte die Organisation doch irgendetwas darüber gewusst, richtig?“

Freya rieb sich nachdenklich das Kinn. „Eventuell sind Haven und er ja unehelich gezeugt...“ Doch sie schüttelte entschieden den Kopf. „Unsinn, allen Neugeborenen wird Blut abgenommen. Da hätte man es bemerkt.“ Sie seufzte entmutigt.
„Sieh mich nicht so an. I-Ich wollte es euch beiden heute Abend ja sagen.“ Mit verschränkten Armen sah ich in mein verzweifelt wirkendes Spiegelbild. Sah ich tatsächlich so blass und mitgenommen aus? Irgendwie fühlte ich mich, als würde man mir nach dieser Beichte, keine Last von den Schultern nehmen... sondern etwas viel wichtigeres entziehen.

„Iduna...“ Mit einem Mal klang Freyas Stimme wesentlich sanfter und wärmer. Einen Moment später, schloss sie mich in eine liebevolle Umarmung. „Wieso hast du das nur alleine ausgebadet, dummes Kind? Wir sind deine Schwestern und hätten dich doch unterstützt.“

Ich schmiegte mich beruhigt in ihre warme Nähe. Etwas dass mir selbst in meinem Alter, noch immer wohl tat, wie ich peinlich zugeben musste. „Ich weiß, Freya... Ich weiß das, aber...“ Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe.

„Was denn?“ Hakte sie sanft nach.
„Ich liebe euch. Dich, Haven, Milan, meine Neffen... Ihr seit meine Familie und immer zu jeder Zeit für mich da, was ich ja herrlich und beruhigend finde...“
Schmunzelnd küsste sie meinen Scheitel. „Ich verstehe.“ Seufzte sie.

Verwirrt blickte ich zu ihr hoch. „Tatsächlich?“

Sie nickte. „Illian ist endlich einmal etwas gewesen, dass du dir weder mit deinen Großen Schwestern, noch mit nervigen kleinen Neffen teil musstest, nicht wahr?“

Meine Wangen wurden noch dunkler. Das stimmte... „Unter anderem.“
„Unter anderem?“ Fragte sie erneut sanft.
„I-Ihr beschützt mich doch immer... vor so gut wie allem, richtig? Und deshalb beschwere ich mich natürlich nicht!“ Stieß ich mahnend hervor, woraufhin Freya schmunzelte.

„Wir sind dir also zu über griffig.“ Stichelte sie nun.

„N-Nein!“ Erwiderte ich. „Ihr seit toll und ihr habt bis jetzt mein ganzes Leben lang für mich gesorgt. Das ist toll! Wirklich richtig toll!“ Meine Stimme überschlug sich geradezu. „U-Und... Und es klingt total doof, das weiß ich. Aber ihr habt alle eure Aufträge. Haven hat ihre Firma und die Leute in der Kanalisation. Du deine Kinder. Milan hat sein Revier und... und euch... Aber gleichzeitig kümmert ihr euch noch wie verrückt um mich, sodass ich mich einfach so... nutzlos fühle.“

„Nutzlos?“ Freyas Gesichtsausdruck glich entsetzen. „Wie kommst du denn darauf, dass du nutzlos bist, Iduna? Du bist ganz bestimmt nicht nutzlos!“

„A-Aber wer bin ich schon? I-Ich bin eine total unbegabte Seherin der Familie... Ja toll, die vier Visionen, die ich in den letzten siebzehn Jahren gehabt habe, waren so ziemlich der Gipfel meiner... meiner Heldentaten. Ihr müsst mich durchfüttern, mich von >A< nach >B< bringen und habt mich groß gezogen. Aber... Aber das sind alles Dinge, die >ihr< für mich getan habt. I-Ich habe in meinem ganzen Leben noch absolut nichts erreicht. Weder engagiere ich mich für Gestaltwandler, noch kenne ich mich mit >Rudelgepflegenheiten< aus. Ich bin... Ich bin total nutzlos in dieser Familie. Und dann war da auf einmal Illian. E-Er kannte mich nicht und war selbst total überrascht. Eines führte zum anderen und ich bekam die Gewissheit, dass das endlich etwas ist, dass ich für euch sein kann. I-Ich kann uns endlich wieder... nach all den Jahren, zu den vier Ridder-Geschwistern machen.“

Tränen standen in Freyas Augen. Sie konnte es nicht fassen, was ich da aussprach und war völlig von der Rolle.

Ehe sie jedoch irgendetwas erwidern konnte, öffnete sich die Türe und zwei Tratschende Geschäftsfrauen traten ein. Eine zielte direkt auf das dritte und letzte Waschbecken zu, während die blonde von ihnen in Richtung der Toiletten taumelte. Sichtlich Freundinnen, welche mit ihren gestopften Börsen auf den Putz hauten. Aber was wusste ich schon?

„Komm lass uns zurück gehen, Idy.“ Fest zog Freya mich an ihre Seite und küsste mehrere Male meine Schläfe, ehe sie leise flüsterte. „Wir lieben dich so sehr, Idy... Hör bitte auf so wenig von dir selbst zu halten. Du bist mit Abstand das wichtigste unserer Familienmitglieder.“ Schwor sie und trocknete eine letzte Träne, ehe wir zurück an den Tisch getreten waren.

Dort herrschte jedoch ein seltsames Schweigen. „Haven?“ Versuchte ich mit einer hoch gezogenen Braue. Sie jedoch lächelte mich lediglich sanft an.

„So... Illian. Ähm, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber... Idy und ich hatten noch eine kleine Diskussion.“

Für einen Moment fühlte ich mich wie ins kalte Wasser geworfen, doch als ich nun Freyas aufmunternden Blick begegnete, fand ich endlich den Mut das auszusprechen, was ich mir bisher einfach nicht hatte eingestehen wollen.
„Was denn für eine Diskussion?“ Erkundigte sich Haven und schnüffelte unauffällig in meine Richtung. Ich wusste, nach welcher Note sie suchte und wurde schlagartig wieder rot im Gesicht.
„Haven! Das habe ich gesehen!“ Zischte ich in ihre Richtung, ehe ich räuspernd fort fuhr. „Jedenfalls, es geht um Illian und mich.“ Und ja, nun bei jedem weiteren Wort, versuchte ich so gut wie möglich seine Präsenz auszublenden, doch gleichzeitig überkam mich ein schlechtes Gewissen. Als ich den Mund ein weiteres Mal öffnete, zwang ich mich den Tatsachen, und somit auch Illian, in die Augen zu sehen. „Illian ist-...“

„Iduna, hast du noch einen Moment, ehe du weiter sprichst?“ Perplex zog ich beide Brauen hoch. Was denn jetzt schon wieder? Heute würde ich es wohl nicht mehr schaffen, diese Worte auszusprechen, was? Nur was hatte dieses verdammte Universum nur gegen mich?

„Ä-Ähm...“ Stottere ich irritiert. Illian sprang bloß eine Sekunde später auf und reichte mir seine Hand dar. Wie hypnotisiert starrte ich darauf und ehe ich mich versah... lag meine Hand in der seinen. Sie wirkte so... zerbrechlich und klein, im Gegensatz zu der seinen. Es dauerte lediglich einen Wimpernschlag, da schlugen die lila Blitze wieder über. Ich fühlte sie über meine Fingerspitzen zittern, aber nicht bloß mir erging es so. Flüssige Elektrizität sickerte aus seinen Fingerspitzen direkt in meine und erschütterten mich bis in die Zehenspitzen. Wäre ich in diesem kurzen Moment bei Sinnen gewesen, hätte ich mir bestimmt Sorgen, um mein Haar gemacht, da es eigentlich wie wild abstehen musste.

Einen Moment später deutete Illian bereits in Richtung der Bar und entließ meine Hand wieder mir selbst, sobald ich ihn passiert hatte. Dabei kribbelte mein Körper wie verrückt und mein Herz sprang in alle Himmelsrichtungen. Mist! Mist! Mist! Was hatte ich eben zu Freya gesagt? Illian ist unser Bruder. Illian ist unser Bruder. Illian ist unser, gottverdammter Bruder!

„Wieso gehen wir denn an die Bar?“ Erkundigte ich mich und wollte mich ihm zuwenden, da fühlte ich seine Handfläche auch bereits am unteren Teil meines Rückens, direkt in der Beuge, wo bereits Stoff meinen Rücken wieder bedeckte und wurde, etwas grober, als nötig, weiter geschoben.

„Ich brauche Alkohol.“ Raunte er lediglich und gab dem Barkeeper einen Wink. „Scotch bitte. Und für die Kleine ein Wasser.“

Ein Wasser für seinen dämlichen Hitzkopf! Bockig kletterte ich auf den Barhocker, welcher für jemanden wie mich, einfach zu hoch war und verschränkte Arme und Beine, während ich trotzig das Kinn hob. „Einen Brandy bitte, Mitch.“ Bat ich ihn.
„Dein erster Heute, Lady?“ Früher hatte Mitch mich immer >kleine Lady< genannt, was er auch stets gedurft hatte. Er war charismatisch und stets sehr höflich zu jedem gewesen. Selbst wenn ihm die ekelhaftesten Typen anpöbelten oder eine Frau quasi an seiner Brust hing... Niemals verlor er die Farce und behielt seinen Charme bei.
„Leider...“ Murrte ich, woraufhin der Barmann lächelte. Er wusste natürlich, wie sehr ich es hasste, hier sein zu müssen. Aber besonders dieser Abend hatte mir erheblichen Schaden zugefügt. Jedoch keinen, welcher Alkohol für mich lösen könnte, sehr zu meinem Bedauern.

„Das ist etwas zu stark für dich, meinst du nicht, Kleine?“

Das letzte Wort betonte Illian, sehr zu meiner Missgunst. Kaum hatte er dies angesprochen, stand auch bereits ein volles Glas vor mir, ehe er das seine bekam. Ohne die Miene zu verziehen, nahm ich einen kleinen Schluck davon, ließ die herbe Note genüsslich auf meiner Zunge zergehen und schluckte sie anschließend hinab. Nichts ging über die interessanten Geschmacksrichtungen von Alkohol auf dieser Welt. Ich mag vielleicht keine erfahrene Trinkerin sein, doch während mir Wein einfach zu süß war und Bier zu sehr stank, hatten es mir Brandy und Scotch erheblich angetan. Wenn nur mehr Leute auf dieser Welt, diese edlen Tropfen zu würdigen wüssten. Die herben Noten und das erfüllende Gefühl, welches sie stets mit sich brachten.

Ja, ja. Solcher Alkohol war einfach nichts für Jedermann.

Neben mir baute sich Illian auf und stützte seinen rechten Arm auf meiner niederen Lehne ab, während er sich nahe zu mir herab beugte. Damit erzeugte er eine Sphäre, in welcher wir privates miteinander, im Flüsterton, austauschen konnten. Sehr zu meinem Leidwesen, bedeutete es auch, dass mich sein spezieller Duft geradezu überflutete und seine Präsenz versuchte zu überschatten.

Wäre ich ein kleines Kind, hätte ich mich in diesem Moment bestimmt bedroht von ihm gefühlt, besonders da Illian ein finsteres Gesicht machte. Auch wenn ich ihn nicht kennen würde, dann würde ich selbstverständlich ebenfalls Anstoß an seinem drohenden Äußeren finden. Jedoch war ich weder ein kleines Kind, noch waren mir seine lächerlichen >ich halte mich für etwas besseres< Versuche fremd! Dementsprechend erwiderte ich Illians finstren Blick, mit einer trotzigen Miene. „Stell dir vor... Ich bin bereits siebzehn. Vielleicht bin ich nicht so ein massiger Riese wie du, aber meine Geschmacksnerven sind sensibel. Im Gegensatz zu dir, bin ich nämlich eine Genießerin und stürze so etwas leckeres wie >das da< nicht hinunter, wie ein Anfänger.“

Oh, ich schaffte es sogar, dass Illians Miene noch finsterer wurde! Was bin ich doch für ein Idiot. Trotz allem fühlte ich diese unangemessene Nervosität in mir. Herrje, wie konnte, mein eigener Bruder, mich bloß dermaßen durcheinander bringen? Das war einfach so... falsch... und vor allem verwirrend. Ich verzog keine Miene, als ich erneut an dem scharfen Brandy nippte. „Da sieht man mal gleich, dass du keine Ahnung hast, Illian. Nur weil ich viel jammere, macht mich das noch lange nicht zu einer schwachen Persönlichkeit! Und im Gegensatz zu anderen, genieße ich einfach den Geschmack von Alkohol. Ich brauche ihn nicht, damit mir die Birne weich wird, wie dir.“

Herausfordernd funkelten wir uns einen langen Moment an. Ich, da ich nicht fassen konnte, wie dieser Abend ausartete. Illian, sichtlich verärgert, da ich keinesfalls eingeschüchtert war von ihm.

Plötzlich, so unvorbereitet wie ich war, packte Illian mich unsanft am Kinn, um zu verhindern dass ich meinen Kopf wegdrehte, beugte er sich, bis auf wenige Zentimeter, zu mir hinab. Für einen langen Moment dachte ich doch tatsächlich, Illian würde mich küssen. Hier und jetzt... mein Bruder... Doch im letzten Moment drehte er ab, sodass seine Wange, rau an meiner kratzte. Illians Geruch betörte mich mit einem Mal. Er trug ein scharfes Aftershave, welches mir bisher nicht aufgefallen war und von seinen Fingern stieg die Süße einer Handcreme auf. Lieber Himmel... Illian hatte sich so richtig ins Zeug gelegt und jetzt war ich ihm gegen jede Logik einfach verfallen. Trotz all seiner Gemeinheiten. Machte mich das nicht zu einem Masochisten? Oder einfach zu einer völligen Idiotin. Das ist immerhin mein Bruder, verdammt nochmal!
„Die Runde gönne ich dir, aber das mit deiner Familie, lassen wir in Zukunft. Ich habe wichtigeres zu erledigen.“

M-Meine? Nicht unsere? Bitter badeten meine Sinne in Illians Wahnsinns Duft, während er sich zurückzog und wieder zu meinen Schwestern zurück ging. Frustriert über mich selbst, blieb ich an der Bar. „Scheiß Kerle.“ Murrte ich und der Barmann belächelte mich amüsiert.

 

- - - - - 

 

Anstatt ihm augenblicklich zurück zu folgen, blieb ich an der Bar sitzen und nippte noch einige Zeit, langsam, in Gedanken versunken, an meinem Glas. Was sich hinter mir abspielte, verfolgte ich, ehrlich gesagt nicht, deshalb war ich auch über die Maße überrascht, als Illian, mit meiner Jacke in der Hand, plötzlich neben mir erschien.

Blinzelnd blicke ich auf zu Illian und verstehe, selbstverständlich kein Wort. „W-Was soll ich...“
„Sie anziehen! Wir gehen.“ Entschied er, woraufhin mein Blick zu meinen, noch verwirrter, wirkenden Schwestern wanderten. „Jetzt Iduna!“ Befahl er in einem ungeduldigen Tonfall und warf mir meine eigene Jacke ins Gesicht.

Empört schlüpfte ich hinein und folgte ihm. „W-Was soll das? Wir können doch nicht einfach abhauen und unsere Schwestern dort sitzen lassen.“

„Das ist dein kleineres Übel, du wandernde Katastrophe.“ Murrte er und hob, außerhalb des Restaurants eine Hand, um sich ein Taxi heran zu winken.

Störrisch hielt ich inne. „Was soll das werden, Illian? Wieso willst du aus heiterem Himmel aufbrechen? Weshalb muss ich überhaupt mit und was ist mit Freya und Haven?“

Stöhnend blieb Illian vor der geöffneten Türe des Taxis stehen, da er bemerkte, dass ich ihm nicht mehr auf dem Fuß folgte. Fröstelnd zog ich die Jacke enger um mich. Wieso war es bloß heute Nacht so kalt?

Ohne etwas zu erwidern, kam Illian zurück zu mir und bugsierte mich, mit mehr Nachdruck, als unbedingt nötig, hinein in das Taxi.
„Das besprechen wir im Hotel.“

Mein Hintern berührte gerade einmal so die Rückbank, da wurde die Türe auch bereits vor meiner Nase zugeknallt. Ich wollte ja nicht behaupten, dass ich mich herum geschubst fühlte... Aber ja... Irgendwie bekam ich das Gefühl als ob!

Vergessen waren meine irrationalen Gefühle und Zorn brodelte in mir hoch. „Okay, weißt du was? Komm mal von deinem verdammten Egotrip runter!“ Fuhr ich Illian an, welcher dem Taxifahrer sagte, wohin er fahren wollte. „Du kannst weder Haven und Freya einfach so stehen lassen, noch mich mit dir mit zerren, als ob ich dein verdammtes Haustier wäre! Was fällt dir überhaupt ein?“ Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal dermaßen aus der Haut gefahren war. Oder ob es jemals geschehen war. „Stell dir vor, ich bin eine menschliche Person und keine dumme Puppe, die du einfach mit einem Fingerschnipp abschalten kannst.“

Mit zusammen gekniffenen Augen funkelte Illian mich seinerseits gereizt an. „Ich wünschte es wäre so einfach. Aber egal was ich versuche, du hältst nicht einmal für fünf Minuten deine Klappe. Du bist wie eine Aufziehpuppe... die aber hängen geblieben ist und nicht mehr aufhört zu reden.“

Was zu viel war, war einfach zu viel! Ich hielt es einfach nicht mehr aus mit Illian. Wieso fühlte ich mich überhaupt zu diesem Schwein hin gezogen? Er ist doch bloß abweisend, gemein und überhaupt! Plötzlich fühlte ich mich selbst viel zu Schade für jemanden wie Illian und ich wollte ihn nicht einmal mehr als Familienmitglied wissen. Ich war einfach so wütend und enttäuscht... ich konnte es kaum in Worte fassen.

„Lass mich aussteigen.“

Einen Moment lang schien Illian meine Worte zu überdenken, ehe er, wie zu erwarten, ein „Nein.“ von sich gab.

„Illian, lass mich aussteigen, ich will keine Sekunde mehr mit dir in diesem Taxi verbringen.“

Er grunzte amüsiert. „Das hättest du dir vor Wochen bereits überlegen sollen. Aber nein, du bist wie eine Klette, die man einfach nicht los wird.“

Ach wirklich? Jetzt machte er sich auch noch über mich lustig? Erst ignorierte er mich wochenlang und hielt mich auf Abstand. Und jetzt wo ich furchtbar wütend und enttäuscht war... fand er mich einfach bloß noch >amüsant<?

„Ich hasse dich.“ Hauchte ich halblaut. Eigentlich hatte es wie ein hasserfüllter Vorwurf klingen sollen, doch mehr als ein Flüstern entkam meiner verengten Kehle einfach nicht mehr.

Als er nichts darauf erwiderte, sondern einfach wieder hinaus in den schwarzen Sternenhimmel blickte, dachte ich über alles nach. Allem voran ermahnte ich mich, meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Dass ich etwas für jemandem Empfand, hatte ich mir zwar immer gewünscht, aber dies hier, mit Illian, war als hätte ich mich in Milan verknallt. Ekelhaft und völlig fehl am Platz.

Milan, welcher definitiv nicht direkt zu mir durch sein Blut verwandt war, hatte ich stets nur geschwisterliche Gefühle entgegen gebracht. Ja, ich liebe ihn und ich schaue auch zu ihm auf. Aber genauso empfand ich zu meinen anderen beiden Schwestern ebenfalls. Illian jedoch >ist< mit mir verwandt. Zu ihm darf ich diese Art an Gefühlen überhaupt nicht haben.

Gegen jede Logik faszinierte er mich dennoch. Sein herber Geruch, seine Art, sein Aussehen... ja selbst seine Berührungen brachten mich durcheinander. Brachten mein Herz dazu sich fehl zu verhalten und mein Bauch meldete sich ebenfalls nervös. Das alles war einfach so falsch, sagte mein Kopf. Nur wann würde dieser Gedanke bloß endlich mein Herz erreichen können?

 

- - - - -

 

Einige, recht schweigsame Minuten später, stand ich dann also da... Illian hinter mir, welcher die Türe verschloss und sich mit verschränkten Armen an sie lehnte. Mein Herz klopfte aufgeregt, mein Magen rebellierte und ein Zittern glitt durch meinen Körper, dass ich nicht zu beschreiben vermochte. Himmel... sein Blick brannte geradezu auf meine Haut!

Um dieser unangebrachten Empfindung entgegen zu wirken, stellte ich mich Illians Zorn. Mit ihm zu streiten war bei weitem einfacher für mich, als mich diesen Gefühlen auszusetzen. Stoisch erwiderte ich Illians forschenden Blick. „Okay, sag was du zu sagen hast, damit ich endlich nach Hause kann.“ Forderte ich.

Anstatt auf meine Forderung einzugehen, hob er einen Arm vor sich, streckte alle fünf Finger in die Höhe, als würde er einen Ball halten und atmete tief durch. Während er sprach, glühte ein lila, weißes Licht zwischen seinen Fingerspitzen auf. „Kannst du sie sehen?“

„Deine Magie?“ Fragte ich. „Natürlich.“

Illians Blick glitt von seinen Fingerspitzen, zu mir, dann wieder zurück. Als wären sie ein lebendiges Wesen, ballte sich seine Kraft auf, formte sich zu einer Art Schlange und wurde immer länger. Als besäße sie ihren ganz eigenen Willen, reckte und streckte sie sich, direkt auf mich zu, bis sie an die drei Meter lang, gegen meine entgegen gestreckte Hand stieß. Dort wand sie sich um meinen Arm, hoch zu meiner Wange, um an ihr zu >lecken<? Ein anderes Wort beschrieb es nicht wirklich. Flüssige Hitze zuckte durch meinen gesamten Körper und erfüllte mich mit einem wohltuenden, entspannenden Gefühl „Bemerkenswert!“ Lobte ich die violette Elektrizität. Wie konnte bloß so etwas gefährliches, derart wunderschön und liebevoll sein?
Ich schmiegte meine Wange an den >Kopf< des Geschöpfs, als es meinen Hals kitzelte. Illian selbst bemerkte ich erst, als er direkt vor mir stand. Er umfing mich mit beiden Armen, als ich kichernd versuchte dem seltsamen Wesen auszuweichen. Verblüfft blickte ich zu ihm auf, ließ mich einmal mehr von dem scharf, herben Geruch umfangen, der mich an irgendetwas erinnern zu wollen schien.

„Sie will dich statt meiner haben.“ Er hatte mich so fest an seine Brust gedrückt, dass ich keine Chance hatte in seinem Gesicht etwas lesen zu können. Da ich jedoch diese Art der Zuneigung sehr genoss, schlang ich meinerseits meine Arme, um seinen Rücken. „Aber ich kann sie dir nicht abtreten. Nicht jetzt.“

Verwirrt blinzelte ich an Illians Anzug gelehnt. „A-Aber man kann seine Gabe nicht weitergeben.“

Illian schmunzelte an meinem Haupt. „Natürlich nicht.“
Seine Worte verwirrten mich noch mehr. Zuerst entführte er mich, doch jetzt kuschelte er mit mir und redete Unsinn? „Bist du sicher, dass dir der Scotch nicht zu Kopf gestiegen ist? Du bist irgendwie seltsam.“

„Bedank dich bei deiner Schwester. Sie hat mir verraten, dass du mir diese ganze Farce hier so schwer wie nur möglich machen wirst.“

Farce? Was? „Ich habe ehrlich keine Ahnung, was du da zusammen redest.“

Illian rückte etwas von mir ab, sodass ich meinen Oberkörper wieder bewegen konnte, doch nicht von ihm abrücken. Nicht dass ich dies in diesem Moment gewollt hätte. „Sehr gut, das macht das folgende einfacher für mich.“

Ich setzte zum Sprechen an. Wollte erneut nach dem Grund seines seltsamen Verhaltens fragen, als seine Lippen bereits auf meinem lagen. Ein Kuss, so hart und verzweifelt, dass er seltsam perfekt zu Illian passte, ließ meinen gesamten Körper erstarren.

Während mein Kopf noch zu verstehen versuchte, was gerade eben geschah, reagierte mein Körper ganz instinktiv. Ich streckte mich seinem Kuss entgegen, legte meine eigenen Gefühle hinein, die so...falsch waren, obwohl sie sich richtig anfühlten. Seine Hand in meinem hochgebundenen Haar, glitt in meinen Nacken, in welchen auch seine magische >Schlange< lag. Beide drängten wir uns näher aneinander, ungewollt angezogen von einer Energie, die keiner von uns kannte. Niemand von uns je zu benennen versuchte und doch...

Bevor Illians Zunge durch meine Lippen brechen konnte, schob ich mich weg von ihm. Die Energie, welche uns beide umschlungen gehabt hatte, zuckte zurück, wie ein aufgescheuchtes Tier, knisterte und fauchte, während es in Illian verschwand, der mich atemlos anstarrte.

Nach Worte ringend, oder viel mehr Atem, schnappte ich nach Luft und fasste mir schockiert an die heiß prickelnden Lippen. Was... hatte ich getan? Was hatte Illian getan? Das war... mein erster Kuss gewesen.

Unglaublich, ja. Das war mit Abstand der beste Kuss aller Zeiten für mich gewesen, auch wenn ich, ehrlich gesagt, keinen Vergleich besaß. A-Aber so sollte das doch nicht sein. So etwas durfte nicht sein! „D-Du kannst doch nicht... D-Du... Du bist mein Bruder, so etwas ist... ekelhaft.“ Mein Kopf war noch nicht wieder völlig auf dem Höhepunkt seiner Funktion angekommen, daher fiel mir spontan kein besseres Wort, als >ekelhaft< ein. Ekelhaft war jedoch das letzte Wort, mit dem ich das hier beschreiben würde.

„Nett.“ Murmelte Illian und fuhr sich durchs dunkelrote Haar. „Aber das habe ich verdient. Trotzdem wollte ich das noch getan haben, bevor du die ganze Wahrheit erfährst.“

„Welche Wahrheit denn?“ War er etwa eine Art Siscon? Das wäre total abartig und schräg. Aber was durfte ich schon großartig verurteilen?

„Ich bin nicht dein Bruder, Iduna. Und mein Nachname ist ganz bestimmt nicht Leroy. Zudem bin ich kein Jäger, sondern etwas viel älteres. Etwas von dem ich der Letzte bin...“

Kein... Jäger? Nicht mein Bruder? Das klang völlig absurd. „Was?“ Entweder lag es am Kuss, dass mein Hirn nichts richtig verstehen wollte, oder aber das alles entzog sich meiner Intelligenz. Vermutlich ein wenig von beidem.

„Mein Name ist Illian, aber ich bin weder ein Jäger, noch weniger mit dir Verwandt.“ Erklärte er es, langsam, sodass ich jedes Wort aufnehmen konnte, noch einmal. Schwindlig geworden, tastete ich mich rückwärts voran, nach dem Bett, um mich darauf Plumpsen zu lassen. „Ich gehöre einem Geschlecht an, dass dem deinen voran geht.“

Als ich nichts weiter tat, als ihn mit offenem Mund und großen Augen anzustarren, redete Illian gezwungen weiter.

„I-Ich saß in dem Gefängnis, um mich selbst zu schützen. Jäger und Kreaturen der Nacht zeigen sich aus Prinzip nicht vor den Menschen, also musste ich bloß einen Aufstand machen, mit ein paar Mittelchen die Leute beeinflussen und schon konnte ich fünfundfünfzig Jahre lang dort drinnen sitzen, ohne dass jemand an mich heran kam. Seit es Kameras gibt, ist es sogar noch einfacher für mich geworden. Schlussendlich... bin ich in Vergessenheit geraten.“

Ich gab einen prustenden Laut von mir. „Nicht so sehr vergessen, dass niemand bemerkt hätte, wie du aus einer Hochsicherheitsanlage hinaus spaziert bist.“ Bemerkte ich neunmalklug, dann griff ich mir an die Stirn. „W-Wieso stimmt dann eigentlich deine DNA mit der meiner Familie überein?“

Illian holte tief Luft, während er betreten meinem Blick auswich. „Ich habe sie manipuliert, genauer gesagt, mit einem Zauber belegen lassen, sodass sich meine DNA automatisch an die anpasst, die einem Jäger am nächsten kommt. Der erste... der verglichen werden würde, dessen DNA würde er annehmen. Ich bekam noch am selben Tag einen Anruf, wegen meiner Datenfreigabe, als sie verglichen worden sind. Dort... arbeitet ein Kerl, dem ich viel Geld gegeben hatte, dass er meine Geburtsdaten der Person anpasst, der sie am nächsten kommt. Offenbar... hat er es etwas zu gut angepasst, sodass Haven gegen meinen Willen, als Zwillingsschwester durchging.“ Illian deutete auf seine Haare. „Deshalb musste ich sie auch färben.“

Mein Blick zuckte zu dem dunkelroten Haarschopf. „Also trägst du doch eine Perücke?“

Als würde ihm dieses Gespräch viele Qualen bereiten, fuhr er sich durchs Haar. „N-Nein. Das liegt an meiner Zellerneuerung. Sie ist ungewöhnlich hoch, für einen normalen Menschen, deshalb... bin ich auch unsterblich... quasi. Zumindest langlebiger, als normale Menschen.“

Dann kam die Frage über meine Lippen, welche sich mir schwer wie Blei, auf die Zunge gelegt hatte. „Was bist du?“

„Ein... Druide.“

Als er dieses Wort aussprach, musste ich automatisch an weißhaarigen alte Männer, mit langen weisen Bärten, in weisen Kutten und goldenen Sicheln denken. Als ich Illian mit diesem Vorbild verglich, fand ich absolut keine Gemeinsamkeit.

„Sieh mich nicht so an. Auch Druiden waren ganz normale Leute und sahen bestimmt nicht so aus, wie sie heute für Kinder dargestellt werden!“

Ich wurde etwas rot und fühlte mich ertappt. Illian kannte mich einfach zu gut... „Was ist denn ein Druide dann?“

„Früher Kräuterheiler, Schamanen und Whoodopriester. Im großen und ganzen liegt uns einfach Chemie und Kräuterkunde im Blut. Wir... greifen auf das zurück, was uns die Natur zur Verfügung stellt und sind quasi die Vorfahren der heutigen Jäger.“

Ich deutete auf den lilafarbenen Lichtstrahl, welchen ihn noch immer zart umgab. „Das sieht mir aber nicht wirklich >natürlich< aus.“ Ich konnte nichts gegen meinen vorwurfsvollen Unterton. Irgendwie machte es mich wütend all diese Sachen jetzt erst von ihm zu erfahren. Wieso... Weshalb hatte er mir nicht einfach von Anfang an vertraut? Zumindest seit er wusste, dass ich keine Bedrohung für ihn darstelle...

„>Das<...“ Begann Illian und ließ die flüssige Elektrizität, welchen ihn umgab, als kleinen runden Ball, in seiner Handfläche entstehen. „...ist ebenfalls etwas ganz natürliches. Man nennt es Arkane-Energie.“

Arkane-was? In meinem Leben hatte ich noch nie von so etwas gehört. Weder im Unterricht, noch von meinen Schwestern. Allerdings klang es eher wie eine Gabe in meinen Ohren, als einem natürlichen Phänomen... „Du klingst so, als sollte mir dieser Begriff vertraut sein.“

„Sollte er eigentlich auch... Aber auch wieder nicht. Ich hatte es zumindest gehofft, denn es zu erklären ist recht schwierig. Im Grunde, sahen die Druiden die Benutzung von arkaner Energie als >dunkle Magie< an. So wie sich die Jäger von allem bedroht fühlten, was sie nicht kannten und nicht beherrschen konnten, so sahen >wir< arkane Magie als etwas böses an. Im Grunde wäre ich ebenfalls ein >dunkler Magier< in den Augen aller Druiden. Da es sie jedoch nicht mehr gibt, können sie mir aber den Buckel runter rutschen.“

Illian klang leicht abgelenkt bei der Erinnerung an irgendetwas, bei dem ich ihm nicht folgen konnte. „Das ist immer noch keine Erklärung.“ Ich klang fast so schnippisch wie die Schwester, deren Erwähnung nicht Wert war. Das ärgerte mich fast noch mehr, als Illians Lügen.

„Verzeih, du hast natürlich recht. Arkane-Energie ist das, was uns umgibt. Es entsteht in jedem Lebewesen, jeder Pflanze, jedem Windstoß. Es ist... die Energie die uns allen das Leben ermöglicht, auch wenn man sie nicht wahrnehmen kann. Der Puls, der jedes Lebewesen durchströmt, der Grund weshalb der Wind weht, die Wellen gegen die Felsen Schlagen und der Inbegriff der Existenz selbst. Unser Geist, die Seele in jedem. Das ist diese Energie, welche ich beherrschen kann. Die Magie... die sich normalerweise ihren Besitzer selbst aussucht.“ Erneut gab er die Kugel in seiner Hand frei, woraufhin sie sich eigenständig machte und nach mir reckte.

Ich erstarrte. „S-Sie will mich?“ Dabei hatte ich bis zu dieser Minuten noch nie etwas davon gehört.
Illian nickte sehr langsam. „Das Einverständnis muss jedoch beiderseitig sein, damit du auf sie zugreifen kannst, ansonsten erhältst du einen Schlag, so wie damals, als du bei deinem ersten Besuch meine Hand berührt hast.“

Dabei hatte sich der Schlag nicht einmal unangenehm angefühlt. Ich hatte es sogar ein wenig gemocht... Okay das war fast genauso schräg, wie Illians Geschichte. „Und weshalb beherrscht du dann diese... arkane Energie?“

„Mein Meister hat mir damals gezeigt, wie man sie beschwören kann. Er selbst war von ihr auserwählt worden und bestimmte mir, als er im sterben lag, sie demjenigen beizubringen, den sie nach ihm auserwählt.“

Illian klang ausgesprochen betrübt, bei der Erwähnung seines Meisters. Wenn eben dieser als dunkler Magier seinerseits gegolten hatte, dann konnte ich mir denken, dass sein Tod nicht gerade gewollt herbeigeführt worden war.

„Anfänglich habe ich mich geweigert sie überhaupt anzuwenden. Aber nach ein paar Jahrzehnten wurde mir klar, dass ich sie benutzen musste, wenn ich überleben wollte. Dann begann ich Menschen zu meiden, kämpfte mich durch die Jahrhunderte, tauchte unter oder versuchte mich umzubringen. Letzteres ist etwas schwierig, wenn man von einem nervigen Geist begleitet wird, der einen mit unendlicher Energie versorgt.“ Eben besagter >nerviger Geist< wandte sich Illian zu, als hätte er ihn verstanden. Ob... es auch so war? Nein, Unsinn!
„Also bin ich die Erste, der du begegnest, auf die diese... Energie anspricht?“

Illian schüttelte den Kopf. „Nein, Iduna. Ich bin leider einigen begegnet, doch entweder starben sie allzu bald, oder ich musste fliehen und sah sie nie wieder. Als ich bemerkte, dass die arkane Energie auf dich anspricht, musste ich eine Distanz schaffen, die dich beschützt. Diese Energie wählt Personen, deren Kräfte schwach, aber deren Wille stark ist. Ich bin leider recht begnadet in meinem Element, deshalb mochte sie mich nie.“

„Das klingt ja, als hätte diese Energie ihren eigenen Willen.“ Spottete ich ungläubig.
Illian schenkte mir ein überraschend sanftes Lächeln. „Und du klingst so, als würdest du mir kein Wort von alldem glauben.“

Ich reckte mein Kinn starrsinnig vor. „Du bist ein neurotischer Lügner. Von daher weiß ich nicht, was von all dem Schwachsinn, den du mir hier gerade versuchst zu verzapfen, ich glauben kann.“ Oder von dem ich hoffte, dass es stimmt... Aber diesen Teil meiner Gefühle wollte ich mir nicht eingestehen.

„Alles was ich dir eben gesagt habe, entspricht vollständig der Wahrheit, Iduna. Ich bin immer noch der Illian, den du kennst. Nur eben weder dein Bruder, noch gehöre ich einem Coven an.“

Mein Bruder... der mich geküsst hatte... Aber weshalb? „Warum dann all diese beschissenen Lügen? Was war überhaupt der Sinn von alldem? Wieso wolltest du dich als Jäger ausgeben? Als jemand... aus meiner Familie...“

Tief durchatmend, kam Illian näher und ließ die arkane Energie, um sich herum, verblassen. „Wie du dir bestimmt vorstellen kannst, habe ich genug Wesen sterben und von mir abwenden sehen, um damit eine endlose Buchreihe zu beginnen. Geliebte, Söhne, Töchter, Freunde, sogar eine ganze Spezies ist bereits neben mir ausgestorben... Es gibt... da eine Organisation... eine Randgruppe die man heute, als Teufelsanbeter, oder ähnliches bezeichnen würde. Es handelt sich dabei, um eine Frauengruppe, die ihr Leben gänzlich einem Dämon verschrieben haben. Einem Dämon, der nicht an sie heran reicht, da er weggesperrt ist und auch nicht von eben diesem beeinflusst werden kann. Heute nennt man sie Lilith, früher hatte sie dutzend mehr Namen. Sie ist ein ganz spezieller Dämon, der sich von verschiedenen Spezies ernährt hat. Früher ein niederer Sukkubus, doch sie hat recht viel Ärger gemacht. Selbst für einen Dämon...“

„Also ist dir ein Dämon auf den Fersen und da dachtest du mal eben, dass ein Jäger schon dein Problem lösen wird, oder...“

“Nein! Nein, Iduna das verstehst du völlig falsch! Du hast bestimmt auch schon von diesen Frauen gehört. Sie nehmen die Justiz über die Kreaturen der Nacht nun selbst in die Hand. Amazonen. Sagt dir das etwas?“

Ich zuckte überrascht zusammen und Illian erkannte, dass ich wusste, von wem er sprach. „Das sind... Barbaren! Sie quälen kleine Kinder und schlachten vor ihren Augen deren Eltern!“ Brauste Illian auf.

„A-Aber woher... Wie hängt das denn alles zusammen?“ Wie konnte ein Dämon, der angeblich keine Macht mehr besaß, eine solche Frauengruppe mobilisieren?

15. Haven Ridder – Schwesternzeit im Hinterhalt

„Das war seltsam...“ Kommentierte Freya, auf der Fahrt nach Hause.

„Nun ja, normal war es tatsächlich nicht. Glaubst du ihm denn? Dass er mein Zwillingsbruder sein könnte?“

Freya zuckte unwissend mit den Schultern. „Idy ist überzeugt davon. Und er hat rotes Haar, also...“
„Die sind gefärbt.“ Stoße ich, wie aus der Pistole geschossen, hervor.

„Wie bitte? Nie im Leben! Die sehen so echt aus.“

Dem konnte ich kaum widersprechen. „Ich weiß, sie sind wirklich sehr gut gemacht, aber der Geruch vom Färbemittel war dezent wahrzunehmen. Jeder, der nicht über eine feine Gestaltwandlernase verfügt, würde ihm sofort glauben. Aber ich denke, dass er lügt.“ Und das nicht nur, weil ich nicht glauben wollte, dass Illian mein Zwilling sei. Abgesehen davon, dass es ohnehin völlig unmöglich war. „Bitte versteh das nicht falsch. Er ist offensichtlich irgendeine Art Kreatur... Aber Illian scheint es zumindest so überzeugend dar gestellt zu haben, dass es Iduna glaubt. Und... Iduna ist, nun ja...“

Freya nickte zustimmend. „Ich weiß, was du sagen willst. Nur... denke ich nicht, dass sie es hören wird wollen.“

Ich ziehe fragend die Brauen kraus und mustere Freya von der Seite, während wir darauf wartete, dass die Ampel zurück auf Grün sprang.

„Du hättest sie sehen müssen, Haven... Idy denkt dass Illian ihr Bruder sei und macht sich fürchterliche Vorwürfe dafür... weil sie etwas für ihn empfindet.“
„Iduna?“ Stoße ich ungläubig hervor und mache erneut einen Blick hoch zur Ampel. Wann sprang sie denn endlich zurück?

„Ja, Iduna!“ Kicherte Freya. Wir wechselten einen wissenden Blick. „Ich würde es ja selbst nicht glauben, wenn ich sie nicht in den Toiletten dermaßen über sich selbst schimpfen gehört hätte. Idy klang so... verzweifelt. Es hat ihr regelrecht das Herz gebrochen, es bloß laut auszusprechen, dass Illian ihr Bruder sei.“ Ich empfand tiefes Mitgefühl für meine süße, unschuldige und naive, kleine Schwester.

„Hat unsere erste Liebe auch so weh getan?“ Witzelt Freya neckisch.

„Hm... Ich war bisher nie so wirklich verliebt. Aber du musst ja ein Loblied davon singen können, oder? Milan und du hattet es auch nicht gerade leicht zu Beginn. Ihr musstet sogar für eure Beziehung, seine Großmutter köpfen.“

Freya wurde schlagartig strahlend rot im Gesicht. „Wer sagt denn, dass Milan meine erste große Liebe gewesen ist? Ich hatte auch noch ein Leben bevor er zurück in das von Jenna kam.“

Ich lachte amüsiert auf, während meine Finger nervös auf das Lenkrad klopften. Sind wir beim her kommen, ebenfalls so lange an dieser Ampel gestanden? „Ja, dein Leben als Mami, vielleicht!“ Ziehe ich sie auf. „Aber deine nervigen kleinen Schwestern gelten nicht als >große Liebe<.“

Sie boxte mich sanft gegen den Oberarm. „He! Ich war so gut wie mit Thomas verlobt!“

„Verlobt zu sein, weil es eine Organisation so vor schreibt, ist nicht dasselbe wie verliebt zu sein!“

„Auch wahr.“ Gab sie kichernd zu, ehe sie glücklich seufzte. „Wir sollten so etwas öfter machen.
„Was denn?“ Erkundigte ich mich und sah in die hellen Augen meiner großen Schwester.

„Einfach irgendetwas... Nur wir drei, zusammen.“ Sie griff nach meiner Hand, welche auf dem Schalthebel lag und drückte sie sanft. „In den letzten Jahren haben wir bloß >Familienzeit< genossen. Aber als Schwestern haben wir uns wohl oder übel, ein wenig aus den Augen verloren, oder?“

„Wir sind erwachsen geworden.“ Entgegnete ich aufrichtig. „Wir haben unsere Jobs, unsere >Hobbys<.“

Wir lachen uns liebevoll an. „Machen wir es einfach, Haven. Nur du, Iduna und ich. Einmal die Woche... oder jeden zweiten... Was weiß ich für einen Tag in der Woche. Du Iduna und ich... Wie früher.“

Mein Herz wurde schlagartig schwer, denn ich fühlte, dass etwas... nein, jemand dabei ständig fehlen würde. „Ohne Gini?“

„Ohne Gini...“ Erwidert Freya mit einem enttäuschten Unterton in der Stimme.
„Vermisst du sie auch? Ich weiß, sie war immer ein Arschloch und hat uns für einen Dämon verlassen... Aber sie war unsere Schwester. Wir hatten, ehe Mama und Papa von uns gingen, eine wirklich gute Zeit zusammen.“

Sie nickt zustimmend, während sich ihre Augen leicht rötlich verfärben. „Ich bin sauer auf sie. Ich bin so wütend auf sie, dass kann ich kaum in Worte fassen. Aber wäre sie hier... einfach so, aus heiterem Himmel... Ich würde sie in die Arme schließen und niemals wieder weg gehen lassen.“

Nun kamen auch mir die Tränen. „Na toll, jetzt werden wir, doofen Ziegen, auch noch sentimental!“ Lachend wische ich eine entflohene Träne von meiner Wange.

„Lass uns besser mal weiter fahren. Sonst kommt Idy noch vor uns zuhause an.“

Ich deutete auf die Ampel. „Würde ich ja gerne, aber sie ist schon eine Ewigkeit rot. Was ist da los?“ Beklagte ich mich stöhnend, ehe ich mich nach dem, eher fehlenden, Verkehr umsah. Wenn ich genauer darüber nachdachte... hatte uns nicht einmal der Querverkehr gekreuzt. Hinter uns, so wie vor uns, fehlte ebenfalls jede Spur von einem Wagen. Dabei konnte man doch hier am Straßenrand parken...

„Irgendetwas stimmt nicht, oder?“ Erkundigte sich Freya, welche das selbe zu bemerken schien wie ich.

„Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht!“ Stelle ich nervös geworden fest, während ich mein Gehör bis ans Äußerste spitzte. Nein niemand. Ich konnte nicht einmal Fußgänger vernehmen.

Neben mir tippte Freya irgendetwas in ihr Handy ein, ehe sie es fluchend zurück in die Tasche stopfte. „Kein Netz?“

„Akku leer.“ Fluchte sie.

Mit den Augen rollend, zücke ich das meine und habe genau das, was ich bereits erwartet hatte... kein Netz! Ich fluche ebenfalls. „Okay, das reicht, wir fahren einfach weiter. Hier nimm das Handy und schreib jedem, der dir einfällt eine Nachricht. Ich suche uns Netz.“

Ich drücke auf das Gas und setze mich langsam in Bewegung. Ehe ich jedoch links abbiegen kann, steige ich auf die Bremse. „Scheiße!“ Fluche ich ungläubig.

„Hier auch!“ Freya deutete in Richtung der rechten Seite der Kreuzung.

Links von uns befanden sich mindestens zwei Dutzend, maskierte, humanoide Lebewesen, welche mit Waffen auf uns zielten. Rechts von uns, war beinahe ein Ebenbild, der meinen Seite. Und sie kamen im Schritttempo näher!

„Fahr! Haven, fahr! Fahr! Fahr!“ Befahl sie hektisch, während ich das Lenkrad gerade drehte und mich bereit machte auf das Gas zu steigen.

„Moment!“ Nein, das war falsch. Sie standen links und rechts von uns, aber niemand kam von vorne auf uns zu? „Da stimmt was nicht. Das ist eine Falle.“

„Eine Falle?“ Erkundigt sich Freya, deren Herz so laut und schnell polterte, dass ich kaum etwas anderes als das wahrnehmen konnte.

„Wenn wir nach vorne fahren, dann fahren wir direkt in eine Falle hinein. Da verwette ich mein tolles Apartment mit dir.“

Freya grummelte, ehe sie an meinen Rückspiegel griff. Nein, sie griff >hinein<. Der Spiegel war gerade einmal groß genug, sodass eine ihrer Hände hinein passte, während sie die andere in den Seitenspiegel zu ihrer rechten versinken ließ.
„Wehe da sind später Tapser von dir oben!“ Meine ich noch, um den angestauten Druck irgendwie abzulassen.

„Sei froh, dass ich dir überhaupt eine Waffe von mir leihe!“ Motzt sie zurück und zieht nach der Reihe ein Arsenal aus ihrem persönlichen Versteck.

Ich nehme ein paar der Dinge bloß zu gerne an, besonders die Schusswaffen, so wie anderes Wurfmaterial. Für einen Nahkampf, besaß ich ja nun meine eigenen Klauen. „Dann legen wir mal los, was?“

„Ich habe versprochen vor Mitternacht zuhause zu sein. Lass es uns hinter uns bringen.“

„Hast du denn eine Ahnung, wer das sein kann?“ Erkundige ich mich, während ich mich umdrehte, um rückwärts zu fahren.
„Sie dürften keine Werwölfe sein, sonst würden sie uns nicht mitten auf der Straße auflauern.“
Ich ließ die Reifen beinahe durchdrehen, so rasant wendete ich, um zurück Richtung Restaurant fahren zu können. „Guter Punkt. Noch dazu tragen sie Schusswaffen! Dann muss es jemand auf mich abgesehen haben. Tut mir leid!“

„Wem hast du denn auf den Stiefel gepinkelt?“

Ich schluckte schwer. „Nun ja, da war dieser... Zwischenfall vor kurzem.“

Der Wagen wendete und hinterließ eine deutlich sichtbare Reifenspur, ehe ich vollgas gab.

„Einen Zwischenfall?“ Erkundigte sich Freya ungläubig.

„Cavaler.“ Erklärte ich vielsagend.

Freya stöhnte. „Oh nein! Was wollten sie denn?“

„Es ist weniger das Problem, >was< sie wollten... sondern viel mehr >wen< ich getötet habe.“

Ihr Gesicht verwandelte sich in eine ungläubige Miene. „Du hast was?“

„R-Rumina getötet?“ Gab ich verlegen zu.

„Bist du von allen... Haven pass auf!“ Schreiend trat ich auf die Bremse, als aus einer Seitengasse, welche zu Wohnblöcken führte, aus heiterem Himmel eine Frau mit einem Raketenwerfer erschien.
„Sie wird doch nicht...“ Stieß ich erschrocken hervor.

„Fuck! Raus! Raus! Raus! Raus!“ So schnell hatte ich mich noch nie aus meinen Wagen bewegt, doch ehe ich einen Fuß auf den Asphalt setzen konnte, bemerkte ich, dass Freya noch mit dem Gurt kämpfte. Ohne zu zögern, tat ich das einzig richtige. Ich schnitt in einer flüssigen Bewegung, den Gurt auf, bewegte mich mit der Schnelligkeit einer Raubkatze und katapultierte mich vom Sitz aus, über Freya hinüber und hinaus aus dem Auto. Freya folgte mir jedoch nicht, sondern fasste in den Seitenspiegel und ließ sich hinein ziehen davon. Ich tat, fast dasselbe. Womöglich löste ich mich nicht in Luft auf, wie meine Schwester, doch lief ich mit einer solchen Geschwindigkeit, dass mich gerade noch die Druckwelle der Explosion traf. Schreiend werde ich durch die Luft gewirbelt und lande gegen einem, in der Nähe stehenden, Baum.

„F-Freya?“ Schreie ich, in der Hoffnung sie würde es noch rechtzeitig in ihre Spiegelwelt geschafft haben. Zwar hatten sich Freyas Kräfte bereits enorm gesteigert, doch ob sie es bereits schaffte, sich in einem Spiegel zu komprimieren, der wesentlich keiner war, als sie selbst, bezweifelte ich dennoch.

„F-Freya...“ Keuchte ich und wische mir Ruß aus dem Gesicht, während ich traurig auf mein, ehemals stechend rotes, Baby blickte. „Freya!“ Ich hustete, während sich meinen Kopf drehte. Ja! Da! „Freya!“ Mühsam komme ich auf alle viere und schleife mich auf allen Vieren, auf die beinahe unversehrte Frau zu, welche inmitten eines Splitterhaufens lag.

Als sie sich aufsetzte, hielt sie zischend ihren Kopf, während Blut aus ihrer Nase und ihren Ohren lief. Wenigestens waren es bloß ein paar Tropfen, nichts was nicht sofort wieder heilen würde. Doch in nächster Zeit konnte Freya es vergessen, erneut die Spiegelwelt herauf zu beschwören, wie sie es sonst immer so mühelos tat.

„Schrei nicht so.“ Hüstelte meine Schwester und fächerte mit der Hand, den aufsteigenden Rauch weg.

„Freya... du blutest!“

Sie checkte meinen Körper gekonnt. „Du siehst auch scheiße aus.“ Konterte sie und kämpfte sich dabei, trotz Schwindel, wieder auf die Beine.

„Du mich auch.“ Fauchte ich zurück und versuchte es ihr gleich zu tun. „Jetzt lauf weg, ehe sie hier sind. Sie wollen dich bestimmt nicht.“

„Als ob ich dich alleine lassen würde!“ Keifte sie mich verärgert an.

Endlich! Ich schaffte es auf die Beine zurück. „Geh, Freya! Das ist mein Kampf!“

„Du bist meine Schwester, ich lasse dich nicht alleine!“ Erwiderte sie und packte mich an den Schultern. „Weißt du was eine Jägervendetta ist?“ Ich nicke, doch die erklärte es trotzdem. „Sie werden dich Jagen, bis dein gesamtes Blut auf dem Asphalt verteilt und dein Kopf auf einem Spieß steckt. Denkst du also wirklich, dass ich dich alleine lassen werde?“

Mitleidig streichelte ich über ihre Wange. Dann schlug ich zu. Mein Schlag saß perfekt an ihrer Schläfe und Freya sackte in meinen Armen in die Bewusstlosigkeit. „Tut mir Leid... Aber das ist das Beste für deine Jungs.“ Hauchte ich ihr ins Haar, dann warf ich sie mir über die Schulter und trug sie zu den Mülltonnen. Noch standen wir inmitten des Rauches, wodurch ich hoffte, dass die anderen uns nicht sehen würden. Nachdem ich mir sicher war, dass man sie hier nicht so schnell entdecken würde, stürzte ich mich in einer Geschwindigkeit auf die Frau mit dem Raketenwerfer, welche sie nicht hatte kommen sehen.

Auf meinem schneeweißem Fell verteilten sich rote Blutspritzer, doch diese ignorierte ich gekonnt. Darauf würde noch so viel mehr landen!

16. Freya Ridder - Ein Dorn im Auge der Organisation

 Das Band von Gefährten war schon ein seltsames Phänomen. Bisher hatte ich es für selbstverständlich genommen. Es genossen, zu jeder Zeit, wann immer ich wollte, mich von Milans Gefühlen für mich überschwemmen zu lassen. Wann immer ich mich rastlos fühlte, oder Angst bekam, sei es vor Angreifern, oder einfach meinen Fehlern, als Mutter... Milan war stets da gewesen. Milan war an meiner Seite, in meinem Herzen und in meinem Kopf. Er war mein Ebenbild, die zweite Seite meiner Medaille. Meine ganz große Liebe. Es gäbe nichts in unserem gemeinsamen Leben, dass ich jemals ungeschehen machen wollen würde. Und umgekehrt empfand er genauso, nichts war mir jemals klarer gewesen, als dies in eben jenem Moment. Milans große Angst um mich, seine Panik seine Gefährtin, welche in einen Hinterhalt geraten war, könnte sterben, machte ihn beinahe Wahnsinnig. In diesem Moment, war mein Gefährte seinem Wolf näher, als jemals zuvor und dieser wollte ausbrechen. Milan wollte einfach in seinen Pelz schlüpfen, loslaufen und mich in seine beschützenden Arme schließen. Fleisch zerreißen und Köpfe rollen lassen, auf dass mich kein einziges Lebewesen jemals wieder bedrohen konnte.

Doch da war auch noch seine menschliche Seite, diejenige, welche sich, um unsere gemeinsamen Kinder sorgte. Jede Sekunde, in welcher diese vier kleinen kostbaren Schätze nicht behütet waren, konnte ihren Tot bedeuten, selbst an einem Ort, wie Havens schützendes Apartment.

Diese Angst war es auch, welche mich innerhalb weniger Minuten aus meiner Bewusstlosigkeit heraus holte. Ich schreckte hoch, in völliger Dunkelheit gehüllt und sah mich panisch nach meinem Gefährten um, welchen ich mit allen Mitteln beschützen wollte, doch... fand mich inmitten von Dreck wieder.

Angeekelt zog ich meine Hand aus einer, mehrere Tage alten Nudelbox und schüttelte verrotteten Salat ab. „Ekelhaft!“ Maulte ich, ehe ein Stich in meinem Kopf explodierte. Zischent fasste ich an die Stelle, an welcher mich Havens Schlag getroffen hatte, dann erst schaffte ich es, eine Welle der Beruhigung zu Milan zu schicken. Augenblicklich wurde auch er ruhiger.

Dieses Band... funktionierte leider nicht so gut wie ein Telefon, doch es half uns beiden, einander zu finden, oder unsere Gefühle zu teilen. Als ich realisierte, durch welche Hölle mein Mann in den letzten drei Minuten, meiner Bewusstlosigkeit gegangen war, musste ich willkürlich lächeln. Auch wenn ich nun tausendmal bestätigen würde, dass es mir gut ginge, würde dies absolut nichts nützen. Milan musste sich mit seinen eigenen Sinnen davon überzeugen, dass ich, zumindest okay war.

Ich fühlte einen heftigen Schwindel, so wie eine Erschöpfung, wie ich sie bisher noch nie empfunden hatte. Meine mentale Kraft war so gut wie aufgebraucht, was bedeutete, dass ich in den nächsten Tagen oder sogar Wochen, ein völlig normaler Mensch sein würde. Ich konnte keine Konzentration aufbringen, um auf meine Gabe zuzugreifen, ehe sich der große Verbrauch ausgeglichen hatte.

In die Spiegelwelt einzutauchen, war für mich mittlerweile zur zweiten Natur geworden. Doch erkannte ich erst in diesem Moment... welchen fatalen Fehler ich gemacht hatte. Es war das eine, in die Spiegel einzutauchen und darin Gegenstände, für den Moment, in den ich es benötigen würde, zu hinterlassen. Aber etwas ganz anderes, in ihr zu wandeln.

Als Kind spezialisierte man sich auf eine bestimmte Gabe, die man in die Wiege gelegt bekommen hat. Doch was man aus ihr machte, lag an einem selbst. Ich hatte sie für meinen persönlichen Gebrauch perfektioniert. Mittlerweile konnte ich also alle, von einer Stecknadel, bis hin zu einem großen Kleiderschrank darin verschwinden lassen. Doch organisches... scheine ich völlig vernachlässigt zu haben. Nun, als Erwachsene, fiel es mir deshalb schwer, so in die Spiegelwelt zu gleiten, wie ich es als Teenager getan hatte. Ich konnte nicht mehr so leichtfüßig hindurch wandeln und mich in ihr in Sicherheit bringen. Von Komprimieren ganz zu schweigen... Ich hatte es gerade einmal einen Bruchteil einer Sekunde geschafft, darin zu sein, dann war mir auch bereits die Kraft ausgegangen und ich war aus ihr hinaus katapultiert worden. Wenigstens hatte es gereicht, um der Explosion von Havens Lieblingsauto zu entgehen.

„Haven?“ Ich drückten den Plastikdeckel, welcher sich in diesem Moment wie aus Beton anfühlte, nach oben und blinzelte gegen den, in meine Richtung wehenden Rauch, an. Hustend kletterte ich aus der Tonne, in welche Haven mich offensichtlich geschmissen hatte und fiel glatt der Länge nach hin, während in der Nähe Schüsse fielen.

Geschwächt von meiner eigenen Dummheit, welche mir schlussendlich zwar das Leben gerettet hatte, doch dafür meine gesamte Kraft gestohlen, versuchte ich mich auf meine Arme zu stützen. Es verlangte mir so gut wie alles ab, um mich bloß in eine sitzende Position zu bringen. Schweiß sammelte sich auf meiner Haut und der Rauch kratzte an meinen Lungenflügeln. Einzig Milans motivierenden Gefühle schenkten mir genug Kraft, um mich noch ein weiteres Mal auf die Beine zu ziehen. Danach musste die Hauswand her halten, denn anders würde ich es stehend keine Sekunde mehr aushalten.
Als ich endlich den Anfang der Gasse erreichte, schienen bereits Stunden vergangen zu sein. Trotzdem flogen Schüsse über Schüsse kreuz und quer durch die Straßen der Stadt. Dass jedoch noch immer keine Polizei aufgetaucht war... das ließ mich schon etwas stutzen.

Haven hatte die Anführerin des Cavaler Covens getötet, was bedeutete, dass dessen Jägerinnen nun Havens Kopf dafür haben wollten. Die Organisation musste sich strickt aus einer solchen Vendetta heraushalten, ansonsten konnte das für alle Coven und den Zusammenhalt über die Organisation in die Brüche gehen. Doch ein einzelner Zirkel besaß nicht die Kontakte, um einen bestimmten Bereich einer Stadt evakuieren und sperren zu lassen. Niemand besaß diese Kontakte... bis auf...

Ich hatte es zwar immer als etwas makaber angesehen, doch die eiserne Regel unter Jägern, welche sich, aus welchen Gründen auch immer, in eine Kreatur der Nacht verwandeln, war jene, dass sie sich selbst töteten, um ihre Ehre zu bewahren. Oder ein Familienangehöriger musste nachhelfen, wenn besagter es nicht mehr konnte. Gut, im Normalfall, wenn ein Jäger das Blut von einem Therianthrophen in Systhem bekam, starb er zu neunzig Prozent ohnehin. In extremen Ausnahmen, wie zum Beispiel in Havens Fall, hätte ich, als Erziehungsberechtigte eigentlich nachhelfen müssen. Ich wäre, sozial gesehen, dazu genötigt worden, auch wenn Haven damals noch ein junges Mädchen gewesen war.

Ich, mit meinem Werwolfmann und den Werwolfsöhnen, war der Organisation lediglich ein Dorn im Auge. Ein schwarzes Schaf, wenn man so wollte. Doch Haven war etwas ganz anderes. Sie war wieder der Natur, halb Jägerin, halb Therianthrophin. So etwas durfte in deren Augen überhaupt nicht existieren und wenn dann lediglich unter der Erde.

Dank Havens plötzlichen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, war es unmöglich gewesen, die junge, aufsteigende Modeikone aus dem Verkehr zu ziehen. Das besondere, scheinheilige Mädchen, dem man aufgrund ihrer niedlichen Erscheinung, kein Haar hatte krümmen wollen.
Mittlerweile war jedoch aus diesem entzückenden Mädchen, mit dem strahlenden Lächeln, eine Frau geworden. Eine Frau, welche zwar im Rampenlicht stand, doch gegen die Gesetzte und den Sinn welche die Organisation vertrat, handelte. Doch das schlimmste war nun tatsächlich eingetreten. Jemand hatte Haven zum äußersten Provoziert, denn anders hätte sie niemals Hand gegen jemanden erhoben. Nicht Haven! Niemals!

Mein Herz brannte, während ich daran dachte, was da vor sich ging. Es war dunkel, die Straßenlaternen beleuchteten bloß das nötigste, doch ich sah genug. Mehr, als ich sehen wollte.

Krieg... Ein Wort, welches das Spektakel nicht einmal Ansatzweise beschrieb. Bestückt mit einem Haufen Waffen, welcher kaum zu tragen war, lief Haven die Straße zurück, auf dessen Kreuzung sich bereits hunderte von Jäger eingefunden hatten.

Jägerinnen, um genau zu sein.

Ich hatte nicht einmal gewusst, dass der Cavaler Zirkel so viele >Familienmitglieder< besaß. Und von denen hätten wir welche werden sollen? Unvorstellbar! Jeder einzelne Schuss, welcher auf Haven abgefeuert wurde, trieb einen neuen Dolch in mein Herz. Es war ein Statement der Organisation. Eine verfälschte Jägerin, wie Haven durfte auf keinen Fall am Leben bleiben.

Erst war es noch einfach für meine Schwester, welche, aus welchen Gründen auch immer, plötzlich weißen Pelz trug, den Kugeln, aus der Entfernung, auszuweichen. Jedoch je näher sie den Angreifern kam, umso häufiger zogen Streifschüsse über ihre verdeckte Haut.

Sie selbst schoss viel zielgenauer, als die Angreifer, doch das war nicht das Problem. In der Zeit, bis Haven die Frauen erreichen würde, konnte sie höchstens zehn oder etwas mehr, dank meiner Ausrüstung, kalt machen. Doch je näher Haven kam, umso klarer war sie nicht mehr im Vorteil. Es waren hunderte Jägerinnen. Sie alle hatten lediglich ein Ziel... Die Ehre der Jäger wieder herzustellen, indem sie den Dorn aus der Organisation zogen, welcher bereits seit Jahren stach...

„Haven! Nein...“ Entsetzt fasste ich mir an den Mund.

17. Iduna Ridder - Die Zukunft hat einen Haken...

 Die Vorzeichen einer meiner Visionen war stets klar. Erst begann es mit einem leichten Stechen in der Seite meines Schädels. Nicht so stark, dass es weh tat, doch zumindest heftig genug, damit ich auf sie Aufmerksam wurde. Danach handelte es sich bloß um Sekunden, ehe mein Blickfeld verschwamm und ich eintauchte, in eine Zeit, die erst passieren würde.

Kaum hatte ich die Türe von Illians Zimmer zugeworfen, erhielt ich diese Art von Stechen und ich hatte gerade noch genug Zeit, um mich mit dem Rücken an die Wand neben der Türe zu lehnen. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch, damit es aussah, als müsste ich mich für einen Moment sammeln. Das hatte ich mir zumindest stets vorgenommen zu tun, für den Fall, dass mich eine Vision in der Öffentlichkeit überfallen sollte.

Diese hier kam jedoch nicht so überstürzt, wie die letzte, sondern ganz ruhig und ließ mich auf sie vorbereiten. In einem sanften Sog, der mich überraschte, da es als Kind für mich stets so gewesen war, doch nun seit Jahren nicht mehr geschehen, empfing ich die Vision mit einem erwartenden Lächeln.

Genau das brauchte ich nun. Eine Vision über meine Schwestern, etwas dass uns eine neue, glückliche Zeit bescheren würde. Einfach etwas, dass mich ablenkte von Illians Lügen und Verrat. Balsam für mein Herz...

Doch so sanft die Vision mich auch überkam, so schrecklich war sie! Ich hustete, da die Vision so unendlich echt war. Rauch kratzte an meiner Lunge und ließ meine Augen brennen. Durch meinen schemenhaften Körper ergossen sich Schüsse in einer Welle, wie man es bloß von Sand im Sturm kannte. Es wunderte mich etwas, dass ich den Rauch doch tatsächlich empfinden konnte, obwohl ich mich doch überhaupt nicht an diesem Ort befand. Jedoch mein Körper, kein bisschen auf die tausend Schüsse reagierte, welche mich im Grunde durchlöchern sollten.

„Es ist nur eine Vision.“ Sagte ich mir halblaut, dann schaffte ich es, dass das kratzen verging und konnte endlich wieder etwas sehen. Erschrocken zuckte ich zusammen, da ich aus heiterem Himmel vor dutzenden... nein, hunderten von Jägerinnen stand. Sie alle trugen schwarze Masken, welche lediglich die obere Hälfte ihres Gesichtes verdeckten und dunkelrote Kutten, wie eine Sekte. Jeder von ihnen trug Maschinenpistolen, oder ähnliche Schnellschusswaffen. Blinzelnd folgte ich deren Fokus, indem ich mich herum drehte und versuchte die, viel zu schnell ablaufende Vision, zu verlangsamen.

Im nächsten Moment verlief alles quasi im Zeitlupentempo. Ich sah etwas... weißes. Es war definitiv eine Therianthrophin, was mich wunderte, denn um uns herum standen riesige Wohnblöcke und wir standen mitten auf einer stark befahrenen Straße... bloß dass die Autos fehlten.

„Ich kenne diese Straße.“ Bemerkte ich und sah mich nach den Richtungsangaben um. Hier waren wir doch darüber gefahren, auf dem Weg zum Restaurant! Mein Blick fiel erneut auf die schneeweiße Raubkatze, in ihrer halb menschlichen Gestalt. Ihre Ohren hatte sie angelegt, die Krallen gezückt und... War das Blut auf ihrer Hüfte? Nun erkannte ich auch hier und da die Streifschüssen, welchen sie nicht hatte ausweichen können und je näher ich an sie heran kam, umso deutlich er wurde... ihre Narbe unter alle dem Fell, an ihrem linken Auge! „Haven!“ Stieß ich erschrocken hervor, bloß einen Moment, ehe der schrille Schrei meiner anderen Schwester erklang. „Freya!“

Entsetzt entdeckte ich sie, völlig am Ende mit ihren Kräften, und leichenblass im Gesicht, zwei Wohnblöcke weiter, auf der anderen Straßenseite, aus einer Gasse heraus torkeln. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ihre Augen waren von dunklen Ringen umgeben, die Haut wirkte eingefallen und ich bekam angst, dass sie jeden Moment einfach in sich zusammen brechen könnte. Im Moment glich sie mehr einer Leiche, denn einer starken und erfahrene Mutter und Kriegerin, wie ich sie normalerweise kannte.

Augenblicklich lief ich zu ihr, um herauszufinden, was los war mit ihr, da entdeckte ich eine Frau, bedeckt mit ihrem eigenen Blut, welche mit ihren letzten Kräften eine Waffe hob und auf Freya zielte.

„Nein!“ Schrie ich, obwohl ich genau wusste, dass es noch nicht geschehen war. Das war noch nicht passiert!

„Iduna!“ Illians ozeanblauer Blick erschien aus heiterem Himmel vor mir und sein unverwechselbarer Geruch erfüllte meine gereizten Lungen, wie Balsam. „Was hast du gesehen?“

Im Grunde... war ich so wütend auf Illian, dass ich in diesem Moment sagen konnte, dass ich ihn aufrichtig hasste. Nicht bloß, dass er mich wochenlang angelogen hat, nein, er hat mich ausgenutzt und getäuscht, wie bisher niemand zuvor. Trotzdem drängte etwas in mir, dass ich keine nutzlose Zeit mit Trotz und Wut verbringen durfte. Mal wieder...war ich auf die Hilfe von anderen angewiesen. „M-Mein Handy...“ Hastig suchte ich in meiner Jackentasche danach und kramte es hervor. Ohne weiter Zeit zu verlieren, suchte ich Thomas Nummer heraus und rief ihn an. Er ging beim ersten Läuten ans Telefon. „Thomas, ich brauche deine Hilfe, jemand will meine...“
„Ich weiß.“ Erklang es erkaltet auf der anderen Leitung.

Ich erstarrte für einen Moment und wechselte einen irritierten Blick mit Illian, welcher ohnehin kein Wort verstand. „Wie, du weißt?“

„Sie haben vor drei Stunden den Abschussbefehl für Haven gegeben. Sie ist nun Freiwild und wenn Freya in deren Schusslinie kommt... Es tut mir so leid, Iduna.“

„Nein!“ Schrie ich empört auf. „Das können sie nicht machen! Wir sind Jägerinnen, Thomas!“

Und das waren definitiv Jägerinnen hinter diesen Masken gewesen. Das wusste ich besser, als alles andere. Damit konnte mich niemand jemals täuschen!
„Es tut mir leid, Idy. Aber nachdem Haven vor Zeugen eine andere Jägerin umgebracht hat, nimmt die Organisation keine Rücksicht mehr auf deine Familie. Egal, was sie in den letzten Generationen geleistet hat.“

„W-Was denn für eine Jägerin? Haven würde niemals eine...“
„Nicht einmal, um einen Therianthroph zu schützen? Jemanden, der vor ihren Augen hingerichtet werden soll? Würde sie nicht eingreifen, Idy?“

Ich schluckte schwer. „A-Aber wir sind Jägerinnen.“ Konterte ich schwach, während meine Stimme brach.
„Freya hat sich für das Leben mit Werwölfen entschieden und die Reserven der Organsiation schamlos für den Schutz ihrer... Kinder eingesetzt. Und Haven? Du weißt, dass sie nicht mehr leben dürfte.“

Tränen, so dick wie Sturzbäche, flossen meine Wangen hinab, während ich einfach auflegte. Natürlich vernahm ich den Schmerz in Thomas Worten. Er hasste jeden einzelnen Buchstaben, doch... niemand agierte gegen die Organisation. Niemals.

Ich schluckte schwer, während immer mehr und mehr Tränen mein Blickfeld trübte. Das war... Das war einfach nicht fair!

„Iduna?“ Illians Fingerspitzen strichen eine meiner Strähnen hinter mein Ohr, während ich noch, wie erstarrt, nach einer Lösung dieses Problems suchte.

Schniefend schlug ich seine Hand fort. „Fass mich nicht an!“ Nein... Das durfte einfach nicht wahr sein. Noch... Noch heute Nacht, in wenigen Stunden, würden meine letzten beiden Schwestern sterben.

Erst meine Eltern. Dann Gini. Und jetzt...

Thomas würde mir keine Hilfe sein, genauso wenig wie alle anderen Jägerinnen. Niemand würde mir helfen. „I-Ich habe niemanden mehr...“ Schniefte ich, als mir plötzlich Vetjan einfiel... Auch er würde sterben, wenn Haven fiel. Und... „Milan!“ Stieß ich erschrocken hervor. „Die Kinder...“ Nein! Nein! Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein!

„Iduna, bitte...“ Erneut versuchte Illian nach mir zu greifen, doch ich wich vor ihm zurück. Nicht jetzt. Ich konnte das einfach nicht. Meine gesamte Welt brach in dieser Nacht zusammen und ich konnte nichts tun. Ich bin einmal mehr... nutzlos!

Ergeben brach ich auf dem, teils dreckigen Holzboden zusammen und stütze mich mit den Armen auf dem Boden ab. Zitternd hielten sie meinen Körper aufrecht, doch nicht weil sie schwach waren. Sondern, weil mein gesamter Körper bebte unter meinem Schluchzen.

Stöhnend, als würde es ihm fürchterlich schwer fallen, die Geduld zu bewahren, ging Illian neben mir in die Hocke und zog mich an den Schultern auf meine Knie. „Gottverdammt, Iduna! Was ist los? Sprich endlich mit mir?“

Blinzelnd kämpfte ich gegen den Tränenschleier an. „M-Meine Schwestern... Sie sterben.“

„Wann?“
„Heute Nacht, in weniger, als einer Stunde.“ Konnte ich mit einer Genauigkeit bestimmen, die mich erschreckte. So detailliert waren meine Visionen noch nie gewesen. Doch bisher hatte ich auch noch nie etwas in meiner Vision wahr genommen, wie Rauch, welcher kratzte.

„Okay, dann haben wir noch etwas Zeit. Komm hoch.“

Mühelos zog Illian mich auf meine Beine, doch ließ dabei einen Arm um meine Taille liegen, während er mich in sein Zimmer zurück beförderte. Erst da, erkannte ich ein oder zwei Köpfe, welche neugierig aus den bezogenen Zimmern schielten. Scheiße, hatten die etwa alles beobachtet und mit gehört?

„Okay, noch mal zum zusammenfassen. Die Organisation will deine Schwestern auslöschen, weil?“

Betroffen starrte ich zu Boden, während mein Hintern auf dem Bürosessel landete. „Freya hat... Kinder von einem Werwolf. Alphasöhne. Und... Und Haven ist...“
„Ich weiß. Das hast du mir alles schon erzählt, nur weshalb jetzt. Was hat Haven getan, dass die Organisation so austickt?“

„Sie hat eine Jägerin getötet. Ich vermute, um die Gestaltwandler aus der Kanalisation zu beschützen.“ Schniefte ich.

Er nickte, als würde er alles ohne Probleme verstehen. Dann war er wohl besser dran, als ich. Ach, Haven... Freya... Ich wischte meine Tränen in die Ärmel meiner Jacke. Wieso nur? Wieso tat die Organisation so etwas? Weshalb konnten sie nicht alles, wie bisher lassen. Uns... von mir aus ausstoßen und jeglichen Kontakt verbieten. Das wäre... Das wäre das weit humanere...

„Hörst du mir überhaupt noch zu?“

Blinzelnd blickte ich hoch zu Illian, welcher mehr, als gereizt wirkte. „Mensch... Iduna, wenn du nicht zuhörst, kann ich dir nicht helfen. Noch sind deine Schwestern nicht tot!“
„Aber bald...“ Hauchte ich, am Ende mit meinen Nerven. Sie würden bald ausgelöscht sein. Raus, aus meinem Leben... Für immer verschwunden, so wie Gini. Dann waren alle weg. Wen hatte ich denn dann noch? Erschrocken horchte ich auf. „I-Ich muss mich um die Kinder kümmern!“ Stieß ich hervor.

Illian betrachtete mich, als könne er nicht fassen, dass ich ausgerechnet jetzt die Nerven verlor. „Wovon redest du?“

„Meine Neffen! Wenn... Wenn Freya...“ Ich brachte das Wort einfach nicht über mich... „Dann, trifft es auch Milan und dann ist niemand mehr für sie da!“

Illian stöhnte frustriert. „Okay, ein letztes Mal jetzt, klar! Sie werden heute Nacht nicht drauf gehen, verstehst du?“ Entsetzt starrte ich Illian an. Woher wollte ausgerechnet er das wissen?
„Bist du etwa auf einmal Hellseher, oder wieso glaubst du das?“ Fuhr ich ihn barsch an. „Schon vergessen? Ich sehe das Schicksal meiner Familie. Und ich habe gesehen, wie jemand hinter Freya mit einer Waffe auf sie zielt und... und Haven wird von einem Kugelhagel getroffen... Das werden sie nicht über-... schaffen...“ Stockte ich heißer.

„Verzogenes Gör.“ Knurrte Illian und Funken tanzten über seine Haut. Du klingst mehr, wie ein Mensch, als eine Jägerin, weißt du das?“

Ich sprang auf die Beine und fand meinen Kampfesgeist wieder. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Du weißt nicht, wie es ist eine nutzlose Jägerin zu sein mit Schwestern die dir alles immer abnehmen, im Glauben, dass sie dich beschützen.“

Ehe ich es bemerkt hatte, standen sich Illian und ich, von Angesicht zu Angesicht, während wir uns herausfordernd an funkelten. Dann sagte er lediglich ein Wort. „Mimose.“ Und... Er lächelte dabei? Mein Herz sprang irrationalerweise im Dreieck, während ich mich für die Schmetterlinge, in meinem Bauch verfluchte. Wieso tat mein verdammter Körper so etwas nur? Ich hasste Illian doch und er war total gemein zu mir! „Genau dieses Funkeln wollte ich sehen.“ Grinste er. „Genau diesen Zorn, diese Wut, nimmst du jetzt und setzt es gegen die ein, die deinen Schwestern etwas antun wollen. Du weißt doch wie. Du bist eine Seherin, Iduna. Womöglich sind deine Kräfte noch nicht ausgereift, doch absolut nutzlos bist du ganz bestimmt nicht.“ Er legte seine Handflächen an meine Wange und das knistern ergoss sich innerhalb eines Wimpernschlages in meinem gesamten Körper, sodass ich wie vom Blitz getroffen, dastand. „Deine Gabe ist passiv... Aber mächtig, hörst du? Ich habe Seher gesehen, die, obwohl ihnen niemand glauben wollte, ganze Dörfer vor Naturkatastrophen beschützen konnten.“
Meine Wut verflog wie Rauch. „Das haben sie?“ Erkundigte ich mich ungläubig.

Sein Blick hingegen, wurde etwas trauriger. „Doch sie waren viel älter, als du und wussten noch, wie man seine Gabe trainiert. Du hast das nie gelernt.“

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich sehe was meiner Familie widerfährt... Was soll ich daran schon trainieren?“

Enttäuscht schüttelte er den Kopf und richtete sich wieder auf. „Die Fantasie von euch Jägern ist wohl in den letzten Jahrhunderten der Modernität zum Opfer verfallen. Das ist traurig.“ Seufzend legte er nun beide Arme auf meine Schultern. „Ich leihe dir die arkane Energie. Aber ich bestehe darauf, dass du dich nicht töten lässt und sie mir nachher wiederbringst, verstanden?“

Ich nickte, wenngleich ich nichts verstand. Was sollte ich denn... „Ah!“ Erschrocken schrie ich auf, als ein Blitz in meinen Körper fuhr. Dieses Mal war es kein angenehmes knistern, sondern geballte Macht, welche durch meine Haut in mein Fleisch, meine Organe und meine Knochen eindrang.

Illian schlug seine Hand auf meinen Mund, um meine Todesgeschrei zu dämpfen, während er mich sanft in seinen Armen wiegte.

Bloß zwei Sekunden später, war alles vorbei...

 

- - - - -

 

Ich wollte ja nicht behaupten, mich wie eine Superheldin zu fühlen, doch... ja, doch, ich genoss es tatsächlich etwas! Während ich neben Illian saß und dieser wie verrückt auf mich einredete, ließ ich die arkane Energie durch meine Fingerspitzen, die Form eines kleinen Mäuschens annehmen. Schmunzelnd sah ich ihr dabei zu, wie sie neugierig ihre niedliche Stupsnase bewegte und kurz darauf, ihre elektrischen Schnurrhaare putzte, welche bei jeder Bewegung knisterte.

„Hör auf damit herum zu spielen!“ Tadelte mich Illian. „Das ist eine mächtige Kraft, mit der du die ganze Stadt in Schutt und Asche legen könntest. Lass es also keine lächerliche Form, wie eine... Feldmaus annehmen! Hast du mich verstanden?“

„Ja, Papa.“ Äffte ich ihn nach. Arschloch!

„Gören.“ Fluchte er, beinahe lautlos. Doch das ließ ich ihm mal durchgehen, denn im Moment gab es etwas wichtigeres, um was ich mich kümmern muss. Meine Schwestern.

Ich schloss die Augen und ballte das Mäuschen zu einem wild knisternden, faustgroßen Ball.

„Also, alles gemerkt? Schild, Schwert, Baum, Tier... Du kannst die Energie alles formen lassen, was du willst. Doch sie wird immer mit dir verbunden sein, was bedeutet, es gibt stets einen Ort an dir, von wo aus sie agiert. Sie kann sich nicht von dir lösen, doch ist unendlich elastisch und belastbar. Schläfst du etwa jetzt?“ Fuhr er mich erneut an.

„Mann! Du bist so ein Hysteriker!“ Maulte ich zurück. „Natürlich schlafe ich nicht! Ich versuche mich zu konzentrieren!“

„Na wenigstens etwas.“

Ich rollte mit den Augen. Minuten... Ich fühlte, wie sie sprichwörtlich durch meine Finger sickerten. Je näher wir unserem Ziel kamen, umso deutlicher wurde mir der Zeitdruck, unter welchem wir standen. Also? Welche Schwester würde ich retten können? Wie sollte ich einen Mob von wütenden und sich betrogen fühlenden Jägerinnen stoppen? Das alles... klang nicht nach einer Aufgabe, welche möglich war zu stemmen. Nicht für jemanden wie mich...

Haven und Freya hätten in diesem Moment bestimmt tausend an Ideen gehabt. Sie wüssten, was zu tun ist und wie sie mir helfen können.

„Iduna...“ Eine warme, wohltuende Hand, legte sich über die meine, welche ich, ohne es zu bemerken, zu einer schmerzhaft, verkrampften Faust geschlossen hatte. „Denk daran, du bist nun allmächtig. Fühlst du dich unnütz, bist du es auch. Wenn du aber überzeugt davon bist, dass du, anstelle deiner Schwestern, nun einmal jemanden retten kannst, der dir etwas bedeutet...“
Ich entzog ihm meine Faust. „Schon gut, ich schaffe das schon.“ Trotzdem wurde mein unruhiges Herz nicht nachsichtiger mit mir. Das war alles einfach so falsch... In meinen Augen, waren alleine meine beiden Schwestern hier, in dieser Welt, die Superhelden, welche einfach alles schaffen konnten!

Eine harte Bremsung, brachte meinen Schädel beinahe in den Genuss eines Stabilitätstests meiner Stirn. Irritiert sah ich mich nach allen Seiten um und erkannte erst da, dass jemand, besonders engagiertes, eine gewaltige Straßensperre errichtet hatte. Mehrere Barrikaden waren so errichtet, dass vermutlich nicht einmal ein Panzer durch käme, Warnschilder so wie Umleitungsschilder, waren wie Zinnsoldaten errichtet worden. Kein Wunder, dass sich hier niemand vorbei wagte. Es wirkte so, als hätte das Militär hier seine Finger im Spiel.

Nur mit dem Unterschied... dass bloß eine einzige Frau, in Polizeiuniform mitten auf der Straße stand und den neugierigen Menschen, welche nun nicht zu ihren Wohnungen konnten, Auskunft gab.

Nervosität und Angst spiegelte sich in den Gesichtern derer Menschen wieder, welche eben Informationen erhalten hatten.

Rasende Wut packte mich, woraufhin violette Elektrizität über meinen gesamten Körper knisterte. Eine Jägerin! Und sie war auch noch eine, die ich zu gut kannte!

Illian schaffte es nicht rechtzeitig, mich an der Jacke fest zu halten, da war ich bereits aus dem Wagen gesprungen und stampfte auf die junge Polizistin zu.

„Iduna!“ Erklang Illians Stimme hinter mir, doch ich ignorierte ihn. „Warte! Bleib stehen!“

Nun wurde auch die Polizistin auf mich aufmerksam. Sie wandte mir, neugierig geworden, ihren Blick zu. Bloß einen Moment später, wurden ihre Augen ganz groß und sie trat betroffen einen Schritt zurück.

Ehe ich nahe genug heran kam, um diese Schlampe als Verräterin zu bezeichnen, erwischte Illian mich am Unterarm und hielt mich damit auf. „Verdammt, was ist los mit dir?“

Ich deutete auf die Polizistin. „Das ist eine langjährige Freundin meiner Schwester!“ Rief ich so laut, dass auch Zelda mich hören konnte. „Du bist ihre Freundin, verdammte Verräterin!“ Nun brüllte ich so laut, dass mich vermutlich das gesamte Viertel hören konnte. „Eine scheiß Verräterin! Das bist du!“ Warf ich hinterher, ehe Illian es schaffte, sich in mein Blickfeld zu drängen.
„Iduna, dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen zu deinen Schwestern, wenn du sie noch retten willst.“

Ärgerlich knirschte ich mit den Zähnen. Illian hatte ja recht. Nicht mehr lange, und diese wenigen Minuten würden ebenfalls abgelaufen sein... Sie entschwanden mir, ohne Gnade.

„Verdammt!“ Fluchte ich und riss mich los, ehe ich nickte. „Gut, gehen wir.“

Illians Arm fand trotzdem meine Schultern wieder und er zog mich nahe an sich heran, während ich, innerlich vor Wut tobend, meine Arme vor dem schmerzenden Brustkorb verschränkte.
„He! Ihr beide. Das ist Sperrgebiet.“ Zelda kam auf uns zu gejoggt, was mir lediglich entgegen kam. Ich wollte Blut sehen und war beinahe rasend vor Zorn!

„Versuch es gar nicht erst, Jägerin. Iduna wird zu ihren Schwestern kommen, das kannst du nicht verhindern.“ Entgegnete Illian mit einer Stimmlage, welche vermutlich jeden erzittern hätte lassen.

Wenige Meter vor uns, stoppte Zelda, welche bereits seit Jahren mit Haven zusammen gearbeitet hatte und wirkte bedrückt. „Tut mir leid, Idy. Aber ich habe klare Anweisungen von der Organisation. Niemand darf vordringen...“

Mein Zorn erreichte ungeahnte Höhen. „Scheiß auf die!“ Stieß ich zischend hervor.

„Was?“ Fragte Zelda erschrocken.
„Ich sagte, Scheiß auf die! Das...“ Ich deutete auf die gesperrte Straße. „...ist Unrecht und das weißt du auch. Du warst Havens engste Freundin!“

Betrübt glitt ihr Blick zu Boden. „Sie war auch meine... Aber die Organisation hat eine Entscheidung getroffen und...“
Ich brauste erneut auf. „Ja! >Die< haben eine Entscheidung getroffen. Und du akzeptierst dass eine mehrfache Mutter und eine junge, erfolgreiche Frau, die beide absolut nichts verbrochen haben, einfach hingerichtet werden? Wie kannst du nur nachts schlafen?“ Ich spuckte vor ihr auf den Boden. „Meine Schwestern sind so viel besser, als ihr beschissenen, hirnlosen Zinnsoldaten! Und wenn du dich mir in den Weg stellst, kannst du dir sicher sein, dass du mich einmal von einer ganz anderen Seite kennen lernst.“ Ich trat bis auf wenige Zentimeter auf Zelda zu. „Du meinst vielleicht zu glauben, dass ich nicht so ausgebildet wurde, wie du, oder meine Schwestern. Das stimmt. Aber glaube mir, dass in mir trotz allem das Blut einer Jägerin fließt. Passiv oder nicht... Ich werde dich ins Krankenhaus prügeln, sodass du nicht einmal mehr deinen eigenen Namen kennst!“

Ihre Unterlippe erbebte, während sie einen unerbittlichen, inneren Konflikt austrug. „Iduna...“

„Wage es nicht, Jägerin!“ Mahnte Illian, lediglich Zentimeter hinter mir.

Als Zeldas Schultern herunter sackten, nahm ich es augenblicklich, fasste ich dies wie einen Startschuss auf. Ohne zu zögern, lief ich auf die Barrikade zu und schlängelte mich hindurch, während hinter mir empörte Rufe laut wurden. Kurz darauf stand Zelda auch bereits vor der, teils besorgten, teils wütenden Menge und versuchte sie wieder in den Griff zu bekommen.

Illian folgte mir auf den Schritt, als auch bereits eine Explosion erklang. „Nein!“ Schrie ich erschrocken auf. Bloß noch eine Biegung! Eine Biegung, und dann wäre ich bei ihnen!

Tränen rannen über meine Wangen und die Minuten, begannen in Sekunden zu enden... „Schneller!“ Illian ergriff meine Hand und zog mich quasi hinter sich her. Meine Beine flogen dermaßen schnell über den Asphalt, dass ich das Gefühl bekam, zu schweben. Der Druck in meiner Brust wurde unerträglicher und das Knistern entbrannte zu ungeduldigen elektrischen Entladungen.

Endlich! Wir schlitterten um die letzte Biegung, als wir auch bereits Haven entdeckten. Sie stand vor einer gewaltigen Rauchwolke, welche vom Wind flach auf dem Boden gehalten wurde, während hinter ihrem Rücken, eine schwer Verwundete gurgelnd zu Boden ging. Neben eben dieser lag eine Waffe, bei der ich mir sicher war, dass sie eben diese Explosion verursacht haben muss.

„Haven...“ Stieß ich erleichtert hervor, während ich heftig keuchte. Gut, ich war definitiv nicht so trainiert, wie meine Schwestern! Zumindest war ich erleichtert, meine Schwester, schmutzig, doch unversehrt aufgefunden zu haben.

Mein Blick suchte weiter die Umgebung ab, doch von Freya fehlte jede Spur. Wo? Wo nur, hatte ich sie in meiner Vision gesehen?

„Komm.“ Illian hatte meine Hand los gelassen und wir begannen, erneut, auf den Ort des Geschehens zu zu laufen. Haven stieß seinen Schrei aus, welcher dem einer verärgerten Bestie glich, dann bewegte sie sich auch bereits unnatürlich schnell, während sie verschiedene Waffen durch den dichten Rauch warf. Wo sie trafen, konnte ich noch nicht erkennen, doch da gingen bereits die ersten Schüsse los.
„Ein Schutzschild, Iduna! Los!“

Ein Schutzschild? Blinzelnd versuchte ich mich daran zu erinnern, wie das noch einmal gehen sollte...

„Tu es einfach! Lass es deinem Willen entspringen!“

Meinem Willen... Okay! Ein Schutzschild vor Schusswaffen. Das benötigte ich vor Illian und mir... Plötzlich war es einfach da! Lila ragte es, etwa zwei Meter, vom Boden beginnend, vor mir auf und bildete eine durchscheinende Wand. Ich fragte mich noch, ob die Stabilität wohl ausreichen würde, da prasselten bereits die ersten Querschläger auf uns ein.

Gut... Die Wand hielt! Na zumindest brachte ich dies fertig!

„Haven!“ Freyas Schrei erklang rechts von uns, als sie aus einer Seitenstraße stolperte, welche ich auch augenblicklich wieder erkannte. Der Schreck setzte ein. Die Zeit war abrupt ausgelaufen... Nun würden sie... Meine Schwestern würden...

„Die bekomme ich!“ Schwor Illian, welcher eher als ich die Frau bemerkte, welche Haven kurz zuvor aufgeschlitzt hatte. Dieselbe mühte sich in eine aufrechte Position, obwohl ich bei diesem Blutverlust schwören konnte, dass sie überhaupt nicht mehr leben dürfte! Illian zog etwas aus der Innenseite seiner Manteltasche und warf es, ohne zu zögern, in den Hinterkopf, der eigentlich toten Frau, ehe diese einen Schuss auf Freya hatte abgeben können.

Erleichtert stieß ich die Luft aus! Was für ein Glück! Illian hatte meine Schwester gerettet! Schluchzend trocknete ich meine Tränen und fixierte den Blick auf etwas anderes. Zwar sagte mir etwas, dass mich das viel Energie kosten würde, doch ich tat es... Mit einem Aufschrei, welcher all meine Wut über die Ungerechtigkeit dieser Welt wiedergeben sollte, stieß ich meine Hände nach vorne und mit ihnen auch mein Schutzfeld. Rasant schob es sich vorwärts, glitt über die Überreste von Havens geliebten roten Autos und stieß den Rauch in eine andere Richtung hinfort, sodass mir das Ausmaß der Bedrohung erst jetzt so richtig bewusst wurde.
„Iduna! Nicht! Das ist zu viel!“ Schrie mich Illian an, welcher gerade noch, die völlig ausgelaugte Freya auffing, ehe sie sich beim Sturz verletzen hätte können.

Natürlich, horchte ich nicht auf Illian. Er hatte nicht gesehen, was ich gesehen habe! Er wusste nicht, dass was ich wusste! Und er würde niemals den Schmerz verstehen, welcher mich dazu antrieb, meine geliebten Schwestern mit allen Mitteln zu beschützen!

Die elektrische Wand, glitt über, die buchstäblich, schwebende, Haven hinweg, kitzelte lediglich über ihr kurzes, von roten Strichen durchzogenes, weißes Fell, dann baute es sich auch bereits vor eben dieser auf.

Die Schüsse verstummten...

Haven erstarrte vor Verwirrung...

Das Einzige was in diesem Moment zu hören war, waren meine barfüßigen Schritte auf dem Asphalt, so wie das Knistern von Elektrizität und Feuer. Sonst schien einfach alles für eben diesen Moment verstummt zu sein und auf den nächsten Schlag zu warten. Was würde geschehen? Wer würde den nächsten, entscheidenden Schlag ausführen?

„Iduna...“ Seine Stimme klang so fern... Warme Flüssigkeit lief meinen Hals hinab, doch ich ignorierte beides. Ich konnte in diesem Moment keine Ablenkung gebrauchen. Alles was ich benötigte, war die Betätigung, dass es meinen Schwestern gut gehen würde! Für immer!

„Iduna!“ Haven entdeckte mich endlich und blickte geschockt von der elektrischen Wand, bis zu mir und wieder zurück. „B-Bist du das etwa?“ Sie stockte ungläubig und schnupperte irritiert in der Luft, welche von mir, zu ihr wehte. Noch trennten uns gut hundert Meter, doch diese wurden immer geringer, während ich auf meine Feinde zu ging.

Ihnen stand ebenfalls der Schock ins Gesicht geschrieben, wenngleich ich unter den Masken, so wie Kutten, nicht mehr, als offen stehende Münder, erkennen konnte.

Allmählich begannen sie meinen Namen zu tuscheln. Ungläubigkeit, so wie Bestürzung wurde lauter, dann trat auch bereits die erste Frau vor.

Ich erkannte sie nicht, doch Haven tat dies ganz offensichtlich. „Iduna Ridder! Was zu den Kreaturen der Nacht, hast du deinem Körper angetan? Sag bloß, du hast zuwider der Natur gehandelt, so wie deine Schwestern?“

Das Knistern der Schutzwand wurde lauter, je mehr mein Zorn aufkochte. „Ich habe, im Gegensatz zur Organisation, das einzige Richtige getan! Ich beschütze meine Familie, so wie sie mich mein bisheriges Leben lang, beschützt haben!“

„Idy?“ Haven wollte einige Schritte auf mich zu machen, doch ein Schmerz explodierte in ihrer Wade, welchen sie aufgrund des Adrenalins, bisher noch nicht wahr genommen hatte.
„Hast du die schändlichste aller Taten begangen und das Blut eines Dämons zu dir genommen?“ Erkundigte sich die Sprecherin weiter.

„Nein!“ Antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Welcher Schandtat hast du dich dann zu verantworten, Ridder?“

Haven fauchte bei diesen herablassenden Worten wütend. Ich hätte es ihr gleich getan, hätte ich es gekonnt. „Das sollten deine Gefährten viel eher dich fragen, oder nicht, Rumina?“ Giftiger hätte niemand auf dieser Welt klingen können, als meine Schwester. „Ich habe dich unten in der Kanalisation getötet! Das weiß ich genau!“

„Und meine Schwestern haben mich reanimiert.“ Konterte Rumina Cavaler. Soweit ich wusste, war sie doch die Anführerin des Cavaler Zrikels. Nur... Haven hatte sie getötet? Wieso das denn?

Havens Schwanz schlug wie verrückt aus Zorn. „Du behauptest also, dass eine deiner Schwestern dich von den Toten erweckt hat?“

„Unsinn. Sie haben mich lediglich Beatmet und eine Herzdruckmassage angewandt. Danach konnte mich eine meiner Schwestern soweit heilen, dass ich ihnen nicht sofort wieder unter den Händen weg sterbe! Aber davon hast du ja keine Ahnung. Du bist keine Jägerin mehr! Das warst du nie!“

Illian war unbemerkt an uns heran getreten und trug meine bewusstlose, älteste Schwester in seinen Armen. „Befindet sich eben benannte Schwester unter euch?“

Als hätte sie diese Depatte längst gewonnen, hob Rumina ihren Kopf, ehe sie eine ihrer Schwestern an ihre Seite winkte.

Illian bedachte das junge Mädchen mit einem langen, intensiven Blick, ehe er einen abschätzigen Laut von sich gab. „So tot sieht sie mir aber nicht aus.“ Spottete er dann, wie gewohnt.

„Was meinst du?“

„Das Mädchen ist eine transparente Heilerin. Das bedeutet, dass sie nun deine Wunden tragen müsste. Ich sehe jedoch keine Wunden, noch scheint sie sonderlich verletzt zu sein.“

„Ach, was weißt du schon über Jäger! Was bist du überhaupt? Noch so eine Kreatur der Nacht, die unter dem Schutz dieser... bemitleidenswerten Familie steht?“

Illian stieß einen spöttischen Laut aus. „Ich bin der letzte auf dieser Erde, der Schutz bräuchte.“ Sein Blick glitt von, der in seinen Armen schlafenden Freya, zu mir, dann weiter zu Haven, welche schwer atmete. „Nennt mich... einen Gönner. Ich bin jemand, der die Jäger bereits seit Jahrhunderten kennt. Sogar seit der Zeit, als die erste Organisation gegründet wurde.“ Langsam ging er auf Haven zu und drückte ihr Freya in die Hände.“
„Was soll das heißen?“

Illian schmunzelte ein mörderisches Lächeln. „Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen... Aber ich bin viel älter und mächtiger, als jemand, wie du, es sich überhaupt vorstellen kann.“ Das glaubte ich Illian seltsamerweise aufs Wort, wenngleich ich nicht so recht wusste, was ein Druide so alles drauf gehabt haben muss.

Zittrig geworden, ließen meine Kräfte nach und mein Sichtfeld begann aus heiterem Himmel zu verschwimmen. Das Kraftfeld vor mir verblasste, während Illian mühelos hindurch trat und seine Arme hob, als würde er sich ergeben wollen.

Waffen wurden entsichert. Mein Beine wackelten plötzlich, da sie weich wurden.

Plötzlich lachte er auf. „Aber keine Sorge... Ihr werdet mich ohnehin vergessen. Die Damen...“ Er verneigte sich, während mein Kopf dumpf den Asphalt berührte. „...ich empfehle mich dann.“

18. Haven Ridder - Was bist du?

Meine große Schwester lastete schwer in meinen Armen, welche nebenbei gesagt, fürchterlich brannten! Als mich dann jedoch die ersten kühlen Regentropfen trafen, wollte ich bereits vor Erleichterung seufzen... Ehe mir bewusst wurde, dass der Himmel völlig klar war. Dunkel, aber mit keiner einzigen, flauschigen, Wolke verziert. Erst, als ich Illians erhobenen Armen hinauf folgte, wurde mir bewusst, dass dieser Regen von ihm aus ging. Fast unscheinbar hatte sich eine durchsichtige, wabernde Wolke über dem >Mob< wie ich ihn ab jetzt nennen würde, gebildet. Irritiert darüber, was Illian damit bewirken wollte, abgesehen davon, alle nass zu machen, runzelte ich die Stirn. So eine Gabe hatte ich ja noch nie gesehen! Ob es eine passive war?

Gini hatte doch so etwas ähnliches gekonnt, nur mit dem Unterschied, dass sie ihren Körper in den gasförmigen Aggregatzustand geschickt hatte.

„Schon gut... Die Müdigkeit ist ganz normal.“ Beschwichtigte Illian, mit einer überaus sanften Stimme, die Menge, welche allmählich zu taumeln begann. Also normal war das aber wirklich nicht!
„Was machst du?“ Fragte ich flüsternd, während ein Körper nach dem anderen zusammen brach, bis ein ganzer Haufen an, in Kutten, schlafenden Frauen dalagen.

Erst als auch der letzte bewusstlos zu Boden gesunken war, ließ Illian seine Arme sinken und wandte mir seinen Blick zu.

Eben noch öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen, ich hoffte schwer auf eine plausible Erklärung, als sein Blick erschrocken weiter zuckte. „Iduna!“

Mir war überhaupt nicht aufgefallen, dass Iduna, nur wenige meter von mir entfernt, auf dem Asphalt zusammen gesunken war. Aus ihrem Kopf kamen einzelne Blutgerinnsel und ließen mir beinahe das Herz stehen bleiben.
„Iduna!“ Stieß ich erschrocken hervor. Bloß einen Moment später, traf mich eine Welle der absoluten Erleichterung. Erschrocken ließ ich Freya an einem Baum gelehnt, zu Boden sinken und sah mich nach der Quelle um. Ich wusste, diese Erleichterung kam definitiv nicht von mir, denn ich war in heller Aufruhr. Eine Schwester hatte ihre gesamte magische Kraft verbraucht. Die andere blutete aus diversen Körperöffnungen und der Mann, den ich eben erst kennen gelernt hatte, besaß eine seltsam Macht, welche andere einschlafen ließ! Wie verrückt war das denn?

Mein Herz klopfte wie verrückt, sodass ich meine Handfläche darauf legen musste, in der Hoffnung es würde wenige rasant sein. Dann entdeckte ich ihn! Weit oben, auf einem der Wohnhäuser stand er. In schwarz, so dunkel, dass er mit dem Nachtblauen Himmel geradezu verschmolz, stand er in seiner völligen Pracht da! „Vetjan!“ Dieser Name war wie Balsam für meine Seele.
Endlich konnte ich nach, gefühlten, Stunden wieder richtig aufatmen. „Dir geht es gut!“ Hauchten wir gleichzeitig und lächelten amüsiert.

Wie ein Äffchen, nur mit Krallen, kletterte Vetjan die Hauswand geschickt hinab und sprang die letzten Meter, quasi direkt auf mich zu und bremste erst, als ich fest in seinen Armen gesunken dalag. „Ich hatte ja so angst!“ Gab die große, stattliche Großkatz zu, welche vor Sorge beinahe umgekommen wäre. Mir erging es ähnlich.
„Du bist zu mir gekommen...“ Schniefte ich, mit unerklärlichen Tränen in den Augen. „Du bist wirklich zu mir an die Oberfläche gekommen!“ So fest ich konnte, drückte ich Vetjan an mich und genoss das Gefühl, als er sein Gesicht an meiner Halsbeuge vergrub.
„Ich konnte nicht anders... Ich dachte du würdest mir entrissen werden. Das war einfach nur schrecklich... Beinahe hätte ich es nicht überlebt...“

Tastend suchten meine Hände, seinen Brustkorb hinauf wandernd, sein Gesicht und drückten es in meine Richtung, sodass ich meinem Gefährten einen langen, tröstenden Kuss geben konnte. „Alles ist gut!“ Hauchte ich zwischen mehreren salzigen Küssen. Mir ging es gut! Ich war nicht tot! Meine Schwestern lebten. Vetjan war zu mir an die Oberfläche, trotz seiner Jahrhundertelangen Ängste, gekommen!

In diesem Moment schaffte ich es kaum, mich von Vetjan zu lösen. Vorsichtig untersuchte er jeden Kratzer, welcher mir zugefügt worden war und streichelte ununterbrochen durch mein, wieder flammend rotes Haar, während wir uns gegenseitig beruhigende Wörter zuflüsterten.

Konnte das denn wahr sein? War das etwa eine Bindung? Bisher hatte ich >bloß< Vetjans Zuneigung zu mir wahrnehmen können. Seine Präsenz, so gut wie überall in der Stadt wiederfinden, seit wir einige Tage zusammen gewohnt hatten. Aber nun? Das hier war etwas ganz anderes! Vetjan hatte meinen Zorn, meine Frustration und meine Angst wahr genommen. Er hatte mich, trotz seiner eigenen Phobien vor der Oberwelt, ausfindig gemacht. Wie musste es dann bloß Milan ergehen? Wie viel hatte er von alldem mitbekommen?

„Hey... Schon gut. Hier...“

Das panische schnappen nach Luft, riss mich aus meiner Zweisamkeit und ich registrierte wieder meine Umwelt. Blinzelnd riss ich mich aus dem Band zu Vetjan heraus und sah mich nach meiner jüngsten Schwester um.
Sie lag, beinahe so leichenblass, wie Freya, in Illians Armen, welcher ihr zärtlich Blutstropfen aus dem Gesicht wischte.
Sie stöhnte vor Schmerzen. „Mein Kopf.“ Dann musste sie auch bereits Blut aus husten!

„Idy!“ Stieß ich erschrocken hervor und fiel regelrecht neben ihr auf die Knie. „Was ist los? Illian, was ist mit ihr? Wieso blutet sie so?“

Beschwichtigend hob er einen Arm, als wolle er mich und meine Worte ausblenden, während sein Blick völlig auf meine Schwester fixiert war. „Schon gut, Kleines. Gleich heilt es, versprochen.“

Zögerlich nickte Iduna und schluckte dabei schwer. Man sah ihr an, dass jede einzelne Bewegung, ihr körperliche Schmerzen zufügte. „...passiert...“ Keuchte sie tonlos.
„Nichts ist passiert. Alle leben, allen geht es gut.“ Schwor er, wobei ich nicht darauf zählen würde. Auch wenn unsere Gegner wehrlos dalagen... Von mir konnten diese Schweine keine Gnade mehr erwarten!

„Aber nicht mehr lange!“ Zischte ich. „Damit sind diese Schlampen zu weit gegangen!“

Illian fing meinen Arm ab, ehe ich auf die Beine kommen konnte. „Stopp, ich habe ihnen bereits schlimmeres angetan, als du es jemals gekonnt hättest.“

Ich deutete auf die schlafende Menge. „Oh keine Sorge, denen blüht schlimmeres, als Albträume.“ Ich versuchte mich los zu machen, doch Illian hielt mich immer noch fest.
„Hör mir doch erst mal zu, verdammt! Keiner von denen, wird euch je wieder etwas antun. Das können sie nicht!“
„Wieso?“ Erkundigte ich mich, mit einem Therianthrophen im Rücken, dem es gar nicht gefiel, dass Illian meinen Unterarm fest hielt.
Er ließ ihn los. „Weil sie sich an nichts mehr erinnern werden. An absolut überhaupt nichts.“

Ich runzelte die Stirn. „Wie das?“ Dann ging mir das Licht erst auf und ich deutete auf den Haufen Frauen hinter mir. „Du meinst... Du hast sie...“

„Ja, ich habe sie alles vergessen lassen.“
„Wie viel?“ Knurrte Vetjan hinter mir.

„Einfach alles!“ Schwor Illian mit einer recht gruseligen Stimme, welche ich eher einem Psychopathen zugetraut hätte.

Mir fröstelte es. „Du kannst Menschen alles vergessen lassen, was sie jemals gesehen oder erlebt haben?“
Er schüttelte den Kopf, ehe sein Blick zurück zu Iduna glitt. Sie folgte, trotz ihrer Erschöpfung dem Gespräch neugierig. „Ich kann einzelne Menschen vergessen lassen, was auch immer ich möchte. Aber bei so einer großen Menge, musste ich mich entscheiden. Entweder jeden einzeln behandeln... Oder alle, einfach alles vergessen lassen. Ihren Namen. Ihre Herkunft. Ich denke, dass sie sogar erst das Sprechen neu erlernen werden müssen.“ Bemerkte er süffisant. „Das sollte euch eine Verschnaufpause verschaffen.“ Auch wenn seine Worte eiskalt und grausam klangen, so waren die Gesten, welche er Iduna gegenüber verwendete, unendlich sanft und liebevoll. Er strich ihr Haar glatt, entfernte sorgfältig einen jeden einzelnen Tropfen Blut, welches ihr hübsches Gesicht verunstaltete und sah ihr währenddessen tief in die Augen.

Iduna nahm jede Geste auf, wie eine verhungernde. Sie schmiegte sich vertrauensvoll an den Mann, der versucht hatte uns anzulügen, sie hinterging und ausnutzte.

„Was bist du?“ Erkundigte ich mich neugierig geworden.

„Etwas uraltes...“ Hauchte Illian, mit den Gedanken vollkommen wo anders.

„Druide...“ Keuchte Iduna.

Illian nickte. „Genau. Das war ich vor einer sehr, sehr langen Zeit.“

Ich schnaufte abweisend. „Den Unsinn kannst du wem anderen erzählen. Druiden wurden einst von den Dämonen ausgelöscht!“

„Ja, das wurden wir ausnahmslos... Frauen, Kinder... Sie waren unbarmherzig.“ Eine tiefe Trauer erklang aus seinen Worten. „Sie haben meine Schwester der Länge nach ausgeweidet. Meinem Vater Arme und Beine ausgerissen... Meine Töchter...“ Er schloss die Augen und hielt einen Moment inne, ehe er sich fasste. „Mein Lehrmeister hat mir damals etwas gegeben, dass wie heiliges Wasser ist, für Dämonen. Eine Berührung und sie lösen sich in Asche auf.“

Nein! Das konnte ich einfach nicht glauben wollen. Illian war tatsächlich bereits so alt? Der Untergang der Druiden war weit vor der Gründung der ersten Jägerorganisation gewesen. Sie sollen angeblich, ähnliche Gaben wie Jäger besessen haben, gepaart mit strengen Traditionen und Ansichten über die Welt. Heute wissen wir lediglich noch über Aufzeichnungen etwas darüber und das was wir wissen, ist leider Mangelhaft. Doch das was man bereits von Anfang an von der Organisation lernt, ist dass wir die Nachfahren dieser Druiden sind. Nicht mehr annähernd so mächtig, da unser Blut verwaschen wurde, trotzdem war unsere DNA, sehr ähnlich der ihrer. Noch ähnlicher, als die zum Menschen, wenn man der Organisation in diesem Fall glauben schenken durfte.

„Wieso lebst du dann noch? Das ist tausende von Jahren her!“

In der Zwischenzeit hatte Iduna wieder Farbe im Gesicht bekommen und Illian half ihr, sich wieder selbstständig aufzusetzen. „Wie fühlst du dich jetzt? Hast du noch irgendwo schmerzen?“

Sie schüttelte langsam den Kopf und ließ ihr Haar über ihr dunkelrot gewordenes Gesicht fallen. „Es geht wieder... Danke...“ Nuschelte sie verlegen.

„Gut, dann gib sie mir bitte wieder.“

Mit hochgezogenen Brauen, blickte Iduna hoch in Illians Gesicht. „Wieso?“
„Weil du offensichtlich nicht damit umgehen kannst, Dummkopf!“ Als er meiner Schwester einen Klaps auf den Hinterkopf gab, fauchte ich ärgerlich. Was bildete er sich bitte ein?

„Ach was, ich habe mich nur etwas übernommen!“ Giftete Iduna ihrerseits zurück.

„Du bist hitzköpfig, kannst nicht zuhören und gehst mir fürchterlich auf die Nerven!“ Maulte Illian ärgerlich.
„Ich bin hitzköpfig? Wer ist es denn, der andauernd wegen nichts an die Decke geht?“

„Wegen >nichts<? Du hättest dich beinahe selbst umgebracht! Hast du mir etwa bei dem Teil nicht zugehört, als ich dir erzählt habe, dass arkane Magie so etwas wie eine Verlängerung deines Körpers ist? Wie weit denkst du, kannst du deinen Arm strecken, ehe er abreißt, Dummkopf!“ Fluchte Illian ärgerlich. „Du kannst sie formen, vergrößern, komprimieren, einen Teil davon sogar werfen! Doch nicht so weit von dir wegschieben! Wie konntest du bloß auf so einen Blödsinn kommen?“

„Ich musste meine Schwester retten!“ Die beiden schrien sich regelrecht an!

„Ach, sag bloß. Und dich mit der arkanen Magie schnell nach vorne zu katapultieren, ist dir etwa nicht in den Sinn gekommen, Holzkopf?“

Sie boxte ihm unsanft in den Magen. „Hör auf mich zu beschimpfen! Woher hätte ich das denn bitte wissen sollen?“

Illian fing Idunas Hand ab, ehe sie diese erneut zurück ziehen konnte. Dann versuchte sie es mit dem anderen Arm, doch das sah er natürlich kommen. „Indem du mir einmal in deinem verdammten Leben zuhörst!“ Schrie Illian sie, wenige Zentimeter entfernt von ihrem Gesicht an.

„Ich habe dir zugehört!“
„Na offensichtlich nicht, du Schnarchratte! Sonst würden wir dieses Gespräch... Au!“ Iduna lachte gehässig, nachdem sie Illian einen schmerzhaften Stromschlag verpasst hatte, dort wo er sie festhielt.

„Hast du mich eben geschockt?“

„Ich habe dir gesagt, dass du mich nicht mehr beschimpfen sollst!“
„Und ich dir, dass du sie mir zurück geben sollst!“

„Na hol sie dir doch, Besserwisser!“

„Stopp!“ Rief ich dazwischen und stöhnte aufgrund meines pochenden Schädels. Die beiden waren doch nicht normal! „Macht das gefälligst wann anders. Erstmal müssen wir Freya zu Milan bringen, ehe dieser die Wände hoch geht.“
Grummelnd kam Illian nach mir auf die Beine, doch kam nicht auf die Idee, Iduna auch nur ein Stück zu helfen. Kopfschüttelnd übernahm ich den Part. Die beiden waren ja überraschend toxisch, wenn sie aufeinander trafen. Wie hatte sich Iduna bloß in den verlieben können?

„Komm, Süße. Wie fühlst du dich?“ Erkundigte ich mich, bei weitem einfühlsamer.

„Danke... Es geht und du? Sind deine Wunden verheilt?“.

Ich nickte. „Ja, alles gut. Achja...“ Ich drückte Iduna ganz fest an meine Brust und küsste ihren Scheitel. „Danke, Idy... Danke, danke, danke!“ Kichernd schlang auch sie ihre Arme um mich. „Du hast uns gerettet. Nur dank dir, leben wir noch.“

Iduna seufzte vor Erleichterung. „Dabei dachte ich, dass ich zu spät kommen werde... Ich habe es nämlich gesehen, weißt du. Vor nicht einmal, einer Stunde... Ich habe gesehen, wie jemand Freya von hinten erschießt und du läufst auch noch direkt... Das war so schrecklich, Haven. Ich dachte wirklich, ich würde nun alleine sein... Ganz alleine...“ Ihre Erleichterung verblasste in Trauer, während ihre Tränen meine Schulter benetzten.

„Scht... Schon gut, meine Kleine. Uns geht es allen gut.“

„I-Ich wünschte nur, ich wäre früher gekommen.“

Ich schnaufte amüsiert. „Wozu denn? Dann hättest du doch nicht diesen großartigen Auftritt hinlegen können. Der war sogar fast filmreif.“

Lachend zog sich Iduna ein Stück zurück und trocknete ihre Tränen. „Klappe!“

Ich küsste sie noch einmal auf die Stirn, dann wurde ich auch bereits von einem eifersüchtigen Kerl weggezogen. „Schon gut... Lasst uns besser von hier verschwinden. Vetjan hält es ohnehin kaum noch aus.“ Beschwichtigte ich meinen Gefährten.

Illian nickte zustimmend. Ich kann euch im Wagen mitnehmen, wenn ihr das wollt?“

Mir reichte ein Blick, hoch zu meinem Gefährten, um es besser zu wissen. „Danke, aber wir werden den unterirdischen Weg nehmen. Was wird eigentlich... aus deinen...“ Ich deutete auf die Bewusstlosen. „Nun ja, denen da?“

„Sie werden in ein paar Stunden erwachen und wie Neugeborene sein. Bis dahin könnt ihr bereits über alle Berge sein.“

„Wir gehen doch nicht weg!“ Warf Iduna dazwischen.
Illian fiel aus allen Wolken. „A-Aber die wollten euch eben noch umbringen!“ Es klang vielmehr wie ein Vorwurf, als eine besorgte Feststellung.
„Ja und? Davon lassen wir uns doch nicht unterkriegen!“

„Du und welche Armee?“ Konterte Illian herausfordernd.

„Also wirklich... Langsam reicht es!“ Fuhr ich dazwischen, ehe Iduna noch ein Wort über die Lippen bekam. „Das klären wir später. Ihr bringt erst mal Freya zu Milan, ehe er noch mit den Kinder hier auftaucht. Ich komme in ein paar...“ Mein Blick glitt zu meinem ausgesprochen aufgewühlten Gefährten. „...in ein paar Stunden nach.“ Zumindest hoffte ich dies!

„Ich trage sie.“ Beschloss Illian, wobei ich Iduna dies ohnehin nicht zugetraut hätte, selbst zu übernehmen. „Und du kannst auf der Rückfahrt erst einmal darüber nachdenken, was du wieder angestellt hast. Du bist wie ein kleines Baby auf Speed, auf das man ständig acht geben muss, da es sonst sich oder jemand anderem weh tut!“ Nörgelte Illian weiter, während er vor meiner kleinen Schwester her ging.

Seufzend schüttelte ich den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie kann man sich bitte in jemanden verlieben, der so... ich wollte ja nicht >gemein< sagen, dafür kannte ich Illian einfach zu wenig. Aber eines war klar... Iduna tat dieser Kerl nicht gut. Auch wenn er uns, irgendwie, gerettet hatte, würde es besser sein, wenn sie ihn nie wieder sah.

„Komm... Ich muss hier weg.“ Knurrte Vetjan mit einer kehligen Stimme. Dabei zuckte sein Schwanz ganz unruhig.
„Natürlich. Komm, ich weiß wo wir durch eine Tiefgarage in die Kanalisation hinab steigen können.“

Gesagt getan und keine drei Minuten später, stand ich bis zu den Knöcheln tief in stinkendem Gewässer. Ach! Deshalb hatte ich diesen Zugangspunkt zur Kanalisation nie gewählt... „Wie bist du eigentlich hierher gekommen?“ Erkundigte ich mich, um mich von dem schleimigen Gefühl zwischen meinen Zehen abzulenken... Igitt! War das etwa eine Ölschicht dort vorne?

Vetjan hingegen, schien sich kein bisschen daran zu stören. „Ich habe deine Schmerzen und deine Angst gespürt... I-Ich weiß aber nicht mehr genau, wie ich hierher kam. Vermutlich bin ich über die Straßen gelaufen... Ich weiß nur, dass mich ständig Lichtstrahlen geblendet haben und laute Geräusche meine Ohren gequält haben.“

Ich runzelte überrascht die Stirn. „In dieser Form?“ Fragte ich, mit einem Nicken auf seinen Pelz deutend. Immerhin befand er sich noch immer in seiner Zwischenform.
„Natürlich. So laufe ich am schnellsten.“

Erheitert lachte ich, über die sonnige Logik seines Denkens, auf. Vetjan war in vielen Dingen so klug und lernfähig, dass ich bereits verdrängt hatte, dass er aus den einfachsten Verhältnissen stammte, die man sich vorstellen kann.
„Wieso lachst du?“

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. „Ach, ich stelle mir bloß bereits die Nachrichten von morgen vor.“ Witzelte ich, ohne dass Vetjan meinen Humor verstand. Da fiel mir ein... Ich blieb stehen und griff nach Vetjans Hand, um dessen, ohnehin ungeteilte Aufmerksamkeit zu erhaschen. „Ich danke dir, Vetjan.“

Sein Blick glitt über meinen verrußten, teils blutigen Körper hinweg. „Wofür denn, Rotfuchs?“

„Dafür, dass du mich retten gekommen bist, natürlich.“

Sein Blick wurde trüber, während seine Finger nach meinem schmutzigen und verdreckten Haar suchten, um hindurch zu streichen. „Ich hasse mich dafür, dich nicht gerettet zu haben.“

Diese Worte überraschten mich. Wie konnte er bloß so etwas denken? „Vetjan...“ Ich lächelte liebevoll zu ihm hoch, während ich meine Arme um seinen Nacken schlang. „Du machst dir keine Vorstellung davon, was es mir bedeutet hat, dass du überhaupt gekommen bist... Dass du mit mir diese Tage im Haus meiner Familie verbracht hast. Das ist... Vor allem in Anbetracht was du bist und wie du erzogen wurdest, dass tollste, auf der gesamten Welt! Es bedeutet mir mehr, als jedes Wort, es beschreiben könnte.“

Nun zauberte sich doch wieder ein Lächeln auf seine herrlich weichen Lippen und sein Blick wurde heller. „Absolut kein Wort?“ Hakte er scherzend nach. Es war wohl das erste Mal, dass ich Vetjan einen Scherz machen hörte... und das ließ mein Herz davon schmelzen.

„Kein Wort.“ Stimmte ich schnurrend zu und reckte mich seinem Gesicht entgegen. „Aber... vielleicht tut es ja auch eine Geste?“

Schmunzelnd ließ er seine Lippen auf meine sinken und genoss meine Zuneigung zu ihm einfach. „Hm... Ich bin noch nicht überzeugt.“ Meckerte er dann, mit einem Funkeln in den Augen, welcher meinen Körper erschaudern ließ.

„Nicht?“ Hauchte ich und küsste ihn erneut. „Dann sollten wir schleunigst nach Hause kommen und duschen. Vielleicht kann ich dich ja dann überzeugen, wie sehr ich die Liebe?“

Vetjan stockte und seine Augen wurden riesig.

Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Was ist?“

„Vergiss die Dusche.“ Abrupt lagen seine Lippen wieder auf meinen, Vetjan packte mich an den Hüften, zog mich hoch und drückte mich unerwartet an die feuchte Wand. Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe ich begriff was ich da eben gesagt hatte. Davor löste sich noch mein Höschen, buchstäblich, in Fetzen auf und wurde von der Kanalisation... vermutlich an einen Ort getrieben, an welchen ich in diesem Moment bestimmt nicht denken wollte!

„Sag es nochmal.“ Forderte Vetjan, während er in meinen puddingartig gewordenen Körper versank.

Als ob ich mich bei dieser Überredungskunst mehrfach bitten lassen würde! Zur Hölle, ich tat es wirklich. Es war vermutlich das dümmste auf der Welt, was jemand tun konnte, abgesehen davon in der schmutzigen Kanalisation zu vögeln. Doch es stimmte einfach. Vetjan und ich hatten beide noch Unmengen zu lernen, aber ich war überzeugt davon, dass wir das überwinden werden. Immerhin gab es leider für Liebe keine Anleitung, doch das was wir daraus machten, würde bestimmen, ob wir unsere Unterschiede überwinden würden und glücklich zusammen sind. Bestimmt werden wir beide hintenan stecken müssen, was wir lieben und gewohnt sind. Unsere Tolleranzgrenzen verbessern... Aber nachdem, was Vetjan heute Nacht getan hatte, zweifelte ich keine Sekunde mehr daran, dass wir das schaffen!

19. Iduna Ridder – Ein neuer Lebensweg?

„Mama!“

„Freya! Wie geht es ihr? Wie schwer ist sie verletzt? Was kann ich tun?“

Kaum hatte ich die Sicherheitstüre aufgesperrt, wurden Illian und ich auch bereits von Freyas besorgter kleinen Familie in Empfang genommen. Milan riss Illian buchstäblich seine Gefährtin aus den Armen und drei Kinder hüpften, beinahe wie besorgte Welpen, um seine Füße herum. Sanft bettete Milan Freya auf dem komfortablen Sofa und streichelte zärtlich ihr Haar.

Jedoch erwachte nun auch der Jüngste dieser Runde, und begann aufgebracht zu weinen. „Schon gut, ich kümmere mich darum.“ Versprach ich Milan, noch ehe dieser aufblicken konnte.

Das erste was mir auffiel, war die Windel, welche sich richtig schwer anfühlte, daher griff ich nach der Wickeltasche. Obwohl Milan und Freya bereits einige Wochen hier lebten, hatten sie es noch nicht gewagt, sich komfortabler einzurichten. Doch aus verlässlichen Quellen, wusste ich, dass Haven für das langjährige Paar bereits einen hübschen und praktischen Wickeltisch bestellt hatte. Daher legte ich die Unterlage auf der Theke auf und angelte nach einem Spielzeug für ihn, damit Tizian sich beruhigte. Daraufhin fischte ich die Feuchttücher aus der Tasche, bloß um zu bemerken, dass die Windeln fehlten. „Mist...“

Nun ja... Windelfrei war der kleine Tollpatsch ja jetzt einmal... Nur hier einfach so, mit nacktem Po liegen lassen, konnte ich Tizian auch nicht... „Hier.“ Verwirrt blickte ich auf, in Illians, nun sanft wirkenden Augen, während sein Blick alleine auf den sechs Monate alten Jungen geheftet dalag.

„Hast du schon einmal ein Baby gewickelt?“ Fragte ich und hob das dickliche Popöchen des Babys hoch, um die Windel darunter zu legen.
„Früher...“ Illian riss sich von dem Anblick los und räusperte sich. Ich merkte, dass er nicht vorhatte darüber zu sprechen. Offensichtlich schon gar nicht über seine Töchter, die er wegen Dämonen verloren hatte. Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, was Illian in den tausenden von Jahren, in denen er bereits auf seine Rache wartete, durchgemacht haben musste.

„Iduna, du musst sie mir zurückgeben, das weißt du. Du hast es mir geschworen!“ Nun klang Illians Stimme nicht mehr so sanft oder gar gebrochen. Eher wieder wie die Stimme eines Generals, welcher mit seinen ungehörigen Kadetten schimpfte.

Stöhnend verdrehte ich die Augen. „Du bist wie eine Aufziehpuppe. Wieos nimmst du sie dir nicht einfach wieder? Ich dachte, sie gehöre ja dir.“
„Genau, sie gehört mir! Und das so lange, wie ich sie benötige. Ich kann sie jetzt noch nicht weggeben. Dafür bin ich bereits zu nahe an meinem Ziel angekommen.“
„Iduna?“ Milan riss seinen geröteten Blick für einen Moment von seiner Gefährtin los.

„Klären wir das später. Erstmal muss ich mich um die Jungs und Freya kümmern.“

Illian stöhnte nun seinerseits frustriert. „Gib sie mir einfach zurück, Iduna! Du hast ja keine Ahnung, wie wichtig es für mich ist, sie zu haben. Ich-...“
Na wenn es so wichtig für Illian war, die Macht über arkane Magie wieder zurück zu erlangen, dann wollte ich nichts lieber, als sie ihm zurück zu geben. Andererseits... je länger ich sie behielt, umso länger würde Illian in meiner Nähe bleiben und mit mir sprechen.

Ist es egoistisch? Ja, das war definitiv... Immerhin hatte Illian diese Macht nicht bekommen, um einfach mächtig zu sein. Nein, Illian verfolgte ein Ziel. Jedoch eines, von dem er mir nicht erzählen würde, solange ich nichts gegen ihn in der Hand hatte. Und wenn es diese Macht war, welche ihn vorerst an mich band, dann würde ich sie auch nutzen!

Trotzig hob ich das Kinn. „Erst kümmere ich mich um meine Familie! Dann kommst du an die Reihe.“ Wow, ich hatte überraschenderweise kälter geklungen, als ich es beabsichtigt hatte. Doch offensichtlich nahm Illian mich endlich ernst. Er knirschte mit den Zähnen und schien mich quasi mit seinem Blick ermorden zu wollen.

Stolz darauf, Illian endlich einmal die Stirn geboten zu haben, ging ich neben Milan in die Hocke, wodurch auch Tizian endlich seine Mutter sehen konnte und sogleich seine schwachen Ärmchen nach ihr ausstreckte.

„Was ist nur mit ihr? Wieso wacht sie nicht auf, Iduna?“

Tröstend rieb ich Milan mit der freien Hand über die Schulter. „Freya hat ihre Magie aufgebraucht. Das geschieht, wenn wir zu viel von unserer Gabe verwenden. Im Normalfall kann es eigentlich nicht passieren, doch gerade Jäger mit der Kraft etwas zu manipulieren, leiden hin und wieder darunter. Sie wird jetzt einige Tage schlafen und immer wieder aufwachen. Vielleicht bekommt sie sogar Fieber, aber ich schwöre dir, das ist auch schon alles. Jäger sterben daran nie. Besonders deine Gefährtin hat noch viel zu viel, dass es sich zum Leben lohnt.“

Erleichtert entglitten dem sonst so verspielten Wolf die Gesichtszüge und er seufzte vor Erleichterung, während er Freyas Stirn zum hundertsten Mal küsste. „Mein Herz...“ Seufzte er, wie ein geschlagener Welpe.

„Willst du sie hoch bringen? Ich kann mich derweilen um die Jungs kümmern.“

„Ich will bei Mama bleiben!“ Riefen die beiden ältesten wie aus einem Mund. Auch sie verstanden den Ernst, auch wenn sie in meinen Augen noch so winzig klein waren.

„Nein, ihr bleibt bei Tante Idy. Außerdem ist es längst Zeit für euer Bett.“ Befahl Milan, doch wirkte dabei kein bisschen autoritär, weshalb ihm die beiden Jungs, gefolgt von dem tapsigen Cain folgten.

Erst als Milan die drei an der Treppe ärgerlich anknurrte, gaben sie nach. „Na kommt, soll ich euch ein Bad einlassen?“ Erkundigte ich mich bei den beiden ältesten. „Oder habt ihr noch Hunger? Dann koche ich etwas?“

„Pizza!“ Riefen alle drei gleichzeitig, woraufhin ich genervt seufzte. Was fragte ich auch überhaupt so dämlich?

„Eine Vegetarische?“ Zog ich sie auf, woraufhin sie die Gesichter verzogen und ich fies grinste. „Dachte ich mir schon. Dann gibt es selbst gekochtes. Irgendwelche Vorlieben?“
„Pfannkuchen!“ War das nächste. „Spaghetti!“ Die dritte Wahl.

„Illian?“ Erkundigte ich mich bei dem trotzig wirkenden Druiden.

Er blickte vom Fenster, welches auf dem Balkon führte, auf zu mir. „Was?“

„Ich habe gefragt, ob du irgendwelche, gesunden und vitaminreiche Vorlieben hast beim Essen?“

Stirnrunzeln betrachtete Illian mich einen Moment, ehe er wortlos den Blick erneut von mir abwandte. Gut, auf seine Hilfe konnte ich offensichtlich nicht zählen. Also hieß es weiterhin drei Jungs und ein Baby gegen...

„Ich mag Sushi sehr gerne.“ Kam es auf einmal halblaut von Illian.

Nun war ich diejenige, welche sich ein wenig erschreckte. Woher war das denn gekommen? Aber egal. Alleine dieser kleine Sieg brachte mein Herz wieder einmal dazu, wie wild zu klopfen, ehe ich, mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen, meine Aufmerksamkeit dem Kühlschrank zuwandte. Im Grunde hatten wir alles hier für improvisiertes Sushi...

„Okay, dann mache ich für uns alle etwas.“ Da der Reis am längsten brauchen würde, entschied ich diesen als erstes im Reiskocher zu kochen. Dann wärmte ich etwas fertig abgefülltes Essen für den kleinen Tizian.

„Was ist mit denn mit Mama? Papa wollte uns nichts sagen, außer dass sie sich krank fühlt.“

Tizian schleimte auf einem weichen Stück Gurke in seinem Hochstuhl herum, daher konnte ich kochen und gleichzeitig mich mit Romeo unterhalten. „Weißt du... da draußen waren böse Leute, die deine Mama und Tante Haven in eine Falle gelockt haben.“

„Wieso?“ Erkundigte er sich.

„Weil diese Leute... denken, dass es nicht gut ist, wenn sich Menschen wie Tante Haven, ich oder Mama in andere Wesen... verlieben. Du, deine Brüder und Papa, ihr seit ja Werwölfe und deine Mama und wir nicht. Das weißt du ja schon.“
„Genau! Ihr seit Jägerinnen. Außer Tante Haven, die ist eine Theriofin.“

Ich kicherte. „Ja, die ist so etwas. Sie wurde verwandelt. Aber die Organisation, welche über uns Jäger bestimmt, nimmt so etwas ganz ernst. Die wollen das nicht, weißt du. Sie sehen Werwölfe, Dämonen, Therianthrophe, Geister und vieles, vieles mehr, als Böse an. Sie wollen, dass die alle nicht mehr existieren.“

„Auch Papa und ich?“

Schweren Herzens nickte ich. „Viele wollen nicht verstehen, dass es auch ganz Liebe Kreaturen der Nacht gibt.“

„Außer Dämonen. Die sind abgrundtief bösartig.“ Erklang Illians Stimme, erneut von der Nähe des Balkons. Nun stand er vor der Schiebetüre und starrte hinaus in den dunklen Abendhimmel.

„Ist das also deine Mission?“ Erkundigte ich mich. „Hast du vor alle Dämonen die du finden kannst auszulöschen?“

„Nein, bloß diesen einen. Der, der für das alles verantwortlich ist. Lösche ich sie aus, hört es endlich auf.“

„Du sprichst von Lilith und den Amazonen?“ Stellte ich klar, da ich mich an das Gespräch von noch vor wenigen Stunden erinnerte... Erst ein paar Stunden war das alles her... Kaum zu glauben!

„Du hast sie heute sogar gesehen.“
„Lilith?“ Das wüsste ich aber! Dämonen waren unverkennbar.

„Unsinn, die Amazonen.“

Ungläubig ließ ich das Messer fallen, mit welchem ich eben noch den Lachs geschnitten hatte. „Der Cavaler Zirkel ist doch kein...“
„Doch. Viele von ihnen sind regelrecht bedeckt von dem Einfluss, den Lilith auf sie ausübt.“

Ich hob Tizian, mitsamt seinem Gurkenstück aus dem Hochstuhl und reichte ihn Romeo weiter. „Leg ihn bitte auf den Krabbelteppich.“ Bat ich, während Illian näher kam. Auch er wollte nicht, dass die Kinder bei diesem Gespräch allzu viel aufschnappten.

„Lilith ist doch ein Sukkubus, richtig? Wieso hat sie dann so viel Einfluss auf Frauen, statt auf Männer? Das wäre doch eher ihre... Fachrichtung.“ Zischte ich ungläubig. Das machte absolut keinen Sinn!

„Bist du mit der Entstehungsgeschichte der Dämonen vertraut?“

Die Entstehungsgeschichte von Dämonen? Wer war das nicht, einmal vom Religiösen abgesehen? „Mensch tut richtig böse Dinge, stirbt, Seele verfällt der Hölle, wird dort gefoltert, bis sie so abartig ist, dass sie dämonisch wird...“

Illian stöhnte genervt. „Das ist >Dämonisch< für Kinder. Ich spreche, von der richtigen Entstehungsgeschichte. Der Grund, weshalb Dämonen existieren! Oder hast du schon einmal einen Engel auf Erden kommen gesehen? Einen Menschen, der bloß gutes Tat und dann als >geläutertes< höheres Wesen zurück zur Erde kam?“
Vampire, Werwölfe, ja sogar in seltenen Fällen, waren Zombies das realistischte auf dieser Welt. Weit realer, als Engel... „Dann bitte, bekehre mich.“ Bat ich und schnitt weiter den Fisch.

„Wie alle Kreaturen der Nacht, so wie Menschen, haben auch Dämonen ihren Ursprung in etwas gänzlich natürlichem. Zu der Zeit, aus welcher ich spreche, war noch nicht einmal die Sprache richtig eingegliedert. Zeremonien wurden mehr aus Aberglaube und Tradition abgehalten, anstatt dass sie auf Fakten beruhen.“ Das war schon klar... „Damals galten Sümpfe und Teergruben noch als die Pforten zu schrecklichen Reichen und die Höhlen dienten als Verstecke für schreckliche Monster.“
„Die Kreaturen der Nacht.“ Fügte ich verstehend ein.

„Genau. Wesen wie wir Druiden waren damals noch primitiv und galten als Heiler oder Schamanen.“ Manche dieser Druiden strebten bereits damals nach längerem Leben.“
„Also waren Dämonen ein... Chemieunfall?“ Quatschte ich erneut dazwischen.

„Mehr oder weniger... Lilith gilt nicht umsonst, als die erste Dämonin und Mutter aller Dämonen.“

Mir klappte der Mund auf. „Ernsthaft? Sie ist so alt?“
Illian nickte. „Lilith gilt nicht bloß als der erste Dämon, sondern war auch die erste Druidin. Damals wurde es nicht gerne gesehen, wenn Frauen mehr taten, als sich um Kinder zu kümmern oder das Essen zu bereiten.“ Na vielen Dank auch! Wenigstens hatte sich dies bis jetzt geklärt. „Aber Lilith, wie sie sie später nannten, war besessen davon Wissen anzuhäufen. Ihr Vater, ein Schamane, brachte ihr zwar ein paar kleinere Sachen bei, damit sie ihren Söhnen später einmal dieselben Sachen näher bringen konnte, die ein jeder Schamane können muss, doch Lilith dachte nie daran sich in diese Schiene drängen zu lassen. Sie wurde geschlagen, misshandelt und... Nun ja, den Rest kannst du dir ausmalen.“ Ich nickte mitfühlend. Das arme Mädchen. Wenn man daran dachte, dass sie damals kaum älter als zehn gewesen sein konnte... Vielleicht sogar jünger? „Das Problem war jedoch, dass diese Taten Lilith immer kälter werden ließen. Ihr schönes Gesicht vernarbte, ihre Haut wurde gefühllos und von ihrem Charakter will ich gar nicht erst beginnen. Man erzählte mir damals, dass Lilith das Leid sogar genoss. Bis sie lernte, das sie es anderen ebenfalls zufügen konnte. Heimlich lernte sie diverse Heiltinkturen und heilte sich andauernd selbst, was irgendwann dafür sorgte, dass Lilith als böser Geist angesehen und verbannt wurde. Bis dahin war sie jedoch bereits so misshandelt worden, sogar mit Knüppel beinahe zu Tode geprügelt, dass sie die Fähigkeit verlor Kinder zu schenken.“

„Wie traurig! Das arme Mädchen!“ Stieß ich hervor.

„Das war als Kind ebenfalls meine Meinung... Aber Lilith war auch die erste Druidin die die Macht zur Unsterblichkeit fand. Sie war nach ihrer Verbannung so sehr von Tinkturen und Tränken besessen, dass sie jeden für ihre Versuche opferte, den sie finden konnte. Kinder, Erwachsene... Das war ihr völlig egal.“

Ich breitete den heißen Reis auf einem Blech aus, damit er schneller abkühlte.

„Jahrzehnte zogen dahin und man begann Geschichten über diese Druidin zu erzählen. Man bezeichnete sie als eine Abscheulichkeit, da sie obwohl alle gleichaltrigen Kinder bereits am Ende ihres Lebens angekommen waren oder darüber hinaus, noch immer so jung aussah, wie an dem Tag, an dem sie das Lager verlassen hatte. Wenige schlossen sich ihr freiwillig an, vor allem Frauen, die sich selbst schlecht behandelt fühlten.
„Kann ich verstehen... Aber hatten sie denn nicht zu viel Angst vor ihr?“

Er schüttelte den Kopf. „Die eine Angst vor gegnerischen Völkern und Misshandlungen muss wohl die vor dem Unbekannten aufgewogen haben.“
Das klang ebenfalls logisch für mich...

„Irgendwann schien es jedoch eine der Frauen als zu viel zu halten... Sie sah sie als zu Böse an und ermordete ihre Meisterin im Schlaf. Eine andere, laut der Legende nach, soll Lilith mit dem Unsterblichkeitsgebräu versucht haben aufzuerwecken. Oder vielleicht war Lilith noch gar nicht richtig tot und versuchte es mit ihren letzten Kräften selbst, hier teilen sich die Geschichten. Fakt ist, dass man Lilith mit dem Mittel im Körper, in eine heiße Teergrube in der Nähe warf. Dort versank ihr Körper für die Unendlichkeit.“

„Na, offensichtlich nicht.“ Wie schrecklich... Das arme Mädchen...

„Noch in der selben Nacht fand man alle ihre Anhängerinnen ausgeweidet vor. Danach erzählte man sich von einem schrecklichen Monster, dass weder Halt vor Menschen, noch Kreaturen der Nacht machte. Sie saugte die Seelen aller Männer aus, die sündigten und sich an Frauen vergingen, oder Kindern.“
In dieser Version klang Lilith wie eine pervertierte Version einer Superheldin. Bloß ohne das happy end, so wie den anderen guten Sachen.

„Okay, der letzte Teil klingt wie der, den wir Jäger über die Dämonen lernen. Sie infizierte werdende Mütter mit ihrem eigenen Blut, auf dass dessen Neugeborenen zu Kreaturen von Lilith wurden, richtig?“

Illian nickte. „Die meisten kamen jedoch tot zur Welt, oder wurden kurz nach dessen grässlichen Geburt vom Vater getötet, da sie nicht bloß die Mutter umbrachten, sondern schreckliche Fratzen besaßen.“

„Und wenn sie nicht gestorben sind...“ Witzelte ich so wohl halblaut, wie auch humorlos. „Einige konnte Lilith retten und zog sie wie ihre eigenen Kinder groß.“ Ergänzte ich. „Sie wurden zu schrecklichen Monstern, die aus Spaß folterten und seltsame Fähigkeiten entwickelten.“

„Genau. Jedoch vor fünftausend Jahren erst, schaffte es Lilith mit ihrem Gefolge so stark zu werden, dass sie uns Druiden regelrecht überrannten. Manche ihre Nachkommen stellten sich jedoch gegen sie. Viele derer, die am längsten überlebt hatten und als Dämonenfürsten galten.“
„Wie Silas...“ Wiederholte ich beinahe lautlos. Auch Silas war eine solche uralte Kreatur und hatte meine... Nein, daran wollte ich im Moment nicht denken.

„Silas, den Namen höre ich bereits zum zweiten Mal von dir. Er ist einer der Dämonenfürsten, die dafür zuständig sind, dass Liliths Verbannung anhält. Das ist das letzte, was ich bisher habe herausfinden können. Weißt du mehr über ihn?“

Ob ich mehr wusste? Über Silas, das was er Gini angetan hatte und sie dann genüsslich in den Sonnenuntergang geritten sind... uns zurück ließen...

Ich schlug das Messer so hart in das Schneidbrett, dass es glatt stecken blieb. „Das einzige was ich über ihn weiß, ist dass einer seiner Dämonen meine zweitälteste Schwester Gini verführt hat, damit sie Dämonenblut zu sich nimmt und stärker und süchtig wird. Dann, als Silas ihr versprochen hat zu helfen, hat sie sich vor zehn Jahren einfach mit ihm, unauffindbar, aus dem Staubt gemacht. Jetzt lebt sie glücklich mit ihrem >Liebsten< sonst wo auf der Welt und hat uns vergessen!“ Illians Hand glitt auf meinen Rücken und er strich tröstend darüber. Ich erwiderte seinen Blick nicht, sondern schnaufte lediglich. „Ähm... Der Reis muss noch etwas kühlen. Ich gehe... mich umziehen.“

Verdammt, dieses Gespräch hatte alte Wunden aufgerissen! Gini hatte uns einfach zurück gelassen... für einen verdammten Dämon! Sie hatte uns einfach vergessen, verdammt noch mal!

Nach ein paar Minuten, in denen ich mich erst sammeln musste, hatte ich das schmutzige Kleid in der Wäschetonne versenkt und angelte nach einer bequemen Sporthose. Dazu ein Top, welches mir bis zur Mitte der Schenkel reichte. Während ich mein Haar durch frisierte, versuchte ich mich, mittels Grimassen, wieder aufzuheitern, doch schaffte es nicht so richtig. Jedoch sonderlich lange wollte ich die Jungs nicht alleine lassen... Im Moment war ich für sie zuständig und Milan würde mir den Kopf abreißen, wenn er wüsste, dass ich...

Ich hatte eben mein Zimmer verlassen wollen, als mir ein Anblick ins Auge sprang, der mich aus der Bahn warf. Es war Illian... er kniete neben Tizian, welcher wie verrückt kicherte. Was Illian tat, konnte ich zwar nicht sehen, da er mir den Rücken zukehrte, doch auf das Gelächter hin, konnte Tizian bloß gekitzelt werden. Da sprang auch schon ein halb verwandelter Cain durch die Lüfte und landete mit ausgestreckten Pfoten, in Illians Armen. Lachend wuschelte er dem jungen Wolf durch das Fell...

Seufzend lehnte ich mich an das Geländer des ersten Stockes und blickte sehnsüchtig hinab auf den uralten Duriden. Illian hatte doch gesagt, dass seine Töchter umgebracht worden sind, von Dämonen, richtig? Ob sie etwa noch Babys gewesen waren? Zumindest eines von ihnen? Seltsamerweise schien Tizians Anblick irgendetwas in Illian wach zu rütteln, von dem ich mir sehnlichst wünschte, ich selbst besäße einen solchen Einfluss auf ihn. War ich noch immer wütend? Ja, klar...

Jedoch verstand ich allmählich weshalb er das alles getan hatte. Vermutlich hätte ich ähnlich wie er gehandelt, wenn ich an seiner Stelle wäre.

Eine Hand berührte mich zögerlich an der Schulter, doch ich musste dieses mal nicht erschrecken. Diese Hand kannte ich bereits mein ganzes Leben lang. Trost spendend, kuschelte ich mich in Milans suchenden Arme und streichelte ihm über den Rücken. „Sie schläft nur, Idy... Wieso schläft sie so viel. Ich muss doch wissen, ob es ihr gut geht...“ So etwas, wie ein Winseln erklang aus Milans Kehle und zerriss mir beinahe das Herz.

„Sie wird das selbstverständlich!“ Beschwöre ich ihn. „Leg dich einfach zu ihr und halte sie im Arm, ja! Ich kümmere mich um eure Jungs. Sie essen bloß noch, dann geht es ohnehin ins Bett.“

Ich fühlte wie sich sein Kinn an meinem Scheitel bewegte, dann ließ er mich los und eilte lautlos an die Seite seiner Gefährtin zurück. Für einen Moment sah ich Milan sehnsüchtig hinterher. Ich beneidete ihn nicht unbedingt um das, was er mit Freya hatte, denn im Grunde hatte ich dasselbe mit meinen Schwestern. Sie liebten mich bedingungslos und gingen sogar nur für mich in den Tot, genauso wie ich für sie.

Wieso also machte ich mir noch Gedanken um einen Typen wie Illian, der ganz offensichtlich nicht ansatzweise dieselben Gefühle für mich hegte, wie ich die für ihn hatte? Das war nicht bloß blauäugig, sondern auch sinnlos.

Bloß... Weshalb hatte er mich dann heute am frühen Abend geküsst?

 

- - - - -

 

Bis die Kinder endlich im Bett waren, war es längst weit nach ein Uhr morgens. Jeden einzelnen deckte ich zu, bis auf Tizian, welcher schon vor Stunden eingeschlafen war und in seinem Bettchen ruhte.

Seufzend schloss ich die Zimmertüre, der fürchterlich erschöpften Jungs und ging hinab in das Erdgeschoss. Dort fand ich Illian am Geschirrspüler vor, wie er alles perfekt einsortierte. So toll schaffte das nicht einmal ich!

Lautlos trat ich an den so jung wirkenden Druiden heran. Mittlerweile sah man ihm die Erschöpfung des Tages daher wollte ich nicht mehr viel Aufsehens um etwas machen, dass rechtens überhaupt nicht mir gehörte. Ich reichte Illian die Hand und erwiderte seinen fragenden Blick, mit einem verlegenen. „Tut mir leid... Ich hätte mich nicht so benehmen dürfen, nachdem du mir und meinen Schwestern eigentlich so viel geholfen hast... Also, danke...“

Illian ergriff kommentarlos meine Hand und... ich ließ einfach los. Es war beinahe so schmerzhaft, wie als ich sie bekommen hatte, bloß mit dem Unterschied, dass es sich so anfühlte, als würde mir etwas zum Überleben genommen werden. Hatte sich etwa Illian so gefühlt, als er sie mir abgetreten hatte? Wie schrecklich!

Das Ziehen endete in einem sanften Kribbeln meiner Fingerspitzen und dem Gefühl, etwas unendlich wichtiges für mich, wieder zurück haben zu wollen. Jedoch wusste mein Kopf es besser. Vielleicht tat ich es, weil ich Illian irrsinnigerweise liebte, oder aber weil ich einfach stets versuchte das Richtige zu tun, mit meinen Schwestern, als Vorbild?

Jedenfalls, so schmerzhaft es auch war... ich tat das richtige! Das weiß ich! Trotzdem fühlte es sich seltsam an, so als ob ich gleichzeitig mit dieser einzigartigen Magie, auch den letzten Halt zu Illian löste. Witzig, vor allem, da ich doch erst, vor wenigen Stunden, mir selbst eingestanden hatte, wie viel er mir doch bedeutete! Schon war der Anflug an Selbsterkenntnis zu einem leeren Loch in meinem Herzen geworden.

Das Kribbeln hielt an, obwohl ich die Macht über arkane Magie doch abgelegt hatte und Illian entließ meiner Hand nicht seinem Griff. Ich wusste nicht mehr, wann genau ich meine Augen geschlossen hatte. Aus Schmerz? Aus Angst? Ich hatte es nicht wirklich wahr genommen, doch das Kribbeln wurde wieder heftiger. Warme Lippen legten sich auf meine, mein Herz zerschmolz, ohne dass ich es erlaubte und die Schmetterlinge in meinem Bauch gingen in Hochbetrieb.

Der erste Kuss, den Illian mir gegeben hatte, war stürmisch gewesen. Er war wild und temperamentvoll gewesen und hatte mich überrumpelt. Nun jedoch, ging er wesentlich zärtlicher vor. Seine Lippen liebkosten meine, anstatt sie erneut zu verschlingen. Seine Zunge leckte mehr vorsichtig über meine Haut, denn besitzergreifend und seine freie Hand, stützte lediglich meinen Nacken, als hätte er Angst, ich könne ihm wie eine Feder im Sturm wieder entwischen.

Bereitwillig öffnete ich meinen Mund, ließ Illians Geschmack ein und hieß ihn herzlich willkommen, während ich es nicht wagte, mich bloß einen Millimeter zu bewegen. Erst, als ich in Atemnot geriet, da ich völlig die Notwendigkeit von Sauerstoff ausgeblendet hatte, zog ich mich erschrocken keuchend zurück. Wow!

Mein Herz klopfte, mein Puls raste wie eine Schnellbahn und meine Beine zitterten erschüttert. Ich wollte Illians Ego ja nicht streicheln... aber dieser Kuss war einfach der Wahnsinn gewesen!

Sprachlos blickte ich hoch, in seine tiefblauen Augen und erkannte zum ersten Mal, seit ich Illian begegnet war, dass der wilde Ozean darin, einem ruhigen See glich. Auch Illian sagte kein Wort. Was ihm durch den Kopf gehen musste, war mir einfach schleierhaft, denn ich wurde aus diesem Idioten einfach nicht schlau. Wieso tat er, was er nun einmal tat? Wie konnte ich jemals schlau daraus werden?

Ich denke... es dauerte Stunden, aber vielleicht auch bloß ein paar Sekunden, ehe sich mein Mund von selbst öffnete und ich sprach das aus, was ich unbedingt wissen wollte. „Wieso?“

Illian blinzelte, als müsse er sich erst selbst sammeln, ehe er genauso nichtssagend antwortete. „Ich weiß nicht...“

Auch, wenn ich bisher eher meinem Kopf gefolgt war, in der Hoffnung Rationalität würde mir über Illian hinweg helfen, wurde es in diesem Moment ziemlich offensichtlich, dass es nicht so sein würde.

Mit erzitterndem Körper neigte ich mich Illian wieder entgegen. Obwohl ich es durchaus besser wusste, fühlte ich eine Anziehung in mir, die mir genau das Gegenteil versuchte einzutrichtern. Ehe wir jedoch erneut aufeinander treffen konnte, hob Illian einen Finger und zerstörte damit den gesamten Zauber, oder was auch immer es gewesen sein mochte. „Ähm...“ Begann er und zog sein vibrierendes Handy aus der Tasche. Erleichterung durchströmte mich, wie ich sie eigentlich nicht hatte empfinden wollen.

Was hatte ich vorhin noch über das >darüber hinweg kommen< gedacht?

„Scheiße, das dachte ich mir bereits.“ Zischte Illian und wirkte wieder wie der völlige Herr über seine Sinne.
„Was ist los?“ Stammelte ich räuspernd, während ich mich an Illian vorbei schob, um die Spülmaschine mit dem letzten Geschirr zu beladen und anzustellen.“

„Ich bin der Sache mit deiner Schwester eben nach gegangen.“

Ich schloss die Spülmaschine und wandte mich irritiert zu Illian um. Mein erster Gedanke galt Freya, dann Haven... ehe ich begriff, dass er Georgina damit meinte. „Gini?“

Illian nickte. „Du hast recht, sie ist wie vom Erdboden verschluckt.“

Mit den Augen rollend, verschränkte ich die Arme vor dem Brustkorb. „Ach, was du nicht sagst.“

Illian seufzte. „Ich vertraue eben lediglich meinen Quellen.“

Und da war er wieder... Der Grund, weshalb ich mir Illian aus dem Kopf schlagen musste! „Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, aber im Gegensatz zu >dir< bin ich diejenige, die bisher ausschließlich die Wahrheit gesagt hat.“

Gleichgültigkeit spiegelte sich in seiner Miene wieder und führte zu heftigen, jedoch bloß imaginären Messerstichen in meinem Abdomen. Auf nie mehr wiedersehen, Schmetterlinge! „Es gibt für alles ein erstes Mal.“ Erwiderte er lediglich kalt.

„Wahnsinn. Und, was soll das jetzt heißen, außer dass ich nicht gelogen habe?“ Rieb ich es ihm stichelnd unter die Nase.

„Dass da irgendetwas faules vor sich geht, dem ich am Besten sofort nach gehe.“
Illian hastete regelrecht zu seiner Jacke, welche er achtlos über das Sofa geworfen hatte und schlüpfte hinein, während er seine Schuhe einsammelte.
„M-Moment, du gehst jetzt einfach weg?“

Ich bin ja niemand der auf Details herum ritt... Okay, das war ich vielleicht doch ein klein wenig... Aber Illian hatte mich eben noch, vor weniger als einer Minute, leidenschaftlich geküsst! Oder halluzinierte ich jetzt schon vor Müdigkeit und Aufregung?“

„Wieso nicht?“ Fragte er völlig nichtsahnend. So dumm konnte er doch nicht sein, oder?

„Wieso? Na wieso nicht? Ich weiß ja nicht, vielleicht weil bis vor einer Minute noch deine Zunge in meinem Mund gesteckt hat, und du jetzt völlig kommentarlos abhaust?“ Huch... Das war direkt gewesen... Aber was soll´s? Ich stemmte meine Arme in die Hüften, so wie ich es bereits etliche Male bei Freya gesehen hatte und erwiderte seinen ungläubigen Blick, mit einem herausfordernden. Offensichtlich hatte Illian nicht mit einer Konfrontation gerechnet. Punkt für mich!

„Was ist das denn für eine schwache Argumentation?“ Giftete er. „Es war bloß ein Kuss, nichts was ich nicht schon oft genug gehabt hätte.“ Damit verließ Illian das Apartment und ließ mich, wie so oft, gekränkt und sprachlos zurück.

„Arschloch!“ Rief ich nach kurzer Zeit, halblaut gegen die Türe, ehe sie nach einem Piep rapide aufging. Erschrocken schrie ich auf. Wie hatte Illian...
Ein femininer Gegenschrei folgte augenblicklich auf meinen, ehe ich buchstäblich angefaucht wurde. „Iduna! Willst du, dass ich tot umfalle?“

Erleichtert fasste ich mir an mein lädiertes Herz. „Haven! Du bist das!“

„Ja, wen hattest du erwartet? Illian wirkte ja eben nicht so, als wolle er noch einmal zurück kommen. Er hat sogar die Liftwand getreten! Was war los?“

In einem Redeschwall, den ich kaum bremsen konnte, erzählte ich Haven von allem, was heute Abend geschehen war. Erst Illians Geständnis, dann der Kuss, die Macht über arkane Magie, meine Vision, die Heldentat, bis hin zu Lilith und dem letzten Kuss von gerade eben.

„Und dann stürmt er einfach hier raus und meint noch, das sei ja nichts besonderes gewesen, immerhin küsst er so gut wie jeden Tag irgendwelche Weiber!“ Übertrieb ich voller Jähzorn! Himmel tat das gut, endlich den Dampf irgendwo entweichen zu lassen! „Dabei war der Kuss dermaßen der Wahnsinn... hätte er nach einem Quickie gefragt, hätte ich bestimmt nicht nein gesagt. Aber was macht der gnädigste einmal wieder? Er...“ Ich warf unwissend die Hände in die Luft. „Ich könnte es dir nicht einmal beschreiben, denn ich habe ehrlich keine Ahnung, was in diesem Hohlkopf vor sich geht! Erst ist er abweisend, doch ich klammere weil ich denke, er gehört zur Familie. Dann stellt sich heraus, dass er lügt, doch er hilft mir euch zu retten, ohne zu zögern. Gut, denke ich, >wuhu< es steckt ja doch ein guter Kern in Illian, weil er mich im Arm hält, mich so... einfach >so< halt ansieht, als würde ich ihm doch etwas bedeuten, küsst mich sogar zwei mal! Ja! Zwei mal und keines davon war von mir aus gegangen!“ Schrie ich Haven an, die sich ein Schmunzeln nicht einmal mehr erwehren konnte. „Hör auf so blöd zu grinsen, ich weiß ja selbst, wie lächerlich ich klinge!“ Ruckartig wich sämtliche Wut und ich ließ mich in Havens ausgestreckten Armen, auf die Bank fallen.

„Männer sind scheiße, das weißt du doch, Süße.“ Beschwichtigte sie mich.

„Nur ein Illian ist schlimmer. Uralt und trotzdem so scheiße, dass ich eigentlich aus tausend gründen, schreiend davon laufen sollte.“

Haven nickte ausgiebig. „Ja, das solltest du, denn ich bezweifle, dass Illian noch einmal einlenkt. Zumindest klingt es nicht danach. Tut mir leid, Süße.“

Ich seufzte, zu erschöpft um noch eine einzige Träne hervor zu drücken. „Wieso küsst er mich dann? Das ist nicht fair!“

„Das ist es nicht...“ Stimmte sie mir, ihrerseits seufzend zu.

Ruckartig setzte ich mich wieder auf. „Weißt du was? Vergessen wir ihn! Ich werde ihn mit keiner Silbe, je wieder erwähnen. Also... Wie geht es Vetjan? Hat er sich gut erholt, nach dem schrecken?“

Kopfschüttelnd kicherte meine wenig ältere Schwester. „Das willst du jetzt bestimmt nicht hören. Wie geht es denn Milan? Der muss auch ziemlich schockiert sein, oder?“

Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen. „Er liegt oben bei Freya, also lenk jetzt nicht ab. Was ist mit Vetjan? Was hat er angestellt?“

Ihre Wangen verfärbten sich verräterisch. „Nichts, gar nichts. Aber solltest du nicht längst im Bett sein? Morgen ist doch Uni, oder?“

Nicht ihr ernst! Ausgerechnet jetzt schickte sie mich ins Bett, wobei ich doch ganz offensichtlich nicht einschlafen würde?

 

- - - - -

 

Tja, anscheinend behielt ich damit nicht recht... Kaum hatte ich mich in die Decke eingewickelt, schlief ich auch bereits wie ein Baby. Mit geröteten Augen schleppte ich mich früh morgens wieder hinaus und war, wie zu erwarten, die einzige wach. Hasserfüllt, eine blöde Studentin sein zu müssen, machte ich mir bloß eine Jause zum gehen. Offensichtlich hatte Haven nicht vor, mich heute zur Uni zu fahren.

In der Uni wurde es nicht unbedingt besser. Vera und ich hatten uns zwar angenähert, doch stritt weder sie ab, dass sie wegen Illian überreagiert hatte, mich dermaßen anzufahren, noch konnte ich mich ihr vollkommen öffnen. Ich hatte nicht gedacht, dass das jemals so ein Problem zwischen uns werden könnte.

Noch dazu, sah sie mir meine Übernächtigung an und war alles andere als erfreut darüber. Immer wenn mein Kopf während einer Stunde weg kippte, trat sie mich heftig unter dem Tisch, wodurch mir die Tränen kamen. Autsch!

Ich persönlich fand ja spätestens in der dritten, dass es absolut keinen Sinn machte. Nicht bloß, dass ich total erschöpft war, ich bekam ohnehin nichts vom stoff in meinen Kopf hinein. Je mehr Wochen vergingen, umso weniger scheine ich zu verstehen, als ob die Lehrer eine fremde Sprache mit mir sprachen. Bald schon würde es Wiederholungstests geben, in denen wir uns davon überzeugen sollten, ob wir für diesen Beruf gemacht waren, oder eben nicht.

Tja, in meinem Fall schien es ganz klar zu sein.

„Miss Ridder?“ Erkundigte sich mein Professor aus der untersten Reihe, an der Tafel. „Ihnen ist bewusst, dass wir eben den Stoff durchgehen, der so wichtig ist, dass er Ihren kommenden Lebensweg bestimmen wird?“

Ich grunzte, während ich fertig meine Tasche packte. Alles, denn ich hatte nicht vor, je wieder diesen Saal zu betreten! „Tut mir leid... Aber ich sehe ein, dass das hier nicht mein zukünftiger Lebensweg sein wird.“
„Ach, haben Sie etwa etwas besseres zu tun?“

Schmunzelnd blickte ich ein letztes Mal in die Runde. „Mal sehen.“

„Mal sehen?“ Zischte Vera entrüstet. „Was war mit deinen langen Reden, in das Familiengeschäft einzusteigen und zusammen mit deiner Schwester zu arbeiten?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht machte ich doch lieber etwas eigenes? Oder ich arbeite als Putzkraft in der Firma meiner Schwester? Was weiß ich! Aber Rechtswissenschaften, Medien und das alles... ist so schnarchlangweilig, dass ich mir lieber die Augen heraus reißen würde.“

Damit verließ ich den Hörsaal, hinter mir Gekicher von den anderen und ich konnte schwören, dass mindestens zwei ebenfalls ihre Sachen, scheinbar inspiriert von meinen Worten, packten.

Ja, es tat mir leid, dass ich die Uni hin schmiss. Und ja, natürlich wollte ich meine Schwestern nicht enttäuschen... Trotzdem war ich überzeugt davon, dass Anwältin, einfach nicht mein Lebensweg sein würde. Vielleicht lag es noch an der Restwirkung der Macht, welche in mir geschlummert hatte? Oder aber mein eigenes Temperament schlug nach beinahe achtzehn Jahren endlich einmal durch? Wer wusste es schon. Ich war davon überzeugt, dass dies hier verschwendete Zeit sei, denn etwas anderes, viel spannenderes wartete auf mich. Die Welt? Unergründete Plätze? Vielleicht auch einfach bloß die Steuerzahler? Was wusste ich schon? Aber egal, wie sauer Haven sein würde... ich ließ mich definitiv nicht dorthin zurück stecken!

„Iduna?“ Erkundigte sich Milan verwundert, als ich zur Wohnungstüre herein kam. Er sah schrecklich aus! Seine Augen waren beinahe tiefschwarz umrundet, sein Gang gekrümmt, das Haar strähnig und verknotet... So hatte ich Milan noch nicht einmal nach der Geburt seines ersten Sohnes gesehen!

„Milan, geht es dir gut? Bist du krank? Können Werwölfe überhaupt krank sein?“

Schmunzelnd ließ er den strampelnden Ace von seiner Schulter, woraufhin dieser hämisch lachend davon lief. „Danke, ich weiß selbst, dass ich scheiße aussehe.“

„Ist es das Band? Überträgt es etwa auch Freyas Erschöpfung auf dich?“

Er nickte schwach und ließ sich neben einem, bloß halb eingekleideten Cain, auf die Bank sinken. „Nicht nur das... Es ist, als würde Freyas Körper versuchen, den eigenen Energieverlust auszugleichen, in dem er ihn von mir bezieht... Sehe ich wirklich so schlimm aus?“

Spontan log ich. „N-Nein... Ich war bloß... Etwas vom Chaos irritiert.“

Natürlich glaubte er mir kein Wort. „Was machst du überhaupt so früh hier?“

Seufzend ging ich neben Cain in die Hocke und angelte nach der Jogginghose, um ihn fertig einzukleiden. „Ehrlich gesagt... habe ich eben geschmissen.“
„Was denn?“ Erkundigte mein Schwager sich, völlig auf der Leitung stehend.

„Die Uni.“ Antwortete ich halblaut, doch das entging natürlich seinem Spitzengehör nicht!
„Was? Wieso das denn? Wegen dem, was gestern geschehen ist? Iduna, wenn du jetzt denkst, dass du dich um deine Schwestern und uns kümmern musst, dann...“
„Nein!“ Schwach lachend hob ich die Hand, um seinen heiseren Redeschwall zu stoppen. „Nein, keine Sorge. Ich meine, natürlich hat es etwas mit letzter Nacht zu tun. Ich bin eben keine Kämpferin, kein Raubtier, noch weniger eine Erwachsene, wie es scheint... Aber dass ich gestern das erste Mal in meinem Leben, wirklich jemanden beschützen und helfen konnte... das hat etwas verändert. Das ist mir während der letzten, endlosen Stunden bewusst geworden. Und ja, bestimmt kann ich euch nicht mit meinen eigenen, nicht vorhandenen, besonderen Kräften weiter helfen. Aber... aber... Ich habe einfach das Gefühl, dass etwas anderes auf mich wartet! Es ist ein bisschen, wie meine Visionen. Die sind ebenfalls stärker geworden, denn ich konnte fast perfekt einschätzen, wann die Vision eintreffen würde! Auf die Minute genau, weißt du Milan! Und natürlich gehe ich nicht davon aus, dass ich das nun den Rest meines Lebens weiterhin tun werde. Euch den Hintern retten.“ Scherzte ich. „Aber dennoch, habe ich das-...“ Das Läuten der Türglocke unterbrach meinen, beinahe, epischen Redefluss. „Bleib nur, ich gehe.“ Versprach ich und eilte zur Türe, um mit dem Rezeptionisten zu telefonieren.

Kurze Zeit später, standen Manuel und die entzückende Wölfin Rachel vor der Türe. Sie strahlte mich an, wie die Sonne höchst persönlich, während ihr Vater, ein bisschen, wie Milan aussah.

„E-Es tut mir leid, dass wir euch ohne Einladung besuchen, aber... ich muss bloß für einen Moment zu Milan.“

Ich bin zwar weder eine Wölfin, noch die Gefährtin von einem, doch ich hatte lange genug in einem Wolfshaushalt gelebt, um es besser zu wissen. Kein Rudelmitglied ließ einen fremden Wolf in die Nähe seines kranken Alphas! Das wäre so etwas wie Verrat an der eigenen Familie.

„Tut mir leid, aber er arbeitet im Moment. Um was geht es?“

Manuel tat aus heiterem Himmel etwas völlig unerwartetes... Er verneigte, mit gefalteten Händen vor mir. „Ich weiß wie dreist diese Bitte ist... aber deine Familie ist die einzige, der ich hier vertraue... Könntet ihr bloß für eine Stunde auf meine Tochter sehen? Bitte, es ist ein dringender Termin mit euren Freunden.“

Mein Blick schweifte erneut hinab zu Rachel...

Ich hob einen Finger. „Gib mir eine Sekunde.“ Dann schloss ich die Türe.

20. Haven Ridder - Kaputtes kann man nicht immer reparieren, doch ersetzen kann man es auch nicht

Ich öffnete die Eingangstüre, hinter welcher ein nervöser Werwolf, mit seiner todgeweihten Tochter stand. Letztere hatte in den letzten Jahren gelernt, das Leben so zu nehmen, wie es kam und es auszukosten, denn... viel Zeit blieb dem armen Mädchen nicht mehr.

Manuels, bisher besorgter Blick, wurde ein wenig ängstlicher, als er mich erblickte, anstatt Iduna. Als ich jedoch nickte und Rachel Einlass in meine Wohnung bot, seufzte er voller Erleichterung.

„So, mein Engel... Ich bin bloß eine Stunde weg, ja!“
Ihr Vater wollte noch weiter sprechen, doch Rachel winkte ab. „Papa, bitte! Ich bin zehn, keine fünf Jahre mehr.“ Sie küsste ihn liebevoll auf die Wange. „Die Jungs werden schon auf mich aufpassen.“ Versprach sie, nicht gerade zur Begeisterung ihres Vaters, während ich mir eines Lächelns nicht verwehren konnte. Ein entwaffnendes, kluges Mädchen, dass er da hatte. „Pass nur auf dich auf. Ich hab dich Lieb.“

„Ich liebe dich auch, mein Engel.“ Er küsste sie zum Abschied auf die Stirn, dann eilte das, stets in einem hübsche Kleid gekleidete, Mädchen in meine Wohnung. Dort wartete Ace bereits, wenige Zentimeter hinter mir, darauf, dass sie endlich zum Spielen kam.

Schmunzelnd schloss ich die Türe hinter mir, während Manuel mich irritiert musterte. „Was hast du vor?“

Auch, wenn es mir zutiefst zuwider war... mehr noch, als bei unserem ersten zusammentreffen... „Ich werde dich geleiten und sichergehen, dass du unverletzt zu deiner Tochter zurück kehrst.“

Er runzelte irritiert die Stirn. „Aber ich gehe doch bloß zu euren Freunden. Die waren bisher immer sehr aufgeschlossen mir gegenüber.“

Ich drückte den Knopf für den Lift, während ich aggressiv knurrend mit den Schultern rollten. „Ich sagte auch nichts über deren Sicherheit, oder?“

Schweigend fuhren wir mit dem Liftboy hinab ins Erdgeschoss wo mein, leider letztes verbliebenes Auto stand... Seufzend betrachtete ich den leeren Platz daneben. Mein Baby... Imaginär blinzelte ich eine Träne fort, dann stieg ich ein.
„Okay, was ist vorgefallen? Wieso schicken sie mir dich, als Sicherheitskraft mit? Ihr wisst, dass ich ein Werwolf bin, der bloß noch für seiner Tochter lebt. Das bedeutet, dass mich absolut nichts davon abhalten wird, wieder zu meinem Mädchen zurück zu kehren.“

„Tut mir leid, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich dich für unfähig halte. Ich weiß, dass ein Elternteil alles für sein todkrankes Kind schafft. Aber es hat sich letzte Nacht einiges verändert. Deshalb muss ich feststellen, wie sehr ich Helena und Thomas noch vertrauen kann.“

In einer, meiner Meinung nach, viel zu langen Fahrt, erzählte ich Manuel von den letzten Vorkommnissen. Er war schockiert, dass die Organisation selbst bei ihresgleichen so weit ging... Doch, das waren wir nun nicht mehr.

„Wie lang hält dieser Zauber von dem Druiden an?“

Ich zuckte unwissend mit den Schultern. „Das kann ich dir nicht beantworten. Er sagte, es sei permanent.“

Manuel schenkte mir einen Blick, welcher mir verdeutlichte, für wie dämlich er mich hielt. „Wieso fährst du hier denn dann seelenruhig herum? Sollten deine Schwestern und du nicht bereits über alle Berge sein? Dorthin wo euch die Organisation nicht findet?“

Ich lachte erheitert auf und warf mein Haar zur Seite. Bestimmt wirkte ich in diesem Moment erheblich arrogant... Aber das war mir egal. „Für meine Familie gibt es keinen Ort, an dem wir uns verstecken könnten. Sie finden uns, selbst wenn wir uns unter der Erde, irgendwo im nirgendwo, einigeln.“

„Also...“ Fuhr er fort. „Bleibt ihr einfach hier und tut, als sei nichts gewesen?“

Ich grunzte. „Einen Scheiß werde ich tun! Sie werden meinen Neffen, Milan und Vetjan nichts antun, solange sie sich nichts zu Schulden kommen lassen. Aber uns drei Schwestern werden sie keine Pause gönnen. Deshalb nehme ich diesen Atemzug, so gut wie ich kann und werde das tun, was ich am besten kann.“
Er hob fragend die Brauen.

„Ins Wespennest stechen, natürlich. Oder wie denkst du, habe ich mir meinen Ruf unter den Therianthrophen gesichert? Die sind weder zimperlich, noch zeigen sie ihren Feinden gegenüber einen Hauch Mitgefühl.“
„Du kämpfst hier aber gegen einen Feind, der dich, erstens, seit deiner Wiege kennt, zweitens, bereits seit Jahrtausenden, Jagd auf Leute wie dich und mich machen.“

Womit er recht hatte... Doch das spielte für mich keine Rolle mehr. Ich bin keine vollwertige Therianthrophin, deshalb handelte ich bestimmt nicht kopflos oder instinktiv. Das würden sie bestimmt von mir erwarten. Aber dafür wusste die Organisation einfach zu wenig über mich. Ja, ich bin nicht, als richtige Jägerin ausgebildet worden, wie Freya und Gini. Ja, ich bin mittlerweile zur Hälfte, oder gar ein wenig mehr, Therianthrophin. Das ist eben so! Aber hinter alledem, was die Organisation über mich dachte... war ich immer noch ich. Kreativ, beschützend und einfühlsam.

Quietschend hielt mein Wagen vor Helenas und Thomas zuhause. Nur einen Moment später, flog hinter mir die Fahrertüre zu, während der Wagen von selbst abwürgte. Manuel hatte Mühe, trotz seiner Herkunft, hinter mir her zu kommen, ehe meine Faust unsanft gegen die massive Sicherheitstüre knallte.

Ich hörte Thomas Schritte hinter der Sicherheitstüre, bloß einen Sekundenbruchteil, nachdem Manuel neben mir angekommen war, gefolgt von Helenas wüsten Beschimpfungen, die ich so mochte. „Also wirklich, reiß dich etwas zusammen, du Mimose! Sie wird dir schon nicht auf Anhieb den Kopf abreißen. Du hast nichts verbrochen, Arschrkriecher!“

„Helena!“ Zischte Thomas empört. „Sie kann dich hören!“

Seine Frau schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Dann hoffe ich, dass sie dir noch den Kopf abreißen wird!“ Zischte sie ihn an, schubste ihn anscheinend, gegen seinen sturen Protest, zur Seite und riss die Türe, mit einem erfreuten Lächeln auf. „Bin ich froh, dass du noch lebst! Wie geht es Freya? Iduna?“

Schmunzelnd zog ich meine alte Freundin in eine Umarmung. „Gut, wir haben es überstanden.“

Etwas gröber schob sie mich von sich und betrachtete mich mit ihrem, alles durchschauenden, >dritten< Auge. „Du hast dich verändert. Aber bist noch nicht ganz Großkatze. Das steht dir.“

Verlegen strich ich eine Strähne hinter mein Ohr. „Danke... Denke ich.“

Sie schmunzelnde, dann begrüßte sie Manuel. „Gut, das ihr gemeinsam kommt. Ich weiß, ihr habt echt viel um die Ohren jetzt mit,“ Sie nickte in Richtung ihres Mannes, welcher ganz bestimmt eine tödliche Waffe unter seiner Strickjacke versuchte zu verbergen. „diesen Idioten und so. Aber ich denke, wir können gemeinsam Rachel helfen.“
„Könnt ihr?“ Erkundigte sich Manuel, mit lediglich einem kurzen nicken an Thomas, während er hinter Helena hinterher dackelte.

Sie nickte. „Physiologisch, kann ich ihr auf jeden Fall helfen. Aber es wird bestimmt nicht einfach sein. Im Grunde...“ Sie nahm vor dem runden Esstisch, auf dem, gefühlt, tausend Zettel lagen, platz und schien in ihrer Unordnung, alles zu finden, was sie benötigte. „ist es eine genetische Mutation, genauso wie ihr es mir beschrieben habt. Im Mutterleib hätte ich ganz bestimmt noch viel mehr für sie tun können, oder als Neugeborenes. Aber jetzt kann ich... dir bloß noch anbieten, ihren Tod weiter hinaus zu zögern.“

Er runzelte irritiert die Stirn.

„Tut mir leid, das war nicht gerade einfühlsam, ich weiß. Aber ich bin eine der letzten Personen, die irgendjemanden etwas vorspielt. Deshalb sage ich es direkt. Wird Rachel keine Alpha... Stirbt sie, das weißt du aber bereits.“

Manuel nickte, mit einem fast sichtbaren Glos im Hals und ließ sich ihr gegenüber auf den Sessel fallen.

„Im Moment ist es eine Frage von... Stunden, oder Tagen, bis ihre Pubertät ausbricht und sie daran zugrunde-...“
„Helena!“ Ermahnte ich meine alte Freundin.

Sie räusperte sich. „Auf was ich hinaus will, ist, dass ich ihr anbieten kann, wenn sie keinen Alpha töten will, um selbst am Leben zu bleiben, noch ein paar Jahre zu leben. Sie kann erwachsen werden, langsamer als alle anderen, was sie bestimmt zu einem Außenseiter machen wird, ohne Brustwachstum, ohne deutliche Zeichen, dass sie tatsächlich... sechzehn, siebzehn ist, oder...“
„Sie könnte siebzehn werden?“ Stieß Manuel ungläubig hervor und Tränen begannen sich in seinen Augenwinkeln zu sammeln. „M-Meine Rachel könnte wirklich... so alt werden?“

Tröstend legte ich meine Hand auf die Schulter des verzweifelten Vaters. Helena seufzt, ebenfalls mitfühlend. „Ja, Rachel kann achtzehn, sogar zwanzig Jahre alt werden, wenn sie das möchte. Aber nur unter Einschränkungen.“

Mit aller Kraft, welcher der gebrochene Vater noch aufbringen konnte, riss er sich zusammen, um nicht zu schluchzen zu beginnen. „Mein kleines Mädchen...“ Mein Daumen streichelte sanft über seine Schulter, während ihm sichtlich ein Haufen an Ängsten und Sorgen, in der Größe einer Pyramide, abfielen.

„Das ist auch eines der Probleme... Wenn bei ihr nie die Pubertät einsetzt... wird sie sich immer deutlicher von den anderen Schülern unterscheiden. Sie wird immer kindlicher und kleiner sein, als die anderen. Alkohol und Drogen können die tägliche Therapie, die sie zu sich nehmen muss, stören und den Entwicklungsprozess könnte es wieder in Gang setzen. Es wird... Einfach auffallen, dass etwas mit ihr nicht stimmt, deshalb mache ich mir Sorgen um ihre psychischen Zustand.“ Helena holte einen tiefen Atemzug. „Das ist auch der Grund, weshalb ich dich diese Entscheidung leider nicht treffen lassen kann, Manuel.“

Der Wolf fiel aus allen Wolken. „Was? Aber, Rachel könnte weiterleben! Sie hätte noch so viele, wunderschöne Jahre mit mir, vielleicht sogar einem neuen Rudel und... und... Freunden. Endlich könnte Rachel einmal Freundschaften fürs Leben schmieden, weil sie endlich eines haben könnte! Ein richtiges Leben, Helena!“

Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Das ist die Sicht eines Vaters, Manuel... Aber denk besser mal an diese ganzen Freunde, die... erwachsener werden. Größer, pubertär... Du weißt so gut wie jeder andere, wie Scheiße Kinder sind. Besonders Teenager. Sie könnten Rachel psychisch fertig machen.“
Manuel fiel weiter, bis er auf dem Boden der Tatsachen ankam.

„Was empfiehlst du dann, Helena?“ Erkundigte ich mich.

„Dass Rachel entscheidet.“

Wir beide sahen sie überrascht an.

Helena lachte amüsiert auf. „Was? Ich habe doch gesagt, dass ich dem Vater diesbezüglich unmöglich die Entscheidung überlassen kann. Er ist erstens ein Mann, zweitens mit Vorurteilen belastet. Es ist Rachels Leben, also muss auch sie entscheiden, was sie will.“ Amüsiert verdrehte ich die Augen. Ach so hatte sie das gemeint! „Am besten, du bringst sie noch heute her. Wir sprechen jedes Detail durch, jedes Szenario und dann entscheidet sie, was sie für ihr restliches Leben will. Wie klingt das?“

Widerwillig nickte Manuel. Natürlich wünsche dieser sich, als Vater nichts sehnlicher, als dass seine Tochter so lange, wie möglich weiter lebte. Aber wir als Frauen wussten, wie scheiße pubertäre Mädchen sein konnten... Das würde nicht gerade eine einfache Entscheidung werden. Oh, und die Jungs erst!

„Haven...“ Es war das erste Mal, dass Thomas das Wort an mich richtete, oder generell einen Laut von sich gab. Mit einem tiefen Seufzer, zog er die Hand aus seiner Strickweste und ließ die Elektrische Feuerwaffe auf ein Regal neben ihm fallen. „Es tut mir so leid, dass ich euch nicht habe helfen können.“ Das Bedauern in seiner Stimme war echt. „A-Aber du weißt doch wie das ist, oder? Bekommst du einen Auftrag, erledigst du ihn. Bekommst du eine Anweisung...“
„befolgst du sie.“ Beendete ich seinen Satz. Natürlich kannte ich das Prozedere.

„Hätte ich gekonnt, hätte ich euch beschützt... Aber...“ Sein Blick glitt liebevoll zu Helena, welche sich in ihre medizinischen Fakten verlor, während Manuel angestrengt versuchte ihren Worten und halbherzigen Erklärungen zu folgen.

Ich verstand... „Mach dir keinen Kopf, wir hatten unsere Retterin. Iduna hat uns beschützt.“

„Iduna? Hatte sie etwa eine Vision?“

Ich nickte. „Ja, und ein wenig Beistand.“ Zwinkernd, lächelte ich schelmisch. „Sie hat sich in einen Idioten verliebt, der scheinbar nicht auf sie steht, aber trotzdem auf sie aufpasst... Quasi einen Schutzengel.“

Irritiert runzelte Thomas die Stirn. „Du sprichst von dem Kerl, der alle vergessen hat lassen, wer sie sind? Wann lässt das eigentlich nach?“

Ich schmunzelte noch breiter. „Nie wieder. Tut mir leid, aber diese Schlampen sind für den Rest ihres Lebens Gaga im Kopf.“ Witzelte ich bösartig.

„Ernsthaft? Aber... Wie hat er das gemacht?“

„Es ist seine Gabe.“

„Er ist ein Jäger? Von wo?“

An dieser Stelle schwieg ich, ein bedeutungsschweres Schweigen.

Verstehend nickte Thomas. „Ich weißt, dein Vertrauen ist zerstört, richtig?“

„Stark im Wanken.“ Besserte ich aus. „Aber dadurch, dass du dich raus gehalten hast, oder prinzipiell nicht sofort auf mich los gingst, als wir hier ankamen, hast du etwas gut bei mir.“

„Ich schätze, es ist nichts, dass du der Organisation verraten kannst.“

„Nicht nur das. Es ist nicht mein Geheimnis... Also steht es mir auch nicht zu, andere einzuweihen. Tut mir leid.“

Thomas verstand. Vielleicht sogar besser, als ich es erwartet haben durfte. „Was ist mit Freya? Zet sagte, ihr musstet sie heim tragen. Stimmt das?“

„Sie hat ihre Energie aufgebraucht. Aber es scheint ihr zu helfen, einen Gefährten zu haben, mit dem sie sich ein zusätzliches Leben teilt. Milan sagte, heute morgen habe sie bereits mit ihm ein wenig gesprochen.“

Er staunte nicht schlecht. „Beeindruckend! Ich wusste nicht, dass ein Gefährte so praktisch für Jäger ist.“
Ich lachte mit ihm. „Ich habe genauso gestaunt.“

„Normalerweise liegt man doch tagelang, in einer Art Koma. Nicht dass ich es schon einmal durchmachen habe müssen, ich kenne es lediglich aus Erzählungen.“

„Tja, hättest du dir mal eine Gefährtin von der anderen Seite geangelt.“ Zog ich ihn auf. „Dann hättest du jetzt bessere Karten, falls du je gegen die Organisation vorgehen willst.“

Er runzelte erneut die Stirn. Dieses Mal nachdenklich, mit einem großen Teil an Ernst in seiner Stimme. „Also sinnt ihr auf Rache?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich will bloß Frieden. Das wollte ich immer, Thomas. Nicht bloß für Therianthrophe, Werwölfe und Co. Sondern auch für meine Schwestern und mich. Ich will... eigentlich das große und Ganze. Wir haben doch bereits bewiesen, dass nicht alles schwarz und weiß ist. Nicht jeder Werwolf zieht bei Vollmond durch die Wälder und reißt alles was er zwischen die Finger bekommen kann. Auch Vampire gieren nicht rund um die Uhr nach Blut und verstecken sich in modernen Höhlen. Sieh... Sieh nur deine Frau an, Thomas. Was, wenn sie Kreaturen der Nacht mit ihrem Wissen behilflich sein kann? Anderen kleinen Mädchen, das Leben retten? Es gibt Vampire mit Unverträglichkeiten. Bestimmte Krankheitserreger und sogar Parasiten, die Kreaturen der Nacht verrückt spielen lassen. Stell dir vor, wir könnten all diese Vorurteile aus der Welt schaffen?“

Thomas schmunzelte schnaufend. „Jetzt willst du also nicht mehr bloß deine Großkatzen, sondern die ganze Welt retten? Ich glaube, dafür sind drei Schwestern einfach zu wenig, Haven.“

Ich ging auf ihn zu und nahm seine Hände in die meinen. Kein Funke Abneigung stand in seinem Gesicht, sondern bloß Fragen über Fragen. „Deshalb brauche ich euch ja. Dich, Helena, Zet und alle, die bloß einen Funken Sympathie für einige Kreaturen der Nacht aufbringen können.“

Er entzog sich mir und wandte sich ab, um aus dem Fenster zu starren. „Ich weiß nicht, Haven. Das ist... radikal. Jahrhunderte, Generationenübergreifend, sind wir die Feinde dieser Wesen. Denkst du, dass eine radikale Randgruppe irgendetwas verändern kann?“

Es war eine ernstzunehmende Frage. Eine Frage, welche ich mir erst durch den Kopf gehen lassen musste, denn ein >ja< wäre nicht bloß blauäugig, es wäre sogar gelogen. Wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtete, war es stets eine scheiternde Randgruppe gewesen, welche den ersten Denkansatz an eine Veränderung bewirkte.

„Verändern?“ Antwortete ich ausweichend. „Nein, bestimmt nicht. Aber wir können den Zweifel der einzelnen Jäger erst einmal bestärken. Du hast gesehen, wie nach Freyas freiwilligen Ausstieg und meinem Unfall die ersten Jäger begannen, zu sympathisieren. Du bist doch selbst einer davon. Also... wenn es nicht mehr bloß ein paar Einzelne wären, die Mitgefühl empfinden, sondern wir ihnen einen alternativen Lebensweg aufbereiten könnten...“

„Und was ist, wenn Monster einfach bloß Monster sind?“

„Dann machen wir es wie gewohnt.“ Antwortete ich, zu seiner Überraschung. „Sieh mich nicht so an! Ich bin vielleicht stark empathisch, aber sicher nicht leichtgläubig.“ Er schmunzelte wissend. „Jäger gehen auch nicht zimperlich mit ihresgleichen um. Genauso wenig tun dies die Menschen.“
„Dafür müssen aber recht viele Arten mitspielen, das weißt du doch, oder? So etwas wie... Vampirkönige, Dämonenfürste, Alphas... Und das ist bloß die Spitze des Eisberges.“

„Nur, weil etwas schon immer so gewesen ist, muss es nicht gleich auch so bleiben.“

„Aber wenn altbewährtes bisher gut funktioniert hat, warum daran etwas ändern?“

Lächelnd stieß ich den alten Freund meiner Familie mit der Schulter an. „Die uralten Streitpunkte von Königen, Diktatoren und sogar der heutigen Politik, so wie dem religiösen Glauben, was?“

Er schubste mich sanft zurück an. „Nur mit dem Unterschied, dass es sich hierbei um übersinnliche Wesen handelt. Kreaturen die auf Aberglauben und Gruselgeschichten basieren. Zumindest laut eines großen Anteils an Menschen.“

„Sagte der übersinnliche Mann einer beinahe gänzlich menschlichen Frau.“

„Touché.“

„Also? Wirst du darüber nachdenken?“ Erkundigte ich mich.

Thomas zuckte mit den Schultern. „Du weißt, ich liebe deine Familie. Nicht bloß, weil ich zwei von euch einmal hätte heiraten sollen.“ Ich kicherte amüsiert. Ja, das war schon wieder ewig her... „Aber du weißt auch, dass ich ein großer Anhänger des >es war schon immer so< bin.“

„Und du bist gerecht und gutherzig. Intuitiv... Deshalb weiß ich, dass wenn du auf unserer Seite bist, als unser Unterstützer...“ Ich nahm seine Hände erneut in meine. „...haben wir die besten Chancen.“

„Und wenn ich nicht dabei bin?“

„Dann werden wir es trotzdem tun. Und du wirst es jede Sekunde deines Lebens hassen.“

Er grinste. „Ich würde es auch hassen, wenn ich mich gegen euch stelle.“

Siegessicher wandte ich mich wieder Helena und Manuel zu. „Denk einfach daran, in welcher Welt du dein Kind aufwachsen lassen möchtest.“

Er seufzte. „Wenn es denn je soweit sein soll...“ Man hörte die Verzweiflung in seiner Stimme nur zu gut heraus. Thomas war der geborene Familienmensch, wenngleich er durch den Bruch zu seiner eigenen Familie, nicht mehr allzuviel von ihnen dazu zählen durfte. Ein Jäger heiratete einen Jäger... Das war nun einmal so in dieser Welt. Dass jedoch Helena nur unter größter Anstrengung schwanger werden konnte, lag jedoch selbstverständlich nicht an ihren geringen Artunterschied. Nein, es lag an Helena und so wie ich sie kannte, hasste sie sich ein wenig selbst dafür. Wenn es etwas gab, bei dem man sich absolut sicher sein konnte, war es, dass Helena Thomas aus tiefsten Herzen liebte. Nicht weil er sie damals aus dem brennenden Gebäude gerettet hatte. Auch nicht weil er sie in die Welt des Übernatürlichen eingeführt hatte. Wieso sie ihn liebte, hatte sie leider niemals verlauten lassen, doch sie hatte vor Freya, vor vielen Jahren bereits, einmal so etwas angedeutet, von wegen dass Thomas am Beginn ihrer Freundschaft etwas zu ihr gesagt habe, was sie so tief berührte. Selbst heute noch...

Ob das alle Liebenden besaßen? Diesen einen Grund, der weder etwas mit dem Äußeren, noch mit den Interessen des anderen zu tun hatten, weshalb sie sich ausgerechnet in diese eine, total verrückte Person verliebt hatten? Was war es? Was war das Geheimnis dieser Menschen?

Und was war es bei mir?

 

- - - - -

 

Man sah Manuel deutlich an, wie sehr es ihm missfiel, dass Helena der noch viel zu jungen Rachel die Entscheidung überlassen wollte. Doch sie hatte recht. Die Lebensspanne von Rachel war so gering... Es wäre mehr als ungerecht, einfach über ihren Kopf hinweg zu entscheiden. Besonders da sie in ihrem Alter bereits so gut wie alles verstand.

„Ich schicke sie dir gleich hinaus.“
„Danke.“

Manuel blieb neben dem Liftboy stehen und führte Smaletalk, während ich eilig in die Wohnung huschte. Dort herrschte... gelinde gesagt, das Chaos. Während Milan so wirkte, als würde er jeden Moment an Erschöpfung zugrunde gehen, waren Ace, Romeo, Cain und Rachel das Leben in Person. Nun ja, Romeo tat so, als wäre er vollkommen vertieft in einen Comic mit Superhelden, während er über den Heftrand schielte, um Rachel bei jeder Bewegung zu beobachten. Romoe hingengen, machte keinen Hehl daraus, wie toll er Rachel fand, während sie ihn kaum ernst nahm und sichtlich lediglich, als guten Freund ansah. Arme Jungs. Ich schmunzelte über dieses ungleiche Trio, ehe Cain, einmal mehr, aus Frust das Spielbrett abräumte, als er verlor. Nicht dass er davor großartig Interesse an dem Spiel gezeigt hatte, doch da er verloren hatte, ärgerte es ihn schon aus prinziep, sodass er lediglich einen Sekundenbruchteil später in Wolfsgestalt dastand und ärgerlich knurrte.

„Rachel. Dein Papa will jetzt los. Ziehst du dich an?“

Sie nickte. „Natürlich... Soll ich noch beim Aufräumen helfen?“ Erkundigte sie sich hilfsbereit, doch Ace lehnte, ganz Gentleman ab.
„Was? Nein, natürlich nicht. Du bist unser Gast, wir erledigen das schon. Hier, deine Jacke.“ Er hielt sie ihr hin, sodass sie bloß noch hinein schlüpfen musste. Schmunzelnd bedankte sie sich bei uns allen für den spaßigen Vormittag, ehe sie strahlend aus der Türe hinaus lief.

Sie war so lebensfroh... Beneidenswert.

„Haven... Es tut mir so leid, wie es hier aussieht... Ich weiß auch nicht...“

Beschwichtigend fasste ich meinem Schwager widerwillig an die Schulter. Ein Zeichen des Vertrauens und der Zuneigung. „Mach dir keinen Kopf. Solange Freya so krank ist, mache ich dir keinen Vorwurf.“

Er lachte erheitert auf. „Na vielen Dank auch.“

„Immer gerne.“ Ich küsste ihn auf den Scheitel, dann wandte ich mich, dem betrübt wirkenden Ace vorwurfsvoll zu. „Na was ist? Eben hast du noch große Reden geschwungen, von wegen, dass du zusammen räumen würdest.“
Stöhnend besah Ace sich sein Chaos auf dem Boden. „Aber das ist so viel, Tante Haven.“

Mein Blick wurde strenger. „Ich kann noch mehr Chaos machen, wenn du dich weigerst. Und dann musst du noch mehr wegräumen. Willst du das?“

Er knirrschte mit den Zähnen. „Aber Cain hat auch was her geräumt.“

„Cain?“ Ich besah den dunklen Wolfswelpen, welcher auf seinem Schwanz herum gelutscht hatte. „Räum deine Bausteine weg, dann mache ich euch was süßes zum Essen.“

Augenblicklich begann der Junge ein Stück nach dem anderen zurück in seine Spielekiste zu tragen. „Na wenigstens ein Bub ist hier fleißig. Romeo, willst du mir helfen?“

Der zweitälteste nickte fleißig, während Ace vor sich hin grummelte. „Können wir Äpfel im Schlafanzug machen?“

Ich grinste. „Im Schlafrock. Aber ja, klar. Schneidest du die Äpfel in Scheiben... Und hier hast du eine kleine Ausstechform für die Kerne.“

Freudig Schnappte sich Romeo alles was er benötigte und begann die Äpfel vor zu schneiden, so wie es Freya immer machte, ehe sie diese entkernte und schälte. Mein Blick wanderte wieder zu dem Lustlosen Mann auf meiner Couch. „Willst du wieder hoch zu-... Freya?“

Erschrocken blickte ich auf zu meiner Schwester, welche totenbleich an der obersten Treppe stand. Milan war augenblicklich wieder so energiegeladen, wie es bloß ein Alpha sein konnte, schwebte regelrecht die Treppen hinauf, als wären sie überhaupt nicht da und hob seine Gefährtin ungefragt auf die Arme.

„Mama!“ Stiéßen die Jungs mehrstimmig hervor.

„W-Was machst du denn? Lass mich runter, Milan!“

Er knurrte ärgerlich. „Von wegen, du gehörst ins Bett.“ Schimpfte er ärgerlich mit seiner Frau.

„Aber dann lass mich wenigstens unten schlafen. Ich will nicht ganz alleine dort oben herum kugeln.“

Milan hielt in der Bewegung inne, noch ehe er das Schlafzimmer erreicht hatte. Für einen Moment schien er seine Möglichkeiten abzuwägen, doch scheinbar fand auch er es besser für alle, wenn Freya bei ihnen unten sein konnte. „Ausnahmsweise“ Murrte er, doch erhielt für sein Einlenken einen schwachen, doch liebevollen Kuss auf die Wange.

Sanft legte Milan Freya auf dem Sofa ab und deckte sie fürsorglich zu, während meine Schwester jammerte, dass sie überhaupt nicht krank sei oder im sterben läge. Tizian wurde in seiner Wiege unruhig, welche Milan neben dem Sofa aufgebaut hatte, woraufhin Freya zu sich bat, um den Kleinen zu stillen. Milan hielt Freya dabei im Arm, während er ihren Duft einatmete, ihr Haar streichelte und ihr von Zeit zu Zeit irgendetwas liebevoll ins Ohr säuselte. Sie waren so süß zusammen, dass ich beinahe neidisch geworden wäre, wenn mir da nicht mein eigener Gefährte in den Sinn gekommen wäre.

Ich brauchte lediglich an Vetjan denken, schon hüpfte mein Herz aufgeregt und etwas regte sich in meiner Brust. So etwas wie Stolz, dass ich so häufig an ihn denken musste. Mann, wie konnte er so etwas bloß wissen? Unfair! Konnte man zu verklemmt für ein Gefährtenband sein? War so etwas überhaupt möglich?

Ärgerlich ging ich lediglich wenig später, zum Telefon neben der Eingangstüre, da es läutete. Es war der Portier, welcher einen Gast ankündigte. „Illian?“ Fragte ich ungläubig, sobald der Druide, welcher absolut nicht aussah, wie ein Druide, vor meiner Apartmenttüre erschien. „Wenn du Iduna suchst, die ist noch in der Uni.“

Er winkte ab. „Es ist ohnehin besser, wenn sie nicht dabei ist.“ Tat er ab, ehe er sich ungefragt an mir vorbei drängte. Ihm auch einen schönen Tag...

Blinzelnd folgte ich Illian in >mein< Wohnzimmer, dass von meiner Familie bereits in Besitz genommen worden war. „Okay... Und um was geht es?“ Erkundigte ich mich, während meine Neffen, einstimmig schweigend, mit großen Augen zu Illian hinauf blickten.

„Stimmt es, dass du bereits ausgestorben bist?“ Erkundigte sich Ace, welchem offensichtlich die Worte lediglich heraus gerutscht waren, während Illian irritiert die Stirn runzelte. Romeo stieß seinen älteren Bruder unsanft in die Seite.

„Ace, so etwas fragt man nicht!“

Ich schmunzelte, während sich Freya an die Stirn fasste. Das hatte niemand von uns kommen sehen.

„Jungs, geht hoch in euer Zimmer.“

Ohne Erklärung, so wie einem Strengen Blick ihrer Mutter ausgesetzt, schlichen die drei Jungs hoch in ihr Zimmer, während Freya den kleinen Tizian ungestört weiter stillte. Er sah ohnehin nicht so aus, als würde der Kleine noch lange die Augen offen halten können.

„Noch fühle ich mich recht lebendig.“ Erwiderte Illian, nachdem er seine Verwunderung überwunden hatte und Ace Gesicht strahlte vor Freude, dass er doch tatsächlich eine Antwort auf seine, gelinde gesagt, dumme Frage bekommen hatte. So viel zu >es gäbe keine dummen Fragen< auf dieser Welt...

„Kann ich dir etwas anbieten?“ Erinnerte ich mich an meine Gastfreundschaft, selbst wenn der Gast ungeladen aufgetaucht war.

„Danke, nein.“ Auch ungefragt, nahm Illian gegenüber von Milan einen Platz ein, weit entfernt von dessen kränklich wirkenden und erschöpften Gefährtin. Kluger Mann! Auch wenn es mir bisher nicht aufgefallen war, und Milan ganz und gar keinen rationalen Grund dazu hatte, war dieser unauffällig zwischen den >Gast< und die stillende Freya gerutscht.

Ich hoffte bloß, dass sich Vetjan niemals so aufspielen würde... „Ich bin wegen eurer anderen Schwester hier. Georgina Ridder, das ist sie doch, richtig?“ Aus seiner Manteltasche... wo auch immer er es versteckt gehabt hatte, zog er eine Dokumentenmappe und reichte diese an Milan weiter. Ich nahm auf der freien Seite von Freya platz, um auch problemlos in die Mappe sehen zu können. In dieser befand sich so ziemlich alles! Ihre Geburtsurkunde, ihre Testergebnisse, Zeugnisse, Charakteristik Statistiken, wie potenziell effektiv ihre Macht sei und vieles mehr. Bis hin zu den erfolglosen Ergebnissen von der Organisation, Gini irgendwo auf der Welt auszumachen.

„W-Wo hast du das her?“ Erkundigte sich Freya mit kraftloser Stimme.

Illian fasste sich an die Stirn. „Verzeihung, ich habe das komplett vergessen. Milan, darf ich für einen Moment die Hand deiner Gefährtin berühren?“

Milan knirschte mit den Zähnen, ehe er einen Prüfenden Blick mit eben dieser, so wie mir wechselte. „Wozu sollte das gut sein?“
„Die Macht, welche sich gestern Iduna geliehen hat? Ich verfüge manuell über die Energiequelle von den Jägergaben. Somit kann ich Freyas Energiehaushalt problemlos auffüllen, sodass sie sich augenblicklich besser fühlt.“ Vertrauensvoll hielt Illian seine, nach oben gerichtete Handfläche in Richtung von Milan, nicht in die von Freya. Der Druide konnte gut mit Alphagefährten umgehen. Das erstaunte sogar mich ein wenig.

„So etwas kannst du wirklich?“ Erkundigten sich Freya und ich gleichzeitig.

„Natürlich.“
„Aber ich dachte, deine Gabe sei es, andere etwas vergessen zu lassen.“

Illian nickte. „Richtig, das ist meine, von der Natur gegeben, Gabe. Aber ich herrsche auch über die Energie, welche überall in der Natur existiert. Quasi, der Energiequelle allen Lebens. Damals nannten wir sie arkane Enerige. Bloß dunkle Druiden beherrschten diese, da es ihnen uneingeschränkte Mächte verlieh. Mein Meister übergab sie mir einst, nachdem er sie selbst gestohlen hatte. Es kann nämlich immer bloß einer darüber gebieten.“

„Und dank dieser, bist du so alt geworden?“ Erkundigte sich nun Milan neugierig.

Illian nickte. „Genau. Und dank eben dieser, kann ich Freyas Energie ohne Nebenwirkungen zu erzeugen, aufladen.“

„Dann machen wir das.“ Beschloss Freya, woraufhin Milan ärgerlich knurrte.

„Nein! Das kann ich nicht zulassen. Du bist zu schwach!“

Meine Schwester erwiderte Milans Blick unnachgiebig. Als Wölfin hätte sie ihm bestimmt längst das Fell über die Ohren gezogen. „Milan... Ich bin krank. Ich fühle mich furchtbar und ich spüre, wie ich dir die Energie aussauge. Man sieht es dir an, Schatz!“ Ihre Stimme wurde weicher. „Ich hasse es dir weh zu tun und will das nicht mehr. Es bringt mich sonst um, Milan.“

Das Knurren verebbte und Milan gab geschlagen nach.

Also hatte ich recht behalten. Freya zog unwissendlich die Energie aus Milan, während ihr Körper gleichzeitig versuchte ihre Energie wieder aufzubauen. Ohne das Band zu Milan würde sie wochenlang ans Bett gefesselt sein.

Moment... Bedeutete es also, dass in Werwölfen dieselbe Energie steckte, wie in... unseren Gaben? Oder welche für unsere Gabe verantwortlich war? Ich blinzelte irritiert, während in Freya buchstäblich die Lebensgeister zurück kehrten. Ihre Haut wirkte gesünder, ihre Augen strahlten wieder mehr und ihre Lippen füllten sich mit Blut.

Erleichtert seufzte Freya und lächelte Illian dankbar an. „Vielen Dank, Illian. Du bist mein Lebensretter.“ Sanft drückte sie dessen Hand noch einmal, ehe Milan seine >aufgeladene< Gefährtin zurück an seine Brust zog, doch dabei Rücksicht auf den schlafenden Tizian nahm, welcher unter der Decke schlummerte.

„Unsinn, du hättest dich auch von selbst regeneriert.“

Ich hob eine Hand um meinen Gedanken Gehör zu verschaffen. „Moment, ich habe da eine Frage, da du ja scheinbar ein Spezialist auf dem Gebiet dieser... Energien bist. Mir ist selbst aufgefallen, dass Freya die Kraft aus Milan gezogen hat, um ihre eigene Energie aufzufüllen, während ihr Körper sich regeneriert hat... Heißt das, dass in Werwölfen dieselbe Energie lebt... existiert, wie die welche für unsere Gaben... zuständig ist... oder dessen Treibstoff ist, oder wie man es auch immer nennen mag?“

Illian blickte prüfend zwischen uns hin und her. „Ich bin eigentlich nicht wegen einer Lehrstunde hier und eigentlich ist es etwas, dass ihr selbst lernen solltet...“ Kopfschüttelnd, als könne er es nicht fassen, dass er es tat, hielt Illian nun mir seine Handfläche hin. „Darf ich kurz deine Hand nehmen?“

„Wozu?“ Diese Frage ließ mir beinahe die Härchen im Nacken zu Berge stehen. Nein, Vetjan würde genauso regieren wie Milan... Bloß ein wenig primitiver, nahm ich an.
„Um dir diese Frage zu beantworten, ohne ein Wort darüber zu verraten.“

Verwirrt wechselte nun ich einen Blick mit den beiden neben mir, welche bloß unwissend die Schultern zuckten. Nicht hilfreich!

„Na gut... Aber wehe ich renne danach bloß noch in Katzengestalt herum!“

Illian verdrehte genervt die Augen, dann legte ich auch bereits die meine auf seine und fühlte ein Kribbeln durch meinen gesamten Körper gehen. „Ah, wie ich mir dachte... Du besitzt eine tiefsitzende Blockade, deshalb öffnest du dich auch nicht für dein Band zu deinem Gefährten. Und ich habe mich schon gewundert...“
„Was?“ Stieß ich erschrocken hervor. Woher wollte Illian das wissen? Ich hatte noch mit niemanden darüber gesprochen... es noch nicht einmal selbst erkannt... Nicht richtig eben...

„Haven, ich kenne deine Akte. Du hast ein traumatisches Erlebnis gehabt. Dein Körper ging als Kind durch die Hölle, ehe du erfahren hast dass deine Schwester euch gewissermaßen zurück gelassen hat. Deshalb konntest du auch nie wieder auf deine Gabe zurück greifen!“

Ein Blitz fuhr durch mich, als hätte Illian mich mit einer elektrischen Waffe, oder gar etwas schlimmeren, erwischt und ein Stich fuhr durch das Zentrum meines Hirns. Ich schrie erschrocken auf und fasste mit beiden Händen an meinen Kopf, während sich so etwas... wie warme Energie in mir ergoss. Ich fühlte wie sie in jede Haarspitze drang, in meine Knochen, meine Haut, meine Augen, Ohren... Einfach jeder Millimeter meines Körpers wurde von ihr durch schwemmt und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich... leichter. Ein Druck war aus mir heraus getreten und hatte etwas völlig andrem Platz gemacht, etwas, dass schon immer da gewesen war und nun heraus wollte.

Zittrig vor Aufregung hob ich meine Handfläche, ausgestreckt, nach oben und Licht sammelte sich darin, sodass meine Haut zu leuchten begann.
Milan und Freya fielen schier aus allen Wolken. „Haven! Deine Gabe!“

Ein raubtierhaftes Lächeln glitt über meine Lippen. „Nicht nur das!“ Bestätigte ich, während ich die zweite Hand mühelos in Krallen verwandelte. „Ich bin endlich wieder ich!“ Mir war nie bewusst gewesen, wie sehr ich meine Gabe vermisst hatte. Wie sehnlichst ich sie mir zurück gewünscht hatte, wenngleich sie absolut nutzlos war. Jedoch war sie ein Teil von mir, wie meine kleine Zehe, mein Haar... Meine Narbe im Gesicht. Das alles gehörte einfach zu mir, genauso wie der Schwanz den ich mir, wie ich es wollte, wachsen und wieder verschwinden ließ.

„Danke Illian...“ Seufzte ich und ließ das Licht meinen gesamten Körper erleuchten, ehe es wieder verblasste.

„Was deine Gabe angeht, wirst du sie weiterhin trainieren müssen.“ Bemerkte Illian, als ich enttäuscht drein sah. „Wie Freya sie trainiert hat, musst auch du sie wieder trainieren, um mehr Kraft aufzubauen. Dasselbe gilt für deine Muskeln, um deine Raubtierkräfte richtig einzusetzen. Bisher hast du nicht einmal mit halber Kraft eines Therianthrophen agiert.“

Was, ernsthaft? Das war mir überhaupt nicht bewusst gewesen. Egal, irgendwie hatte Illian es geschafft, beide Seiten in mir zu vereinen. Ich war endlich nicht mehr kaputt! War ich das überhaupt gewesen? Wieso ist es mir denn nie aufgefallen? Dabei hatte ich angenommen, es sei völlig normal, nachdem man zur Hälfte in einen Therianthrophen verwandelt worden war, seine Jägergabe zu verlieren. Immerhin konnte man immer bloß eine Kreatur sein. Natürlich übernahm das stärkere Gen, doch offensichtlich konnte auch beides miteinander harmonieren...

Mein Blick glitt zu Freya, welche in den Armen ihres Alphagefährten lag und selig auf ihren gemeinsamen Alphasohn hinab blickte. Doch. Ja, natürlich ist es möglich, harmonisch miteinander zu leben. Körperlich, wie auch sozial. Davon war ich einmal mehr überzeugt! Es >musste< einfach möglich sein!

„Okay, um ein letztes Mal auf den Punkt zu kommen. Ich weiß wo wir Georgina finden können. Die Zeit drängt, also solltet ihr euch so schnell wie möglich zu einem Kampf auf Leben und Tot rüsten.“

„Was?“ Stießen wir zu viert gleichzeitig hervor. Moment... Vier?

„Iduna, was machst du so früh zuhause?“ Erkundigte ich mich erschrocken. Ich war so abgelenkt von mir selbst gewesen, dass ich die Eingangstüre überhaupt nicht bemerkt hatte.

Illian stand auf, als er seinerseits Iduna bemerkte und erwiderte ihren verwirrten Blick mit einem herausfordernden. „Wie ich deiner Familie eben erklärt habe, konnte ich eure vierte Schwester ausfindig machen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, doch sie befindet sich in Liliths Kerker. Vermutlich bereits seit Jahren.“

Iduna zuckte zusammen, als hätte man sie eben geschlagen und ihr Rucksack rutschte von ihren Kraftlosen Schultern, während ihr Blick ins Leere ging, wie immer, wenn sie eine Vision hatte, oder eine herauf beschwor, die sie schon einmal gehabt hatte.
„Nein, Unsinn! Ich habe gesehen, wie sie mit Silas durchgebrannt ist. Das Haus, in dem sie leben, oder zu dieser Zeit halt lebten. Dass sie glücklich mit ihm ist und nicht mehr an uns denkt. Meine Visionen lügen nicht!“

Natürlich taten sie das nicht! Es war eben die Zukunft. Beständig und unveränderlich... bis zu einem gewissen Grad eben.

„Schön. Aber seitdem hattest du keine Visionen mehr von ihr, richtig? Hattest du denn auch bloß nur eine Vision von deinen anderen beiden Schwestern?“

Sie schüttelte betroffen den Kopf. „Natürlich nicht. I-Ich habe sie natürlich nicht dauernd, aber wenn etwas wichtiges in ihrem Leben passiert... dann sehe ich das zuerst.“

„Und im Leben von Georgina ist bisher nichts neues geschehen? Ist das nicht seltsam für dich? Du siehst jedes große Ereignis von deinen beiden hier anwesenden Schwesern. Auch das von Milan?“
„Wenn... Wenn es sich um Freya handelt... natürlich... Aber das-“
„Eben, genau das ist es. Das einzige große Ereignis in Georginas Leben, seitdem, war dass sie ein Happy End mit dem Dämonenfürsten hat. Das ist alles? Keine Vision von ihrem Tot? Von irgendeinem Ort, der ihr besonders zu gesagt hat, oder sie traumatisierte? Nichts? Absolut... gar nichts? Und das soll nicht seltsam sein?“

Man konnte perfekt erkennen, wie für Iduna in diesem Moment die Welt zusammen brach, während sie wie wild nach einer einfachen Erklärung suchte.

„A-Aber... I-Ich habe es gesehen. Sie hat uns... vergessen. Gini ist glücklich, ohne uns.“

Illian ging einige Schritte auf sie zu, als ob er sie einschüchtern wollte. „Ja, weil sie in einer Gedankenblase festhängt. Sie ist in ihrem eigenen Geist gefangen und durchlebt vermutlich bloß diese einzige Lebensphase. So etwas kann Lilith, wenn sie ihr Opfer erst einmal berührt hat. Sie kann Wesen, die eine besondere Dunkelheit in sich tragen, in ihren eigenen Geist sperren und sie sehen lassen, was sie sich am meisten wünschen.“

„A-Also wollte sie... Sie wollte bloß mit Silas glücklich sein... ohne uns?“

„Ich kann dir das nicht beantworten, immerhin weiß ich nicht, was in ihr vorgeht. Vielleicht wollte sie bloß ein Happy End, in dem sie glücklich ist und selbstständig. Was weiß ich? Ich kenne sie ja nicht.“

Ich trat an Illians Seite. „Moment, du willst damit sagen, dass meine Schwester seit zehn Jahren in einem... Kerker feststeckt... In den Fängen eines vermutlich bösesten Dämons, der jemals existiert hat?“

„Lebt sie denn überhaupt noch?“ Fragte Milan, mindestens genauso ungläubig.

„Wenn Iduna noch nichts gegenteiliges gesehen hat und Lilith das Mädchen am Leben erhält, um sich an ihrer Energie zu bedienen... dann ja, zweifellos.“

Iduna lenkte meine ungläubige Aufmerksamkeit, wieder auf sich. Nach Luft schnappend, angelte sie nach einem Regal, während eine Panikattacke sich in ihr fest setzte. „N-Nein! Nein, nein, nein, nein... Das kann nicht sein. Ich habe es gesehen! Sie hat uns zurück gelassen. Sie ist bei...“ Sie blinzelte irritiert. „Gini lebt glücklich mit Silas... Sie ist bei ihm.“

Illian hatte auch dafür eine Erklärung. „Silas ist seit zehn Jahren unauffindbar. Selbst für seine eigenen Dämonen. Der Großteil hält ihn für tot.“

Tränen sammelten sich in den Augen meiner Schwester. „A-Aber sie ist bei ihm! Ich weiß dass Gini bei ihm ist, das... das ist nicht bloß eine Einbildung. Ich habe es gesehen und bin überzeugt davon, so wie ich... letzte Nacht wusste, wie viel Zeit ich noch habe, um meine Schwestern zu retten! Es ist genau dasselbe!“

Die Gewissheit, welche ihr die Visionen über die Zukunft mit brachten. „Also sind die beiden zusammen bei der Dämonin gefangen.“ Stellte ich fauchend fest. Seit zehn Jahren! Seit zehn verdammten Jahren, hatte Lilith die Kontrolle über meine große, taffe Schwester! Und wir hatten keine Ahnung gehabt! „Ich werde ihr den Hals vom Kopf trennen und in ihren hässlichen Dämonenarsch stecken, wenn ich sie erwische!“ Der Zorn brodelte geradezu aus jeder Pore meines Körpers.

„Iduna?“ Illian versuchte noch meine Schwester zu erreichen, als diese verweint zur Türe rannte, aufriss und hinaus stürmte. Ohne unsere Rufe wirklich wahr zu nehmen, rannte Iduna auf und davon, die endlos erscheinende Treppe hinab ins Erdgeschoss.

„Wohin will sie denn?“ Fragte Freya besorgt.

„Keine Ahnung, ich werde ihr aber nach gehen...“
„Nein, da mache ich!“ Unterbrach mich Illian und warf die weit offen stehende Türe hinter sich wieder zu.

Fauchend betrachtete ich die geschlossene Türe. „Also wirklich! Ich bin ihre Schwester, wenn dann sollte schon ich ihr nach gehen.“ Dabei funkelte ich Milan, ungerechterweise wütend an. „Was bildet der sich ein? Ich bin Idunas Schwester, nicht dieser... Alte Sack.“

Freya seufzte kopfschüttelnd. „Lass ihn sein Glück versuchen. Wenn es stimmt, was Illian da gesagt hat, dann steht es ohnehin außer Frage. Wir werden Gini retten gehen.“

„Du gehst überhaupt nirgendwo hin.“ Fuhr Milan Freya übers Wort.

„Wie bitte?“

„Denkst du ernsthaft, dass ich dich auch bloß in die Nähe von so einem Monster lasse?“

Ich rollte genervt mit den Augen. Okay, das konnte definitiv etwas länger dauern. „Macht ihr das... mal besser untereinander aus. Ich werde ein paar Anrufe tätigen, vielleicht kann uns jemand dazu etwas sagen.“

Ich verließ den Raum, während die beiden begannen einander anzuschreien, bis Tizian jammernd aufwachte.

Gini war am Leben... Gefangen in ihrer eigenen Traumwelt, ihrem Körper... Ich wollte weinen, schreien und fluchen gleichzeitig... Jemanden die Haut vom Körper lösen und seine Eingeweide verteilen. Und genau das würde ich auch machen!

Vetjans Zustimmung erfüllte mich dabei, wie die Gewissheit, dass ich niemals mehr alleine in einen Kampf würde ziehen müssen. Nicht mehr alleine am Rand stand und anderen beim glücklich werden zusah... Nein, Vetjan war meine zweite Hälfte. Er gehörte zu mir, wie ich zu ihm. Und er war auf dem Weg zu mir... Mein Gefährte, meine große Liebe... Mein Held!

Nun hieß es bloß noch, meine gesamte Familie wieder zusammen zu führen! Ob wir dazu stark genug waren? Konnten wir das schaffen? Ich wünschte mir nichts sehnlicher...

21. Iduna Ridder - Dein Kampf, ist mein Kampf. Dein Leben, unersetzlich für mich...

Silas:

Wenn ich etwas nicht erwartet hatte, dann war es dies: Einfach glücklich zu sein. Drei Jahre waren nun vergangen, seit die Jäger ein Heilmittel gefunden haben. Erst sind Gini und ich dem skeptisch entgegen gestanden. Aber nachdem wir aus erster Hand Erfahrungsberichte bekommen hatten, war ich als erster Dämonenfürst von meinem Leiden erlöst worden. Sämtliche dämonische Kräfte, so wie die damit eingehende Lust auf Folter und Tot waren vollkommen verschwunden. Meine Haut war klar, makellos und die eines reinen Menschen. Keine Klauen, keine Schwänze mehr. Ich war vollkommen ich. Und überglücklich.

Kaum zu glauben, nachdem was ich alles durchgemacht hatte. Mein Leben als höllisches Wesen, all die Qual und Folter welcher ich ausgesetzt gewesen war und selbst ausgesetzt habe... All das gehörte nun der Vergangenheit an und wir lebten glücklich in einem niedlichen Haus, dass wir selbst gebaut hatten, meine Verlobte und ich. Ja! Man wird es kaum glauben, doch ich, ein ehemaliger Dämonenfürst, werde bereits in wenigen Monaten ganz offiziell beim Standesamt getraut werden. Endlich waren wir dann nicht mehr bloß körperlich verbunden, sondern auch in den Sozialen Kreisen, in welchen wir wanderten, ein richtiges Ehepaar.

„Schatz, ich bin wieder zuhause.“ Ein Satz den ich jeden Tag liebend gerne von mir gab, wenngleich Gini mich stets dafür tadelte, mich selbst viel zu vermenschlichen. „Bist du schon da?“ Erkundigte ich mich, doch der Geruch nach warmen, frischen Essen, sagte schon alles aus, was ich wissen musste. Meine Verlobte war da und sie kochte einmal wieder für mich!

„Hi, Baby.“ Säuselte ich in ihr Ohr, nachdem ich einen Kopfhörer heraus gezogen hatte und Gini auf die Wange küsste.
„Mann, Silas!“ Schimpfte sie. „Irgendwann einmal, sterbe ich noch an einem Herzinfarkt, du Dämon!“ Zog sie mich auf, schlang ihre Arme um meinen Nacken und küsste mich liebevoll.

„Dafür müsstest du erst einmal eines haben.“ Zog ich sie meinerseits auf.

„Arsch.“ Giftete sie, voller Liebe in ihren Augen.

„Oh ja, den habe ich.“ Konterte ich wie gewohnt, woraufhin sie mit den Augen rollte.

„Geh dich erst mal duschen, das Essen muss ohnehin noch köcheln.“ Schickte sie mich aus dem Zimmer, doch ich dachte gar nicht erst daran.

Tagtäglich in einem Büro zu sitzen... Nun ja, es war nicht unbedingt das, was ich mir unter einem Traumjob vorstellte, doch nachdem ich ja ein Mensch war, musste ich mich vollkommen menschlich die Karriereleiter hinauf arbeiten. Dafür verleitete ich Menschen billig erscheinende Immobilien zu erstehen, wofür ich Provisionen erhielt. Mein Chef war mehr als begeistert von mir, besonders da ich geradezu täglich mindestens ein Haus verkaufte, oder eine Wohnung vermietete. Tja, wenn der wüsste, woher ich meine Fähigkeiten, Menschen zu allem zu überreden, was sie nicht haben wollten, bloß erstanden hatte...

„Gut, dann hast du ja etwas Zeit für mich. Kommst du mit ins Bad? Ich habe da nämlich etwas zu feiern.“

Gini bedachte mich mit einem mahnenden Blick. „Du weißt, dass ich es bestimmt nicht feiern werde, dass du arme Leute über den Tisch ziehst mit deinen...“ Sie fuchtetele abwertend mit einer Hand herum. „...dämonischen Künsten.“
„He! Ich habe doch überhaupt keine Kräfte mehr. Das sind alles Fähigkeiten, die ich einfach in den vielen, vielen Jahren die ich schon lebe, perfektioniert habe.“ Doch das wollte ich überhaupt nicht feiern. „Außerdem geht es gar nicht darum. Ich habe da... so ein Angebot erhalten.“ Lockte ich meine Verlobte aus der Küche.
Sie wischte ihre Hände an einem Tuch ab und folgte mir neugierig bis ins Schlafzimmer, in welchem ein riesiges Bett stand. Zum Schlafen war es eigentlich viel zu groß für uns beide. Aber für andere Sachen, die ich überaus gerne mit ihr tat... einfach nur perfekt!
„Okay, spuck schon aus. Ich will es wissen.“
Grinsend zog ich meine Krawatte über den Kopf. „Rate.“

„Du hast ein Spukhaus verkauft?“

„Nicht ganz.“ Witzelte ich.
„Du hast ein Tor zur Hölle verkauft?“ Zog sie mich ihrerseits weiter auf. Und ja, diese Höllenwitze wurden uns niemals langweilig. Zudem ging uns niemals eine Umschreibung aus. Gut dass keiner in unserem Freundeskreis etwas von meiner Herkunft wusste. Das würde sie gleich weit weniger über unsere Scherze lachen lassen.
„Oh, ich bin auf einem guten Weg.“

Sie lachte. „Na gut, ich gebe auf. Was ist denn so tolles heute passiert?“

Als ich mein Hemd aufgeknöpft über meine Schultern gleiten ließ, folgte Ginis Blick schmachtend jedem Zentimeter Haut, welchen ich frei gab. Diese Frau liebte und begehrte mich... Mehr konnte ich mir einfach nicht in meinem Leben wünschen.

Extra langsam ging ich auf meine Verlobte zu, während sie schamlos meinen Körper bewunderte und sogar ihre Hände nach mir ausstreckte, sobald ich nahe genug bei ihr war. „Ich habe heute ein Angebot bekommen, dass ich kaum ablehnen kann.“

Ihre Lippen wanderten zärtlich über meine Brust. „Oh, ich wette ich habe da ein viel besseres Angebot, dass du unmöglich ausschlagen kannst.“

Ich lachte. „Das glaube ich dir aufs Wort, meine Schöne.“ Ich streichelte zärtlich durch ihr wunderschönes, halblanges Haar, dass gerade einmal lang genug war, um es mir, um die Hand zu wickeln, während meine zweite sich suchend unter ihr Shirt schob.

Als Ginis kirschroten Lippen die meine endlich fanden, verlor ich glatt den Faden, dass ich ihr doch etwas erzählen hatte wollen. Erst als mein Hintern auf das Bett plumpste und die kleine Furie über mir aufragte, kam ich wieder so weit zu mir, dass es mir wieder einfallen konnte.

„Warte...“ Ich schob sie ein Stück von mir, um meine Sinne sammeln zu können. „Ich habe ein Jobangebot bekommen.“

Gini runzelte irritiert die Stirn. „Aber du hast doch schon einen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich meine, ich habe vom >Chef< ein Angebot bekommen.“

Gini horchte auf. „Nein! Das glaube ich dir nicht. Du bist doch erst seit eineinhalb Jahren bei ihnen!“

„Und habe den Umsatz um ganze dreißig Prozent in die Höhe getrieben.“

„Aber... Aber viele versuchen dich doch zu verklagen, weil du sie teils über den Tisch ziehst.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist ihm egal und seine Anwälte freuen sich auch über die Arbeit die ich ihnen einbringe. Er meinte, wenn ich so weiter mache, hassen mich zwar die meisten Kunden, doch als sein Partner könnte ich eines Tages die Firma übernehmen.“

„Falls sie bis dahin niemand abbrennt.“

Ich grinste. „Auf so etwas lässt er sich in diesem Moment versichern. Ergo... Win, win.“

Gini lachte begeistert auf. „Du bist unmöglich, Silas! Aber ich bin auch stolz auf dich. Du machst dich nicht bloß, als Verlobter und Mensch überraschend gut, sondern auch als Geschäftsmann.“

„Was man hat, das hat man, Baby.“ Witzelte ich und kassierte dafür einen Seitenhieb, ehe wir wieder gemeinsam im Bett landeten. Es war so toll, herrlich... Kein Dämon mehr sein zu müssen, mit der Frau meines Lebens zusammen zu leben und auch noch, völlig ohne Kräfte, bloß durch mein Talent, Erfolge zu erzielen im Beruf.

Würde ich noch an Träume glauben, dann würde ich sagen, ich lebe in einem. Aber dem war nicht so. Ich spürte, schmeckte und roch alles viel zu intensiv, als dass es bloß ein Traum sein konnte.

Ich lebte mit meiner großen Liebe in der perfekten Welt. Sie hatte ihren Job als Polizistin, den sie liebend gerne nachging, telefonierte fast jeden Tag mit ihrer Familie und sie lernte sogar das Kochen. Etwas das Gini nie für möglich gehalten hatte, nachdem ihr bereits bei den ersten drei Malen die Nudeln verbrannt waren. Und sämtliche Kuchen eingingen.

Na gut, an ihren Würztechniken mussten wir definitiv noch feilen. Aber wenn ich es lernen konnte, mich menschlich zu verhalten und uns davon zu ernähren... Konnte Gini auch das Kochen meistern.

„He, wie wäre es wenn wir morgen Abend deine Familie zum Essen einladen, nachdem mich den Vertrag unterschieben habe?“
„Ich koche nicht!“ Erwiderte Gini sofort, während sie nackt zum begehbaren Kleiderschrank tapste.

„Ich meinte auch in ein Restaurant. Ich will den Erfolg mit allen feiern. Immerhin haben sie mir geholfen ihn überhaupt zu finden und zu bekommen. Milan hat sogar beim Hausbau geholfen... Irgendwie muss ich mich doch erkenntlich zeigen.“

Nachdenklich lehnte sie sich in den Türrahmen, während ich die Aussicht auf ihren herrlichen Körper genoss. Also wenn sie länger so dort stand, konnte sie das Abendessen vollkommen vergessen!

„Ja gut. Ich werde Mama und Papa anrufen, dann kann einmal wieder die ganze Familie zusammen kommen.“

Ich schmunzelte selbstzufrieden zu meiner Gini, während ich aus dem Bett stieg. „Genau, unsere gesamte Familie.“ Hauchte ich gab ihr einen zarten Kuss auf die Stirn und streichelte liebevoll über die zarte Wölbung an ihrem Bauch. „Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass du nackt und schwanger besonders sexy aussiehst?“

Sie kicherte kopfschüttelnd und lehnte sich vertraut an meine Brust. „Ich liebe dich, Silas.“

„Und ich liebe euch beide.“

 

- - - - -

 

Iduna:

Ich wusste einfach nicht mehr wo mir der Kopf stand. Eine Stimme... nein, ein Instinkt in mir rief mir zu, dass Gini absolut glücklich war, dort wo sie sich im Moment befand. Sie war glücklich. Auch ohne uns und an der Seite ihres Dämons... So hatte ich es einst gesehen.

Okay, ich war vielleicht noch ein kleines Kind gewesen, doch selbst wenn ich mir die Vision heute noch einmal besah... Da war Gini, in den Armen ihres widerlichen Dämons, zumindest nahm ich an, dass er es sei, den gesehen hatte ich ihn noch nie. Sie lebten glücklich, zusammen in einem Haus und lachten gemeinsam. Strahlten einander so voller Liebe an, dass es mir das Herz brach.

Jedoch... Illian hatte recht. Bisher hatte ich keine weitere Vision von meiner Schwester gehabt. Das war die erste und einzige gewesen. Nein, nicht die erste, wenn ich mich richtig entsinne. Sie war mir viel mehr wie ein Traum erschienen, doch nachdem meine Eltern bloß ein paar Tage vorher unter die Erde gebracht worden waren, konnte es mir wohl keiner verübeln, dass ich als kleines Mädchen versucht hatte, jegliche weitere Vision zu verdrängen... vor allem, da meine aller erste Vision die des Unfalls gewesen war.
Ja, na gut. Visionen waren nicht immer konkret und man konnte viel hinein interpretieren, jedoch hatte ich das Gefühl, dass sie in den Jahren immer genauer geworden waren. Was bestimmt daran lag, dass sie mit mir heran wuchsen und stärker wurden.

Aber jetzt? Wo waren meine Visionen jetzt? Wieso sah ich nicht, dass wir Gini retteten und alles wieder gut wurde? „Wieso verdammte scheiße?“ Fluchte ich und schmetterte das Ginglas so heftig auf den Tresen, dass es kleine Einkerbungen hinterließ und der Inhalt überschwappte. Der Barkeeper, welcher mich schon gut kannte, warf mir lediglich einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu.

Ich stöhnte frustriert und schüttete den Rest meine Kehle hinab. Der Barkeeper kam auf mich zu, nahm das Glas und wischte meine Sauerei sauber. „Alles klar bei dir?“ Fragte er besorgt.

Ich schüttelte den Kopf. „Noch einen bitte.“

„Du bist aber nicht gerade Trinkfest. Außerdem ist es gerade einmal Mittag.“

„Noch einen! Bitte!“ Bat ich nun eindringlicher.

Sichtlich widerwillig ging Mitch zurück, um eine weitere Flasche, so wie ein frisches Glas zu bringen. „Wehe ich muss später hinter dir her wischen.“ Mahnte er noch und ließ beide da.

Dankbar schenkte ich ihm ein halbes Lächeln, ehe ich großzügig einschenkte. Dieses Mal stürzte ich den Gin nicht sofort wieder hinunter, sondern ließ das schwere Getränk auf meiner Zunge zergehen. Ich weiß, Trinker die etwas vergessen wollen, oder ihrer Realität entfliehen, taten es anders... doch ich konnte das nicht. Besonders nicht auf leeren Magen.

Seufzend ließ ich meinen Kopf auf den Tresen fallen. Zum Glück war noch nicht viel los, sodass mich keiner der schick gekleideten Gäste, großartig beachtete.

Nun ja, beinahe niemand. „Schlechtes Versteck, um vor mir zu fliehen.“ Sarkastisch und abweisend, wie eh und je, stand Illian plötzlich neben mir und winkte Mitch, er solle uns etwas Freiraum lassen.

„Mist, ich hatte gehofft, das Taxi hätte dich abgehängt.“ Fluchte ich. Außerdem stand es immer noch draußen und wartete dass es mich wieder heim führen konnte und endlich sein Geld kassieren.

„Hätte es bestimmt, wenn >es< mich nicht zu dir gezogen hätte.“

Mein Herz machte einen freudigen Sprung, bei Illians Wortwahl, wenngleich ich nur zu gut wusste, weshalb er sie gewählt hatte. Die bittere Wahrheit verpasste mir einen fiesen Stich im Herzen. „Toll... Sag dem Würmchen danke von mir. Jetzt hast du mich ja gefunden, verpiss dich.“ Grollte ich und stürzte nun doch den Rest hinunter, sehr zu meinem Leidwesen.

Stattdessen nahm Illian neben mir platz. „Iduna, ich weiß, wie du dich jetzt fühlen musst...“

„Nen scheiß weißt du.“ Grollte ich wieder und wandte mein Gesicht ab, welches übrigens wieder auf dem Tresen lag.

„Deine Visionen waren damals, als deine Schwester verschwand, noch nicht so stark wie sie es heute sind. Aber ich bin überzeugt davon, dass du mittlerweile Mächtig genug bist, um sie finden zu können. Du kannst sie retten. Dieses Mal, mit deinen eigenen Kräften.“

Ich hob den Kopf gerade einmal hoch genug, um weiter einfüllen zu können, dann nippte ich schlürfend daran, mir nichts um meine Manieren scherend. Immerhin hatte ich jahrelang meine Schwester verflucht. Ich hatte sie dafür gehasst was sie aus Eigensinn getan hat. Wegen ihr wurde Haven schwer verletzt. Sie hatte uns verlassen. Sie war... Gini war einfach fort gegangen. Und meine Visionen hatten mir das bestätigt.

Ich war Dreck... Nein, ich war weniger als Dreck. Ich bin eine verdammte Last für meine Schwestern und verursachte bereits seit meiner Geburt nichts als Scherereien für sie. Ständig mussten sie sich um mich kümmern. Immer war ich diejenige, die auf sie angewiesen war. Und dann brauche mich... Nur ein einziges Mal! Ein einziges Mal in meinem gesamten Leben, hätte ich Gini helfen können. Ich hätte sie retten können...

Stattdessen machte ich mich im Leben meiner verbliebenen Schwestern breit und jeder war verantwortlich für meinen gierigen, kleinen Arsch!

Die dritte Ladung verschwand in meiner Kehle.

„Ich lebe seit fünftausend Jahren, für nichts anderes, als dafür diese Scheiß Schlampe zu töten.“ Knurrte Illian regelrecht neben meinem Ohr. „Ich habe Kriege erlebt, die ich verhindern hätte können, wenn es mich interessiert hätte. Ich habe Menschen und Kreaturen rund um den Planeten sterben lassen, während ich eine Macht in mir trage, die vieles verhindern hätte können. Also ja. Ich weiß, wie scheiße du dich fühlst, doch lebe damit. Ich bin scheiße und das habe ich akzeptiert. Ich weiß also sehr genau wovon ich spreche.“ Zischte er aufgebracht und vorwurfsvoll, als sei dies das normalste auf der Welt.

Seltsamerweise fühlte sich mein Kopf jetzt schon überraschend schwer an. Oder war es bloß das Gewicht der Schuld, welche auf meinem Rücken lastete? „Ich habe sie aber im Stich gelassen... Und sie gehasst...“ Der Damm brach so jäh, dass es sogar mich überraschte, als mir dicke Tränen die Wangen hinab liefen. Schniefend ließ ich mich gegen Illians Brust fallen, egal ob er es wollte oder nicht. In diesem Moment benötigte ich lediglich Schutz vor den Blicken der anderen Gäste, denn wenn ich mich am frühen Tag betrank in meinem Alter, war das die eine Sache. Ein Nervenzusammenbruch, jedoch etwas ganz anderes.

Illians angespannter Körper wurde je weich, sobald die erste, von noch vielen folgenden Tränen, seine Jacke erreichte. Mit einem tiefen Seufzer auf den Lippen, legte er einen Arm um mich, während er unauffällig mit der freien, die Flasche weit von mir wegschob. Als ob das bei meiner mangelnden Trinkfestigkeit noch eine Rolle spielen würde...

„Ich bin die schlechteste Schwester aller Zeiten. Nutzlos und verlogen und gewissenlos und...“ So schluchzte ich vor mich hin, während Illian überhaupt nichts dazu sagte. Stumm reichte er mir ein Päckchen mit Taschentüchern, woher die kamen konnte ich jedoch bloß raten. „I-Ich habe auch noch die Uni heute hin geschmissen. Ehrlich, was mache ich nur? I-Immer mache ich alles falsch. Meine... Meine Noten sind durchschnittlich, die Rechtswesen fand ich total langweilig, ich liege meinen Schwestern bloß auf den Taschen... Und... Und meiner verschollenen Schwester rede ich auch noch ein ganzes Jahrzehnt lang, gemein hinterher!“

Eine neue Welle von Rotz und Wasser verlor sich in drei weiteren Taschentüchern, ehe ich mit Schluckauf weiter vor mich hin brabbelte. „Gin-Gini wird mich hassen. Hick.“ Sagte ich. „E-Egal ob ich sie rette... Hick... Ich habe sie im Stich gelassen und... Hick... allen erzählt, wie scheiße sie doch ist, weil sie uns... Hick... im Stich gelassen hat. A-Also... Also wenn dann,... Hick... bin ich der mieseste Mensch auf dem Planeten und nicht du.“

Illian hatte die letzten Minuten lediglich über meinen Rücken gestrichen, mir Wasser geordert und meine Taschentücher ersetzt. Nun hielt er inne und lauschte irritiert auf meine nächsten Worte. „Ich kann mir gut vorstellen, dass... Hick... zu dir die Leute in den Jahrhunderten auch nicht nett gewesen sind. Hick. Und nur weil sie Kriege anfangen und Streiterein, ist es nicht deine... Hick... Pflicht sie für diese Ignoranten zu beenden. Du bist nur für dich selbst verantwortlich. Hick. Das was du anderen antust, für so etwas kannst du dich scheiße fühlen. Hick. Aber den Mist aus anderen Gärten musst du wirklich nicht kehren. Hick.“

„Wenn ich aber viel Leid auf dem Planeten einfach beenden hätte können? Wie zum Beispiel die Sache zwischen Jägern und Kreaturen der Nacht?“ Fragte er dann.

Ich gab einen abwertenden Laut von mir. „Die Jäger haben sich selbst... Hick... gegründet und entschieden diesen Wesen Blind hinterher zu jagen. Was kannst du schon für ihre verbohrten Ansichten? Das ist lächer... Oh, oh...“

„Was ist?“ Illian schob mich von sich und schien zu erkennen, was los war. Er warf einen Schein auf den Tresen und zog mich vom Hocker auf meine wackeligen Beine. „Komm, du brauchst frische Luft. Hast du überhaupt schon etwas gegessen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Hab verschlafen und dann war ich in der Uni und dann zuhause... Und mir ist so übel... Wieso muss Alkohol so ekelhaft hoch kommen?“ Fragte ich brabbelnd, während sich meine Lippen seltsam Taub begannen anzufühlen.
Huch... War das etwa mein erster Rausch? Das ausgerechnet am helllichten Tag, mitten unter der Woche... Wow! Wir Ridder hatten es tatsächlich drauf unser ohnehin beschissenes Leben noch beschissener zu machen.

„Langsam, immer ein Bein nach dem anderen.“

Hä? Ich hatte angenommen, ich würde ganz normal gehen, doch da lag ich weit gefehlt. Ein halbes Glas voller Gin war wohl das eine. Aber gleich drei hintereinander auf nüchternen Magen, schlugen meiner bescheidenen Meinung nach, viel zu schnell an!

„Oh, wieso bewegt sich die Türe so schnell?“ Fragte ich, sobald wir hinaus auf den Parkplatz traten. „Uh! Sieh mal, der nette Taxifahrer. Hallo Taxifahrer. Wissen Sie schon, dass ich eine Scheißperson bin?“ Lallte ich, woraufhin ihm ein tiefer Seufzer entfuhr.

Jup, ich war offiziell dicht!

„Illian denkt ja, dass er eine Scheißperson ist. Aber ich bin viel schlimmer.“

Illian stöhnte und klatschte mir eine Hand auf den Mund. „Wie viel schuldet Ihnen die Kleine schon? Ich bezahle das und die Heimfahrt.“

„Aber nur, wenn sie mir nicht das Auto voll saut.“ Murrte der Fahrer und nannte Illian danach seinen Preis.
Ich bekam ihn nicht ganz mit, denn aus irgendeinem Grund fand ich es überaus faszinierend, dass Autos plötzlich auftauchten und mühelos wieder verschwanden. Wow... Wann waren die nur so schnell geworden? Ist das nicht illegal?
„Komm, du Scheißperson. Setz dich erst mal. Wenn dir übel wird, dann sagst du es rechtzeitig, ja? Ich will nicht extra dafür auch bezahlen.“

Auch noch? Ach ja, er hatte ja das Taxi und meine Drinks bezahlt! „Moment, du bist doch frisch aus dem Knast... Wieso hast du dann so viel Geld?“ Ich war vielleicht betrunken, doch rechnen konnte ich... so ziemlich, noch. Besonders da mir bewusst wurde, dass er in seinem billigen Hotelzimmer eine elektrische Ausrüstung im Wert von mehreren tausend stehen hatte. Hm... Vielleicht bin ich, als Betrunkene doch aufmerksamer, als erwartet?

Illian seufzte neben mir auf der Rückbank. „Deshalb löst sich aber Erspartes nicht in Luft auf.“ Erwiderte er lediglich.

Ha... Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. „Wie war es denn überhaupt im Gefängnis?“ Erschrocken fasste ich mir an den Mund. „So schlimm wie für Gini? Musstest du auch leiden? Haben sie dich mies behandelt? Kein wunder, dass du immer so griesgrämig bist.“

Willkürlich zuckten Illians Mundwinkel, ehe er eine Hand vor sein Gesicht hielt und so tat, als würde er mitten am Tag gähnen. „Können Sie etwas schneller fahren. Ich will >die< nicht hoch tragen müssen.“

Kichernd schob ich Illians Daumen weg, als er mit eben diesem auf mich deutete. „Ne! Jetzt tu aber nicht so. Ich habe es ganz genau gesehen! Du hast gelächelt!“ Sang ich neckend und fuchtelte mit meinem Zeigefinger vor seinem Mundwinkel herum. Oh ja! Ich war vielleicht total betrunken, aber blind noch lange noch nicht!

Grummelnd fing er meinen Finger ab und schob diesen zurück auf meinen Schoß. Jedoch hatte ich auf der anderen Hand noch genug Finger! Also fuhr ich mit dem nächstbesten auf Illians Gesicht zu und tippte auf seine Wange. „Gib es schon zu! Du magst mich eigentlich, aber tust nur abweisend, weil ich noch nicht achtzehn bin. Sonst hättest du mich ja auch nicht geküsst!“

Ein Teil in mir schrie mir zu, dass ich in eine Wespennest stach, doch... der offenere Teil von mir, wollte keine Rücksicht auf irgendetwas oder jemanden nehmen. Dafür war ich einfach zu neugierig.
„Bitte, ich hatte damals lediglich einen schwachen Moment.“ Damals, er tat, als sei dieses >Versehen< bereits Jahre her und sei lediglich im kindlichen Übermut geschehen.

„Nö! Du lügst, das weiß ich.“ Entgegnete ich mit einer Zuversicht, die ich so gar nicht von mir kannte. „Bin ich dir etwa nicht hübsch genug?“ Jetzt kam ich mit Klischees. „Ich weiß, Haven ist meilenweit heißer, als ich und Freya hat die tollen Kurven, die sich jeder Kerl wünscht. Obwohl, Haven hat auch tolle Kurven, doch ist viel schmaler als Freya. Was davon findest du attraktiver?“

Ein erneuter Seufzer folgte. „Bitte, Iduna... Du bist betrunken fast noch nervenaufreibender, als nüchtern. Kannst du es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Es war ein Ausrutscher, nicht mehr.“

Ich hob den freien Zeigefinger, denn die andere Hand wurde noch immer von ihm gehalten und fühlte sich behaglich warm an, während ein Knistern meinen gesamten Körper erfüllte. „Oh, aber doppelt hält bekanntlich besser, oder was? Wolltest du nur sicher gehen... He, mein Schluckauf ist weg!“ Erkannte ich aus heiterem Himmel. Wann war er denn verschwunden? Bevor, oder nachdem ich im Taxi eingestiegen war?

Stirnrunzelnd betrachtete ich den Raum, in welchem ich nun stand. Seit wann bin ich denn... Mit Mühe erkannte ich ihn wieder. Es war derselbe Raum, in welchem ich... Was hatte ich noch einmal hier gemacht? Es war ein leeres Hotelzimmer, in dem anscheinend jemand gewohnt hatte, doch ich konnte es nicht gewesen sein. Die blassbraunen Überzüge, die karge Einrichtung... Und dieser Geruch! „Ha!“ Ich atmete tief ein, saugte den Geruch tief in mir ein, während mir ein seltsames Kribbeln auf meinen geschwollenen Lippen bewusst wurde, so wie auf meiner seltsam kühlen Stirn.

Etwas in mir schrie bestialisch. Ein Schmerz erfüllte meine Brust, während meine Finger, an meine Lippen tastend, versuchten, sich an das zu erinnern, was mein Kopf scheinbar vergessen hatte.

Nach einer gründlichen Prüfung befand ich das Hotelzimmer als leer. Hatte ich etwa doch hier geschlafen? War das Bett wegen mir so zerwühlt? Auch wenn ich mir dabei dämlich vorkam, ich konnte einfach nicht anders, als an der Bettwäsche zu schnüffeln. Jedoch roch sie frisch. Wie eben erst frisch aus dem Trockner genommen und direkt überzogen.

Wenig später ging ich verblüfft die wenig gepflegte Treppe hinab ins Erdgeschoss. Der Weg führte mich direkt zum Empfang, wo ein geistesabwesender Kerl in meinem Alter saß. Er würdigte mich lediglich eines Seitenblickes. „Hi, ähm... Ich komme gerade aus einem Zimmer-...“
„Joa, weiß bescheid.“ Maulte er ohne aufzusehen. „Der Typ, der dich betrunken in der Bar gefunden hat, hat dich hier abgeliefert und bezahlt. Sagte, du sollst hier ausschlafen, netter Typ.“

„Betrunken?“ Erkundigte ich mich. Ich fühlte mich gar nicht betrunken. „Welcher Kerl denn?“

Für einen Moment hielt der Junge hinter dem Empfang inne, mit was auch immer er eben am Pc getan hatte. „Keine Ahnung. Denkst du, mich interessiert, wer hier ein oder aus geht?“

Ich seufzte. Wow, der war mir ja absolut keine Hilfe. Mir war bereits im Zimmer aufgefallen, dass ich weder ein Handy bei mir trug, noch Bargeld und noch weniger irgendetwas, abgesehen von den Kleidern an meinem Körper.

„Oh, Moment. Der ist für dich.“

Halbherzig bekam ich einen Briefumschlag über den Tresen geschoben. Wie sich wenig später heraus stellte, war es exakt die Menge an Bargeld, die ich für die Fahrt nach Hause brauchte. Woher konnte der Unbekannte das wissen? Und aus welcher Bar, hatte man mich geholt? Wieso zur Hölle sollte ich denn betrunken gewesen sein? Himmel, ich verstand die Welt einfach nicht mehr!

Mein Blick zuckte suchend durch die Lobby der Wohnanlage, in welcher Haven ihr Apartment besaß. War es einer der Angestellten von hier gewesen? Ein Nachbar? Wer sonst konnte wissen, was eine Fahrt von dem schäbigen Hotel hierher kostete? Und wieso zur Hölle konnte ich mich nicht erinnern?“

Der Liftboy schenkte mir, wie jeden Tag, ein strahlendes Lächeln, als die Lifttüren aufschwangen und brachte mich, nach einer höflichen Begrüßung hoch ins oberste Stockwerk. War er es gewesen? Hatte er mich in einer Bar gefunden und im nächstgelegenen Hotel abgesetzt? Nein. Er reagierte ganz normal auf mich, musterte mich nicht besorgt und ließ sich auch sonst nichts anmerken, dass eventuell etwas nicht stimmen könnte.

Oben angekommen, bedankte ich mich und wünschte ihm einen schönen Abend. Mysteriös. Wirklich mysteriös. Jedoch, als ich an der Haustüre klopfte, wurde es noch seltsamer. „Helena?“ Erkundigte ich mich ungläubig, sobald sie die Türe öffnete und mich einließ. „Was machst du denn hier?“

„Psst!“ Zischte sie mich an und deutete auf die Wiege, welche neben dem Sofa, durch welches man hinab auf die Stadt blicken konnte, deutete. „Er ist eben endlcih eingeschlafen. Wo warst du denn den ganzen Tag? Wir haben stundenlang versucht dich zu erreichen, du solltest eigentlich statt meiner auf die Jungs aufpassen.“

„I-Ich weiß es nicht.“ Gab ich stockend zu.
Doch Helena hörte nicht mal zu. „Ist aber auch egal, ich weiß, du musst dich scheiße fühlen, wegen Gini, aber du kannst ehrlich absolut nichts dafür!“ Schwor sie, während sie hektisch auf ihrem Handy eine Nachricht tippte. „Deine Schwestern, ein paar Jäger aus Havens Freundeskreis sind bereits aufgebrochen um sie zusammen mit Illian zu retten.“

Mein Kopf pulsierte so heftig, dass ich ein schmerzhaftes zischen ausstieß. „W-Was? Ich verstehe kein Wort. Und wer zu Hölle ist Illian?“

 

- - - - -

 

Panik schloss sich um meine Brust, so stark, dass sie zu schmerzen begann. Mein Kopf pulsierte noch immer an derselben Stelle, wie zu meinem Erwachen, doch war nun stärker geworden. Fast schon fühlte es sich an, als hätte mir jemand mit langen, zackigen Nägeln, einen Riegel in meinem fleischlichen Hirn eingehämmert. Frustriert massierte ich diese Stelle, doch es wurde nicht besser. Nicht einmal nach dem dritten Schmerzmittel, welches ich geradezu inhalierte, bloß damit es sofort wirkte.

„Und... Und dieser Illian behauptet jetzt, dass Gini gefangen ist? In ihrem eigenen Kopf? Das ist Unsinn... Nein, es ist unmöglich. Stieß ich zischend hervor, während ich durch das halbe Apartment tigerte. Gini war nicht durchgebrannt, sie war gefangen genommen worden. Illian hatte sich als mein Bruder ausgegeben? Und er besaß so etwas wie die Macht des Ursprunges unserer Gaben selbst? „Lächerlich. Das ist... einfach lächerlich, Helena.“ Rumina Cavaler und ihr gesamter Zirkel soll von einer Macht die von Lilith ausging, besessen sein. Die nebenbei weggesperrt ist! Eingeschlossen in ihrer persönlichen Hölle und wurde von Zeit zur Zeit, wenn eben jemand daran dachte, von Silas, einem Dämonenfürsten gefüttert. Mit Menschen! Bloß um Lilith schwach und kraftlos zu halten! „Das klingt viel eher ausgedacht. Wer kommt auf so einen Blödsinn? Außerdem soll mir dieser selbst ernannte Druide meine Erinnerungen an all das genommen haben? So etwas geht doch überhaupt nicht!“ Brüllte ich beinahe, während Tränen meine Augen hoch stiegen. Moment... Wieso weinte ich denn jetzt? Der Druck um meine Brust wurde zusehends stechender, als würde mir jemand ellenlange Dolche durchs Herz jagen. Außerdem begann sich ein Glos in meinem Hals zu bilden.

Auch wenn Helena nicht unbedingt eine der einfühlsamsten Personen war, die ich kannte, so bemerkte sie dennoch meinen sichtlichen Herzschmerz und legte liebevoll beide Arme um meinen Körper. Ich begann zu schniefen. „W-Wieso weine ich denn jetzt auf einmal?“ Fragte ich sie stockend. „I-Ich bin doch überhaupt nicht traurig... Und... Und ich glaube das alles überhaupt nicht. Wie könnte ich so etwas bloß vergessen?“ Ich lehnte an ihrer Schulter und ließ den Tränen freien Lauf. „Wie kann ich das bloß vergessen...“ Es waren immerhin meine Erinnerungen. Mein Leben, dass ich die letzten Wochen gelebt hatte! „Ich habe Gini unrecht getan... Ich habe sie trotz meiner Visionen im Stich gelassen!“ Erschrocken erstarrte ich.

Als hätte das Wort >Vision< eben diese herauf beschworen, erbebte mein Körper und Macht durchflutete mich. Im nächsten Moment stand ich nicht mehr in Helenas Arme gelehnt da, sondern befand mich mitten auf einer Kreuzung.

Dort standen gut ein dutzend Menschen. Ich erkannte Haven, in einer schwarzen Kampfausrüstung, neben ihr fauchte ein schwanzwedelnder pechschwarzer Therianthroph und hielt etwas Abstand zu der Gruppe. In der Gruppe selbst machte ich Freya und Milan aus. Milan baute sich vor seiner Gefährtin schützend auf, während sie mit einem Haufen, beinahe unsichtbaren Waffen gerüstet war. Hinter und neben ihnen standen Jäger. Diese waren ebenfalls in Kampfausrüstung gepackt und besaßen entschiedene Mienen, welche einen an Gladiatoren erinnerten, die jeden Moment in die Arena stürmten und jedes Untier erledigten.

Allen voran hatte sich ein großer Mann aufgebraut. Er trug einen dunklen Ledermantel und schien völlig unbewaffnet zu sein, während er einer geisterhaften Gestalt seinen Unterarm dar bot. Lachend versenkte das Wesen seinen langen spitzen Finger in dessen Haut und zapfte ihm einige Tropfen Blut ab. Sobald das Wesen den Finger aus der Wunde zog, schloss sich die Wunde mittels eines lila Knisterns.

Etwas zog an mir. Es zerrte und wollte diese Macht sein eigen nennen. Da bemerkte ich die Leere, welche entstanden war. Wie, als hätte mir jemand meinen dritten, sehr nutzvollen Arm genommen... Oder einen Teil meiner, mir rechtmäßig zustehenden Macht! Das musste die arkane Magie sein, von welcher mir Helena erzählt hatte. Nur... weshalb empfand ich so begierig darauf?

Als hätte mich der Mann, obwohl ich bloß ein unsichtbarer Beobachter war, bemerkt, sah er sich in meine Richtung um. Auch wenn es völlig unmöglich war, bildete ich mir ein, dass er mich von oben bis unten mitleidig musterte. Nein... bedauernd! Seine ozeanblauen Augen schienen mich ein letztes Mal zu liebkosen... dann verschwanden sämtliche Körper aus heiterem Himmel. Die Vision endete.

„F-Freya und Haven!“ Ich rief die Vision noch einmal in meinem Gedächtnis ab, dieses Mal aber, konzentrierte ich mich auf die Umgebung. Ich erkannte, dass sie sich in Springgan befinden müssen, doch die Umgebung sagte mir absolut gar nichts.

„Was ist mit ihnen? Was hast du gesehen?“ Erkundigte sich Helena besorgt. „Geht es Thomas gut?“ Sie fasste sich besorgt an den Bauch und ballte ihre Hand zu einer Faust, als würde sie damit das schlechte Gefühl abhalten können sich in ihrem gesamten Körper auszubreiten. „Ist ihm etwas passiert?“ Noch nie hatte ich Helena so besorgt gesehen! Sie liebte Thomas aus tiefsten Herzen... Das erkannte ich einmal mehr.
„I-Ich weiß nicht. Ich habe sie an einer Kreuzung gesehen... Bestimmt war es eine Dämonenkreuzung. Ein Mann hat mit seinem Blut bezahlt, um irgendwo hin gebracht zu werden.“

Erleichtert atmete Helena durch und ließ sich erschöpft auf die Bank sinken. Ein Wunder, dass Tizian noch immer wie ein Stein schlief. Besonders wenn Freya nicht da war, neigte er dazu bei jedem Geräusch zu erwachen.

„Oh gut, sie machen sich erst auf den Weg. Ich wünschte nur, sie hätten es bereits hinter sich und würden zurückkommen.“

Mein Hirn ratterte so schnell, dass ich selbst meine Gedanken kaum fassen konnte. Das war doch kein Zufall. Ich verlor mein Gedächtnis, weit entfernt vom Apartment, während sich meine Familie auf in die Höhle des Löwens begab?

Da machte es Klick... „I-Illian...“ Stotternd kam mir der Name über die Lippen, dann fiel auch bereits der Groschen... Oder eher die Nägel in meinem Kopf. Das Tor in meinem Kopf flog auf und die Erinnerungen kehrten in einem Schwall zurück, sodass ich taumelnd halt suchte, doch bloß erfolglos auf dem Hintern landete. „Scheißkerl!“ Zischte ich, während Helena besorgt neben mir auf die Knie kam.
„Iduna, deine Nase.“ Ich fasste dorthin.

Illian hatte meine Erinnerungen an ihn, an die Gefahr weggesperrt, um mich zu beschützen. „Ich will nur das schützen, was ich liebe... Deshalb tue ich das jetzt. Hass mich bitte nicht, aber ich habe bereits so viel verloren. So unendlich viel... und jeder Verlust lässt mich schwächer zurück. Irgendwann... werde ich wohl einfach keine Kraft mehr haben, um meinem Volk Friede zu bringen. Aber genau das ist meine Bestimmung.“ Die Worte drangen dröhnend in meinem Kopf und hallten darin herum wie ein Echo aus längst vergangenen Tagen. Dann sah ich noch wie Illian seine Finger an meine Schläfe legte, doch scheinbar hatte er es nicht über sich gebracht mir meine Erinnerung vollständig zu nehmen. Er hatte Schwäche gezeigt und meine Erinnerungen an ihn und alles darum herum, lediglich weggesperrt. „Dieser verfluchte Scheißkerl. Erst lügt er, küsst mich, führt mich hinters Licht und bestiehlt mich auch noch, verdammt noch mal? Was bildet der sich ein?“

„Iduna? Was ist los?“
Ich wischte das Blut welches aus meiner Nase sickerte, lediglich mit dem Ärmel ab, dann sprang ich auch bereits wieder auf die Beine. „Ich erinnere mich wieder.“ Fuhr ich Helena an, als wäre das alles ihre Schuld, ehe ich meinen Rucksack suchte. „Illian hat meine Erinnerung bloß weggesperrt, damit ich sie nicht mehr einholen kann. Na dem werde ich...“

Ich hatte den Inhalt meines Rucksacks überprüft und wollte mich eben auf machen, um in Havens Zimmer nach der nötigen Jägerausrüstung zu suchen, als Helena mich abfing. „Du wirst ihnen nicht folgen.“ Beschwor sie mich in einer Stimmlage, die bestimmt jeden Alpha, sich hechelnd unterwerfen hätte lassen. „Wenn das stimmt, dann kannst du Illian nicht böse sein. Er will dich bloß schützen. So wie alle andern.“

Ich fuhr Helena schreiend an. „Ich bin kein kleines Kind mehr! Ich kann kämpfen! Ich bin eine Ridder!“ Brauste ich auf.

„Eine Ridder, mit ineffektiver Gabe, ohne Ausbildung und ohne Krallen!“ Fuhr sie mich zurück an. „Du wärst ihnen bloß im Weg, so wie ich. Lass sie ihren Job machen, warte hier und kümmere dich dann, um ihre Wunden, so wie ich es tun werde. Nur so kannst du ihnen helfen!“

Ich riss mich los und stürmte in Havens Zimmer. Neben dem Kleiderschrank befand sich ein unscheinbares Zahlenfeld, eingelassen ins Holz, so wie eines Irisscanns. Ohne zu zögern überwand ich die Sicherheitsmaßnahme, griff mir was ich tragen konnte und für nützlich empfand, während hinter Helena Tizian zu weinen begann.

Sie wandte sich bloß kurz um, doch empfand, dass mich aufzuhalten Priorität hatte. „Bitte, Iduna. Hör doch auf mich! Du bist ein kluges Kind und weißt, dass deine Schwester immer... >jedes einzelne Mal< wenn sie aufbrechen, wieder zurück zu dir nach Hause kommen.“

Ich hielt inne. Natürlich taten sie das. „Sie sind meine Schwestern, meine Familie. Natürlich kommen sie zurück...“ Murmelte ich und packte weiter meinen Rucksack voll. „Nur Illian wird es nicht... Er ist eine Einmannarmee.“ Ohne den Willen dazu zu zeigen, je wieder zurück zu kehren. Doch das wollte ich nicht laut aussprechen. Zudem war es scheinbar... das erste Mal, dass ich mir mehr Sorgen um eine andere Person machte, als um meine Schwestern.

Ja, Milan, Freya, Haven und Vetjan werden Gini retten. Komme was wolle. Vetjan wird für alles kämpfen, dass Haven liebt. Haven, Freya und Milan werden um Gini kämpfen, füreinander am Leben bleiben und sich gegenseitig am Leben erhalten. Thomas würde für seine eigene, zweiköpfige Familie am Leben bleiben und die Jäger, hatten ihre ganz eigenen Motive. Aber Illian? Niemand kämpfte für oder um ihn. Für ihn gab es kein zurück, bloß das Ziel seiner Mission.

Tränen sammelten sich erneut in meinen gereizten Augen, doch ich blinzelte es weg. Als cih mich dieses Mal Helena zuwandte, trat sie mir wortlos aus dem Weg. Ehe ich jedoch aus der Türe treten konnte, hörte ich sie etwas sagen. „Bis später.“

Kurz wandte ich ihr meinen Blick zu und erwiderte ihn stoisch. Es war das aller erste Mal, dass mir jemand eine Jägerverabschiedung gab. Und es bedeutete mir so unendlich viel, ich konnte es überhaupt nicht in Worte fassen! Das erste Mal in meinem gesamten Leben wurde ich als Jägerin angesehen. Mehr hatte ich mir niemals wünschen können. Keine Sekunde meines Lebens...

Ich atmete tief durch und machte mich auf den Weg.

Noch im Lift rief ich das Jägerportal auf. Es war eine gesicherte Internetadresse, die man eigentlich bloß über spezielle Computer, welche eine jede Jägerfamilie besaß, erreichen konnte. Aber es gab spezielle, etwas weniger gesicherte Adressen, die ich auch ohne eines solchen Computers aufsuchen konnte. Sollte sich ein normaler Mensch dort hinein hecken können, würde er es für einen schlechten Scherz abtun, oder seinen eigenen Tot finden. Hastig öffnete ich die Liste an Dämonenkreuzungen die sich in dieser Stadt befanden. Es waren gut einhundert... Doch zumindest konnte ich mein Ziel eingrenzen. Meine Familie befand sich auf jeden Fall nicht am Rand von Springgan, deshalb zoomte ich heran.

Die Kreuzung schien unbefahren zu sein, somit lag sie auch nicht zentral. Die Beleuchtungen... Im Moment wurden doch alle Beleuchtungen, Straße für Straße auf Energiesparend umgestellt, wenn ich dem Stadtjournal glauben durfte.

„He, Kevin. Weißt du vielleicht zufällig, in welchen Straßen, die nicht Zentral liegen, bereits die neuen energiesparenden Laternen angebracht worden sind?

Der Liftboy blinzelte nachdenklich, während die Lifttüren aufschwangen. „Hm... Heute Morgen, am Weg in die Arbeit, habe ich sie vier Straßen weiter an einer Werken gesehen. Wies-“

„Danke!“ Ich stürmte aus dem Lift und hinaus auf die Straße. Als ich dort ankam, erkannte ich, wie dumm ich doch eigentlich war. Nicht bloß dass die Straße sich nach links und rechts kilometerweit erstreckte, auch hinter und vor uns gab es genügend davon. Ich wandte mich um, um wieder zum Lift zurück zu kehren, da stand auch bereits Kevin, der Liftboy mitten in der Lobby und deutete nach links, dass er aus der linken Richtung stets kommen würde.

Ich schickte ihm eine Kusshand. „Danke, du hast etwas gut bei mir!“ Schwor ich, dann sauste ich auch bereits auf und davon. Tatsächlich! Der Liftboy behielt recht. Mittlerweile schien die Straße zwar fertig erneut worden zu sein, doch wenn ich ihr bis zu ihrem Ende folgte, konnte ich bereits wieder welche von den gelblich leuchtenden alten erkennen, welche teilweise besprüht, beklebt oder gar verdellt waren. Und wen sah ich am Ende jener Straße stehen? Richtig... Auf beinahe lautlosen Schritten, näherte ich mich der kleinen, Gruppe, die nicht einmal in meine Richtung blickte. Jeder von ihnen stand dort. Zet erkannte ich, Havens Kollegin. Haven, Milan und Vetjan standen mit dem Rücken zu mir, Freya lehnte noch im Arm ihres Mannes, doch konnte mich aufgrund seiner Schulter nicht sehen. Der Wind schlug mir entgegen, während ich ungläubig auf sie zuging. Alle waren da. Thomas, er stand am Schluss der Gruppe... Illian... der eben seinen Unterarm zurück zog und dann meinem Blick begegnete. Schlagartig erkannte ich, dass sich meine Vision erfüllte. In seinen tiefblauen Augen erkannte ich jenes Schuldgefühl, welches ich auch in der Vision gesehen hatte. Sein Blick glitt, wie um sich ein letztes Mal mein Aussehen einzuprägen, über mich hinweg... Jetzt war der Moment in dem sie verschwinden würden. „Illian!“ Brüllte ich noch, doch die Gestalten lösten sich bereits auf.

 

- - - - -

 

Illian:

Milan, Haven und dessen Gefährte Vetjan, wie er mir vorgestellt wurde, hoben schnüffelnd ihre Nasen und sahen sich suchend nach der Quelle der Stimme um. Freya blickte irritiert hoch zu ihrem Gefährten, ohne sich, wie wir anderen, die Höhle, in welcher wir gelandet waren, genauer anzusehen. „Was ist? Was witterst du?“

„Iduna.“ Sprachen Milan und Haven es gleichzeitig aus.

„Ich habe sie gehört, bloß einen Moment, ehe wir teleportiert worden sind.“

Freyas Blick richtete sich vorwurfsvoll auf mich. „Du sagtest doch, du hättest sie beschäftigt, damit sie uns nicht hinterher kommt!“ Warf sie mir streng vor. Eine Mutter von vier Alphasöhnen hatte wohl ganz instinktiv eine starke Stimme entwickelt. Und das, obwohl sie technisch gesehen, vollkommen menschlich war. Insofern man von ihrer Gabe absah.
„Das habe ich auch. Sie hätte uns nicht einholen dürfen, oder überhaupt erst herausfinden, wo wir uns aufhalten.“ Erwiderte ich kühl, keinen deut eingeschüchtert von der jungen Frau.

„Wie konnte sie uns dann finden? Meinst du, Helena hat etwas gesagt?“ Erkundigte sich Zet bei Thomas.

„Nein, ich habe Helena nicht gesagt, über welche Teufelskreuzung wir... Nun ja, Kontakt aufnehmen. Ich wusste es ja selbst nicht, bis ich am Treffpunkt ankam.“

Seufzend, da es ohnehin keinen Sinn machte, sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen, besah ich das aalglatte Höhle. Man erkannte zwar, dass es eine, zwei Meter hohe, völlig normale Höhle war, doch war sie offensichtlich künstlich erschaffen worden, vor beinahe fünftausend Jahren. Bloß das blaue Licht, welches scheinbar von den Wänden ausgestoßen wurde, ließ darauf schließen, dass hier mehr am Werk gewesen war, als lediglich Hammer und Meißel.

Der Weg auf dem wir uns befanden, war vollkommen gerade. Er schlug einmal nach links und einmal nach rechts eine Kurve, in ein und dieselbe Richtung.
„Beschäftigen wir uns damit später. Sie ist nicht mitgekommen, das ist alles was zählt. So, hier sind zwei Gänge.“ Begann der ältere Mann, welcher mitgekommen war. Er hatte sich Haven aus eigenen Motiven angeschlossen, nachdem seine eigene Tochter in den frommen Zirkel der Cavaler gewechselt war und begonnen hatte sich seltsam zu verhalten. Aggressiver und abweisender aller Kreaturen gegenüber. Bloß den Jägern war sie so treu, wie ein Schoßhündchen. Nun da er wusste weshalb das wo war... wollte er nichts anderes, als Vergeltung. Seinen Namen hatte ich jedoch nicht mitbekommen. „Sollen wir uns aufteilen?“
„Ich kann die Höhle auch einfach scannen.“ Bot eine hochgewachsene Frau an. Sie stand in der Nähe von Haven.

„Ja bitte, mach das Zet.“ Bat eben diese.
So genannte >Zet< streckte beide Arme zu den Seiten aus, ehe impulsartig Schall aus ihrem Körper hervor drang. Dabei gab sie einen kehligen Laut von sich und wartete einen Moment. Offenbar lauschte sie, ähnlich wie eine Fledermaus, wie der Schall zurückkommen würde.

„Beide Gänge enden in ein und demselben Hohlraum.“ Die Frau tat dasselbe noch einmal, während ihr Schweiß über die Stirn lief. „Ich kann... vier Körper, auf Erhöhungen erkennen. Gegenüber von denen sind noch fünf Erhöhungen.“ Sie öffnete die Augen und musterte Haven fragend. „Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass es Tische sind, oder so. Aber keine, die wie unsere sind... Vielleicht Klötze aus Stein gehauen? Keine Ahnung.“

„Ist eine Person davon Lilith?“ Fragte eine weitere Stimme. Ein junger Mann, kaum älter, als Haven, in dessen Augen Mordlust funkelte.

„Das kann ich nicht sagen. So genau ist meine Gabe nicht, tut mir leid.“

Ich wies auf den Gang rechts von mir. „Dann finden wir es heraus. Haltet euch bereit.“ Befahl ich, woraufhin alle in Kampfstellung gingen, Klingen, Schusswaffen und andere Sachen zogen, denen ich besser nicht ausgesetzt sein wollte.

Auch ich beschwor die arkane Energie in mir herauf. Ich sammelte die Kraft aus den Personen um mich herum und kleineren Steinchen, welche beinahe unmerklich zerfielen. Zum Glück achtete darauf niemand. Das einzige, worauf ich keinesfalls zurückgreifen durfte, war der Zauber, welche dieses Gefängnis hielt. Viel war davon ja nicht übrig, dafür musste ich nicht einmal meine Kraft aufwenden, um das festzustellen. An manchen Stellen erzitterte der Bannkreis bereits, deshalb auch die kleinen Steinchen auf dem Boden, welche teils, wie Kies knirschten. Vielleicht hatten wir noch Monate, im besten Fall ein, zwei Jahre, ehe der Bann vollkommen an Kraft verloren hätte. Würde die geschwächte Lilith jedoch nachhelfen... könnte sie bestimmt bereits in wenigen Wochen freikommen.

„Hier stinkt es.“ Fauchte Vetjan, welcher das Schlusslicht, zusammen mit Haven machte.

„Sagte der Therianthroph aus der Kanalisation.“ Hörte ich den jungen mordlüstigen Typen von vorhin nuschelnd. Finster warf ich ihm einen mahnenden Blick zu.

„Ja, nach Tod und Verwesung.“ Fügte Milan an. „Es riecht fürchterlich penetrant. Wenn wir heim kommen, sollten wir alle mindestens fünfmal ausgiebig duschen.“

„Wenn?“ Erkundigte sich ein anderer Mann mit bronzefarbenem Haar. „Nicht gleich so motivierend, Wolf.“ Meinte er lediglich spöttisch, als ob er versuchte die Stimmung aufzuheitern.

Falscher Moment, Schwachkopf! Dachte ich mir lediglich. Was für >Kämpfer< hatte Haven da überhaupt aufgetrieben? Unter diesem Wort stellte ich mir nicht unbedingt passiv begabte Jäger, einen scheuen Therianthrophen so wie einen Werwolf vor! Wenigstens handelte es sich bei letzterem um einen Alpha.

„Haltet die Klappe!“ Zischte der mordlüsterne direkt hinter mir und sprach mir damit aus der Seele. Waren alle Jäger heutzutage etwa so?

„Ach, macht ruhig weiter. Ich hatte schon sehr lange keinen so hohen Besuch mehr.“ Säuselte die Dämonin aus meinen Albträumen. Die Stimme jedoch schien aus allen Richtungen zu kommen. „Obwohl, vor kurzem erst, hat mich einer meiner Söhne besucht. Doch eine ganze Gruppe... Ich fühle mich richtig geehrt!“ Bemerkte sie zynisch.

Hinter mir knurrten erzürnte Raubtiere wie verrückt, während bei anderen die Gaben aufflackerten. Besonders Zet stieß mehrere Schallwellen aus, vermutlich um Lilitih ausfindig zu machen. Jedoch solange das Lilith nicht wollte, hatten wir ohnehin keine Chance.

Mit einem Mal endete der Gang, wie versprochen, inmitten einer geräumigen Höhle. Auch diese wurde von den selbst leuchtenden Höhlenwänden erhellt und bot uns damit einen idealen Blick, auf die vier Körper, so wie neun Erhöhungen, welche eigentlich Knochenaltare waren. „Ach du heilige Scheiße!“ Stießen mehrere erschaudernd hervor. Ich musterte die Kampffläche, denn als mehr sah ich diese nicht an, lediglich abschätzig. Persönlich, hätte ich Lilith in dunklere Abgründe gesteckt, als in so etwas. Anscheinend war sie kreativ geworden und hatte sich einen Altar aus Knochen gegönnt. Eben auf jenem saß eine energievolle Manifestation von ihr.
„Da!“ Rief jemand aus und jeder wollte ohne zu zögern auf Liliths Projektion los gehen.

Ich hob eine Hand. „Halt! Sie ist in der Umgebung. Lasst euch nicht austricksen.“

Die Projektion flackerte schmunzelnd für einen Moment, ehe sie ihre langen, wohlgeformten Beine überschlug. „Hört auf den Druiden und vergeudet eure Kräfte nicht in einem sinnlosen Angriff. Wenn ich schon mal so viele Besucher habe... Nein, wie nennt ihr das heutzutage? Touristen? Das war doch das Wort, richtig? Na jedenfalls, möchte ich es so lange wie möglich auskosten.“

Lilith leckte sich über ihre dunkelroten, vollen Lippen.
„Freya, da ist Gini!“ Milan deutete auf den blondhaarigen, bleichen Körper, dem dritten Altar, von uns aus gesehen.

„S-Sind das...“ Stieß Haven ungläubig hervor, doch konnte den Satz nicht zu ende sprechen.
„Mama? Papa?“ Freyas Beine klappten kraftlos zusammen und sie landete schmerzhaft auf dem Boden. „S-Sie leben!“

Milan bückte sich nach seiner Gefährtin und nahm diese schützend in den Arm. Vetjan musste Haven zurückhalten, damit diese nicht fuchsteufelswild losstürmte, um Vergeltung an einer magischen Projektion zu üben. „Komm raus, dann zerfetze ich dich in der Luft, du Scheusal!“

Zischend sog Lilith die Luft ein und fasste sich, gespielt betroffen, an die kaum bedeckte Brust. „Uh! Ein bissiges Kätzchen hast du mir da mitgebracht, liebster Illian. Hm... Hast du nicht zufällig jemanden vergessen? Georgina träumt nämlich eben davon, dass sie ihren drei Schwestern begegnet... Hm... Was soll ich ihr nur sagen? Wieso Iduna nicht hier ist?“

„Halt die Klappe und zeig dich einfach, Lilith. Ich bin Müde und will es hinter mich bringen.“

Abschätzig wackelte die Dämonin mit einem erhobenen Zeigefinger. „Na, na! Fünftausend Jahre sind eine lange Zeit, wie du nur zu gut weißt. Hast du etwa noch immer nicht an deiner Geduld gearbeitet?“ Tadelte sie mich, doch auf dieses Spiel hatte ich keine Lust.

Da alle Jäger und Kreaturen der Nacht hinter mir standen, gab ich ihnen ein Fingerzeichen hinter meinem Rücken, dass sie sich augenblicklich ducken sollten. Sie reagierten instinktiv auf den Antrainierten Befehl und zogen Milan, so wie Vetjan mit sich auf den Boden, ehe ich mit dem rechten Arm ausholte und violette Energie, wie eine Peitsche durch die Luft sauen ließ. Sie zerschnitt schnalzend, lediglich Zentimeter über den komatösen Körpern, die Luft und stieß dabei wilde Funken aus. Jedes Lebewesen aus Fleisch und Blut, wäre in diesem Moment in zwei Hälften geteilt worden.

Erst da fiel mir auf, dass sich noch ein vierter Körper auf den Altaren befand. Er war offensichtlich ein Dämon und ich konnte ihn auf Anhieb als Silas identifizieren. Unfassbar! Auch ihren Sohn zapfte dieser Dämon an! Bloß, um ihre Kräfte zu stärken! Jedoch reichte mir diese Atempause, um mir bewusst zu werden, was Liliths Plan war. Sie wollte einen ganzen Hexenzirkel, der mehr, als bloß magischer Natur war, anzapfen. Mit Milans Verbindung zu den Werwölfen und Havens zu den Therianthrophen... Sie könnte wie eine Spinne in ihrem Netz sitzen, unscheinbar die Fäden ziehen und alles aus sicherer Entfernung kontrollieren. Offensichtlich auch bereits einen Teil der Dämonen, nachdem sie die Verbindung ihres Sohnes nutzte! Na toll! Und ich Idiot, hatte auch noch Havens Kräfte in einen Einklang gebracht. Ich würde mich glatt selbst Ohrfeigen. Hatten wir denn etwa alle seit Jahrzehnten nach Liliths Wünschen gelebt? Oder hatte sie lediglich etwas gesehen, dass unsereins entgangen war?

Wenigstens hatte sich die Projektion nun aufgelöst... Für einen Moment, denn dann erschien sie direkt an Silas Kopf und streichelte ihm liebevoll über den Kopf. Wieder eine Projektion! Verdammte Schlampe!

„Weißt du... du hast auch meine Kinder getötet, aber ich bin nicht so nachtragend.“

„Du hast meine Töchter zuerst von ihnen töten lassen!“ Widersprach ich, wenngleich mir bewusst war, dass ich gar nicht erst darauf eingehen sollte.
Schmunzelnd erwiderte sie meinen Blick, ohne in ihrem, scheinbar liebevollen Tun, inne zu halten. Doch ich wusste nur zu gut, dass in diesem Wesen kein Funke von Liebe steckte! Nie gesteckt hatte! „Also daran bin ich wirklich nicht schuld. Die Schuld darfst du den Druiden geben, denn die haben begonnen, meine Kinder zu jagen. Wir haben uns bloß verteidigt. Aber...“ Sie hielt inne und ein Funkeln trat in ihre Augen, das ich nicht zu beschreiben vermochte. „...der Tod deiner Gefährtin geht wohl oder übel, auf meine Kappe.“ Sie grinste hämisch und entblößte eine Reihe von perfekten weisen Zähnen.

Mein Blut tobte und ich holte erneut aus. Dieses Mal zielte ich jedoch bloß auf diese widerliche Projektion. „Fresse! Sie starb, als mein Heimatdorf abbrannte. Es herrschte Krieg und...“ Mir stockte der heftig gehende Atem. Wann hatte ich damit begonnen, mich auf ihr Niveau herab zu lassen? Gegen meinen Willen blitzten die Erinnerungen an die kleine Prinzessin vor meinem inneren Auge auf. Wir waren zusammen aufgewachsen... Ich, ein Bauernjunge, sie eine richtige Prinzessin, lebend in einem Schloss. Mit ihren Brüdern hatte sie viel Zeit in unserem Dorf verbracht, doch als der Krieg kam... leider überlebte sie den Anschlag nicht und wurde noch nicht einmal, mit ihren jungen dreizehn Jahren beerdigt. Noch lange, ehe wir uns aneinander hätten binden können.

Auch mein Dorf wurde ausgelöscht, doch zu dieser Zeit hatte meine Familie bereits die Flucht ergriffen gehabt. Erst Wochen später erfuhr ich von ihrem Tod und meine Welt brach zusammen... Ich wurde kälter, gefühlloser und schloss die Außenwelt aus. Ich ging in eine Bruderschaft, in welcher der Großteil aus Druiden bestand und perfektionierte das, was ohnehin bereits in meinem Blut gesteckt hatte. Erst mit neunzehn heiratete ich aus Zweck, doch verliebte mich kopflos in meine beiden, unschuldigen und lebensfrohen Töchter, welche alles auf der Welt für mich bedeuteten. Sie waren wie ich früher gewesen war. Neugierig auf die Welt, charmant und lachten beinahe pausenlos. Sie weinten selten, liebten mich, so wie ich sie... Sie wären so wunderschöne, junge Damen geworden, deren Verehrer ich in Scharen hätte vertreiben müssen! Doch kaum waren sie sieben geworden... trat das schwarze Zeitalter ein. Einige hatten Krieg gegen die Dämonen begonnen, versuchten diese Kreaturen auszulöschen und auch, wenn ich mich niemals diesem Krieg angeschlossen hatte, da ich friedlich leben wollte... traf er mich dieses mal. Noch einmal zerstörte Krieg meine Welt. Ein weiteres Mal versank ich in Trauer, Wut und Machtlosigkeit. Ich wurde mir meiner eignen Vergänglichkeit bewusst und hasste mich und alles um mich herum dafür. Ich fiel für Jahrzehnte in eine Art Blutrausch. Ich tötete ohne über die Konsequenzen nachzudenken, rächte mich, an allem, das mir in die Finger geriet. Ich hasste... ich hasste das Leben so schrecklich! Doch irgendwann, fand ich überraschend Freunde... Zwei Kindheitsfreunde, aus verschiedenen Familien, die sich stets zueinander hin gezogen gefühlt hatten. Menschen, Männer. Sie wurden zu meinen besten Freunden und ich begann sie zu beschützen, ihren Lebensweg zu ebnen und mich selbst wieder zu finden.
Ich verliebte mich irgendwann wieder, doch meine Gabe hinderte mich daran, mich für längere Zeit irgendjemanden fern zu halten. Damals hatte ich sie noch nicht unter Kontrolle gebracht. Noch heute... tat sie wozu sie gemacht war. Sie ließ Menschen um mich herum vergessen, dass ich überhaupt existierte, wenn ich mich ihnen drei Tage lang nicht mehr gezeigt hatte. So wurden sie älter. Ich nicht. Sie vergaßen. Ich nicht...

Das Leben wiederholte sich. Immer und immer wieder, traf ich Menschen, die ich in mein Herz ein ließ, doch sie vergaßen mich doch ohnehin wieder. Feinde kamen und gingen. Mein Herz hörte auf zu existieren und wurde ein einziger Klumpen aus Narben, der bloß dafür lebte, diese eine Kreatur endgültig zu vernichten.

Ich öffnete die Augen, welche ich vor Schmerz geschlossen hatte, es reichte lediglich ein kurzer Blickaustausch mit Haven. Sie sammelte ihre Gabe und begann auf einmal so hell wie die Sonne zu leuchten.
Rasch wandten alle den Blick von ihr ab. Alle, bis auf eine scheußliche Kreatur, welche alles menschliche vor Jahrtausenden abgelegt hatte. Eine lange, lange Zeit, vor meiner eigenen Geburt noch.

Kreischend hielt sie sich ihre rabenschwarzen, glänzenden Augen zu, da sie sichtlich nicht erwartet hatte, dass Haven wieder auf ihre Jägerfähigkeiten zurück greifen konnte. Das war meine Chance. Ohne zu zögern streckte ich meine gespreizten Finger in ihre Richtung aus, woraufhin aus ihnen Blitze heraus fuhren und über ihre empfindliche, ledrige Haut leckten. Die Dämonen kreischte, als die arkane Energie tiefe Wunden in ihr sonst glattes Leib riss. Ihr seltsamer, am Ende gespaltener Schwanz, peitschte wie verrückt, dann sprang sie auch bereits zur Seite, um wieder unsichtbar werden zu können.

Mist, sie war stärker als erwartet! Diese Blitze hätten sie eigentlich in Stücke reißen müssen, wie jeden anderen Dämon auch. Doch Lilith war nicht >jeder andere<. Sie war so viel mehr und ich würde ebenfalls viel mehr brauchen, um sie zu zerstören.

Zet witterte wohl ihre eigene Chance, klatschte ihr Hände in die Richtung zusammen, in welche Lilith verschwunden war und erzeugte dieses Mal eine Erschütterung der Luft, durch welche man die schemenhafte Gestalt taumeln sah. Zet war nicht stark genug, um Lilith wieder sichtbar zu machen, doch kräftig genug, um diese ins straucheln zu bringen. Mehrere Waffen und Projektile schossen durch die Luft, ergossen sich an der Stelle, wo Lilith eben gestanden hatte, in der Wand und Zet klatschte erneut. Wieder tauchte der Schemen auf, doch nicht bloß dieser. Dieses Mal waren es viel mehr Schemen, welche sich in alle Richtungen bewegten.

„Mist, sie erzeugt schon wieder falsche Projektionen!“ Zischte Zet verärgert und niemand hatte mehr eine Ahnung, wohin er noch zielen sollte. Plötzlich erklang höhnisches Gelächter aus allen Winkeln der Höhle.

„Oh, sag bloß!“ Als würde sie mich maßregeln wollen, schnalzte sie mehrfach mit der Zunge. „Du böser Junge, Illian.“ Spottete sie. „Sie wissen alle überhaupt nicht wer du bist, ist das richtig?“

„Fresse! Komm und lass dich endlich abstechen, du hässliche Missgeburt!“ Fuhr ich sie an. Wenn sie weiter sprach... musste ich zum äußersten greifen. Zet schickte währenddessen noch etliche Erschütterungen durch die massive Höhle, doch konnte das Vieh nicht mehr ausfindig machen.

„Ich kann sie nicht finden. Habt ihr etwas besseres drauf?“ Erkundigte sie sich.

Milan, Vetjan und Haven hoben gleichzeitig ihre Nasen und konzentrierten sich aufs äußerste, während sie um unsere kleine Gruppe herum schlichen.

„Ich rieche ihr schwarzes Blut.“ Knurrte Milan.

Vetjan war der einzige, der es wagte, wirklich aus dem Kreis heraus zu treten und einige Schritte auf die komatösen Gefangenen zu zu machen. „Ich kenne ihren Geruch.“ Dabei fiel sein Blick auf das blonde Mädchen, welches definitiv Gini sein musste. Die vierte Ridderschwester.

„Sie war an dem Tag, an dem ich verwandelt wurde, mit uns in der Kanalisation.“ Bestätigte Haven und folgte ihrem Gefährten, indem sie ihm Deckung gab. Ich machte selbst einige Schritte vorwärts, die Rücken an Rücken stehende Gruppe, folgte auf den Schritt. Einzig Freya und Milan brauchten etwas länger, da Freya bisher bitterlich geweint hatte. Sobald sie jedoch bemerkte, dass wir uns auf die Altare zu bewegten, sprang sie auf und Milan hatte Mühe sie zurück zu halten. Sobald wir einen schützenden Kreis um die Komatösen gelegt hatten, hinderte weder Haven, noch dessen ältere Schwester noch etwas daran, sich um deren Eltern, so wie Schwester zu kümmern. Silas schien niemand außer mir zu beachten. Wenn ich ihn bloß irgendwie wecken könnte... Als Dämonenfürst musste er doch stark genug sein, um Liliths Zauber zu durchbrechen.
„He, Silas. Kannst du mich hören?“ Zischte ich neben seinem Kopf, während meine Augen suchend durch die Höhle glitten. „Du musst uns helfen. Deine Mutter hält dich in deinem eigenen Kopf gefangen. Hörst du mich?“ Er reagierte kein bisschen.

„Denkst du denn, deine kleine Gruppe hier, würde noch an deiner Seite kämpfen, wenn sie wüssten, wer du wirklich bist, Druide?“

Haven fuhr buchstäblich aus der Haut, hinein in ihr schneeweißes Fell. Sie sah so schön aus darin! Und ergänzte damit perfekt ihre pechschwarzen Gefährten. „Komm her, damit ich dich ausweiden kann, scheiß Schlampe!“ Damit sprach sie mir die Hybridin der Seele.

„Es spielt keine Rolle wer er ist.“ Fauchte Zet, fast besser als jede Großkatze. „Jeder einzelne hier hat seinen eigenen Grund hier zu sein.“

„Und wenn diese Gründe alle darauf beruhen, dass Illian... der Auslöser von alldem ist?“

Freya fuhr hasserfüllt hoch. „Nicht er ist derjenige, der meine Familie auseinander gerissen hat!“

„Oder Jäger beeinflusst und in den Selbstmord schickt!“ Fügte Haven genauso hasserfüllt an.

Nur wenige Meter von Freya entfernt, materialisierte sich eine neue, durchscheinende Projektion von Lilith. „Das geht auf meine Kappe, das gebe ich offen zu. Aber ist euch noch nie bewusst geworden, dass Illian genauso aussieht, wie... euer Gründer?“

Wütend schlug Haven nach der körperlosen Form, welche sich augenblicklich in schallendem Gelächter auflöste. Ich jedoch erkannte, dass viele versuchten herauszufinden, ob das stimmte. Sie konzentrierten sich und riefen Porträtierungen und Statuen in ihrem Gedächtnis auf, welche sie in den Jahren ihrer Ausbildung zu sehen bekommen hatten.

„Quatsch.“ Meinte Zet. „Die Gemälde sind uralt und die Statuen nicht unbedingt detailgetreu. Mit etwas Fantasie, können die jedem ähnlich sehen!“ Giftete sie.

„Aber es stimmt.“ Brachte ich es auf den Punkt. Wieso sollte ich noch etwas abstreiten? Es hatte keinen Sinn es abzustreiten. Noch weniger schämte ich mich dafür. Egal wie das heute ausgehen möge... Lebend... würde ich nicht zurückkommen.

Aus heiterem Himmel stand nicht mehr Liliths eigene Vision von einer perfekten und wunderschönen Frau vor uns, sondern... „Iduna?“ Stieß ich, für einen Moment erschrocken hervor. Meine Magie bestätigte mir, was meine Augen nicht glauben wollten. Natürlich war es lediglich eine Projektion, doch so wie sie da vor mir stand... Ihr Hochzopf wurde von einer unsichtbaren Windböe bewegt, ihre hellrosa Lippen zogen sich zu einem freundlichen, nein, fast liebevollen Lächeln, während sie eine Hand nach mir ausstreckte. Sanft platzierte sie diese an meinem Brustkorb und brachte meinen gesamten Körper durcheinander.

„Wolltest du mich nicht beschützen, Illian?“ Fragte die Projektion und ich bleckte ärgerlich die Zähne. Eine Projektion von Iduna zu erschaffen, die sehr realistisch wirkte, war das eine. Aber ihre Stimme nachzuahmen! Ich wandte mich von der Projektion ab.

„Lass die Spielchen endlich, Lilith. Niemand fällt mehr darauf rein. Akzeptiere dein Schicksal und verrecke.“

Idunas Stimme erklang wieder, nun in meinem Rücken. „Wieso lässt du mich dann zurück? Du weißt doch, dass ich völlig schutzlos bin und nicht für den Kampf ausgebildet wurde. Wieso also, hast du mich zurückgelassen?“

„Illian?“ Erkundigte sich Milan vorsichtig.
„Das ist nicht Iduna, Lilith ahmt sie bloß nach. Ich habe Iduna in Sicherheit gelassen. Jetzt muss sie längst bei Helena sein und ist beschäftigt.“ Antwortete ich karg.
„Nein, du hast mir immerhin den letzten Schutz genommen, den ich hatte... Mein Wissen über die Kreaturen der Nacht. Du hast mir meine Erinnerungen gestohlen!“ Warf mir die Projektion vor, was mich wütend herum wirbeln ließ.
„Schwachsinn! Ich habe lediglich ihre Erinnerungen für ein paar Stunden an mich und allem was mit mir zu tun hatte, blockiert!“ Stieß ich vorwurfsvoll hervor.

Haven klappte ungläubig der Mund auf. „D-Du hast an ihren Erinnerungen herum gespielt?“
„Willst du etwa, das sie so endet wie die anderen Jägerinnen, deren Erinnerungen du gestohlen hast?“ Knurrte auch Freya und wirkte mit einem Mal gleich doppelt so groß.

Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen. Hörte das denn nie auf? „Zeig dich endlich!“ Ich schickte eine Impulswelle aus, welche sich gleichmäßig durch die gesamte Höhle bewegte. Über die Jäger, so wie beiden Kreaturen der Nacht, fegte sie lediglich hinweg. Bloß bei Silas knisterte es ein wenig, da er ein Dämon war, gefolgt von Gini, in dessen Adern es genauso floss. Ihre Körper glühten lediglich für einen Moment auf, doch sobald die arkane Energie die beiden passiert hatte, ballte sie sich zu einer undurchdringlichen Wand und stieß brutal gegen die Höhlenwände.

Schreiend wand sich Liliths lederner, pechschwarzer Körper an der Decke, mit ausgestreckten Armen und Beinen, während ihre genauso schwarzen Flügel zwischen den Wänden, so wie dem arkanen Netz eingeschlossen wurde.

Ich schluckte schwer. Niemand hatte jemals gesagt, dass Lilith Flügel besaß! Und was mich noch mehr irritierte... Woher kam der Körper so plötzlich, der von der Decke fiel. Dieses Mal konnte ich mit hundert prozentiger Sicherheit sagen, dass es sich nicht um eine Projektion handelte, denn dafür erlitt die Dämonin viel zu starke schmerzen. Sie schrie wie am Spieß, während Haven in die Luft sprang und versuchte den Körper rechtzeitig vor einem Aufprall abzufangen.

„Iduna...“ Seufzte Haven und betrachtete den Körper in ihren Armen ungläubig. „I-Ist sie real?“ Fragte die, teils Therianthrophin, teils Jägerin verunsichert.

Fassungslos nickte ich. „J-Ja... Aber sie dürfte überhaupt nicht hier sein!“ Stieß ich atemlos hervor. Ich war mir absolut sicher, dass Iduna nicht mit uns gereist war. Niemals! Sie... Sie... Wie ist sie hierher gekommen?

 

- - - - -

 

Iduna:

So schnell wie sie verpufft waren, konnte ich kaum reagieren. Ja, ich hatte es zwar gewusst, aufgrund meiner Vision. Trotzdem hatte ich tatenlos dabei zugesehen, wie Illian mit meiner Familie und einer handvoll Jäger einfach verschwand.

Hastig lief ich auf die Kreuzung zu, doch nichts menschliches, oder übernatürliches ließ hier auf sich warten. Na toll!

„Mist!“ Stieß ich keuchend hervor. Ich war so nah dran gewesen! So... So nahe an Illian... Wieso hatte er denn nicht gewartet? Weshalb tat er stets so unerreichbar? Das wollte mir einfach nicht eingehen. Gleichzeitig jedoch, besaß ich eine Stinkwut auf ihn. Ich hasste und liebte diesen Idioten völlig irrational.
„Na hallo, süßes Mädchen. Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?“ Ich musterte den Jugendlichen, welcher vor mir stand. Und ob er mir behilflich sein konnte.

„Du bist der Dämon, der eben diese Gruppe zu Lilith geschickt hat. Ich will auch dorthin.“
Schallendes Gelächter erklang, er steckte die Hände in seine Hosentaschen und begann um mich herum zu schleichen. „>Du< verlangst von mir, dass ich dich in Liliths Gefängnis, ohne Wiederkehr schicke?“ Er gab nachdenkliche Laute von sich. „Na ich weiß ja nicht. Was hätte ich denn davon?“

„Was hat der Druide dir vorhin gezahlt? Ich biete dir dasselbe.“

Er lachte erneut auf, als würde er sich köstlich über mich amüsieren. Als der Dämon vor mir zum Stehen kam, wirkte er auf einmal wieder viel größer, so als ob er die Kontrolle über seine Gestalt verlieren würde und seine Iriden verfärbten sich schwarz, dehnten sich aus, bis der ganze Augapfel erloschen war. „Dein Blut ist bei weitem nicht so viel Wert. Du bist bloß eine Jägerin.“ Spottete er.

Ich biss verärgert die Zähne zusammen. Na sehr nett! Ich wusste ja, dass wir nicht gerade den besten Ruf bei den Kreaturen der Nacht besaßen... Egal, Jäger waren in dieser Hinsicht ohnehin nicht viel besser! „Okay, dann... Was willst du haben?“

Er sackte zurück in seine menschliche Gestalt und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich weiß ja nicht. Für jemanden wie dich, habe ich nicht gerade Verwendung. Aber wenn du mir vielleicht ein seltenes Objekt bringst, oder eine besondere Waffe. Dann können wir ja noch einmal miteinander sprechen.“

Der Dämon wandte sich bereits ab, da packte ich ihn am Unterarm. „Eine Lebensschuld!“ Warf ich ihm an den Kopf.

Interessiert hob der Dämon seine falschen Brauen. „Wie bitte?“

„Ich biete dir meine Lebensschuld. Ist es das was du willst?“

Er musterte mich erneut. „Eine Jägerin, die ihre Seele verkauft. Dir muss es ja besonders wichtig sein, dein Leben so früh zu lassen.“

Entschieden starrte ich dem Dämon in die, noch immer, pechschwarzen Augen. „Eine Lebensschuld. Das ist mir meine Familie mehr als Wert.“

Der Dämon schmunzelte. „Ich bin überzeugt, dass wir viel Spaß haben werden.“ Dann beugte er sich herab und küsste mich knapp auf die Lippen. Als er sich zurücklehne und selbstzufrieden über die Lippen leckt, stand ich auch bereits unvermittelt mitten in einem steinernen Tunnel.

Verblüfft runzelte ich die Stirn. Das ist ja schnell gegangen! Achselzuckend ignorierte ich die Schuldgefühle, welche mich maßregelten eine riesige Dummheit angestellt zu haben und lief einfach los. Mir war nicht einmal bewusst, dass es hier zwei Gänge gab. Ich lief einfach den hinab, der sich direkt vor mir befand und... landete überrascht in den Armen einer wunderschönen Frau. Sie war definitiv keine Jägerin, doch als sie meinen bestürzten Blick, triumphierend erwiderte, wusste ich, dass es Lilith sein musste! „Verdammt!“

Lilith packte mich um den Hals und ich verlor beinahe augenblicklich das Bewusstsein. Ich wusste nicht wie lange... doch sobald ich die Augen aufschlug, blickte ich hoch in die wunderschönen, wildgrünen Augen von Haven. Meiner geliebten Schwester! Erleichtert seufzte sie und drückte mich an sich.
„Du lebst! Du Dummkopf!“ Sie zog mich grob auf die Beine, während ich noch orientierungslos herum blickte. Wo war ich denn?

„Iduna! Geht es dir gut? Bist du verletzt?“ Freya schloss mich in eine liebevolle Umarmung und Milan hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel.

„Ein Glück, dass du lebst!“

Ich drückte die beiden für einen Moment, ehe ich mich losmachte. „W-Wo sind wir? Wo ist Lilith?“
Zet, eine Jägerin, deutete hoch an die Decke. „Dein Freund hält die Schlampe dort oben fest.

Ich folgte ihrem ausgestreckten Finger. Tatsächlich. Eines der hässlichsten Wesen, dass ich jemals in einem Buch, oder in der Realität gesehen hatte, hing dort oben. Ihre Flügel waren schwarz, ledrig und glitzerten schwach, als hätten sie eine unsichtbare Flüssigkeit darauf. Ihre restliche Haut wirkte einfach bloß... Ledern, ekelhaft und dunkel. An manchen stellen zeichneten sich Brandspuren ab, welche ihr man scheinbar erst kürzlich zugefügt hatte. Auch ihr Gesicht war lippenlos, ihre Zähne glichen einem Maul voller Dornen und die Zunge, welche halb heraußen hing, musste gut einen Meter lang, und dornig sein. Lilith besaß sogar einen Schwanz, war eigentlich völlig untypisch war für einen Dämonen ihres Types. Aber gut, was an Lilith war schon normal? Oder typisch?

„Starrt sie nicht so dämlich an. Schießt! Schießt endlich!“ Zischte Illian uns an. Es kostete ihm jeden Funken an Kraft, um die Kreatur dort oben in sicherer Entfernung zu halten. Haven und Freya warfen Dolche hoch. Andere Schossen in schneller folge und einer hatte sogar ein Gewehr dabei, welches riesige Löcher in die Flügel riss. Die Kreatur schrie noch qualvoll... noch wütender!

Mein Blick glitt zu dem taumelnden Illian zurück. Sein Gesicht war mit einem Mal völlig verschwitzt, bleib und aus seiner Nase hatte sich ein Blutrinnsal gebildet. „Illian!“ Augenblicklich lief ich auf ihn zu, während die anderen auf Lilith schossen. Ich hatte große Mühe den großen Mann auf den Beinen zu halten, während die Kraft immer mehr und mehr aus ihm schwand. „Illian, hör auf! Das ist zu viel! Du bringst dich um!“ Schrie ich ihn an, als wir gemeinsam zu Boden sanken. Was um mich herum geschah, blendete ich völlig aus.

„I-Ist... egal...“ Stieß Illian zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und bündelte immer mehr und mehr arkane Energie, welche er in seinem Körper sammelte und mindestens genauso schnell wieder auf Lilith losließ.
„Nein! Ist es nicht. Es ist mir nicht egal, Illian. Du darfst nicht sterben. Nicht so!“

Er lachte bitter. „Aber dafür wurde ich geboren, Kleine. Nur für diesen Moment.“ Zischte er voll Hass. Auf wen oder was, konnte ich nicht sagen.
„Unsinn! Du... Du hast Macht bekommen, ja!“ Gab ich zu und umfasste sein Gesicht mit meinen Händen, während immer mehr und mehr Staub von der Decke rieselte. „Aber niemand sagte, dass du zusammen mit Lilith sterben solltest.“
Sein harter Blick wurde plötzlich weich und ich hatte das erste Mal das Gefühl, als würde er meinen Blick wirklich erwidern. Kraftlos stützte er seine erhobenen Arme auf meine Schultern, während die Höhle von blau in violettes Licht wechselte. „Ich habe aber nichts mehr, Iduna. Meine Gefährtin starb, noch ehe sie alt genug war, sich an mich zu binden. Dann wurden mir meine Eltern von Dämonen genommen... meine Töchter... Und jetzt werde ich die Energiequelle, wie geschworen, an dich abtreten. Was... Was habe ich denn sonst noch?“
Seine linke Hand gab nach und er schlang sie um meinen Hals , um mich an seine Schulter zu ziehen. Verzweifelt klammerte ich mich an ihm. Die Erschütterungen und das herabfallen der Steine bekam ich überhaupt nicht mit.

Genügte ich ihm etwa immer noch nicht? Konnte er sich nicht vorstellen, sich meiner Familie anzuschließen? Mich zu lehren, wie ich mit meiner neuen Kraft umzugehen hatte?

„Sogar dich habe ich verloren. Dich belogen. Weggestoßen.“ Keuchte Illian atemlos. „Ich habe sogar deinen Geist misshandelt.“ Ich konnte schwören, etwas feuchtes an meiner Wange zu fühlen. Nur von wem kamen diese Tränen?
„Ich brauche dich aber.“ Schniefte ich an seiner Schulter. Ich brauchte ihn so sehr!

„Unsinn. Du bist eine Ridder. Und jetzt bring deine Schwestern hier raus.“ Ruckartig schob er mich mit seiner freien Hand von sich. Erst da fiel mir das violette pulsieren zu seinen Füßen auf. Es war, als würde er alles aus der steinernen Höhle in sich hinein ziehen und in seinen Fingerspitzen, als Blitze wieder entlassen. Entsetzt bemerkte ich dass das feuchte... Blut gewesen war. Illians Blut, welches nun aus beiden Nasenlöchern, seinen Ohren und den Augenwinkeln lief! „I-Illian, du-...“
Er schnitt mir das Wort an. „Haven! Nimm sie mit raus hier. Die Höhle stürzt zusammen.“ Das Gefängnis der Dämonenfürsten löste sich aus. Eine kraftvolle magische Barriere, welche nur für eines erschaffen worden war. Lilith gefangen zu halten.

„Nein! Nicht ohne dich!“ Entgegnete ich starrköpfig.

Illian stöhnte. „Iduna, ich bin müde... Ich kann nicht mehr. >E-Es< war einfach schon zu viel.“ Das Leben, der Verlust, das Leid...

Das war der Moment, in dem ich es über meine eigenen Ängste hinaus schaffte. Meine mädchenhafte Schüchternheit überwand und mich das erste Mal in meinem bisherigen Leben, richtig erwachsen fühlte. Ich lehnte mich gegen seinen geschwächten Arm... und küsste Illian mit einer Intensität, welche mir die Haare im Nacken zu Berge stehen ließen. Meine herab gesunkenen Hände, klammerten sich verzweifelt an seinen starken, warmen Nacken und meine Lippen streichelten leidenschaftlich über die seine. Dass ich dabei deutlich den Geschmack von Blut wahrnahm, ließ mir erneut Tränen in die Augen steigen. Salzig, metallisch, männlich. So sollte ich wohl Illian das aller letzte Mal wahrnehmen. Trotzdem genoss ich es. Es war so wohltuend wie Balsam, für meine splitternde Seele. Meine Haut kribbelte, als wäre sie bedeckt von weichen Federn und meine Lippen... Himmel, die brannten in einem Feuerwerk, dass nicht einmal Götter beschreiben könnten. Ob Illian und ich... wohl in einem ganz anderen Leben wohl Gefährten hätten sein können? Ich wünschte es mir so sehnlich. Vielleicht... In einem anderen Universum, zu einer anderen Zeit, zu völlig gegensätzlichen Bedingungen...

„Ich liebe dich so sehr.“ Hauchte ich an seinen kraftlosen Lippen und fühlte, wie sich etwas in meinem Körper einnistete und mit wahrer Macht erfüllte, während kräftige Arme, mich gegen meinen Willen mit sich zogen. Illian war tot. Ich sah es an seinen leeren Augen, den erblassten Lippen und dem starren Blick an die herabfallende Höhlendecke. Ein Anblick, welcher sich mir in Mark und Bein brannte...

 

- - - - -

 

Als ich meine Augen öffnete, kniete ich staubbedeckt, in einer leblosen Einöde. Es war eine Wüste, dunkel, trostlos und natürlich unbewohnt. Ungefähr so fühlte sich im Moment mein Körper an. Vetjan, welcher mich gepackt und aus der Höhle geschleift hatte, kniete noch immer schnaubend neben mir, während wir beide dabei zusahen, wie der Sand langsam aber gemächlich zum Stillstand kam. Neuer Sand rieselte über die Stelle, wo nun so etwas, wie eine Grube entstanden war und reichte mehrere Kilometer weit. Wir befanden uns am höchsten Punkt davon und besahen das Unglück.

Haven kam an meine Seite, sie wischte mit ihrem Ärmel über meine Lippen, als wolle sie dort etwas unappetitliches fortwischen, doch ich bemerkte es kaum. Ich hörte nicht ihre Worte. Verstand noch nicht einmal ihre Gesten.

Es dauerte... Stunden... Tage? Ich weiß es nicht mehr, doch irgendwann nahm ich meine Umgebung zumindest so weit wahr, dass mir bewusst wurde, dass ich nun alleine war. Nur Haven, zu meiner linken und Freya, zu meiner rechten, hatten mich nicht verlassen. Sie knieten neben mir, streichelten mein klumpiges Haar, meine müden Schultern. Ein wenig Trost bezog ich ja aus diesen Gesten, doch... sie heilten nichts, was so frisch und schmerzhaft war.

Freya küsste meine Schläfe und weinte still. „Es tut mir so leid, Iduna. Ich mag mir nicht einmal vorstellen, wie du dich fühlst.“ Flüsterte sie.

„Wir sind für dich da. Egal wann. Egal für was.“ Schwor Haven zärtlich.

Doch ich hatte nicht das Gefühl, als ob ich irgendjemanden brauchen würde. Nicht in diesem Moment. Mein Kopf, mein Herz... beides fühlte sich so leer an. Eine Leere, die scheinbar niemals mit irgendetwas gefüllt werden konnte... Nicht einmal Tränen vermochte ich noch hervor zu bringen, so emotionslos fühlte ich mich!

Leider jedoch nicht lange. Es war... seltsam. Früher, hatte ich alle paar Monate, vielleicht sogar einmal im Jahr lediglich eine Vision gehabt. Kaum war Illian in mein Leben getreten, so schien es mir, folgte eine der anderen. Ich fühlte sie in mir hochsteigen, dann befand ich mich auch bereits in einer anderen Zeit, an einem völlig anderen Ort, den ich jedoch wiedererkannte. Es war Springgan. Diese Stadt, meine Stadt, würde ich überall und zu jeder Zeit wiedererkennen.

Ich atmete die schwere Luft ein. >Ich< meine ich. Mein Visions-Ich. Ich stand direkt vor mir und sah mir dabei zu, wie ich mitten am Bürgersteig tief Luft holte, sie genüsslich ein saugte und dann schwer wieder ausstieß. Ich trug eine vollgepackte Kiste, ohne Beschriftung, in meinem Arm und ließ den Augenblick der Ruhe vorbeiziehen.
Erst, als ein „Tante Idy!“ Erklang, riss ich die Augen auf und musterte den Jungen Mann vorwurfsvoll. Er war groß gewachsen, hatte dunkles, wild abstehendes Haar und ein Grinsen, dass einfach unverkennbar war. „Also wirklich, du kommst an deinem ersten Schultag zu spät?“ Spottete er schamlos, lehnte sich herab und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Halbherzig boxte ich dem Alpha gegen die Schulter. „Sei nicht so frech, sonst lasse ich direkt an deinem ersten Tag nachsitzen!“ Mahnte ich streng, doch mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

Unschuldig hob er die Hände. „Verzeihung, Professor Ridder. Ich muss Sie wohl mit jemandem verwechselt haben.“

Schnaufend wandte ich mich dem anderen Alpha zu, welcher wesentlich stiller war, breit gebaut und seinen dunklen Blick über die Wiese gleiten ließ. „Romeo?“ Fragte ich ungläubig und schwebte auf meinen anderen Neffen zu. Unglaublich! Trug er etwa Kontaktlinsen? Ace ebenso?

Ich sah wieder zu meinem lächelnden, etwas älteren ich. Wie alt musste ich nun sein? Mitte zwanzig, so wie Haven es nun in meiner Realität war? Sie riss sich von dem Geplänkel los und winkte Romeo herzlich zu. Zumindest so gut, wie es mit zwei vollen Händen ging. Der stoische Alpha neigte lediglich den Kopf, dann schien etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Es war ein junges Mädchen. Einem Mädchen, dem man keinesfalls ansah, dass sie bereits sechzehn sein musste, oder nein... siebzehn, wenn Romeo und Ace an der Highschool waren. Oder neunzehn? Ich konnte es nicht wirklich sagen.

„Also, bis gleich in der Klasse, Jungs. Und wehe ihr kommt zu spät, klar!“ Mahnte mein Visions-Ich die Jungs. Dann richtete das Visions-Ich den Blick nach vorne und traf direkt den meinen. Sie lächelte. Ich lächelte zurück. Natürlich erinnerte ich mich an meine Vision, wie könnte es auch anders sein? Das Visions-Ich wusste genau was ich in diesem Moment dachte und sah. Immerhin... war sie ich. Stark, schön... erwachsen. Ich strahlte nun Selbstsicherheit aus und trug mein Haupt erhoben. Spöttisch zwinkerte ich mir selbst zu, woraufhin das Visions-Ich herzhaft lachte.

Ich fasste mir an meine Brust, die endlich aus der Leere zu kriechen und seufzte erleichtert. Obwohl ich es nicht erwartet hatte, schaffte ich es. Ich überwandt Illians Tot und konnte ein eigenständiges Leben führen. Nur... wie? Wie schaffe ich es? Ich gehe auf meine Vision zu, fühle den Glos und will meinen Mund öffnen. Doch keine Worte dringen daraus hervor. Ich kann es einfach nicht. Ich durfte nicht...

Anstatt jedoch einfach weiter zu machen, nickte mein Visions-Ich mir zu. Sie deutete mir, dass ich ihr folgen sollte und genau das tat ich. Neben ihr bewegte ich mich, wie ein Zwilling her. Meinen Blick ließ ich schweifen. War das etwa die Bellatrix High? Sie war eine renommierte Schule und die Schüler dort waren alle hoch gebildet. Dass Freya zuließ, das Ace und Romeo hierher gingen, überraschte mich, obwohl es das vermutlich nicht sollte. Immerhin sind auch sie eigenständige Menschen. Irgendwann mussten sie das Leben draußen, außerhalb des Hauses, auch kennen lernen, richtig?

„Na, wie gefällt dir dein erster Schultag?“ Es war Rachel. Sie war flachbrüstig, doch versuchte dies mit eine dicken Pullover zu verstecken. Ihre Haut war, im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern makellos und wirkte viel kindlicher. Doch auf ihren Lippen trug sie ein heiteres Lächeln, während Romeo hoch über ihr aufragte. „Oh, nur nicht zu viele Details, sonst bin ich ein Jahr älter, bis du mal zum Punkt kommst.“ Spottete sie über eine halbherzig gebrummte Antwort.

Ace sprang an Rachels Seite, legte besitzergreifend einen Arm um das Mädchen und schien, mit einem funkeln in seinen dunkelbraunen Augen, etwas zu ihr zu sagen, was sie zum Lachen brachte. Romeo ging weg, kaum dass Ace neben ihn getreten war, so als würden die beiden überhaupt nichts miteinander zu tun haben.

Hatte sich deren Verhältnis etwa verschlechtert? Ich hoffte nicht!

„Miss Ridder.“ Eine heisere Stimme erklang von einem Seiteneingang her und erregte die Aufmerksamkeit meines Visions-Ich. Auch mein Kopf fuhr ruckartig zu besagter Stimme und mein Herz schlug schlagartig schneller. Ich erstarrte und konnte bloß mit offenem Mund dabei zusehen, wie mein Visions-Ich, völlig unwissend, auf den Mann zuging.

„Guten Tag, ich hoffe ich bin nicht zu spät dran. Die Formulare und das...“ Mein Visions-Ich versuchte den Deckel mit dem Mund anzuheben und machte sich dabei völlig zum Affen! Himmel, war ich peinlich, ich wollte gar nicht mehr zusehen! „Ah, hier sind sie.“ Na wenigstens bin ich auf die Idee gekommen, die Kiste zwischen der Hauswand und meiner Hüfte einzuzwängen. Dabei verrutschte mein knielanger Rock ein wenig, doch wen störte das schon. Ich war noch immer zu sehr von dem Mann fasziniert, der dort im Türrahmen stand.

„Danke, genau die brauchte ich noch. Ich geh das nur kopieren. Folgen Sie mir einfach, dann kann ich Ihnen gleich den Kopierraum und das Lehrerzimmer zeigen.“ Bot er an.

Dabei legte er meinem Visions-Ich eine Hand auf die Schulter, wobei ich mir selbst deutlich ansah, dass mein Herz nach unten sackte. Etwas in meinem Körper reagierte, als würde es diese Person wiedererkennen und das verwirrte mein Visions-Ich sichtbar.
„Ä-Ähm, danke. Proffessor. Äh... Wie war Ihr Name nochmal? Tut mir leid, aber es ist schon wieder zwei Tage her, seit wir gesprochen haben und da habe ich mich in so viele Namen und... Dingens... eingelesen...“ Stammelte mein Visions-Ich
„Schon gut, meinen Namen prägt man sich selten auf Anhieb ein.“ Bemerkte er lächelnd. „Es war Srevalzki. Illian Srevalzki.“ Damit führte er mein nervös gewordenes ich, das plötzlich wieder, wie ein Teenager wirkte, hinein ins Hauptgebäude.

Epilog von Haven

Jetzt schaut nicht so. Iduna durfte den Anfang machen, also bleibt mir das Schlusswort! Und keine Sorge, ich werde euch schon erzählen, wie es mit uns, den Schwestern, den Alphas, den Dämonen und den Jägern weiterging...

Es war überraschend schwer gewesen, um wieder nach Hause zu kommen. Wie ihr euch vorstellen konntet, landeten wir nicht unbedingt direkt in Springgan, sondern in einer Wüste, den mitten in dieser Einöde, schien sich das Gefängnis von Lilith befunden zu haben. Nach ihrem Tod löste es sich dann endgültig auf.

Dank unserer Spürnasen jedoch, schaffte es unsere Gruppe noch vor Sonnenaufgang zu einer kleinen Siedlung. Mein Gefährte hielt sich im Hintergrund, er achtete auf diejenigen, die wir aus Liliths Gefängnis befreit hatten. Mom und Dad wieder zu sehen... Es war so schrecklich... All die Jahre hatten wir angenommen, sie seien tot! Das zumindest hatten uns die Organisation glauben gemacht.

Wie man sich nach Liliths Tod, unter anderem vorstellen hatte können... brach der Bann, welchen sie auf viele Jägerfamilien ausgeübt hatte. Danach spaltete sich die Organisation in zwei Extreme. Die einen, die sich an dem alten und eingetrichterten System festklammerten. Und denjenigen, die alles anders machen wollten. Das führte selbstverständlich zu spannungen, doch dank Freyas und meiner Führung... schafften wir es irgendwie. Zusammen, mithilfe vieler Anhänger, schafften wir es, eine zweite Organisation zu gründen. Dies jedoch... dauerte viele Jahre und gelang lediglich durch die Zusammenarbeit aller Arten! Die Dämonen... Wie sollte ich es sagen? Sie waren noch immer nicht sonderlich erwünscht. Trotzdem tolerierten wir ihr Tun, solange niemand über die Grenzen, welche wir gemeinsam zogen, trat.

Haha... Ich weiß, Dämonen und Grenzen? Kaum zu glauben, was. Für die war es geradezu eine Einladung, das anzustellen, was sie wollten und uns ärgerten. Aber zum Glück gab es da noch die andere, Ursprüngliche Organisation. Die kümmerten sich um diejenigen, welche gegen die neu aufgesetzten Gesetzte traten. Wir nannten sie hinter ihrem Rücken... die Übernatürlichen-Polizei. Nur mit viel mehr Spielraum, um alle an der Stange zu halten.

Selbstverständlich bedeutete dies auch, dass auch Kreaturen der Nacht ihren eingenen Sitz in unserer Firma erhielten. Somit begannen wir, in den kommenden dreißig Jahren, viel enger zusammen zu arbeiten, einander besser kennen und verstehen zu lernen. Wir führten einen Übernatürlichen Rat ein. Ich, als Sprecherin für die Therianthrophen, welche nur zu gerne in ein künstlich angelegtes Höhlensystem ausweichen wollte. Milan führte, zusammen mit Freya, einen großteil der Werwölfe an. Ein junges Prinzesschen, welches bereits zweihundert Jahre alt war, übernahm den Sitz der Vampire. Und viele gab es mehr. Gini, wie ihr euch denken könnt, nahm den Sitz der Dämonen ein.

Oh, was aus ihr wurde? Sie erwachte, als direkt nach ihrer Rettung, die ersten Sonnenstrahlen über ihren Körper streichelten. Sie schlug ihre pechschwarzen Augen auf, Halb Dämonin, halb Jägerin. Sie behielt, dank Idy ihre Jägerseite bei, konnte weiter auf ihre natur gegebene Gabe zugreifen, doch hatte dummerweise jegliche Empathie verloren. Diese hingegen schien Silas, ihr offizieller Gefährte, nun im Überfluss zu haben. Er wurde zu so etwas, wie ihrem Gewissen, was an und für sich ironisch sein sollte... Ein Jahrtausendealter Dämonenfürst... mit einem Gewissen? Ach, wieso sollte mich das überhaupt noch überraschen? In meiner Familie scheint ja quasi alles möglich zu sein!

Übrigens tragen beide recht interessante Tattoos, welche sich vom Nacken aus, über deren Schultern, bis hin zur Mitte ihrer Rücken ergoss. Sie sahen wunderschön aus, verschlungen und waren exakt identisch.

Ach, bevor ich es vergesse. Ein winziger Teil der Regierung weiß mittlerweile von uns. Gerade zur Anfangszeit, war es zu einigen... unerklärbaren Tumulten gekommen, in welcher die übernatürliche Gesellschaft ein wenig aktiver geworden war. Danach mussten wir selbstverständlich auch den Menschen einen Sitz im Rat anbieten, welcher sich zweimal wöchentlich traf, um die Belange, Anliegen und sehr, sehr viel Kritik zu überwinden.

So fanden wir selbstverständlich neue Freunde, machten uns Feinde, wendeten sogar einen >winzigen< Krieg ab, aber wen störte das schon. Auch unsere Familie wuchs, selbstverständlich!

Rachel zum Beispiel, sie schaffte es gar achtzehn Jahre alt zu werden! Manuel, ihr Vater schloss sich, zusammen mit ihr, unserem Rudel an und wurde zu Milans rechter Hand und Vertrautem. Sie wurden beste Freunde, was besonders Freya freute.

Iduna erzählte mir erst Wochen, nach der Rettungsaktion später, dass sie die Uni noch vor alldem geschmissen hatte.
„Ja, entschuldige! Es kam eben viel dazwischen.“

Psst! Ich rede jetzt!

„Ach komm schon! Lass mich über mich selbst erzählen! Ich will es ihnen sagen! Bitte, Bitte!“

Seufz... Leg los.

„Hi, ich bins, Iduna. Also, wie ihr euch bereits denken konntet... Illian starb nicht! Unfassbar, oder? >Mein< Illian lebte weiter! So richtig, in Fleisch und Blut und das bloß wegen seiner Druidengabe! Die Vergessensgabe zu besitzen, welche unter uns Jägern noch nie dokumentiert worden war, bloß um das mal anzumerken, war nicht bloß eine Gabe, sondern auch ein Fluch. Mit seinem letzten Atemzug hatte Illian die Macht über arkane Energie, in meinen Körper abgegeben. Also war der Kuss nur zum Teil richtig prickelnd gewesen... Der Rest war wohl von der Machtübernahme gekommen, aber egal. Der Kuss war der Wahnsinn!“

Komm zum Punkt, Idy. Die Leser wollen heute noch aufhören!

„´tschuldigung! Illian starb nicht, weil die Vergessensgabe auch dafür sorgte, dass nicht bloß wir menschlichen Wesen nach ein paar Tagen vergaßen, dass Illian existierte, sondern durch seine lange Existenz, sogar Gevatter Tod ihn vergessen hat. Ich würde ja lachen, wenn Illian es nicht auf so eine tragische Weise festgestellt hätte! Er erwachte, verschüttet unter Tonnen Sand und kämpfte sich auf unbestimmte Zeit, seinen Weg nach oben. Er erstickte und verhungerte, mehrere Male, bis er endlich Hilfe fand, doch tot blieb er nie. Das war der Moment, in welchem Illian erkannte, dass seine Gabe, andere vergessen zu lassen, sein persönlicher Fluch war. Wennn Gevatter Tod nicht kam, um seine Seele in den Himmel, oder die Hölle zu schicken, wie es so schön hieß, blieb seine Seele im Körper und er erwachte viele Stunden, oder gar Tage später wieder regeneriert.“

Das ist so krank, wie faszinierend! Helena riss sich geradezu ein Bein aus, um ihn untersuchen zu dürfen!

„Ich zu meinem Teil, nahm meine Zukunft selbst in die Hand. Nachdem ich ein halbes Jahr Pause gemacht hatte, entschied ich, Lehrer zu werden. Wie sich herausstellte, während ich meine Neffen unterrichtete, war es mein persönliches Talent und mit der Zeit lernte ich auch, endlich mal strenger zu werden. Mit der Hilfe und dem Einfluss von Haven, schaffte ich es an eine renommierte Universität, welche mir eine Stelle anbot. Jedoch, wie in meiner Vision vorgesehen, ging ich an die Bellatrix High, wo ich auf meine Neffen acht gab. Es dauerte ewig, bis Freya und Milan endlich zustimmten, dass die beiden, leider bloß zusammen, hinaus in die Welt ziehen durften. Dadurch dass Ace und Romeo lediglich ein Jahr trennte, entschieden sie, die beiden als Zwillinge auszugeben und schrieben diese, nach einem formellen Aufnahmetest, in der Bellatrix High ein. Dort traf ich auch Illian wieder, welcher in den ersten fünf Jahren in absoluter Abgeschiedenheit gelebt hatte, ehe er entschied, einen Blick auf mich werfen zu wollen. Als er herausfand, dass ich als Lehrerin in einem Jahr an die Bellatrix High gehen würde, nutzte dieser Arsch seine Kontakte, um selbst Schulleiter zu werden! Natürlich wusste ich nicht mehr, wer er war. Dementsprechend brachte der Direktor mich gehörig aus der Fassung, während ich mich immer mehr und mehr in ihn verliebte. Mal wieder... Nun ja, ich will ja nicht spoilern, oder so... Aber das warten hatte sich definitiv gelohnt. Illian schaffte es, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen und sah nach vorne. Nun, da ich dank der arkanen Energie ebenfalls unsterblich geworden war, zumindest solange ich diese in mir trug, blieb uns immerhin eine sehr, sehr lange Zeit, in welcher ich ihn endlich richtig kennen lernen konnte. Einen lachenden und scherzenden Illian. Mit braunem, halblangen Haar, tiefblauen Augen und Küsse, die meine Welt aus den Angeln hob...“
Okay, genug Kitsch für heute! Geh wieder zu deinem Illian, ich muss hier einen Epilog zu Ende bringen und das geht nicht, während du von deinem Druiden schwärmst!

„Vergiss nicht von Mama und Papa zu berichten!“

Hach... Ja, soviel dazu. Leider, schafften es die beiden nicht. Sie öffneten, wie auch Gini und Silas, bei den ersten Sonnenstrahlen, nach Jahrzehnten, wieder die Augen. Sie waren schwach und ausgelaugt, mit keinem Funken Kraft mehr. Während in Gini so wie in Silas, das Blut von Dämonen fließt und sie dadurch eine bessere Regeneration besaßen, waren unsere Eltern jedoch rein menschlich... Nun ja, Jäger mit Gaben, doch einem Menschen viel ähnlicher, als Gini oder ich. Sie waren wie Freya und Gini und überlebten die Tortur, welcher sie zwanzig Jahre lang ausgesetzt worden waren, nicht. Liliths Macht war das einzige gewesen, was die beiden lebendig gehalten hatte. Silas hatte noch angeboten, ihnen zur Kräftigung, sein eigenes Blut zu geben... Aber was sollte ich das großartig erklären? Sie hatten gewusst, in welcher Situation sie steckten. Lilith hatte die beiden Jahrzehntelang verhöhnt und ihnen jegliche Hoffnung genommen. Deshalb waren sie lediglich erleichtert gewesen, uns noch einmal sehen, anfassen und umarmen zu können, ehe sie dem natürlichen Ruf folgten und einfach wieder einschliefen... Die Beerdigung war... fast schlimmer noch, als die erste. Bis heute fanden wir nicht heraus, wie sich Lilith ihnen hatte bemächtigen können. Wir vermuteten, es sei ein Dämonenfürst gewesen, welcher die alten Zeiten wieder hatte aufleben lassen wollen. Natürlich konnten wir es in unserem ganzen Leben, niemandem nachweisen, oder fanden irgendwelche Indizien... Schade.

Habe ich etwas ausgelassen?

Gini lebt, leider nicht bei uns, doch in Silas Loft, an der Spitze der Dämonen. Durch ihre besondere Abstammung, ist es ihr möglich, ihre dämonischen Kräfte, auf Dämonen loszulassen und nutzte diese auch, um diejenigen, welche aus der Reihe sprangen zu bestrafen.

Die Therianthrophen, erhielten ihr eigenes Land, in einem Naturschutzgebiet, einige Kilometer entfernt von Springgan, einem Land, dass offiziell mir gehörte.

Ich arbeitete nicht länger als Designerin weiter und bezog mit Vetjan mein Elternhaus, da es langsam aus allen Nähten zu platzen begann. Außerdem besaßen wir nun einen schönen großen Hof, in welchem Vetjan ab und an, die Sonne genoss. Oh, außerdem bekam ich vier Jahre nach den ganzen Vorfällen, meine erste Tochter von Vetjan. Zusammen mit ihr, pendelte er häufig zwischen dem Naturschutzgebiet und unserem Zuhause, vor allem, wenn ich mal länger in der Firma bleiben musste. Er hasste es eingesperrt in einem Haus zu leben, was ich durchaus nachempfinden konnte. Doch die offene Weite eines Naturschutzgebietes machte ihn, so wie alle anderen aus der Kanalisation, extrem nervös. Dies würde sich bestimmt erst nach einigen Generationen ausgleichen lassen, doch ich war mir sicher, dass Emily, mein kleiner Engel, zumindest den gleichaltrigen, ein wenig auf die Sprünge helfen konnte. Sie wurde durch und durch Therianthrophin und eine wilde noch dazu! Tizian wurde sogar ihr bester Freund, wenngleich sie sich liebend gern aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft aufzogen und stritten.

Milan und Freya bekamen kein fünftes Kind mehr! Sie sagten, nachdem die ersten beiden teilweise außer Haus gekommen waren und beide eingespannt aufgrund unseres neuen Projektes welches ungeahnte Ausmaße annahm, freuten sich beide, die Zügel endlich lockerer lassen zu können. Ach, ja! Sie übernahmen übrigens mein Apartment, sehr zum Missfallen von Ace, welcher das Haus geliebt hatte.

Oh, nicht zu vergessen Rachel. Hatte ich nicht gesagt, dass sie sogar achtzehn Jahre alt wurde? Jetzt seit ihr bestimmt neugierig, ob sie schlussendlich an ihrem Gendefekt starb, oder doch den Platz eines Alphas einnahm, richtig? Sagen wir momentan einfach mal, Romeo, ganz Teenager eben, schiss am Ende auf den Rat von uns allen, kein Band zu Rachel einzugehen, da es auch seinen Tot bedeuten würde.

So viel dazu... Tja, ich denke das war es nun, liebe Leser. Das war meine Familie.

Wir Ridder wünschen euch noch ein schönes Leben. Ein Leben voller Abenteuer, Glück und Liebe. Oh, und seit weniger voreingenommen. Denn, auch wir haben erst mal lernen müssen, dass in denen, die uns absolut kein bisschen ähnlich sind, etwas steckt, dass einem perfekt ergänzen kann!

In Liebe... Eure Ridderschwestern Freya, Georgina, Haven und Iduna. Wir lesen uns teils wieder, wenn unsere vier Jungs etwas älter geworden sind ;)

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.09.2019

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