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Sehnsucht in die Tiefe

„Ein Erdrutsch?“ Schlug sie vor. „Vielleicht verbrennt ihr ja, ihr seid immerhin ziemlich nahe am Erdkern.“ Resigniert seufzte ich. „Oder sie stellen sich als Kannibalen heraus, fressen eure Arme und Beine und lassen euch dann verbluten.“

„Okay, du bekommst definitiv Horrorfilmverbot!“ Schimpfte ich und legte währenddessen eine bequeme Hose zusammen.
„Sie könnten auch eure Köpfe mit Steinen spalten und eure Gehirne verzehren, weil sie glauben, damit klüger zu werden.“ Wo lebte Estelle denn? In der Steinzeit? Ich schlug mir genervt gegen die Stirn und seufzte schwer.
„Gib mir bitte die bequeme Unterwäsche aus dem zweiten Regal links.“ Bat ich und ging nicht näher auf ihre beinahe bildlichen Beschreibungen ein, von denen sie begeistert erzählte.
Vor vier Monaten hatte ich endlich die Einladung bekommen. Ich war eine der fünfzehn Auserwählen, die sich hinab in Richtung des Erdkerns begeben sollten. Vor einem Jahr ist ein Bohrer durch gebrochen und hat eine unter gegangene Zivilisation gefunden, die unserer recht ähnlich ist. Sie sprechen eine einheitliche Sprache, die stark an Englisch angrenzte, und sind kaum mehr als eine Million ihrer Art, jedoch herrschen bei ihnen höhere Temperaturen, sodass man sich dort fühlen musste, wie in einem Tropenwald, was an der Nähe zum Erdkern lag. Süßwasser bekamen sie durch einen einzigen Wasserfall, der sich zu einem See gebildet hatte, der knapp die Hälfte ihrer, im Gegensatz zu unserer, geringen Fläche einnahm. Zudem hatten sie ihren zunehmenden Platzmangel durch in die Höhe reichende Bauten gelöst und verstanden uns beinahe ohne Probleme.
Zusammen mit meiner Gruppe bildete ich die zweite Einheit, die dort hinunter geschickt wurde, abgesehen vom Militär natürlich. Zur ersten Gruppe hatten Geologen, Botaniker, Archäologen und noch ein paar Bereiche mehr. Jetzt ging es jedoch um mehr. Nicht nur um das ober flächige, sondern um etwas, das die Regierung anscheinend mehr interessierte als alles andere. Was das war? Das wusste wohl niemand außer sie selbst.
„Uh! Das musst du mitnehmen, dann hast du ganz bestimmt eine spaßige Zeit dort.“ Verkündete Estelle und hielt stolz ein beinahe durchsichtiges Negligé hoch. Genervt riss ich es ihr aus der Hand.
„Lass das endlich! Ich bin nicht zum Spaß dort, sondern zum Arbeiten.“ Schimpfte ich mit ihr, doch musste selbst bereits lachen. Estelle hatte es einfach drauf mich im gleichen Maße zu ärgern, wie auch zum Lachen zu bringen. Nun, ja immerhin kannten wir uns bereits... seit meiner Geburt? Ich konnte mich noch nicht einmal an unsere erste Begegnung erinnern, es war, so als ob sie einfach schon immer da gewesen wäre.
„Und deine Freizeit? Immerhin verbringst du dort unten ein paar heiße Stunden, mit energiegeladenen, klugen, willigen Männern, die alles dafür tun würden eine süße Schnecke wie dich abzuschleppen.“ Schnurrte sie und zog währenddessen weitere Dessous aus meinem Schrank.
„Stella! Lass das bitte. Hör auf.“ Auffordernd kam sie näher und begann mich zu kitzeln. Sie wusste, wie verdammt kitzlig ich war und das mich deshalb kaum jemand berühren durfte. Außer sie selbstverständlich.
Natürlich gab es noch zwei weitere Frauen, die zusammen mit mir hinab in den Underground gehen würden und von denen war ich, so ziemlich die am schlechtesten erwählte. Ich befand mich zwar erst nahe an meinen Dreißigern, doch hatte bisher viel im Bereich der Biologie erreicht. Zumindest für den deutschsprachigen Raum. Dafür hatte ich sogar ein Jahr in Amerika und eines in Russland studiert, vor allem um mir die richtigen Kontakte zu sichern. Durch diese wurde es mir nun auch ermöglicht, den Underground zu erforschen.
Drei Stunden später, stand ich vor meinem Gate. Estelle hatte mich dank meiner Kontakte begleiten dürfen. Leider nicht bis hinein in die Maschine, doch immerhin weit genug, sodass ich keinen Rückzieher machen konnte. Immerhin konnte sonst was passieren. Kannibalen? Hirnspalter! Verrückte Experimente... wer konnte mir schon versichern, dass ich nicht mitten in einem Horrorfilm landete?
Mist verdammter, Estelle hatte es in den letzten Stunden doch geschafft, mich zu beeinflussen...
Mit Tränen in den Augen drückte sie mich so fest an ihre, professionell angepassten, Körper und ich sog ein letztes Mal ihren übertriebenen Parfümduft ein, den ich in den nächsten zwei Wochen höllisch vermissen würde. „Pass auf dich auf, ja?“ Ich nickte in ihrer Dauerwelle und schniefte gut hörbar. „Und lass dich nicht verschütten, ja?“ Warnte sie mich weiter und ich nickte wieder. „Und wehe du kommst ohne ein Andenken zurück, dann schlage ich dich.“
Nun löste ich mich doch lachend von ihr und trocknete meine Tränen an meinem Lederärmel. „Du weißt, wir dürfen nichts von unten mit nach oben nehmen, zudem würde nichts dort besonders lange leben...“
„Ja, ja. Ich Weiß schon. Andere Länder, andere Sitten.“ Winkte sie ab, doch umarmte mich noch einmal stürmisch, während sie mir einen schmatzenden Kuss auf die Wange drückte. Zwar wollte ich damit jetzt nicht auf irgendwelche Sitten anspielen, sondern auf die verschiedenen klimatischen Bedingungen, doch wusste, dass es nichts nützen würde ihr das jetzt ein hundertstes Mal zu erklären.
>Letzter Aufruf für den Flug sechsunddreißig von Wien nach Namibia.< Erklang es in der Durchsage, doch durch Estells lauten Wortfluss, verstand ich nicht alles. „Okay, Süße. Ich muss jetzt leider.“ Entschied ich und griff nach meinem Handgepäck, dass nicht aus mehr als einem Reisepass, etwas Bargeld, einem Buch und natürlich meinem Tablett bestand, mit dem ich mir die Zeit vertreiben würde, während des Fluges.
Da es ein Privatflugzeug war und nur exakt fünfzehn Personen dafür anstanden, war klar, dass Wien wohl der letzte Abflugort sein sollte.
Namibia. Na toll, mal sehen was genau mich dort erwartete, tief unter dem afrikanischen Kontinent.

 

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Nach einem mehrstündigen Flug, in dem ich meine vielsprachigen Kollegen mit Bravour gemieden hatte, landete endlich dieser verdammt wackelige Flieger mit uns. Vom internationalen Flughafen Hosea Kutako, östlich von Windhoek wurde uns ein Privatbus zur Verfügung gestellt, der uns direkt in die Zentrale brachte.
Vor Ort wurden wir von einer Menge Militär empfangen, die schwer bewaffnete den Avis Damm sicherten, als müssten sie jeden Moment eine Zombieapokalypse beseitigen. Okay, Estelle hatte deutlich auf mich abgefärbt.
„Willkommen, willkommen.“ Verkündete ein wichtig aussehender Politiker, oder war er vielleicht auch ein vollgestopfter Geschäftsmann? „Ich bin Anthonie Hartword.“ Bei diesem Nachnamen viel es mir schwer nicht zu lächeln, zum Glück deutete er es nicht als Belustigung, sondern Höflichkeit, als er an mir vorbeikam um mir die Hand, so wie allen anderen zu schütteln. Sein Englisch war fließend, also wusste ich, dass er aus Amerika kommen musste, wenn nicht bereits sein Name ihn verraten hätte. „Ich freue mich, Sie alle heute hier begrüßen zu dürfen, auch wenn mir eigentlich die Zeit dafür fehlt. Daher mache ich es kurz.“ Er trat wieder einige Schritte zurück und deutete uns, ihm zu folgen. „Sie brauchen eigentlich überhaupt nichts mit. Keine Kleidung, keine elektrischen Geräte,...“ Mehrstimmiges Gemurre erklang direkt vor mir, doch ich machte das Schlusslicht und verdrehte ungesehen die Augen. Konnte etwa heutzutage niemand mehr ohne elektrischen Scheiß leben? „...oder irgendwelche persönlichen Gegenstände. Medikamente müssen Sie alle noch einmal durchchecken lassen, da wir vermeiden wollen die Eingeborenen dort unten zu beunruhigen.“ Das klang ja schon beinahe, als würden wir dort auf ein paar Wilde stoßen. Oder hatte er einfach Angst, dass wir uns dort unten volldröhnen?
„In weniger als sieben Stunden, werden Sie sich mit einem Hochgeschwindigkeitszug auf den Weg mehrere Kilometer in die Tiefe besitzen. Ich kann nicht beschwören, dass sie zurückkehren, wie Sie gekommen sind, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie nicht länger als zwei Wochen dort unten bleiben dürfen.“
Okay, jetzt wurde ich erst recht neugierig, auf diese vollkommen Neue Welt. „Was meinen Sie damit?“ Fragte ein Mann, der scheinbar kaum älter als ich zu sein schien auf Japanisch.
Der Geschäftsmann, oder Politiker, antwortete ihm stattdessen auf Englisch. „Das bedeutet, dass dort unten Gase herrschen, die unser Körper nicht gewohnt ist. Leute über vierzig halten diese Gase, ohne langfristigen Schaden zu nehmen, kaum länger als ein paar Tage aus. Leute in Ihrem Alter natürlich bis zu zwei Wochen. Spätestens nach drei Wochen könnten sich die ersten Atembeschwerden bemerkbar machen. Danach fängt ihr Kopf an etwas verrückt zu spielen und Asthma ist euer neues Altsheimer.“ Erstaunt zog ich die Augenbrauen hoch. Das bedeutete also, dass wir nach kaum drei Wochen ein verkürztes Leben haben würden. Innerlich rechnete ich alles aus.
Wir kamen eben in einer großen Halle, voller Maschinen an, die irgendetwas in einem großen Erdloch werkten, doch ich war immer noch so in Gedanken, dass ich nicht bemerkte, wie ich angesprochen wurde. Erst als mich siebzehn Leute gleichzeitig ansahen, blickte ich vom Boden auf und zog die Augenbrauen hoch. „Was war die Frage?“ Entglitt es meinem Mund, noch bevor ich verstand, was los war.
„Ich sagte, dass sie auf Ebene -5 erwartet werden, sobald es Ihre Gedanken zulassen.“ Ich konnte den zynischen Unterton genau heraus hören, obwohl Anthonie es gütlich vermied eine Miene zu verziehen. Trotzdem reagierte ich wie üblich mit Trotz auf diese herablassenden Behandlungen.
„Gut, denn das könnte noch etwas dauern.“ Meinte ich genauso höflich wie er und lehnte mich gedankenverloren an ein Geländer, während ich im Kopf weiterhin durchging, was für Gase dort unten für Unruhe sorgen könnten, doch die Liste war zu lange, um sie schnell abzuhaken.
„Miss Frost. Mein Chef ist ein sehr...“
„Ja, ja. Schon klar, ich stehle Ihrem Chef die Zeit. Wir wollen ja nicht, dass er noch aus Langeweile einschläft.“ Scherzte ich, doch keiner schien es lustig zu finden. Mir war das jedoch egal. Ich drückte dem >Witzbold< meinen Koffer in die Hand und steckte noch einen Zehner dazu. „Danke, Süßer.“ Dann verschwand ich zu dem Lift, auf den er vorhin gedeutet hatte.
Was war das? Ebene -5? Darin drückte ich die richtige Taste und winkte meiner Gruppe zum Abschied noch einmal, bevor sich die Stahltüren schlossen und der Lift mich fünf Etagen in die Tiefe brachte. Zu meiner Überraschung schien es sich nicht um Wohnetagen zu handeln, denn jeder einzelne Stock, den ich passierte, dauerte beinahe eine Minute. Bis ich endlich auf Ebene fünf ankam, waren bereits sieben Minuten vergangen. Wo zur Hölle trieb ich mich nur herum? Und vor allem wie Tief befand ich mich überhaupt?
Kaum dass sich die grauen Stahltüren, direkt hinter mir, öffneten, blickte ich zwei Soldaten fragend an. „Bin ich hier richtig?“
„Wenn sie Professor Frost sind?“ Stellte der offensichtlichen Ranghöhere die ausschlaggebende Gegenfrage und ich nickte unsicher.
„Will ich das denn sein?“ Trieb ich nun mein Spiel an und beide blickten sich verständnislos an.
„Wir verstehen nicht, Miss.“ Meinte nun der Zweite, da er als Erstes seine Stimme fand, und ich lachte laut, während ich abwinkte.
„Nehmt mich nicht so ernst. Wo muss ich hin?“ Immer noch irritiert, deutete mir der erste Soldat ihm zu folgen, während sich der zweite hinter mir einreihte und wir mehrere, verworrene Gänge passierten, bis wir vor einer Türe landete, die genauso wie alle anderen aussahen. Dort klopfte der Soldat viermal, bevor nur eine Sekunde später die Türe geöffnet wurde. Sofort platzierten sich die beiden Soldaten links und rechts von der Türe und ich trat verwirrt in einen hell erleuchteten Raum ein.
„Wie schön Sie endlich kennen zu lernen, Miss Frost.“ Eine Frau sprach auf Deutsch zu mir und ich erwischte mich, wie ich leise, jedoch erleichtert seufzte. Wenigstens eine Person, die meine Sprache spricht. „Wir haben Sie schon sehnlichst erwartet. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass die Anfangsrede verpassen werden.“ Es war weniger eine Frage, als mehr eine Feststellung. Besonders diese Höflichkeitsfloskeln irritierten mich etwas.
„Okay, weshalb bin ich hier?“ Stellte ich die Frau zu rede und betrachtete nacheinander die drei Menschen, die direkt vor mir, hinter einem langen Tisch saßen und mehr oder weniger streng dreinblickten.
„Entschuldigen Sie bitte den Überfall. Ich bin immer so schusselig. Das ist der Regierungsminister für... diesen besonderen Vorfall, Hendrik Johnson.“ Damit deutete sie auf den älteren Mann mit grauem Haar. Auch er sprach auf Deutsch zu mir.
„Willkommen in der Evok“ Begrüßte er mich.
Danach deutete die rothaarige Frau auf den Mann zu ihrer rechten Seite. „Und das ist Minister Efolson. Den kennen sie doch bestimmt.“ Ich nickte bestätigend. Wer kannte ihn nicht? Er war so gut wie das Gesicht von Projekt Evok.
„Es ist mir eine Ehre persönlich von Ihnen dreien Empfangen zu werden.“ Fühlte ich mich verpflichtet zu sagen und alle drei nickten anerkennend.
„Zuletzt. Ich bin Anna Hofer. Ich bin hier als Dolmetscherin, um Ihnen den Aufenthalt zu erleichtern.“ Meinte sie leichthin.
„Solange wir bei Englisch bleiben, habe ich eigentlich kein Problem mit dem Verständnis.“ Scherzte ich und alle drei lachten, da ich es auf Englisch zurückgriff.
„Also, Sie wurden von den ehrenwerten Männern hier her bestellt, da wir eine besondere Aufgabe für Sie haben, Miss Frost.“
Eine besondere Aufgabe? Eigentlich hatte ich kaum etwas anderes erwartet. Ich war Spezialistin auf den verschiedensten Bereichen, doch ragte aus keinem dieser großartig hervor. Ich hatte lediglich Kontakte in aller Welt, die mir gut gesinnt waren, die ich jedoch niemals nutzte. Wozu auch? Alles was ich brauchte, fand ich im deutschsprachigen Raum. Insofern, es nicht um ein neues Studium ging, das ich belegen mochte. „Na, gut. Ich bin ganz Ohr.“
Nun wandte sich der Minister an mich und schob ein kleines viereckiges Päckchen zu mir hinüber, das kaum größer als meine Handfläche war. „Wir wollen, dass Sie die zwei Wochen dort unten nutzen, um uns eine Probe aus dem Rückenmark eines Evoks zu besorgen.“ Kam er kurzerhand auf den Punkt.
Verwirrt zog ich die Augenbrauen hoch und öffnete das Päckchen, in dem sich eine kleine Spritze mit einer sehr langen Nadel befand. „Ähm... ich weiß nicht recht was Sie von mir gehört haben, aber ich bin nicht in den Fächern der Medizin vertraut. Weder bin ich Anästhesistin, noch Chirurgin Ich bin bei weiten nicht einmal ansatzweise so etwas wie ein Hausarzt, also verstehe ich nicht, wieso Sie unbedingt wollen, dass ausgerechnet ich eine Lumbalpunktion durchführe.“ Ich war weit davon entfernt, irgendetwas Medizinisches zu tun. Na, gut ich konnte verschiedene Medikamentencocktails mischen, kannte mich in Phytotherapie aus, hatte Psychologie studiert, mehrere Jahre im Ausland sogar Mikrobiologie belegt, Chemie so wie Physik waren ebenfalls einfach für mich. Aber Medizin? Das hatte mich bisher nie gereizt. „Können Sie nicht irgendeinen Arzt dort unten fragen? Ich meine, dort gibt es etliche Wissenschaftler, die Näher an einer Karriere als Anästhesist dran sind, als ich.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen und gespaltenen Gefühlen, schob ich das Päckchen, verschlossen, zurück zum Minister.
Er wiederum verlor keine Zeit, es auffordernd wieder zu mir zurückzuschieben. „Dank Ihres weitreichenden Fachwissens, sehen wir einzig und alleine Sie als qualifiziert genug, um dies diskret durchzuziehen. Wir denken, dass Sie, im Gegensatz zu den anderen eher das Vertrauen der Einwohner gewinnen können.“
Ich wollte schon das Päckchen abermals zurückschieben, doch erstarrte. Wieso ihr Vertrauen gewinnen? „Eigentlich hatte ich angenommen, dass der Kontakt mit den Einwohnern im Underground bereits her gestellt wurde.“
Nun wandte sich Mister Johnson sein Wort das erste Mal an mich, auf Deutsch. „Natürlich haben wir bereits Kontakt zu diesem Volk, auch genießen wir bis zu einem gewissen Grad das Vertrauen zu dieser, beinahe menschlichen Spezies, but...“ Mitten im Satz verfiel er wieder ins Englisch zurück. „ein gewisses Vertrauen konnte einfach noch nicht aufgebaut werden. Es gibt Geheimnisse, die sie für sich behalten und...“
„Oh, verstehe. Weil natürlich der Homo sapiens sein Vertrauen wie, Wolken den Regen über alle Weltmeere verteilt. Ich verstehe ihr Problem.“ Meinte ich, vollkommen ironisch und auch die drei Regierungsmitglieder, schienen meinen tadelnden Unterton heraus zu hören. „Jetzt suchen Sie natürlich jemanden, der nicht wie alle anderen Wissenschaftler, leicht zurückgezogen ist, oder wie jeder Soldat mit Tunnelblick durchs Leben läuft. Da komme ich Ihnen, als das schwarze Schaf, das von seinen Homo sapiens Kollegen indirekt ausgeschlossen wird, natürlich gerade recht um deren Einfühlungsvermögen zu wecken. Gott!“ Stöhnte ich und schlug mir auf den Kopf. „Jetzt wünschte ich mir wirklich Kannibalen her.“ Verwirrt wechselten die drei verständnislose Blicke, da sie meinen Gedankengang natürlich nicht folgen konnten. „Aber egal wie man es dreht und wendet. Wenn ich nicht unter einen Schädelspalter landen will, muss ich wohl oder übel mitspielen. Okay, wo muss ich das Ding...“ Ich hob die seltsame Spritze an und wackelte damit auffordernd herum. „...einführen?“
Die Dolmetscherin fand als Erstes ihre Fassung wieder, sprang auf und reicht mir eine detaillierte Zeichnung eines Rückrades. „Hier entweder zwischen dem dritten und vierten, oder dem vierten und fünften Lendenwirbel. Sehen Sie nur zu, dass sie keine Aufmerksamkeit erregen, oder sich verdächtig damit machen. Lügen Sie ihnen einfach das gelbe vom Ei vor, denn medizinisch sind sie nicht so weit entwickelt wie wir.“ Erklärte sie und erklärte mir dann weiter, wie der Winkel sein sollte, was ich beachten musste und so weiter.
Als sie endete, stöhnte ich genervt und verstaute meine >wertvolle Fracht< in meiner Jackentasche. Kaum das ich mich verabschiedet hatte und umwandte, hielt mich die Dolmetscherin noch einmal auf. „Moment! Ihr Blatt. Das werden...“
Ich winkte ab. „Brauch ich nicht.“ Meinte ich kalt, denn was hier niemand wusste, war, dass ich ein fotografisches Gedächtnis besaß. Sobald ich ein wenig Ruhe bekommen würde, hatte ich vor noch schnell im Internet darüber zu recherchieren und nebenbei anderen Erste-Hilfe-Kram zu lernen, um mich unten besser Wappnen zu können.
Zwar verstand ich noch nicht, wieso diese Leute ausgerechnet mich ausgesucht hatten, um so ein unsinniges Unterfangen anzufangen, doch wusste ich auch, das die Regierung nie um etwas >bat<.


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Die versprochenen sieben Stunden später, saß ich, mit einer völlig neuen Ausrüstung und vor allem, neu eingekleidet, in einem der vorderen Wagone des Tiefenzugs. Er würde uns in den nächsten Stunden mittels Hochgeschwindigkeit tief unter die Erde bringen.
„Entschuldigen, Sie. Sie dürfen diese Jacke nicht mitnehmen!“ Ein Soldat streckte seinen Arm aus und deutete mir, dass ich die Jacke ausziehen solle. Entrüstet blickte ich an mir hinab. Ich trug feste Wanderschuhe mit Stahlkappen, die bis über die Knöchel gingen, wodurch es mir unmöglich war, umzuknicken. Zudem eine beige Hose, ein beiges Top und eine beige Regenjacke, hatte ich dazu bekommen, der ich jedoch nicht einmal eine halbe Minute meiner Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Stattdessen hatte ich sie in den Rucksack gestopft, der uns ebenfalls zur Verfügung gestellt worden war.
„Fassen Sie mich an und ihr Arm wird es Ihnen nicht danken.“ Warnte ich den Soldaten, der unsicher zu seinem Vorgesetzten blickte.
Genervt kam dieser auf mich zu. „General Savic.“ Stellte er sich vor. „Er hat recht. Sie dürfen nur die vorgeschriebene Kleidung und das vorgeschriebene Gepäck mit nehmen.“
„Ach, und meine Menschlichkeit hier oben lassen?“ Fragte ich gerade heraus und funkelte den viel zu breit gebrauten Mann vor mir wütend an.
Er schenkte mir kaum mehr Aufmerksamkeit, als einer Made, die sich über einen Kadaver ihre machte. „Ziehen Sie sie aus, bitte.“ Fügte er zögerlich hinzu.
Mit hinterlistigen Gedanken hob ich meine Stimme, da die Minister, von vorhin, ebenfalls hier waren und uns verabschiedeten. „Perversling! Als würde ich mich vor Ihnen ausziehen. Lassen Sie diese dummen Scherze, die sind hier wirklich nicht angebracht.“ Abweisend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust, als würde ich sie vor diesem Kerl beschützen wollen.
Entgeistert starrte er mich an. Ich hatte ihn wohl vollkommen überrumpelt.
„Miss Frost? Haben Sie ein Problem?“
Auffordernd blickte ich den General an, oder was auch immer sein Stand war. „Nein, natürlich keines das Ihrer Aufmerksamkeit bedarf. Ich wollte Miss Frost lediglich darauf aufmerksam machen...“
Bei diesem Punkt unterbrach ich ihn barsch. „Dass mein Dekolleté zu weit offen sei und ob ich mich nicht vielleicht ein wenig vor beugen möchte. Solche Schweine! Keinen Respekt heute mehr!“ Mit dieser Aussage zog ich mehrere Blicke auf mich, schulterte meinen Rucksack erneut, wobei ich dem Soldaten dabei ordentlich eine verpasste und mit erhobenen Haupt an ihm vorbeilief.
Was der Minister mit dem Mann noch zu besprechen hatte, wusste ich zwar nicht und konnte ich natürlich in diesem viereckigen Zug nicht verstehen, doch schien der Minister sehr angepisst zu sein, während der Soldat stramm stand und die vermutlich tadelnden Worte stumm über sich ergehen ließ.
Als sich der Minister von ihm abwandte, drehte sich der hochrangige Soldat zum Zug um und ließ seinen Blick suchend darüber gleiten. Grinsend streckte ich ihm die Zunge heraus und lachte, während der Wissenschaftler, der bisher nicht einmal einen Blick an mich verschwendet hatte, mich nun doch verwirrt musterte.
Kopfschüttelnd wandte sich der verarschte ab und ich lehnte mich stolz in meinem Sitz zurück.
Zehn Minuten später, war sämtliches Gepäck verstaut, Türen verschlossen und vor den Fenstern wurden dicke Stahlwände hinunter gelassen. >Bitte arrangieren Sie nun ihre Sitzgelegenheiten und legen Sie den Sicherheitsgurt an.< erklang eine weibliche Stimme, wie man sie bei gewöhnlichen Zugfahren kannte.
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch, doch tat wie geheißen.
Drei Minuten später erklang abermals ihre Stimme. >Ihre Fahrt wird exakt fünfzig Minuten dauern. Bitte schnallen Sie sich unter keinen Umständen ab. Bitte bewahren Sie im Fall von Komplikationen, unbedingt Ruhe. In regelmäßigen Abständen wird Ihnen mitgeteilt, wie tief wir bereits sind.< Dies wiederholte sie in vier verschiedenen Sprachen, darunter war leider kein Deutsch, bevor ein Timer über unseren Köpfen angezeigt wurde.
Der Wissenschaftler, vor mir, und ich, wechselten einen kurzen dennoch verwirrten Blick.
>Wir starten mit der Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern die Stunde.< verkündete die mechanische Stimme, bevor ein lautes Quietschen jeden auf seinen Platz zusammen zucken ließ, erst dann setzte sich der Zug in Bewegung. Im selben Augenblick begann sich der Timer über uns zu starten und zählte von fünfzig abwärts. Ermüdet von den letzten Stunden, die ich alleine der Vorbereitung gewidmet hatte, lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und schloss die Augen. Durch das regelmäßige Piepen über uns fand ich den Schlaf schneller als gedacht.


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Das nächste was ich realisierte, war ein lauter Schrei. Im nächsten Augenblick riss es mich aus dem Schlaf und mein Haar peitschte mir wild ins Gesicht. Fragend blickte ich mich um. Mein Gegenüber war nicht mehr auf seinem Sitz. Genau sowenig wie sich sein Sitz noch an derselben Position befand. Er schlitterte zu meinen Beinen, alleine an einem starken Stromkabel verwickelt direkt vor meinen Beinen herum, während in schnellen Schritten helle Lichtpunkte über mir auftauchten und Sekunden später verschwanden.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Was passierte hier nur? Und vor allem wo zum Teufel ist der hintere Teil des Zuges? Panisch kreischte ich, als ich erkannte, dass ich mich keinesfalls in einem schrecklichen Albtraum befand, sondern das diese Situation, so albtraumhaft sie mir auch vorkam, der Realität entsprach.
Traumatisiert von dem Anblick der sich vor mir bot und dem Wind, der wie wild um mich herum peitschte, da der Zug noch immer ungehindert mit voller Geschwindigkeit raste, versuchte ich, einen Ausweg zu finden. Ich konnte nicht einschätzen, wie schnell dieser Zug jetzt bereits fuhr, doch wenn man sich bei hundert Kilometer die Stunde, bei einem Sprung aus dem Auto schon alles Mögliche brechen konnte, so wollte ich es bei einem Hochgeschwindigkeitszug, mitten in einem engen Tunnel nicht riskieren mein Glück zu versuchen. So einen guten Schutzengel hatte niemand. Aber wenn wir so ungesichert weiter auf den Schienen fuhren, zweifelte ich daran, dass unsere Ankunft genauso sanft verlaufen würde, wie unser Start.
Zumindest, falls es noch ein >unser< gab? War ich vielleicht die Einzige, die noch lebte? Ansonsten konnte ich nämlich niemanden hören, doch das musste nicht viel heißen.
Mit einem plötzlichen Ruck, der durch den Boden ging, hob sich der Zug für einen Moment vom Boden ab, bevor gleißendes Licht meine Sicht betäubten. Der Wind schien sich ebenfalls für einige Sekunden zu legen, bevor mein Magen auch schon hochgedrückt wurde und ich glasklar verstand, was in diesem Moment passierte. Ich bin angekommen.
Schreiend schiss ich auf die Regel, angeschnallt bleiben zu müssen, und befreite mich von der einengenden Last, wodurch ich sofort vom lediglich noch halb intakten Zug weggeschleudert wurde und schwören konnte, mehr als nur mich schreien zu hören. Zum Glück. Ich war nicht die einzige Überlebende.
Nun, ja. So gut wie Überlebende. Zumindest schlug ich mitten in der Luft gegen etwas fürchterlich Hartes und ein Schmerz explodierte in meinem Arm, sodass ich nicht einmal sagen konnte, wo genau der Ausgang davon war. Noch einmal traf mich etwas, doch dieses Mal frontal im Rücken. Der nächste Schlag ging gegen meine Schläfe und ich fand meine Erlösung in der Bewusstlosigkeit.

 

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Das Nächste was ich sah, konnte ich nur teilweise wahrnehmen. Immer wieder schien irgendjemand auf mich einzusprechen, abwechselnd fühlte ich mich, als würde ich mitten in den Tropen liegen, dann wiederum fühlte ich mich schwerelos, so als ob ich wieder fliegen könne.
Mit einem heiseren Schrei schreckte ich aus einem Traum, in dem ich mit einem Zug kollidierte. Im nächsten Moment wurde ich unsanft zurück in mein Bett gedrückt und jemand sprach beruhigend auf mich ein.
Nur am Rande nahm ich weitere Betten wahr, deren Bewohner bestimmt so schlimm aussehen mussten, wie ich selbst.
„Sie sind schon wieder wach? Miss Frost, Sie sind wirklich hartnäckig.“ Schimpfte ein Mann in beige mit mir, doch lächelte freundlich.
„Scheiße...“ Fluchte ich laut und wollte an meinen dröhnenden Kopf fassen, doch die Kabeln, die um mein Handgelenk gewickelt waren, hielten mich davon ab. „Was haben Sie mit mir gemacht?“ Fragte ich beinahe vorwurfsvoll.
„Ich?“ Der, ich vermutete, er sei ein Arzt, zog seine dichten Augenbrauen hoch und wirkte besorgt. „Wissen Sie noch, was passiert ist?“
Ich wollte nicken, doch zögerte. „Ich... bin mit einem Zug kollidiert.“ Sprach ich aus, wie ich mich fühlte, und brachte den Arzt damit zum Lachen.
„Nun, ja... beinahe. Ihre Reisegruppe ist mitten in eine Eruption gekommen. Ein paar Steine müssen den hinteren Teil des Zuges weggerissen haben, denn was ankam, war ein Haufen Schrott, von dem zwei Drittel fehlen.“ Erklärte er mir, ohne Umschweife und bestätigte, was ich schon geahnt hatte.
„Wie viele haben überlebt?“
„Sechs. Bald wohl nur noch vier.“ Gabe er mit gemischten Gefühlen zu.
„Wie lange habe ich geschlafen?“
„Nur zwei Tage. Sie sollten aber noch ein paar weitere liegen bleiben, wenn Sie keine Schmerzmittel schlucken wollen. Das macht Ihr Immunsysth...“
„Ja, ich weiß schon. Davon werde ich nur schneller krank.“ Wimmelte ich ihn ab und winkte ihn fort, damit er endlich verschwand. Währenddessen griff ich nach dem Klemmbrett, welches ich neben mir auf einem Beistelltisch liegen sah und stöhnte alleine bei dieser kleinen Bewegung. Darauf las ich etliche Begriffe, dass ich genauso scheiße aussah, wie ich mich fühlte. Prellungen am gesamten Rücken, mein Handgelenk ist angeknackst, Quetschungen an den Schultern. Daher also das unangenehme Gefühl, als ich mich bewegte. Sogar eine leichte Gehirnerschütterung war aufgeschrieben worden, dabei fühlte er sich eher gespalten an.
Einige Stunden später, in welchen ich meinen Körper nacheinander gleichmäßig bewegte, damit er sich wieder an Belastungen gewöhnte, schaffte ich es sogar, mich aufzusetzen. Jetzt konnte mich eigentlich nichts mehr daran hindern mich endlich umzusehen, denn verdammt noch einmal! Ich befand mich im Underground! Mehrere hundert Kilometer unter dem Erdmantel, nahe, des Erdkerns und umgeben von mehreren Tonnen Stein so wie Edelsteinen. Die Lava blendete ich selbstverständlich absichtlich aus. Ich musste ja positiv bleiben.
Vielleicht nicht unbedingt der Traum eines jeden Menschen, doch einzigartig, so wie ein Besuch auf dem Jupiter.
„Nein, nein, nein! Das vergessen Sie ganz schnell! Hinlegen! Sofort!“ Wie war das noch einmal mit der Motivationsrede, dass mich nun nichts aufhielt?
„Autsch! Nicht drücken!“ Bat ich, als mich eine Frau, kaum älter, als ich wieder zurück auf mein Polster drückte. „Aber... aber ich will doch nur...“ begann ich, doch sie drückte mir einen Becher mit Strohhalm in die Hand und blickte mich mahnend an.
„Keine Sorge, diese Hölle hier, wird Ihnen schon nicht davonlaufen. Sie ist morgen auch noch da. Jetzt bleiben Sie erst einmal liegen und kurieren Ihren Absturz aus. Sie hatten wirklich mehr Glück als alle anderen.“
Sollte das jetzt ein Kompliment oder ein Vorwurf sein? „Als ob ich da was dafür könnte.“ Murrte ich, doch trank artig mein Wasser, das jedoch wie Stein schmeckte. Nicht das ich jemals an einem Stein geleckt hätte, doch ungefähr so konnte ich es mir vorstellen. Angeekelt gab ich ihr den Becher zurück, doch sie schüttelte vehement den Kopf. „Austrinken!“ Befahl sie.
„Aber das schmeckt ekelhaft.“ Sagte ich und fühlte mich dabei wie ein kleines nörgelndes Kind.
„Sind wir im Kindergarten, oder wo? Austrinken!“ Sagte sie dieses mal strenger, wandte sich ab und ging zu ihrem nächsten Patienten.
So kaltherzig!
Schnaubend schluckte ich es, so schnell ich konnte hinunter, ohne das es mir durch die Nase wieder hochkam. „Artiges Mädchen. Jetzt Schlaf schön.“ In diesem Moment erkannte ich auch, weshalb das Wasser so seltsam geschmeckt hatte. Schlafmittel! Die Mistkuh hatte mich betäubt! Nur Sekunden später schlief ich wieder.

Sehnsucht nach dem neuen Anblick

Als ich wieder erwachte, fühlte ich mich wesentlich ausgeruhter als zuvor. Aber leider auch Hungriger. Das erste was ich tat, was mich von dieser lästigen Venüle zu befreien, der mir irgendein Idiot gelegt hatte und das Ende meines Kittels auf meine Rückhand presste. Wieso ausgerechnet da? In der Armbeuge tat es nie so weh!

Da es jedoch nichts nützte mich zu ärgern, suchte ich das Badezimmer auf und betrachtete mich darin.
Ich sah einzig und alleine Scheiße aus. Mein schwarzes Haar hing mir in Strähnen über die Schultern. Dass sie eigentlich einen ziemlich stylischen Schnitt besaßen, sah man überhaupt nicht mehr, als hätte man mir einen Mob auf die kahle Kopfhaut gelegt und gesagt >hier bitte schön. Ihre neue Perücke<
Seufzend betrachtete ich die oberflächigen Schnittwunden an meiner Stirn und meiner Wange, den dicken Bluterguss über meiner Schläfe, der definitiv für meine Kopfschmerzen zuständig war und konnte auch zum Teil die dunkelblauen Einschnitte des Gurtes, der mich zwar gerettet hatte, doch nebenbei gleich seinen Abdruck auf mir hinterlassen.
Mein linkes Handgelenk hatte jemand sorgsam eingebunden. Als ich es etwas bewegte, fühlte ich auch sofort warum. Es musste ziemlich angeschlagen sein, denn alleine, wenn ich meine Finger bewegte, tat es höllisch weh.
Nach einer kurzen Katzenwäsche, zum Glück gab es hier versiegelte Zahnbürsten und Seife, kämmte ich noch mit einer Hand etwas durch meine Haare, doch gab es nur zehn Sekunden später wieder auf. Es nützte ja doch nichts.
In ungeschickten Bewegungen und indem ich zweimal beinahe auf dem Hintern landete, schaffte ich es, mir eine frische Hose überzuziehen, nur mit dem Top wurde es sichtlich schwieriger. Meine Linke hindurch zu bekommen, war nicht besonders schwer, doch das Top über meinen Kopf zu bewegen... ich war kurz vor dem Heulen.
Wie ist es nur zu alldem gekommen? Und wann würde man uns abholen kommen? Zwei Wochen hatten sie gesagt. Zwei Wochen, dann konnten die ersten Nebeneffekte der Gase hier unten eintreten. Vier Wochen und unser Gehirn würde erste Entzugserscheinungen aufweisen, da der Sauerstoff hier unten knapper ist, als bei uns. Sechs Wochen und der Tod war uns sicher, in weniger als vierundzwanzig elendigen Stunden.
Nach gefühlten Stunden, schaffte ich es, wenn auch unter Tränen, das Top anzuziehen und schlüpfte in frische Schuhe, deren Schnüre ich einfach in die Innenseiten stopfte, da ich mit nur fünf Fingern keinen Knopf binden konnte. So... endlich konnte meine Reise beginnen, denn ich war schon so unglaublich neugierig auf diese Neue Welt, dass mich weder Schlafmittel, noch irgendwelche möchte-gern Ärzte davon abhalten konnten.
Ich öffnete die Türe, die einzige, die ich finden konnte und trat hinaus. Das Erste was mich empfing, war Atemnot. Es fühlte sich an, als würde es mir, von einem Moment auf den andren, ganz plötzlich schwerer fallen zu Atmen, als bisher noch. Nach einigen weiteren Schritten begann ich mich daran zu gewöhnen, während mir die Hitze zu schaffen machte.
Okay, mit meiner Lederjacke, egal wie cool sie auch ist, wäre ich hier unten definitiv aufgeschmissen!
„Miss Frost? Sie dürfen doch noch überhaupt... Ach machen Sie, doch was sie wollen. Für was verschwende ich überhaupt mein teures Schlafmittel an einen Sturkopf...“ Schimpfte die Ärztin, die mich heute Morgen ausgetrickst hatte, als ich ihr einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, machte in der Bewegung kehrt und ging zurück in das Blechhaus, in dem die Kranken unter gebracht waren.
Lächelnd ging ich weiter, zum Glück hatten meine Beine nichts abbekommen, denn hier unten würde ich sie definitiv gebrauchen. Staunend blickte ich mich um.
Ich befand mich in einem riesigen Hohlraum. Beinahe schon, als würde ich mich in einer gänzlich anderen Welt befinden. Hoch an der Decke leuchteten Sterne. Sterne, die jedoch nicht Milliarden Kilometer entfernt sind, sondern nur ein paar hundert Meter, oder mehr. Aus was sie bestanden, konnte ich aus dieser Entfernung nicht ausmachen, doch ich tippte auf etwas Pflanzliches.
Ich selbst befand mich auf einem Vorsprung. Hier war so gut wie alles untergebracht. Zelte für die Menschen, eine Wasserquelle, die zu einer Gemeinschaftsdusche umgebaut worden war, zwei weitere Blechhütten, die eine gewisse Ähnlichkeit zu Containern hatten und einige gepanzerte Militärwagen.
„Schön Sie wieder auf den Beinen zu sehen, Miss Frost.“ Begrüßte mich eine Soldatin, die erste, die ich traf, und reichte mir höflich lächelnd die Hand.
Ich reichte ihr meine ebenfalls und schüttelte diese kurz. „Danke. Hat auch lange genug gedauert.“ Musste ich zugeben. „Was ist denn mit unserem Zug passiert?“ Fragte ich schnell, da sie scheinbar weiter gehen wollte.
Ihre Miene wurde etwas trauriger. „Das wissen wir nicht genau, doch konnten wir eine Eruption messen, bevor ein lauter Knall ertönte und Ihr Zug sieben Minuten, vor ihrer eigentlichen Ankunft, ganz plötzlich aus dem Stollen raste, entgleiste und den Hang hinunterfiel. Wir hatten eigentlich die Hoffnung, dass einer von Ihnen uns mehr sagen könnte, doch alle liegen noch im Koma und wir können keinen Kontakt nach oben her stellen.“
„Der Rest des Zuges?“ Immerhin fehlten zwei Drittel.
„Eines meiner Teams sollte in zwei Stunden mit Meldung zurückkommen. Keine Sorge, wir bringen Sie alle sicher nach Hause.“ Versprach sie zuversichtlich, klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und beendete damit meine Fragerei. Dabei hatte ich noch nicht einmal richtig angefangen und meine Schulter schmerzte ebenfalls erneut. Sehr nett!
Aus einem, der Blechhütten, kam eben eine Gruppe von Wissenschaftler, die sich angeregt unterhielt, daher zielte ich auf sie zu. Auf, natürlich, Englisch sprach ich sie an. „Hallo, ich bin Professor Frost.“ Stellte ich mich vor und mehrere reichten mir lächelnd ihre Hände, fragten mich nach meinem Befinden und stellten sich selbst vor, so wie ihr Fachgebiet. Wie ich erkannte, war es eine vielschichtige Gruppe, die bereits seit einer Woche hier war, und alle schienen besorgt zu sein, länger hier festzusitzen als geplant.
Für einige konnte ein längerfristiger Aufenthalt hier den Tod bedeuten, eigentlich für alle von uns, andere wiederum einen Schaden für ihr restliches Leben mit nehmen. Höflich nahm mich die Gruppe auf. Sie waren eben auf dem Weg in die >Stadt<. Was sie damit meinten, wusste ich nicht, auch meinten sie, ich solle mich überraschen lassen. Zu meinem Glück liebte ich Überraschungen. Zudem klang >Stadt< nach einem bewohnten Ort. Und dieses Volk wollte ich doch unbedingt kennen lernen, oder nicht?
Mit einem Militärwagen fuhren wir einen steilen Hang hinunter. Die Forscher, mit denen ich unterwegs war, hatten diverse Probenröhrchen und andere Geräte dabei, Flüssigkeiten so wie Erstverpflegung.
Unsere Fahrt dauerte nur zehn Minuten, in denen ich mich zu entspannen versuchte, da sich meine Schultern anfühlten, als wären sie über Nacht glatt zehn Kilo schwerer geworden.
„Ist alles in Ordnung? Ist Ihnen übel, oder schwindelig?“ Fragte mich eine besorgte Frau.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nur meine Quetschungen an den Schultern schmerzen.“ Musste ich zugeben und versuchte ein wenig mit ihnen zu kreisen, um die Spannungen zu lockern.
„Dann bewegen Sie sich am besten nicht zu viel und tragen Sie nichts. Aber das muss ich Ihnen wohl nicht sagen.“ Fügte sie lachend hinzu und brachte nun auch mich dazu. Nein, tragen würde ich so schnell nichts mehr.
„Okay, ähm... muss ich eigentlich irgendetwas beachten? Ich meine, wenn ich auf das Volk hier stoße?“ Wer wusste schon, ob sie nicht irgendwelche Mutationen oder Krankheiten aufzuweisen hatten.
Einheitlich wurde der Kopf geschüttelt. „Nein, sie sind im Grunde wie wir, nur... etwas verschlossen. Bisher konnten wir nicht wirklich warm mit ihnen werden.“ Erklärte ein Archäologe.
„Nun, ja wir werden auch alle zwei Wochen, wie schmutzige Unterwäsche ausgetauscht.“ Gab ich zu bedenken und brachte damit alle zum Grinsen.
„Das stimmt. Aber leider können wir nicht länger bleiben, ohne selbst Schaden zu nehmen.“
„Wurden denn für dieses Problem bereits Ideen entworfen?“ Fragte ich nun, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass so etwas länger als zwei Jahre funktionieren könnte.
„Nicht wirklich. Bis jetzt versuchen wir noch immer, die einen und anderen Lücken zu schließen. Wenn wir nicht wissen wie diese... Höhle entstanden ist, wie ausgerechnet Menschen hier her kamen und sich so gut anpassen haben können, haben wir nicht wirklich viele Anhaltspunkte wie wir das Problem mit den Gasen überbrücken. Zudem gibt es einige Einflüsse hier, die wir uns nicht erklären können.“
Neugierig lehnte ich mich vor. „Was denn zum Beispiel?“
„Nun, ja die Leute hier scheinen wenig, bis kaum zu schlafen. Ihre Nahrung, gibt so gut wie keine Energie aus und ihre Vitalwerte liegen in gänzlich anderen Bereichen, als unsere. Im Großen und ganzen kann man ihre Genetik auf den Homo sapiens zurückverfolgen doch scheint... dann ein Bruch zu sein. Sie besitzen zwei ganze DNA Stränge mehr als wir und... nun, ja wir haben noch immer keine Ahnung, was das bedeuten soll. Sie sind freundlich, zuvorkommend, doch lassen ihre wahren Gefühle kaum durchscheinen.“
Das klang für mich beinahe so, als wären sie eine Rasse, die sogar über dem Homo sapiens stehen könnte. War das etwa möglich? „Ähm... in der Angst, vielleicht ein wenig zickig zu klingen, aber sitzen hier unten nicht, natürlich nur rein zufällig, ein paar der klügsten Köpfe unserer Welt?“ Fragte ich mit deutlicher Ironie im Tonfall. „Eigentlich sollte es uns da, trotz unsere eingeschränkten Möglichkeiten, möglich sein, den einen oder anderen Gentest zu machen, oder? Haben wir hier unten kein Mikroskop?“
Okay, vielleicht hatte ich ein paar jetzt im Stolz gekränkt, doch das war mir im Grunde vollkommen egal. „Natürlich, doch wir haben einfach keine Möglichkeit dazu, irgendetwas von ihnen zu nutzen.“
„Haben sie etwa keine Haare, oder Haut? Nicht einmal Speichel?“ Stichelte ich weiter.
„Um das geht es doch überhaupt nicht. Es ist...“ Die Frau, die mich am Anfang der Fahrt angesprochen hatte, verstummte, als wir plötzlich hielten und die ersten ausstiegen. Offenbar waren wir angekommen.
Nun, gut das Rätsel um den Mangel der Versuchsobjekte, würde ich später lösen. Erst einmal, musste ich meine nervige Neugierde befriedigen, indem ich meiner Gruppe hinaus folgte. Natürlich nur unter ächzten und stöhnen, da ich einen halben Meter hinunter springen musste. Natürlich ist es für einen ganz normalen Menschen nicht hoch. Für einen Menschen mit fürchterlichen schmerzen jedoch, ist jede Erschütterung schrecklich.
„Sie sollten sich noch etwas für Ihre Schultern geben lassen, bevor sie Essen kommen.“


- - - - -


Essen? Waren sie etwa deshalb hier? Um zu Essen? Wieso taten sie das nicht oben in der Station?
Verblüfft starrte ich auf ein riesiges Gebäude, das wie ein Berg direkt vor mir aufragte, und genauso wie alle anderen Gebäude von bunten Lichtern geziert wurde. Staunend klappte mir der Mund auf, während ich versuchte, das Ende dieses >Gebäudes< auszumachen. Im oberen Bereich schien es sogar in das nächste überzulaufen, sodass es aussah, als wäre jedes Gebäude hier mit jedem verbunden. Zudem waren die Straßen gerade breit genug, sodass unser Wagen hindurch passte und keine Passanten dabei drauf gingen. Ich vermutete, dass es aufgrund des Platzmangels zu diesen hohen Bauten gekommen sein musste.
„Mach lieber den Mund zu, bevor dir eine Made darin nistet.“ Erklang eine belustigte Stimme, mit schlechtem Englisch und ich schloss die angesprochene >Höhle< eilig. Wie peinlich!
„Mir wurde gesagt, dass du Schmerzen hast. Komm, ich gebe dir eine Creme auf die Verletzung.“ Vor mir stand ein Geist! Anders konnte ich ihn auf den ersten Blick nicht beschreiben. Seine Haut war so hell, als wäre sie... logischerweise... noch nie in der Sonne gewesen, das Haar war hellblond, dass es wie Stroh wirkte und seine Augen so in einem beinahe farblosen grau, dass seine geweiteten Iris etwas zu groß wirkten. Trotz allem sah er überraschend gut aus und lächelte ein Lächeln, das mich sofort ansteckte, während er mir die Türe aufhielt.
„Ähm... Professor Frost.“ Stellte ich mich vor, doch vermied es, dem Evok meine Hand zu reichen, da ich mir nicht sicher war, ob dies nicht vielleicht eine unhöfliche Geste sein könnte. Immerhin wusste ich so gut wie nichts über dieses Volk.
„Mein Name ist Jetan.“ Stellte er sich seinerseits vor und ich folgte ihm in das Gebäude, in dem bereits die Forscher vor mir verschwunden waren. Ich bin einfach viel zu leicht zum Ablenken, daher bemerkte ich erst jetzt, dass ich ganz alleine auf der Straße gestanden hatte. Zum Glück gab es hier keinen verrückten Verkehr, so wie bei uns oben auf den Straßen.
Im Inneren des Gebäudes jedoch sah dies gleich ganz anders aus. Tausend Menschen liefen, kreuz und quer, durch die breiten Gänge. Es dauerte etwas bis ich ein gewisses System darin entdeckte und wurde weiterhin abgelenkt. Abermals klappte mir der Mund auf und ich rotierte im Kreis, um ja alles aufzunehmen. Gespräche in einer Sprache, die Englisch tatsächlich ähnlich war, doch irgendwie genuschelt Klang, ertönte aus allen Richtungen. Geschäfte, die Stoffe, Steintöpfe, Waffen, Betten und etliches mehr, das aus Stein, Metallen und Edelsteinen bestand, waren über mehrere Etagen aufgebaut und verteilt.
Irgendwann fühlte ich Hände, die sich fest um meine Oberarme schlossen und einen Schmerz in meinen Schultern auslöste. Verwirrt blickte ich mich um und erkannte Jetan, der mich eben davon abhielt über so etwas wie eine Straße, blind zu laufen. Dankbar nickte ich ihm zu, doch er ließ eine Hand an meinem Oberarm, da ich eine Sekunde später wieder abschweifte. Haarlose Ratten, in der Größe von Ponys, nur ohne die langen, oberen Schneidezähne und ihre Augen wirkte viel zu klein, für ihre Größe, dafür waren ihre Barthärchen länger und ihre Nase bewegte sich in einem viel größeren Radius, als der von normalen Ratten. Sie zogen kleine, bis mittelschwere Transportwagen hinter sich her, die die Händler benutzten, um ihre Ware hier hinauf zu bekommen.
Plötzlich setzte sich alles wieder in Bewegung und ich spürte immer noch die Hand an meinem Arm, die mich vorsichtig durch den Verkehr lenkte, da mein Blick so gut wie überall hängen blieb, nur nicht auf dem Weg, den ich eigentlich gehen sollte.
„Wir sind hier.“ Hörte ich Jetan neben mir verkünden. Leider war es nur eine langweilige graue Metalltüre, die er öffnete, und wir landeten in einem scheinbar sterilen Raum. „Das hier ist einer der Erste-Hilfe Zimmern. Du kannst sie in jedem Stockwerk finden, falls du einen Verband oder Ähnliches brauchen solltest.“ Erklärte er mir, doch dieses Mal hatte er meine volle Aufmerksamkeit.
„Das war ja mal unglaublich! Hast du... Ich meine... Ist das immer so voll hier? Der ganze Verkauf, scheint ja schon fast wie ein Bazar zu sein, nur eben >in< einem Gebäude!“ Staunte ich und vergaß dabei völlig meine Schmerzen in den Schultern.
„Was ist ein Bazar?“ Fragte mich Jetan und schien ernsthaft interessiert an dem Wort zu sein.
„Nun, ja wir haben ja etliche Städte, Religionen und alles Mögliche. Ein Bazar ist ein... anderes Wort für einen >Marktplatz<. Der ist meist mehrere Gassen lang und man kann sich dort alles Mögliche besorgen. Stoffe, Schmuck, Nahrung und viele andere Waren wie Nutztiere.“ Da ich keine Ahnung davon hatte, ob er verstand was Bücher oder Möbel sind, ließ ich diese Themen unter den Tisch fallen. „Also sie sind nicht in solchen Gebäude, wie ihr sie hier habt, sondern... es sind mehr so kleine Stände. Ein, zwei Tische auf der die Ware präsentiert wird und gegebenenfalls einen Wetterschutz, den man darüber spannt, je nach Klima und Jahres... ähm... Nach Temperaturen.“ Im selben Moment wo ich das Wort >Jahreszeiten< erwähnen wollte, erinnerte ich mich noch einmal daran, dass er schlecht wissen konnte, was >Wetterveränderungen< sind, und fluchte über mich schon alleine wegen, dem Wort >Klima<. So viel ich wusste, herrschte bei ihnen lediglich dunstige Hitze.
„Klingt so, als wärst du dort schon einmal gewesen, oder bist dort häufiger.“ Fragte er mich interessiert weiter aus.
„Nein... also ja. Ich war schon einmal an einem, doch wurde mir mein Pass und wichtige Dokumente geklaut, woraufhin ich ein Monat in einem mir beinahe fremden Land festsaß.“ Stöhnte ich genervt.
„Ah, davon habe ich gehört. Ihr sollte ja sogar mehrere Kontinente haben.“
Ich nickte bestätigend und ohrfeigte mich innerlich. Eigentlich war ich doch überhaupt nicht hier um mehr über unsere Welt zu erzählen. „Und ihr habt nur diese Höhle? Habt ihr etwa noch nie versucht, weiter auszubauen?“ Fragte ich neugierig und ließ mich auf einen gepolsterten Steinstuhl fallen. Erlöst entspannte ich meine Schultern.
„Das ist dank unserer Lage schwierig. Wir sind umgeben von einer Vielzahl an Lavagürtel, die uns an sich vor dem Einsturz beschützen, andererseits vollkommen abschirmen.“
„Und bisher haben euch noch keine Lavaströme erfasst?“
Jetan schüttelte den Kopf. „Nein, zu unserem Glück wurden wir bisher von diesen Massen verschont und können sie teilweise zu unseren Gunsten benutzen, wie zum Beispiel zum Schmieden.“ Erklärte er mir, bevor er sich auf einen Stuhl neben mich setzte, auf den man sogar herum fahren konnte und auf mich deutete. „Also, erzählst du mir jetzt, wie schlimm deine Verletzungen sind?“
Ich hob wie gefordert meinen Arm in die Höhe. „Hier habe ich eine Verstauchung, mein Rücken ist voller Prellungen und meine Schultern haben Quetschungen.“ Zählte ich ihm auf.
„Das klingt zumindest besser, als irgendwelche Brüche.“ Meinte er halb scherzend. „Gegen die Quetschung und die Prellungen haben wir Salben, die bei uns sehr gut funktionieren. Möchtest du sie testen?“
„Wenn sie mir meine Schmerzen nehmen? Dann schmier mich so gut ein, als würdest du gleich etwas braten wollen.“ Grinste ich und wandte mich auf dem Stuhl um, damit er meinen Rücken erreichen konnte.
Für kurze Zeit schwieg er und kramte in diversen Regalen herum, bevor er wieder zu mir sprach. „Könntest du dein Hemd hochziehen, bitte?“
Ich zog den Saum meines Hemdes hoch und hörte, wie er erschrocken die Luft ausstieß. „Dass du überhaupt keine gebrochenen Rippen hast!“ Entwischte ihm der Gedanke und ich fragte mich in diesem Moment, ob mein Rücken tatsächlich so schlimm aussah. Bisher schmerzten nur mein Kopf und die Schultern.
Im nächsten Moment fühlte ich etwas Warmes, das sanft über meinen Rücken strich, und nahm es sofort wieder zurück. Bisher hatte ich es vermieden, mich anzulehnen. Jetzt wusste ich auch weshalb. „Entschuldige, bitte.“
„Schon gut.“ Murmelte ich mich zusammen gebissenen Zähnen, doch nur wenig später hörten die Schmerzen wieder auf. „Das ist ja ein Zaubermittel. Ich fühle überhaupt nichts mehr!“ Stieß ich erfreut hervor und strahlte über das ganze Gesicht. Kaum auszumalen, was man mir für Arbeit angedreht hätte, nur weil ich zu nichts zu gebrauchen bin.
Hinter mir vernahm ich Gekicher. „Du bist nicht wirklich wie die anderen Menschen, die sie hierher schicken.“ Stellte Jetan, mehr oder weniger, sachlich fest.
„Nun, ja es können nicht alle Menschen gleich sein.“ Erwiderte ich meinerseits. Wären alle gleich, gäbe es doch ausnahmslos Idioten auf diesem Planeten.
„Aber wäre es denn nicht einfacher, wenn ein jeder gleich funktionieren würde? Man könnte jeden verstehen, sich in ihn hinein versetzen und gemeinsam viel effizienter Lösungen für Probleme finden, bis es keine Probleme mehr zum Lösen gäbe.“
Im Grunde eine interessante These, der ich gerne beipflichten würde. Aber wenn ich daran dachte, so langweilig wie eine bestimmte Person zu sein, oder so verrückt, so verspielt, oder nur bis zu einem gewissen Grad gebildet, begabt? „Das klingt langweilig. Ich denke, der Mensch ist nicht dazu gemacht richtig zu funktionieren. Es sind die Fehler, die uns ausmachen. Die Unstimmigkeiten, die Probleme!“ Beschwingt von diesem Test, lehnte ich mich zurück, bis mein Rücken gegen seine Schulter stieß. „Oder würdest du wollen, dass alle Menschen so langweilig sind wie du? So verrückt wie meine beste Freundin? Oder so seltsam, abstoßend wie ich?“
Meine plötzliche Nähe, die er bisher immer diskret gemieden hatte, schien ihm plötzlich sehr unangenehm zu sein, denn sein Gesicht wurde leicht rötlich, bevor er schnell sein Gesicht abwandte, doch nicht von mir zurückwich.
„Ich dachte nur, dass es vielleicht einfacher wäre, wenn alle Menschen voll einsehbar wären. Es würde keine Missverständnisse mehr geben, die zu Krieg und Hass führen könnten.“
„Du meinst, wir wären alle ein und derselbe, von einem Diktator gesteuerte Roboter. Ohne Gefühle?“ Drängte ich den Evok weiter.
Bei diesen Worten stahl sich ein wissendes Lächeln auf seine Lippen und die Röte verschwand gänzlich aus seinem Gesicht. „Nein, ein Mensch ist dazu gemacht, um zu fühlen. Sie werden immer durchbrechen, egal wie sehr wir uns vor ihnen verschließen.“
In meinen Ohren klang es so, als hätten diese Worte eine unterschwellige Botschaft enthalten, die ich jedoch noch nicht kannte. Ebenfalls lächelnd lehnte ich mich wieder aufrecht hin und bekam noch einen Verband um den Oberkörper gewickelt.
„Also ist deine These mit dem einheitlichen Menschen absurd?“ Fragte ich nach einigen Minuten, um das Thema wieder aufzuholen.
„Ist es denn absurd von einer friedlichen Einheit zu träumen?“
Nachdem ich mein Shirt wieder an seinen rechtmäßigen Platz gebracht hatte, schob ich es an der linken Schulter hinab, damit Jetan hinkam, bevor ich antwortete. „Ich finde es eher absurd, zu versuchen eine ganze Spezies zu verändern. Aus einem Löwen kannst du auch nicht innerhalb eines Lebens ein Hauskätzchen machen. Das beinhaltet mehrere Generationen zu zähmen und natürliche Instinkte, mittels unnatürlichen Mittel auszutreiben.“ Und so etwas wünschte ich nicht einmal meinem größten Feind. „Außerdem bei intelligenten Wesen wie uns, die nicht nur an >Fressen oder gefressen werden< denken, wird man immer wieder auf alte bewährte Maßnahmen zurückgreifen. Der Mensch will, das, was er nicht haben kann, auch wenn es ihm im Grunde nur wieder... Enttäuschungen bringen kann.“ Ich erkannte in diesem Moment, wie ich mich verplapperte, doch bereute es irgendwie nicht. Es tat gut meine Gedanken mit jemanden zu teilen, der sie verstehen und nachvollziehen konnte.
„Bedeutet das etwa, dass du deiner eigenen Rasse nicht vertraust?“ Jetan strich meine Haarsträhnen über die Schulter, bevor er etwas Selbstklebendes darauf tat, doch mir dabei forschend in die Augen blickte.
Im Moment fühlte ich mich, als könne ich nur noch über dünnes Eis tänzeln. Lügen? Oder die Wahrheit sagen? Zwei Optionen die ich niemals in einer solch provozierten Situation nehmen könnte. Stattdessen ging ich wie immer meinen eigenen Weg. „Es liegt nicht am mir, oder meinen Taten, ob jemand einer ganzen Rasse vertraut. Ich finde, Vertrauen muss man sich verdienen, es sich hart erarbeiten und hüten wie einen Schatz, da man, wenn man es schon einmal verloren hat, beinahe unmöglich wieder erlangen kann.“
Jetan ließ mein Shirt wieder an seinen Platz gleiten und schob es an der rechten Seite etwas hinunter, da ich es mit meinem Handgelenk nicht konnte. Für einen Moment schien er nachdenklich in seiner Arbeit versunken zu sein, denn er verbrachte es sogar, dass die Schmerzen in meinen Schultern beinahe vollkommen verblassten, erst als ich testend meine Schultern kreisen ließ, öffnete er wieder den Mund.
„Ich gebe zu, dass manche Menschen mich doch ein bisschen überraschen. Eigentlich dachte ich, bereits alle hier Anwesenden durchschaut zu haben.“
Fragend hob ich die Augenbrauen. „Und was ließ dich daran zweifeln?“ Es interessierte mich nämlich inwiefern ich ihn, einen Evok, wohl beeinflusst haben konnte. Auf welchen Bezug überhaupt, wusste ich nicht einmal.
Amüsiert hoben sich seine Mundwinkel, bevor Jetan sich zur Türe wandte. „Meine Gefühle.“


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Eine Stunde später hatte ich meine >Reisegruppe< wiedergefunden. Sie befanden sich wie gedacht in einem speziell für uns Menschen reservierten Raum, in dem verschiedenes Essen gelagert wurde. Da die Evok hier unten kein Eis kannten, wurde bei ihnen nur so viel geerntet und verkauft wie sie wirklich brauchten. Auch unser Essen war darauf beschränkt. Ich aß Nudeln und irgendeine Pasta, die man mit Wasser angerührt und einfach darüber geschüttet hatte. Es schmeckte lediglich fade, doch da uns die Nahrung der Evok nichts ausgaben, mussten wir auf Altbewährtes zurückgreifen.
Ich redete beinahe noch eine weitere Stunde mit den bereits hier ansässigen Wissenschaftlern. Sie erzählten mir von dem fehlenden Zeitfenster. Es gab keine Uhrzeit, keine Tageszeiten oder gar Jahreszeiten. Verständlicherweise. Wie genau daher ihre Zeitspannen, oder gar Lebensspannen gerechnet werden konnten, wusste niemand so genau.
>Wir werden geboren, wachsen auf und sterben. Was wir dazwischen mit unserem Leben anfangen, bleibt unserem Schicksal überlassen.<
Mit diesem Grundsatz schienen sie erklären zu wollen, dass sie unser System nicht einmal ausprobieren wollten. Konnte man es ihnen denn überhaupt verübeln? Ich würde mir auch nichts von irgendwelchen daher gelaufenen Typen sagen lassen, nur weil sie zufällig so ähnlich aussehen wie wir.
Diesen Gedanken brachte ich auch laut auf den Tisch, was niemanden im Raum sonderlich zu gefallen schien. Was hatten sie denn auch erwartet? Dass man jeden Tipp auf eine Steintafel gravieren lässt, als wäre es das Wort Gottes? Auch mit diesen Worten kam ich nicht besser weg, doch das interessierte mich beinahe noch weniger.
Irgendwann begann ich mich aus den Gesprächen auszuklinken und dachte lieber an Jetan. Ich verstand nicht wirklich, was genau er sich aus diesem Gespräch, mit mir versprochen hatte. Irgendwie bekam ich das Gefühl, dass er mich hatte testen wollen. Vielleicht wollte er auch unterschwellige Botschaften senden? Dass er uns nicht vertraut? Dass er möchte, dass wir gehen? Dass er sich wünscht, dass sein Vertrauen gerechtfertigt ist?
Aber wer bin ich schon, dass ich daraus Schlüsse ziehen könnte? Ich verstand weder ihn noch seine Rasse. Jedoch musste ich zugeben, dass ich mich ihm sofort verbunden gefühlt hatte. Weder hatten mich die kurzen Berührungen gestört, während ich gedankenverloren herumgelaufen bin, noch hatte ich das Gefühl gehabt, mich ihm gegenüber rechtfertigen zu müssen. Es war, als hätte ich der Mensch sein können, der ich nun mal bin.
Vielleicht bildete ich mir das auch alles nur ein und hatte einem Sektenführer, oder alleine-Gott-weiß-was nun einen Grund gegeben uns ausrotten zu wollen? Immerhin könnte in jedem von uns ein Psychopath stecken, da bildeten Evok vermutlich keine Ausnahme.


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Meine Armbanduhr zeigte mittlerweile zwanzig Uhr siebzehn am Abend. Über den Nachmittag hinweg, war die Gruppe, die unseren Unfall, seit drei Tagen untersuchte, zurückgekehrt. Man hatte die zwei Drittel des Zuges tief im Schlund eines frisch geöffneten Lavastroms gefunden. Er lag auf einem Schutthaufen, ziemlich tief unten und war unerreichbar, solange man nicht vorhatte selbst gegrillt zu werden.
Die Gleise hatten den Einsturz relativ gut überstanden, waren aber nicht mehr so stabil wie früher. Das würde man reparieren müssen, doch innerhalb von zwei Wochen würde man damit niemals fertig werden.
Seufzend streckte ich meine müden Knochen, als wir bis dreiundzwanzig Uhr vierzig immer noch keine befriedigende Lösung gefunden hatten und beinahe jeder jeden zu übertönen versuchte.
Da jedes Zelt mit Namen beschriftet war, suchte ich meines auf, das ziemlich am Ende stand und ließ mich dort in eine Hängematte fallen. Viel Raum bot das Zelt nicht und ich konnte mich auch nicht richtig darin aufrichten, doch das störte mich nicht. Das einzige was ich wollte, war, für ein paar Stunden Vergessen, dass die Möglichkeit bestand, dass ich hier überhaupt nicht mehr wegkam und dass sich wieder einmal über mir ein Timer befand. Nur dass mir dieser anzeigte, dass ich keine vier Wochen mehr übrig hatte.


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Fürchterlich verspannt erwachte ich nach einer unruhigen, und vor allem unbequemen >Nacht<. Tag und Nacht, wie wir sie kannten, gab es überhaupt nicht hier unten, daher blieb mir nichts anderes übrig, als mich an meine innere Uhr zu halten. Oder eben an die, welche sich an meinem Handgelenk befand. Ächzend dehnte ich meine Arme, doch anscheinend wirkte das Mittel von gestern nicht mehr, da meine Schmerzen wieder im vollen Ausmaß zurückgekehrt waren.
An der Gemeinschaftsdusche machte ich mich etwas frisch, dann machte ich mich mit einer wild zusammen gewürfelten, jedoch recht schweigsamen Gruppe auf den Weg zum Frühstück. Wie schon an meinem ersten Tag, war ich wieder von allem fasziniert. Jedes Gebäude maß mehr als unsere höchsten Hochhäuser und waren zudem wesentlich stabiler, hatten aber weniger Stockwerke, die andererseits wieder großzügig hoch und breit ausgerichtet waren.
Es war, als würde ich von der trockenen Außenwelt, plötzlich mitten in einer dicht bevölkerten Stadt stehen. Staunend ließ ich meinen Blick über ein junges Pärchen mit drei Kindern wandern, die eben Hilfe, von zwei weiteren Erwachsenen bekamen, die sie offensichtlich nicht kannten. Trotzdem half hier jeder jedem.
Schon wieder wurde ich von meiner Gruppe getrennt, nur dass mir nun bewusst wurde weshalb. Hier war ständig ein Gedrängel, sodass man sich leicht aus den Augen verlieren konnte.
Alleine ging ich die Auffahrt für die Fußgänger hinauf, bis ich im fünften Stock, ankam. Dort wechselte ich das Gebäude, eines das keinen Eingang besaß, so wie am vorherigen Tag und entdeckte meine gestrige Rettung. „Jetan!“ Rief ich ihn, als ich sah, dass er eben über eine Straße gehen wollte.
Sofort wandte er sich in meine Richtung um und erst da erkannte ich, dass er sich in Begleitung befand. Zwei andere Evok blieben ebenfalls stehen, doch blickten sie mich lediglich abschätzig an, während Jetan freudig lächelte. „Frost! Wie schön dich noch einmal zu treffen. Bei diesem Gedrängel ist es, beinahe unmöglich jemanden zu finden.“ Scherzte er und wies dem Mann rechts von ihm an etwas Platz für mich zu machen, sodass wir gemeinsam in der Mitte gingen.
„Hallo, ich bin Professor Frost.“ Stellte ich mich den beiden vor, sie nickten lediglich höflich.
Irritiert zog ich die Augenbrauen hoch. „Wie dem auch sei, ich wollte mich eigentlich nur wegen gestern noch einmal bedanken.“
„Gestern?“ Fragte er irritiert und ich schlug mir gegen die Stirn. Dass ich das auch immer mit der Zeit vergaß!
„Entschuldige. Ich habe nicht nachgedacht. Ich meine die Verbände, die du mir gemacht hast. Sie waren sehr hilfreich. Danke.“ Erklärte ich und kam mir etwas fehl am Platz vor, da ich scheinbar bei irgendetwas unterbrochen hatte. Oder kam nur mir das so vor?
„Ach, das. Ich vermute, der Effekt hat bereits nach gelassen?“
Ich nickte. „Ja, aber es ist deutlich besser als gestern.“ Log ich, da ich lieber nicht weiter stören wollte, außerdem hatte ich Hunger.
Jetan durchschaute mich anscheinend. „Es ist nicht besser.“ Meinte er direkt heraus. „Das sehe ich an deinen Bewegungen. Wieso lügst du deswegen?“
Das schien nun auch die anderen beiden aufmerksamer zu machen, denn ihre Blicke lagen nun zum ersten Mal, seit wir gemütlich nebeneinander hergingen auf mir. „Nun, ja. Ich erkenne, wenn ich nicht erwünscht bin, oder gar etwas unterbrochen habe. Deshalb gehe ich jetzt gleich weiter. Am besten bevor ich verhungere. Bye“ scherzte ich und wollte mich eben aus der Formation bewegen, doch da war wieder Jetans Hand an meinem, dieses Mal, Unterarm und hielt mich auf.
Überrascht blickte ich zuerst auf seine Hand auf meiner Haut die, wie mir jetzt erst auffiel, wesentlich wärmer war als meine eigene, dann sah ich in seine blassgrauen Augen. Er nahm sie jedoch nicht weg. „Ich kann dich vor dem Essen noch einmal verbinden, wenn du möchtest.“
Unsicher blickte ich zu dem Kerl, der rechts von mir ging und geradezu nervös wirkte. „Ähm... Ich glaube, mein Hunger ist größer als meine Schmerzen.“
„Jetzt noch, aber danach bereust du es.“ Versicherte er mir, doch das wusste ich selbst bereits.
Lächelnd legte ich meine rechte Hand auf seine und tätschelte diese. „Keine Sorge, Jetan. Ich bin bereits ein großes Mädchen und kann mit Schmerzen ganz alleine umgehen.“ Ich wusste nicht ob Evok Sarkasmus verstanden, doch im Moment war mir das egal. „Wir sehen uns.“ Ich winkte den anderen beiden noch, bevor ich mich auch schon unter die Menge mischte und den Weg zum Speisesaal für die Menschen suchte. Die beiden breiten Wächter, welcher er dabei hatten, machten mir ernsthaft Angst und ich wollte nichts lieber, als weg von ihnen, auch wenn Jetan mich offensichtlich willkommen hieß.
Schnell wurde ich fündig, doch bevor ich hinein gehen konnte, wurde ich schon wieder abgefangen. Ich musste mich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, wessen Hand sich schon wieder einmal um die Meine schloss. Wurde das etwa langsam zur Gewohnheit?
Keuchend stütze sich Jetan mit einem Arm an seinem Knie ab und murmelte etwas in einer Sprache vor sich hin, die ich nicht verstehen konnte. Verwirrt über diese Aktion wartete ich, bis er wieder zu Atem kam. „Daf... cht... h...r... flott...“ Keuchte er, doch da ich kein einziges Wort verstand, dank des Lärms um uns herum, überbrückte ich den halben Meter, der uns voneinander trennte, mit einem Schritt, wobei sich Jetan im selben Moment aufrichtete.
Für einige Sekunden blieb mir der Atem weg. Mein Gesicht war plötzlich nur wenige Zentimeter von dem seinen entfernt und seine Augen nahmen mich im selben Moment, genauso überrascht auf, wie meine ihn. Die Situation, egal wie absurd sie auch erschien, kam mir so vor, als würde sie sich beinahe endlos hinziehen. Wir atmeten beide zweimal ein und wieder aus, erst dann ertönte Gelächter hinter mir und wir gingen jeweils einen großzügigen Schritt rückwärts.
Langsam begann mein überfordertes Gehirn, wieder zu arbeiten, und ich entschied mich die seltsame Atmosphäre einfach zu überspielen. „Ist es etwas Dringendes, das du sagen wolltest?“ Fragte ich einfach und überspielte meine Nervosität gekonnt mit einem interessierten Lächeln.
„Was?“ Fragte er verwirrt.
„Du hast mich eingeholt, dafür muss es doch einen Grund geben, oder?“ Versuchte ich, seine Verwirrung zu lösen.
„Ja, natürlich. Das war...“ Er überlegte einige Sekunden, doch gab es dann auf. „Nicht so wichtig. Entschuldige.“
Okay, jetzt war ich verwirrt. „Nun, ja du wirst mir doch nicht hinterher gehetzt sein, nur um mich aufzuhalten, oder?“
„Nein natürlich nicht. Aber es ist mir entfallen. Ich suche dich später noch einmal auf, falls es doch einen bestimmten Grund gegeben haben sollte.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen nickte ich, da ich ihm dies nicht wirklich abkaufte, jedoch nahm, was ich bekam.
„Na, gut. Ich gehe dann essen. Bis... zum nächsten Mal.“ Irritiert über meine plötzlich gespaltenen Gefühle Jetan gegenüber, wandte ich mich um und fing die Türe ab, die eben wider ins Schloss fallen wollte. Als ich mich jedoch noch für einen kurzen, prüfenden Moment zu Jetan wandte, erkannte ich, dass er etwas sagen wollte, bevor er sich frustriert an den Kopf fasste und den Weg zurückging, den er mir eben noch hinterher gehetzt hatte.
Musste ich das verstehen?
Schweigsam verspeiste ich mein Frühstück, dann machte ich mich auf den Weg zum Zugwrack. Theoretisch sollte sich dort noch der Grund für meinen Einsatz befinden, da mir immer noch niemand gesagt hatte, für welches Fachgebiet ich überhaupt hierher gerufen worden war. Das Einzige was ich über meinen Aufenthalt wusste, beschränkte sich auf meinen >geheimen< Auftrag. Wie geheim dieser jetzt war, oder nicht war, konnte ich nicht selbst einschätzen, doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass es etwas Wichtiges zu sein schien.
Suchend stieg ich über Einzelteile hinweg, während ich den moosbedeckten Boden nach der Spritze absuchte. Generell hatte sich die Pflanzenwelt hier unten nicht besonders durch gesetzt. Nur einige Pilze, niedrige Sträucher und Gras hatten es geschafft, sich in dieser kleinen Welt durchzusetzen. Jedoch war dafür der See, der sich vor dem gigantischen Wasserfall gebildet hatte und recht tief zu sein schien, beinahe überbevölkert.
Erschöpft und verschwitzt gab ich nach einiger Zeit auf diese verdammte Spritze zu finden und machte mich stattdessen auf den Rückweg. Eigentlich wollte ich nur noch unter die Dusche und endlich einmal mit meinen Tagesberichten beginnen, doch da vernahm ich auch schon wieder meinen Namen.
„Professor Frost! Sie werden dringend erwartet.“
Ich stöhnte genervt. „Kann das denn nicht warten?“
„Tut mir leid, aber nein.“ Erklärte die Soldatin, die ich bereits gestern getroffen hatte und deutete mir ihr zu folgen.
„Wenn es wieder um die Schienen geht, dann ist es mir egal. Ich kenne mich im Maschinenbau sowieso nicht aus.“
„Es geht nicht um den Rückweg, Miss Frost. Der Gesandte der Evok wünscht Sie so schnell, wie möglich zu sprechen, sobald Sie zurück sind.“
Mich? „Müssen alle Idioten immer dann kommen, wenn ich keinen Bock habe?“ Fragte ich sie leise und entlockte ihr ein Zucken der Mundwinkel.
„Tut mir Leid, Miss Frost.“ Gab sie ausweichend zurück. Aber ich hatte das Zucken gesehen! Das war immerhin schon einmal ein Erfolg.
An einem großen Zelt angekommen, welches normalerweise nur von den Soldaten benutzt wurde, für Lagebesprechungen, oder Verschwörungen, wer wusste das schon... verabschiedete sich die Soldatin und ließ mich alleine hineingehen. Darin fand ich drei Evok vor und zwei hochrangige Soldaten, die starr dasaßen und offenbar Autorität ausstrahlen wollten.
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch, bis ich den kleinsten, der drei hochgewachsenen Evok verblüffenderweise sogar erkannte. „Jetan! Schön dich so schnell wieder zu sehen.“ Das meinte ich sogar ehrlich, obwohl die Situation in der wir uns getrennt hatten, seltsam gewesen war. Erst dann erinnerte ich mich dass ich doch eigentlich die Soldaten, von meinem eigenen Volk auch grüßen sollte, doch es war mir egal. Ich bin eben weder der Durchschnitt und noch weniger perfekt.
„Frost die Freude ist ganz meinerseits. Entschuldige, wenn wir dich von etwas Wichtigen abhalten sollten.“ Entschuldigte er sich im Vorhinein.
Dem Leiter, schien unsere Vertraute umgangsweise überhaupt nicht zu gefallen, daher unterbrach er mich, noch bevor ich noch etwas sagen konnte. „Professor Frost, das ist Jetan. Er ist so etwas wie der Prinz hier unten.“ Die unterschwellige Botschaft Respekt zu zeigen verstand ich sehr wohl.
Wie gesagt, ich bin nicht der Durchschnittsmensch. „Und ich die Mutter von Schlumpfhausen. Soll mich das jetzt beunruhigen?“ Ich redete auf Deutsch, um das Oberhaupt der Soldaten zu ärgern.
Überraschenderweise sprach er ebenfalls deutsch, nur mit starken Akzent. Oder sollte man es eher als einen Dialekt einstufen? „Das hier ist kein Witz, Miss Frost. Es liegt an ihm, ob wir innerhalb der nächsten Tage nach Hause kommen, oder nicht. Zeigen Sie Respekt, oder ich lasse Sie vierteilen!“ Mahnte er mich und ich verschränkte abweisend die Arme vor der Brust, bevor ich wieder auf Englisch wechselte, damit auch Jetan mich verstand.
„Für Morddrohungen ist es noch etwas zu früh, meinen Sie nicht?“ Ich erkannte wie er besorgt von mir zum >Gesandten< blickte und sichtlich nervös wurde. „Jedenfalls habe ich zwei Ohren, die relativ gut funktionieren. Anstandsregeln werden Ihnen wohl bekannt sein.“ Nun wandte ich mich an Jetan und lächelte wieder offenherzig. „Wie dem auch sei, du hast nach mir schicken lassen?“
Jetan schien äußerst belustigt zu sein, über die halbe Konversation, die er hatte aufschnappen können, räusperte sich und wandte sich mir gänzlich zu. „Ja, entschuldige noch einmal deswegen.“
Ich winkte ab. „Schon gut, solange du es bist, stehe ich dir mit Rat und Tat zur Seite.“ Ich deutete einen Knicks an, als ich den drohenden Blick des Soldaten auffing.
„Bitte, keine Höflichkeitsformen von dir.“ Bat Jetan und hob ermahnend die Hände. „Du darfst dich als Freundin dieses Volkes bezeichnen, daher erwartet man so etwas nicht von dir. Jetzt zu meinem Anliegen.“ Ich? Eine Freundin dieses Volkes? Wie ist es denn dazu gekommen? Ich verstand diese Welt offensichtlich kein bisschen, obwohl ich mich sogar besser schlug als alle, die sich bereits länger, als ich hier befanden. „Könntest du dir vorstellen, als direkte Vermittlerin hier zu sein? Also zwischen deinem und meinem Volk? Damit würdest du mir viel Arbeit abnehmen.“ Erwartend trat er einen Schritt näher auf mich zu und blickte mich beinahe bettelnd an. Hatte er etwa Angst, dass ich ablehnen könnte?
„Ähm... nicht das ich es ausschlagen möchte, aber... ganz ehrlich! Wieso ich?“
„Nun, ja es liegt an deiner Persönlichkeit. Das kann ich nicht beschreiben, doch ich weiß, dass mein Volk dir sein Vertrauen schneller schenken kann, als allen anderen Menschen.“
Und ich dachte, vor wenigen Minuten bereits verwirrt zu sein. „Bist du dir da sicher? Ich kenne Menschen die...“
Er schüttelte den Kopf und unterbrach mich damit. „Nein, ich wünsche mir dich an meiner Seite, als Vermittlerin. Ich sehe, dass du eine sehr große Auffassungsgabe besitzt und ein sehr heiteres Gemüt, gefolgt von einem einnehmenden Lächeln. Du symbolisierst Vertrauen, alleine mit deinen Gesten.“
Okay... das war so ziemlich das Netteste, was jemals jemand zu mir gesagt hat. „Und für solche Komplimente musste ich erst zum Erdkern reisen?“ Fragte ich ironisch und fühlte, wie ich rot wurde. „Ja, klar. Ich mache es.“ Stimmte ich zu.
„Das wusste ich.“ Verkündete Jetan stolz und deutete den langen Evok, der bereits heute Morgen neben mir gegangen ist, näher zu kommen, woraufhin ich ein Päckchen bekam. „Daher habe ich dir sogleich frische Kleidung mitgeben lassen, damit das Volk dich als einen der seinen erkennen kann. Das bedeutet, selbst wenn du in weniger als zwei Wochen fortgehen musst, du immer noch das recht hast mit uns in Kontakt zu treten, egal wann du es wünscht.“
„Ich denke, dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ist etwas überschätzt, aber ich verspreche eine lernfähige Person zu sein und mir größte Mühe zu geben, deine Erwartungen zu erfüllen.“ Versprach ich und Ersteres würde mir sowieso nicht schwerfallen.
„Nichts weniger hätte ich von dir erwartet.“ So plötzlich, dass ich vor Schreck erstarrte, legte Jetan seine Arme um mich und drückte mich für zwei Sekunden, bevor er mich wieder losließ. „Entschuldige, war das zu viel?“ Fragte er etwas verunsichert.
„Nein? Ähm... Nein! Nur ein wenig überraschend. Aber jetzt geht es schon.“ Versprach ich und die nächsten Arme legten sich um mich. Es war der große Evok.
„Auch wenn es etwas spät sein mag. Willkommen in Byrtz.“ Hieß er mich willkommen und lächelte mich das erste Mal herzlich an.
Danach umarmte mich der andere Evok, doch als er seine Arme um mich schloss, erkannte ich erst, dass es eine Frau und kein Mann war. Kurze Haare schienen eben nicht alles auszusagen. Ups...

Sehnsucht nach nach mehr Zeit

Als neue >Vermittlerin< wusste ich anfänglich überhaupt nichts anzufangen, doch da es für mich, als Mensch, erst früher Nachmittag war, begleitete ich die drei Evok zurück in die Stadt. Auf dem Weg erklärten sie mir ein wenig, was von mir erwartet wurde. Im Grunde war es nicht viel. Die Menschen und Evok würden zu mir kommen und ihre Anliegen, im Bezug auf das jeweils gegensätzliche Volk äußern und ich würde mich darum kümmern.

Mit meinem neuen Titel hatte ich mir sogar einen Platz in der Formation gesichert, so ging ich nun rechts von Jetan, während Lewa, seine Assistentin links von ihm ging und Mewa, ihr älterer Bruder, als sein persönlicher Berater, rechts von mir.
Nicht, wie gewöhnlich, suchten wir das äußerste Gebäude auf, sondern eines, das ziemlich in der Mitte der Stadt gelegen war. Dort stiegen wir bis in den höchsten Stock, während Lewa und Mewa abwechselnd auf mich einredeten. Knapp nach der Hälfte verabschiedete sich der viel beschäftigte Mewa, doch Lewa begleitete uns noch bis vor die Türe von Jetans Büro. Zumindest nahm ich an, dass es sich um Jetans Büro handelte. Als ich jedoch eintrat, klappte mir der Mund, das dritte Mal, seit ich mich hier befand, weit auf.
„Das ist doch ein Witz, oder?“ Stieß ich geradezu erschrocken hervor. Ich befand mich in einem einladenden Wohnzimmer, das hell beleuchtet war. Die dunklen Wände, ließen die hellen Möbel umso deutlicher herausstechen, während die Edelsteinfiguren und einige kleine Pflanzen für einen Wohnlichen Fleur sorgten.
„Ist denn alles in Ordnung?“ Fragte Jetan besorgt, da ich einen Schritt, nachdem ich eingetreten war, einfach stehen blieb und staunend vor mich hinstarrte. Abermals fühlte ich seinen Arm an meinem, als er mich vorsichtig weiter hinein schob.
„Das sieht ja unglaublich edel aus!“ Fast als wäre ich mitten in einer anderen Welt, der anderen Welt. Oder so ähnlich?
„Es freut mich, dass es dir gefällt. Eigentlich habe ich es recht schlicht gehalten, da ich ohnehin kaum hier bin.“
„Also wäre das meine Wohnung, ich würde keinen Schritt mehr vor die Türe machen!“ Meinte ich begeistert, während ich das Gefühl von seiner Haut an meiner genoss und dabei beinahe den Anblick des Zimmers vergaß. Jetan hatte irgendwie einen seltsamen Einfluss auf mich, den ich jetzt, nach knapp zwei Tagen noch nicht beschreiben konnte. Er ist dieser Typ Person, mit der man sich von Anfang an einfach prächtig versteht und mit, dem die Chemie einfach passt.
„Lebst du in so einer... >Wohnung<? Oben meine ich?“ Fragte er neugierig, ließ meinen Arm wieder los und durchquerte das Zimmer um uns beiden etwas zum Trinken einzuschenken.
„Ja, mit meiner Mitbewohnerin und besten Freundin. Wir leben bereits, seit wir volljährig sind zusammen, da sie wie eine Schwester für mich ist.“ Und genauso gut konnten wir uns auch streiten, nur um wenige Minuten später über irgendjemanden herzuziehen.
„Das bedeutet also, dass ihr euch nahe steht.“ Stellte er fest und ließ sich auf ein Sofa sinken, das aus Stein geschlagen war und mit einem unglaublich weichen Stoff gepolstert worden war. So etwas will ich auch zuhause! Grinsend kuschelte ich mich auf die bequeme Bank, als ich mich wieder an ein wichtiges Detail erinnerte.
„Ja, sehr. Aber jetzt zu einem anderen Thema. Du bist hier also der Prinz? Wieso hast du deshalb nichts gesagt? Ich bin mir wie ein Idiot vorgekommen, als mich dieser Idiot zur Sau gemacht hat.“
„Was hat er getan?“ Fragte er irritiert.
„Mich zurechtgewiesen“ Korrigierte ich mich und wurde etwas rot. Ich musste wirklich aufpassen, was ich von mir gab.
„Du meinst diesen Soldaten? Er wirkt sehr... roh.“ Ich verstand sofort, was Jetan damit meinte. „Aber ich denke, dass er den Posten, welchen ich besetze, etwas zu ernst nimmt. Ich weiß nicht, welches eurer Wörter dem nahe kommt, was ich tue, aber ich bin genauso austauschbar, wie jeder andere.“
Irgendwie glaubte ich ihm das nicht. „Sagst du das jetzt nur, damit ich mir nicht mehr so dumm vor komme?“
„Ich möchte nicht, dass du dir dumm vorkommst, das stimmt. Aber so wie du dich mir gegenüber verhältst, das finde ich in Ordnung. Du bist generell ein sehr aufgeschlossener Mensch, der nicht auf den Mund gefallen ist. Das mag ich an dir.“
„Danke, Jetan. Es ist nur seltsam, dass ich ausgerechnet hierin den Untergrund kommen musste, um endlich einmal jemanden zu treffen, der es wirklich akzeptiert, wie ich bin.“ Ich wusste nicht, wieso ich das sagte, doch es sprudelte wie immer einfach aus meinem Mund.
„Ist es denn in deiner Welt nicht so?“
„Nun, ja. Es gibt eine Vielzahl vom Typ Mensch. Viele ähneln sich. Viele sind auch komplett unterschiedlich.“
„Also wie bei uns. Das ist doch gut, oder? Zumindest hast du das letzte Mal gesagt.“
Lächelnd über seine Worte blickte ich forschend zu ihm auf. „Nicht dass ich bereits viele Prinzen getroffen hätte, doch du bist wirklich ein eigenartiger Kerl.“
Grinsend nippte er an seinem braun farbigen Getränk. „Ist das jetzt gut, oder schlecht?“
Seinem herausfordernden Blick hielt ich mühelos stand, während mein Herz eine Achterbahnfahrt durchmachen musste. Irgendetwas hatte Jetan einfach an sich, was mich komplett verrückt reagieren ließ.


- - - - -


Einige Stunden später, saßen wir fleißig lachend an einem Konzept für meine Arbeit. Der Plan sah recht vielversprechend aus und der neue Stil, gefiel mir bei weitem besser, als das was ich vom Militär aus hatte tragen müssen. Es war ein blau gefärbtes Kleid und hatte abnehmbare Ärmel. Diese waren extra für mich gefertigt worden, damit ich meinen geschundenen Rücken verbergen konnte.
Irgendwann gegen Mittag bat Jetan mich, mir erneut die schmerzstillende Creme geben zu dürfen, worauf ich bloß widerwillig einstimmte. Ich wusste nicht, welchen Nebeneffekt diese Creme haben konnte und ob sie nicht nach mehrmaligen Benutzen, ihre Wirkung verlor. Trotzdem fühlte es sich herrlich an, als ich meine Schultern, beschränkt, doch immerhin bewegen konnte.
„Und ihr schlaft wirklich nie?“ Fragte ich interessiert. Bisher hatte ich ja auf diese Frage, noch keine befriedigende Antwort erhalten.
„Doch, wir halten Ruhephasen, doch diese sind nicht besonders lange.“ Was ich mir darunter vorstellen durfte, war mir nicht ganz klar. Immerhin besaß dieses Volk keine Zeitanzeigen oder ähnliche Messgeräte. Ihr Rhythmus ging nach dem Wasserfall. Ist der Wasserfall dünner, so waren einige Wochen vergangen, doch unsere Forscher hatte noch kein Zeitgefühl dafür entwickelt. Es wurde vermutet, dass es etwas mit dem Mondeinfluss, auf das Wasser zu tun hatte, doch beweisen konnte man dies nicht, da bisher noch nicht genug Zeit vergangen war.
„Aber euch wirklich in einem Bett hinlegen, die Augen schließen und träumen, das tut ihr, oder?“
„Ja und nein.“ Erklärte Jetan, sichtlich belustigt. „Es ist mehr so, dass wir sitzen, in einen Dämmerschlaf gleiten und wenn uns jemand anspricht, wieder daraus erwachen.“
Nachdenklich stutzte ich die Lippen. Das klang interessant. „Wie sieht es mit dem Leben hier unten aus? Mit den Familien und Berufe?“
Heute trug Jetan seine Haare zur Seite geflochten und erst da fiel mir auf, wie lang sie eigentlich waren. Wenn er den Kopf bewegte, wippte der kunstvoll geflochtene Zopf bedrohlich. Ich konnte mir vorstellen, dass er bei dieser Dichte weh tun würde, falls er vorhatte jemanden auszupeitschen. Eilig wandte ich das Gesicht ab, als ich über diesen dummen Gedanken grinsen musste.
„Berufe gibt es vielschichtige. Viele arbeiten hier in Byrtz und Verkaufen die Ware, ihrer Familien. Hier in der Stadt, hat auch jede Familie ihr zuhause, sie leben zusammen, teilen den Verdienst und tauschen auch teilweise das, was sie ernten. Draußen, auf den Feldern, zwischen dem Wasserfall und Byrtz sät, bewässert und erntet unser Volk. Und in den Mienen arbeiten und trainieren, unsere Kämpfer und Wächter.“
Überrascht hob ich den Arm, damit er stoppte. „Ihr trainiert und habt Kämpfer? Für was denn?“ Soweit bekannt war, besaß das Volk keinen Rivalen oder natürlichen Feinde, bis auf die Lava rund um sie herum, ruhend in den Steinen.
Jetan lehnte sich auf der Bank vor und legte seine Hand auf mein Gelenk. „Möchtest du es sehen? Wir alle trainieren einen Teil unseres Wachstums dort.“
Wachstum? Meinte er damit seine Kindheit? Nickend willigte ich ein. „Natürlich, mich interessiert dein Volk wirklich sehr, Jetan. Es ist so... friedlich.“ Dass ich dieses Wort, im Zusammenhang mit Menschen benutzte, war mir persönlich etwas zuwider, doch auf diese Art Mensch, die hier unten lebt und stirbt, traf es ausgezeichnet zu.
Jetan zog seine Hand zurück und stand auf. Ich folgte ihm. „Es wird eine weite Reise. Vielleicht darfst du dir eines, dieser viereckigen fahrenden Geräte borgen? Damit kämen wir schneller voran.“
„Einen Truck? Bestimmt.“ Jetzt, mit meinem Stand? Ich brauchte meinen Soldaten bloß zu sagen, dass ich mir das Training, der Evok ansehen dürfte und schon würde man mir einen Helikopter zur Verfügung stellen. Nicht, dass bisher einer hier hinunter geliefert worden wäre.
„Hervorragend, dann sollten wir zu deinem Stützpunkt zurückkehren.“
Genervt verdrehte ich die Augen. „Machen wir einen Deal. Ich zeige dir einen Teil meiner Welt und du mir danach einen von dir.“
Zustimmend nickte Jetan. „Es wäre mir eine Ehre, Frost.“
Eigentlich ist Frost ja mein Nachname, doch bisher hatte ich keinen Evoknamen fallen hören, mit einem Nachnamen. Es war gerade so, als besäße jeder seinen eigenen und es gab niemanden doppelt, obwohl sich die meisten aufeinander reimten, oder einfach ähnlich klangen.
„Gut, dann werde ich uns einen Truck besorgen und du...“ Ich überlegte einen Moment, was er tun könnte, währenddessen blickte Jetan mich mit großen Augen an. Beinahe wie ein Hund hing er an meinen Lippen, so als wäre mein nächstes Wort, eine große Prophezeiung. Der Gedanke ließ mich für einen Moment stutzen, doch dann musste ich lächeln.
„Wieso lachst du plötzlich?“ Fragte Jetan, sichtlich verwirrt.
„N-Nichts.“ Winkte ich ab. Moment, was wollte ich noch einmal tun?
„Du lügst schon wieder und so etwas duldet mein Volk nicht. Wir hassen Lügen.“ Das konnte vermutlich auch der größte Grund sein, weshalb die Evok, die Menschen nicht mochten.
Mit einem verständnisvollen Lächeln trat ich wieder auf Jetan zu und legte meine Hand auf seine. Dieses Volk berührte sich oft und ständig, damit festigten sie ihre sozialen Verbindungen. Es schuf Vertrauen, indem sie niemals logen, auch wenn dies bedeutete, dass jemanden verletzten. Und sie kämpften in einer Einheit, niemals gegeneinander. „Ich habe nicht gelogen, Jetan. Aber ich möchte den Grund, für mein Lachen, nicht mit dir teilen. Das wäre mir unangenehm, doch ich schwöre dir, dass ich nichts Bösartiges gedacht habe.“
Sichtlich beruhigt, nickte der Evok, wobei sein Zopf über seine Schulter fiel. „Ihr Menschen lügt viel, ständig wenn ich das sagen darf.“ Ich nickte ebenfalls. „Damit schafft ihr kein Vertrauen, doch wir überleben hier unten, alleine dadurch. Ihr habt dort oben so viel Platz, unendlich viel mehr, als wir. Wir können nichts vor den anderen verbergen, nichts stehlen, denn es würde ja doch gefunden werden und uns auch nicht aus dem Weg gehen. Ehrlichkeit, Vertrauen und Hilfsbereitschaft, ist das, was uns am Leben erhält, Frost.“
„Das ist auch der Grund, weshalb ihr uns Menschen nicht hier haben wollt, oder? Sie gefährden euren Frieden.“
Jetan nickte bestätigend. Aus seiner Sicht mussten wir wie Unruhestifter, oder Diebe wirken. „Aber nicht dich.“
Ich hatte meinen Kopf sinken lassen, während ich über seine Worte nachdachte, doch jetzt sah ich ihm wieder in die Augen. „Du strahlst Ehrlichkeit aus, Frost. Ich habe dir mein Vertrauen und somit meine Stimme geschenkt, da, wenn ich es nicht mit eigenen Augen, an dir sehen würde, schwören könnte, dass du zu meinem Volk gehörst.“ Ich wurde schlagartig rot im Gesicht, da ich zu gut verstand, was Jetan damit meinte. Auch ich fühlte mich hier unten pudelwohl. Trotzdem ist mein Körper, der eines Menschen und hier konnte ich nicht für immer bleiben, auch wenn ich es mir mit jeder Stunde ein wenig mehr wünschte.
„Ich verstehe, was du meinst, Jetan. Mir geht es genauso.“


- - - - -


Kurz darauf besorgte ich uns einen Truck, mit dem fuhr ich, Jetan und mich zurück zur Basis, jedoch mit einigen Problemen. Jetan vertrug das Fahren nicht, somit musste ich langsam dahin schleichen, während er ganz grün wurde.
An der Basis angekommen, schwor er, nie wieder in ein solches Gefährt zu steigen, und setzte sich auf einen erhobenen Stein, bis seine Übelkeit verschwunden war. „Es wird besser, Jetan.“ Schwor ich, doch konnte mir ein Lächeln nicht verwehren. Er sah einfach zu süß aus, wenn er eingeschnappt war.
„Das glaubst du bloß, doch weißt es nicht mit Sicherheit.“
„Doch, je mehr du deinen Körper daran gewöhnst, umso mehr wird er resistent gegenüber der Reisekrankheit. Wenn du jeden Tag, artig mit mir einige Kilometer fährst, wirst du bald selbst deinen eigenen Truck bekommen.“
Vehement lehnte Jetan ab. „Ganz bestimmt nicht. Das ist ein Höllenfahrzeug.“ Ich lachte etwas lauter, sodass sich einige Wissenschaftler, welche mit neuen Proben herumspazierten, sich irritiert umwandten.
Ich grüßte diese mit einem Nicken. „Dann schaffen wir es wohl nicht mehr dorthin, wo du mir etwas zeigen möchtest.“ Grinste ich frech.
Jetan schien kurz seine Möglichkeiten abzuwiegen, doch nickte dann. „Na gut, doch bloß die Fahrt hin, zurück laufe ich selbstständig.“
Einverstanden streckte ich Jetan meine Hand hin. Er ergriff sie, ohne zu zögern, und ich half ihm zurück auf seine Beine. „Oh, verdammt.“ Fluchte ich, als ein Schmerz in meiner Schulter explodierte. Diese Hilfe hätte ich wohl lieber aufsparen sollen.
„Deine Quetschung?“ Fragte Jetan besorgt.
„Ja, ich habe nicht mehr daran gedacht.“ Das Mittelchen, mit welchem mich Jetan eingeschmiert hatte, wirkte wirklich einwandfrei. Außer ich belastete die betroffenen Stellen zu stark, oder lehnte mich an etwas Kantiges, dann kehrte der Schmerz, für einen Moment, mit voller Kraft zurück. „Ich bin wohl unbelehrbar.“ Scherzte ich und setzte mich in Bewegung. Jetan ging direkt neben mir, wobei sich unsere Schultern des Öfteren streiften.
„Nein, du bist den Schmerz bloß noch nicht gewohnt.“ Belehrte der Evokprinz mich, woraufhin ich ihn sanft mit dem Ellenbogen stieß.
„He! Benutze nicht meine Worte, gegen mich.“
Schmunzelnd hob er das Kinn. „Ich habe...“
„Miss Frost?“ Die Soldatin, welcher ich in den letzten Tagen häufiger begegnet war, stand wieder vor mir und blickte mich ausdruckslos, mit ihren dunklen Augen an.
„Anwesend und im Dienst.“
Für einen Moment schien die Soldatin nicht zu wissen, ob sie etwas darauf erwidern sollte, doch ließ das Thema dann fallen. „General Hevanic erwartet Sie, in seinem Zelt. Er sagte, es sei wichtig.“
Seufzend nickte ich. Von diesem General hatte ich bereits gehört. Es war bereits seine zweite Woche hier und eigentlich hätte er mit dem Zug, mit dem ich gekommen bin, wieder fahren sollen. „Ich bin in fünf Minuten da, ich muss nur kurz Jetan beschäftigen. Nicht dass du dich ohne mich noch langweilst.“ Den letzten Satz, wandte ich direkt an ihn, woraufhin er verlegen wurde.
„Das könnte ich wohl kaum bestreiten.“ Ich zeigte Jetan mein Zelt und erlaubte ihm, sich umzusehen, da ich ohnehin nichts Peinliches, oder Geheimes darin versteckt hatte.
„Das Zimmer einer Frau...“ Murmelte Jetan leise vor sich hin, doch ich hörte es trotzdem.
„Gibt es da... irgendein Sittenproblem? Dürfen Männer nicht in die Zimmer von Frauen?“ Ich fragte es weder scherzhaft, noch herablassend. Ich war ehrlich neugierig und wenn ich etwas wirklich wissen wollte, konnte ich regelrecht penetrant werden.
„Nein, natürlich gibt es ein solches Gesetz nicht. Aber die Einladung einer Frau, in ihr Zimmer, bedeutet zumeist, dass diese bereit ist, sich einem neuen Leben zu verschreiben.“
Okay, jetzt war ich so richtig neugierig. „Leben? Was denn für ein Leben?“
Jetan richtete sein Augenmerk wieder auf mich zurück. „Wirst du nicht erwartet, Frost?“
Ich verdrehte die Augen. „Nicht wenn ich so neugierig gemacht wurde. Ich hasse es, neugierig zu sein, dann kann ich an kaum etwas anderes denken.“
Jetan probierte meine, für ihn suspekte, Hängematte aus und verlor dabei beinahe das Gleichgewicht. „Ein Grund mehr, dass du schneller zurückkehrst.“
Empört stemmte ich meine Hände in die Hüften, doch wirkte durch meine gebückte Haltung dabei nicht wirklich bedrohlich oder imponierend. „Das ist Erpressung.“ Damit lief ich aus dem Zelt, wobei sich meine Gedanken viel mehr darum drehten, schnell wieder bei Jetan zu sein, als was der General wohl von mir wollte?
Zurück im Zentrum der Basis erwartete mich Hevanic. Er war ein groß gebauter, dunkelhäutiger und noch recht junger Mann. Wenn er wieder oben wäre, würde er seinen Stand als >General< wieder ablegen müssen, da er noch zu jung war. Er musste sogar jünger als ich selbst sein. Was mich jedoch wieder auf halbwegs normale Gedanken brachte... war eine schwarze Lederjacke.
„Meine Jacke!“ Stieß ich erfreut hervor, lief ohne Begrüßung durch das Zelt und schloss mein heiß geliebtes Kleidungsstück an meine Brust.
„Professor Frost, ich gehe also richtig in der Annahme, dass die Ihnen gehört?“
Ich verdrehte die Augen. „Als ob das nicht offensichtlich ist.“
„Hervorragend. Dann ist >dies< wohl auch Ihre Mission.“ Der noch junge General, öffnete eine Lade seines Schreibtisches und holte eine, sich in einem sterilen Sack befindende, Spritze hervor.
Genervt stöhnte ich. „Ach, die haben Sie gefunden?“ Dabei hatte ich ernsthaft gehofft, dieses Objekt nicht benutzen zu müssen.
„Sie befand sich in Ihrer Jackeninnentasche. Wie haben Sie die überhaupt hier hinunter geschmuggelt?“
Ich zuckte mit den Schultern, als wäre es gleichgültig. „Ich bin eben ein Genie.“ Damit log ich nicht einmal. Zumindest in einigen seltenen Fällen.
Resigniert seufzte der junge General. „Wie dem auch sei, Sie besitzen eine sehr günstige Position und haben einen sehr wichtigen Auftrag noch dazu. Versauen Sie das am besten nicht... es würde für niemanden von uns gut ausgehen.“
Wo er recht hatte, doch wie sollte ich diesen Auftrag ausführen? „Dafür brauche ich jedoch mehr Zeit. Die Evok vertrauen mir bei weitem nicht so sehr, dass sie mich an ihr Rückenmark lassen.
„Dann haben Sie ja nun die nächsten drei Wochen Zeit, Miss Frost.“
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch und trat vom Schreibtisch zurück. „Wie meinen Sie das?“
„Wir haben keine Ahnung, wann, oder gar, ob die Schienen hier hinunter wieder einsatzbereit sein werden. Selbst wenn, dauert die Bergung und der Wiederaufbau seine Zeit.“
„Doch keine drei Wochen!“ Protestierte ich.
„Manche von uns haben nicht einmal mehr diese drei Wochen, Professor Frost. Schätzen Sie sich glücklich!“ Mit diesen strengen und vor allem herablassenden Worten entließ mich der General. Natürlich drückte er mir davor noch die Spritze in die Hand, dann fand ich mich auch bereits wieder vor dem großen Zelt, des Generals wieder.
An das hatte ich noch keinen einzigen Gedanken verschwendet. Zwei Wochen, waren keine sonderlich lange Zeit. Nicht dafür, den Schaden einer unterirdischen Bahn zu reparieren, welche sich mehrere Kilometer unter der Erde befindet. Sehr viele hier unten, Menschen die wie ich festsaßen, besaßen diese Zeit nicht einmal mehr, sie hatten ihre eigene Zeit bereits überschritten. Jede Woche pendelte der Zug von oben, mit neuen Vorräten und Wissenschaftlern, nach unten, sammelte Daten und reise bereite Wissenschaftler ein, und fuhr zurück an die Oberfläche. Dann musste der Zug erst einmal gewartet werden und erneut aufgefüllt. Selbst wenn die von oben, es schaffen sollten, würden einige dem Klima und Gasen hier unten zum Opfer gefallen sein. Das war einfach zu schrecklich!
Verwirrt und vor allem geschockt, von der Tatsache dass auch ich unter den Auswirkungen des Klimas, oder was auch immer uns krank machte, zu leiden haben würde, schritt ich starr in mein Zelt zurück. Ich versteckte die gesicherte Spritze in meiner Hosentasche und presste meine viel zu dicke Lederjacke, an meine Brust. Das durfte einfach nicht wahr sein. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass nach einem Jahr, der Forschung hier unten, bei den Evok, alle sicher sein würde. Sie sind friedliebend, zuvorkommend und höflich. Bloß die Gase hier machten uns zu schaffen, doch wer hätte schon denken können, dass uns schlussendlich die Lava die Hölle heißmachen würde?
„Frost?“ Ich war gedankenverloren in mein Zelt getapst, völlig geschockt von meinem womöglich, drohenden Ende und hatte dabei Jetan ganz vergessen. Jetzt stand ich, völlig perplex vor ihm und konnte nichts tun, außer ihn fragend anzusehen. Was suchte der Prinz, oder was auch immer er sein mochte, bei mir im Zelt? Hatte ich ihn etwa eingeladen?
Doch! Das hatte ich tatsächlich. Ich wollte meine Zeit mit ihm verbringen, die Evok kennenlernen und vielleicht sogar Freunde finden? Hier unten fühlte ich mich nämlich überraschend wohl. Pudelwohl, um ehrlich zu sein, denn wohler hatte ich mich noch nie gefühlt, nicht einmal mit meiner besten Freundin Estelle. Wir waren wie Tag und Nacht. Pech und Glück. Schwarz und weiß.
„Frost, was ist denn los?“ Sichtlich verunsichert, trat Jetan auf mich zu, legte seine Hand an meine Wange und erst da bemerkte ich, dass sie feucht war. Jedoch nicht von Schweiß. „Du weinst ja.“
Ich hielt meine Jacke an mein Gesicht und wischte an der Innenseite, meine Tränen ab. „Verzeih, Jetan. Ich habe ganz auf dich vergessen. Habe ich dich nicht zu lange warten lassen?“
Gespielt beschäftigt, packte ich meine Jacke zurück in den kleinen Koffer, welchen sie uns zugestanden hatten und faltete sie ordentlich zusammen. Die Lederjacke würde mir hier unten nichts bringen. Dafür war es eindeutig zu heiß und feucht.
„Vergessen? Wieso... sagst du so etwas?“
Ich hörte auf mit dem Versuch, geschäftig zu wirken, und wandte mich zu Jetan um, der verletzt zu mir herabblickte. „Damit meine ich, dass... mein Kopf gerade so voll gewesen ist, mit neuen Fakten und Gefühlen, dass ich ganz vergessen habe, dass du dich in meinem Zelt befindest.“
Erleichtert atmete Jetan durch. „Bitte sag so etwas leicht missverständliches nicht mehr, Frost.“ Unerwartet landete ich in Jetans Arme und wurde fest an seine... überraschend harte Brust gedrückt.
„Was habe ich denn gesagt?“ Fragte ich, erstarrt in der Umarmung. Berührungen waren ja okay... aber Umarmungen? Das war mir dann doch einen Tick zu viel, denn es fühlte sich herrlich an, trotz der Hitze.
Jetan ließ mich los, doch stützte mich zum Glück weiterhin, ansonsten hätten meine Beine gnadenlos nachgegeben. „Wenn wir jemanden vergessen, dann weil wir diese Person nicht mehr aktiv in unserem Leben haben möchten. Wir haben ihr abgeschworen und wollen auch nicht, dass sie noch etwas mit uns zu tun hat. Je nachdem, kann dies eine Beziehung beenden, oder eine Freundschaft. Und ich würde es sehr verletzend finden, wenn du dich plötzlich von mir abwenden würdest.“
Was? So etwas konnte bloß ein einziges Wort bedeuten? Andererseits fiel es uns Menschen auch einfach zu lügen und etwas zu verheimlichen. Was wussten wir schon von Worten, wenn wir sie doch so einfach und gnadenlos einsetzten?
Mit einem entschuldigenden Lächeln legte ich ihm meine Hand auf den Brustkorb, genau an die Stelle, wo sich sein Herz befand. Zumindest, wenn seine Anatomie der eines Menschen auch innerlich glich. „Als könnte ich diese Welt hier unten jemals wieder vergessen. Natürlich würde ich mich niemals freiwillig von dir, oder diesem Volk abwenden. Es ist... fast wie ein leider bald endender Traum.“ Plötzlich kam mir wieder in den Sinn, was der zum Tode Verurteilte General so schamlos gesagt hatte. >Wer wusste schon, ob wir in weniger als zwei Wochen, schon wieder an der Oberfläche sein würden?<
„Frost...?“ Bevor Jetan mich auf meine plötzlich wechselnde Laune ansprechen konnte, wimmelte ich ihn ab.
„Es ist nichts, worüber ich jetzt sprechen möchte, Jetan. Können wir unseren Ausflug auf morgen... Ähm... später, wenn ich geschlafen habe verschieben?“ Ich fühlte mich für eine Spionage einfach nicht in der Stimmung.
„Ich verstehe. Dann wünsche ich dir eine angenehme Ruhe. Sagt man das so?“
Schmunzelnd nickte ich. „Ja, so kann man es sagen. Ich danke dir, Jetan. Für alles.“
Sanft legte Jetan mir seine Hand auf den Kopf und löste in mir, für einen Moment, ein geborgenes Gefühl aus. „Da gibt es nichts zu danken, Frost. Und ich verspreche dir, dich beim nächsten Mal, erst um Erlaubnis zu fragen, wenn ich dich wieder umarmen möchte.“
Erschrocken blickte ich Jetans Rücken hinterher, während er eilig mein Zelt verließ und dadurch mein rot werdendes Gesicht, zum Glück, nicht mehr sehen konnte.

Sehnsucht der Gefühle

Den Nächten Tag vertröstete ich Jetan. Stattdessen beschäftigte ich mich mehr, mit den Gepflogenheiten der Evok. In sehr vielen Dingen glichen sie uns Menschen, was uns bewies, dass sie von uns abstammen mussten. Ihre Gestik, Mimik und ihre Ernährungsgewohnheiten glich den unseren, doch trotz allem, unterschieden sie sich gewaltig. Es war beinahe so, als hätten sie sich plötzlich von den Menschen abgewandt und wären in den Untergrund verschwunden, um dort abseits von uns zu existieren und sich zum Teil anders zu entwickeln. Sie sind stärker als wir Menschen, blasser, da sie keiner Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind, schwerer, dank ihrer sehr stabilen Knochen und wesentlich ruhiger. Natürlich sind auch ihre sozialen Gepflogenheiten von unserer etwas abgewandelt. Ein Lächeln bedeutet bei ihnen dasselbe, wie bei uns. Ein Handschlag galt einer Begrüßung, doch war hier unten nicht mehr besonders verbreitet. Viel eher, nickte man sich respektvoll zu. Umarmungen, waren ebenfalls unter Familienmitgliedern und Paaren gerne gesehen.

Den Punkt, den ich hinzufügen konnte, ist dieser mit dem >Vergessen<. Es war ihre Art der Ablehnung einer Person. Ansonsten gab es keine neuen Dinge, welche ich über die Evok selbst lernen konnte, da gab es bloß ihre warme Offenheit ihrem Volk gegenüber, ihre Hilfsbereitschaft, sie bevorzugten Augenkontakt, in Gesprächen und fühlten, oder konnten es uns viel eher ansehen, wenn man log. Evok hatten wirklich eine herausragende Sinneswahrnehmung, was Mimik und Gestik betraf.
„...ost!“
Ich kaute auf einem Stück Sellerie herum, welches ich ergattern hatte können vom menschlichen Koch und seufzte zufrieden. Das erste Essen, seit vier Tagen, das auch wirklich nach etwas schmeckt.
„Fro...“
Schmatzend griff ich nach einer Wasserflasche und trank einige Schlucke, der kühlenden Substanz. Ja! Das hatte ich jetzt gebraucht. Die letzten Stunden hatte ich mir den systematischen Aufbau der Stadt eingeprägt. Eigentlich war sie ja recht praktisch aufgebaut, denn sie nahm mit zehn, bis fünfzehn Gebäuden, welche weit in die Höhe reichten, kaum Platz weg. Das restliche Gelände, von dem es durchaus viel gab, viel mehr, als anfänglich erwartet, der Höhle, war von Felsen, Strand und Pflanzen bevölkert, zwischen welchen, einige Gemüsepflanzen wuchsen. Aus was das Fleisch bestand, welches sie konsumierten, konnte bisher niemand herausfinden. Vielleicht ja von den toten Riesenratten, welche tatsächlich so groß werden konnten, wie ein Pferd.
„Ignorier mich nicht!“ Mit dem Schreck meines Lebens lief ich gegen eine Wand von Mann und überschüttete uns beide dabei, mit frischen, kühlen Wasser.
„Heilige Scheiße! Jetan!“ Brachte ich gebrochen hervor, während ich tief durchatmete, um mich von dem ersten Schrecken zu erholen. „Willst du, dass ich jetzt schon graue Haare bekomme?“ Schimpfte ich, doch war nicht wütend auf ihn. Eher verwirrt. Was hatte er in dem Raum zu suchen, welchen sie uns Menschen zur Verfügung gestellt hatten? Bisher hatte sich kein Evok hinein gewagt. Zumindest soviel ich wusste.
„Du kannst deine Haarfarbe ändern? Das würde ich gerne sehen.“ Jetan ließ sich offenbar von mir ablenken, anstatt mir zu antworten.
„Ähm... Ja... Nein! Also, doch. Ach... Unsinn!“ Fluchend versuchte ich, mein dunkelblaues Kleid wieder trocken zu bekommen. Zwar trug ich darunter eine kurze beige Hose, aus pragmatischen Gründen, doch sah man sie dank der Länge des Kleides nicht.
„Also, kannst du es jetzt, oder nicht?“ Jetan grinste sichtlich belustigt zu mir herab und steckte mich sofort damit an.
„Mehr oder weniger.“ Grinste ich zurück und vergessen war mein Schock. Irgendwie hatte ich den Evok den vergangenen Tag vermisst. Vielleicht hätte ich ihm doch nicht ausweichen sollen? Ich mochte Jetan, er war wirklich... ein Fall für sich.
„Wirst du es mir denn einmal zeigen?“
„Wie ich meine Haarfarbe ändere?“ Lachte ich.
„Ja, das würde ich gerne sehen.“ Die Augen verdrehend, schraubte ich meine Wasserflasche wieder zu und steckte den angeknabberten Sellerie in meine Kleidertasche. Ja, diese Kleidung war wirklich praktisch, nicht nur, dass sie etwas kühlend wirkte, obwohl es ein dicker Stoff war, man konnte sogar so gut wie alles darin verstauen.
„Ich halte nicht wirklich viel vom Haare färben, das macht sie bloß kaputt. Aber wenn du es einmal auf natürliche Art und Weise sehen möchtest, dann musst du mich in dreißig Jahren oben besuchen kommen.“
Jetan griff nach einer meiner Haarsträhnen und betrachtete sie für einen Moment zwischen seinen Fingern. „Das wäre es mir sogar Wert.“
Bevor ich etwas, verlegen, darauf erwidern konnte, erklang ein Räuspern neben uns. „Professor Frost.“ Begrüßte die junge Soldatin mich. In den letzten Tagen war sie regelrecht wie mein Schatten, doch ich hatte es desinteressiert abgetan. Jetzt nervte sie mich ernsthaft. „Prinz Jetan.“ Sie neigte respektvoll ihr Haupt und Jetan hörte auf zu lächeln.
„Wenn Sie Frost für sich beanspruchen wollen, dann sind Sie zu spät dran. Meine Mutter wünscht sie zu sehen.“
Seine Mutter? Sofort war jeder Scherz vergessen. „Tatsächlich?“
Jetan blickte zu mir zurück und lächelte wieder. „Natürlich. Du bist einzigartig, also wünscht sie sich nichts Lieber, als dich kennen zu lernen.“
„Dann verzeihen Sie mein Einmischen. Ich hatte lediglich den Befehl Professor Frost etwas vom General auszurichten.“ Die Soldatin warf mir einen mahnenden Blick zu, der mir zu verstehen gab, dass ich hier her, bloß aus einem Grund geschickt worden bin.
„Dann sagen Sie ihm, dass ich noch mehr als genug Zeit übrig habe... im Gegensatz zu ihm.“ Den Schluss zischte ich verärgert. Wie konnte dieser Mistkerl sich bloß dermaßen aufdrängen? Was sollten diese hochnäsigen Idioten mir schon antun? Mich zu Tode langweilen? Na, gut. Diese Option bestand tatsächlich.
„Wenn es Ihr Wunsch ist?“ Offenbar wollte die Soldatin es eher... milder ausdrücken. Ich jedoch scherte mich einen Dreck darum.
„Wortwörtlich, bitte. Und danke für Ihre Mühe.“ Ich schenkte der Soldatin ein kurzes Lächeln und nahm Jetan am Unterarm, um ihn hinauszuführen. An der Türe öffnete er sie für mich und ließ mich zuerst durch. Für einen Moment drehte sich der Prinz noch einmal um, schien irgendetwas anzustarren und folgte mir dann.
„Alles in Ordnung? Was wollte General von dir?“
Schmunzelnd blickte ich zu Jetan auf. Er hatte es wirklich nicht, mit den Titeln. „Weißt du... >General< ist ein Titel, den ein Mensch trägt, so wie mein Titel >Professor< ist.“
Jetan zog erkennend die Augenbrauen hoch. „Oh, und ich dachte schon, die meisten hier hätten einen identischen Namen. Das war etwa verwirrend.“
Lachend tätschelte ich seinen breiten Rücken. „Oh, Jetan... Du bist herzig.“ Jetan sagte nichts dazu, sondern führte mich stumm in das Zentrum der Stadt. Es war das höchste Gebäude, und stand zentral zu allen anderen. Mehr als Eindutzend Brücken verbanden dieses mit allen anderen, über verschiedene Stockwerke. Fenster gab es, wie in jedem anderen Gebäude, kein einziges. Bloß diese mysteriösen Leuchtsteine sorgten für ein herrliches, kühles Licht. Meistens variierten die Lichter zwischen grün, blau und weiß, doch einige waren auch schmutziger, bis hin zu einem dumpfen Grau.
„Jetan.“ Begrüßte Lewa und Mewa ihren guten Freund und Prinzen, mit einem heiteren Lächeln. „Frost.“ Wurde ich ebenfalls, mit einem respektvollen nicken, begrüßt.
„Schön euch beiden Riesen wiederzusehen.“ Scherzte ich, denn die beiden waren tatsächlich größer als Jetan.
Abwechselnd legten sie mir eine ihrer Hände auf die Schultern. „Seratan freut sich bereits, Jetans Bynn kennenzulernen.“ Seine was?
Jetan boxte seinen Freund in den Unterbauch. „Sei nicht voreilig.“ Schimpfte er mit einem frechen Lächeln und schob mich, mit sanften Nachdruck, hinein in einen Raum. Im ernst. Was ist eine Bynn?
Zuerst dachte ich, er wäre leer. Jedoch fand ich recht schnell, den Grund dafür. „Wow...“ Stieß ich ehrfürchtig hervor. Wenn ich schon gedacht hatte, Jetans Wohnung wäre protzig, wurde ich nun ernsthaft eines Besseren belehrt.
Woher hatte diese Frau bloß so viele Edelsteine? Alles schien von Prunk bloß beschwert worden zu sein. Die Lampen, die Stühle, Ecken, sogar ein Mosaik aus Edelsteinen, befand sich an den Wänden. „Ich glaube, ich werde hier einheiraten.“ Scherzte ich mit beinahe hinausfallenden Augen.
„Was heißt das?“ Rot werdend, winkte ich ab.
„Bloß ein dummer Scherz.“ Immerhin konnte ich schlecht für immer hier unten bleiben. Leider.
„Irgendwann musst du mich einmal in deine Scherze einweihen. Ich würde sie gerne verstehen.“
Schmunzelnd blickte ich Jetan in die Augen. „Irgendwann, versprochen.“ Für einen Moment erwiderte er meinen Blick, wodurch er überraschend intensiv wurde. Ich wusste ja, wie viel den Evok Vertrauen und Ehrlichkeit bedeutete. Hatte ich vielleicht mit meinem Versprechen etwas falsch gemacht?
„Darf ich dich wieder umarmen?“
Errötend schnappte ich nach Luft und mein Herz spielte eine Runde Achterbahn fahren. „W-Warum?“
„Ich fühle mich einfach danach.“ Gab er zu und blickte mich regelrecht bittend an. Um ehrlich zu sein, wollte ich wirklich, dass er mich noch einmal umarmte... für immer...
„Ah, ihr seid früh.“ Jetan zuckte genauso erschrocken zusammen, wie ich und trat einen respektvollen Schritt von mir zurück.
„Mutter, entschuldige, bitte.“ Vor mir stand eine hoch gewachsene Frau, mit einem ebenso weichen Gesicht, wie Jetan es besaß.
Liebevoll blickte sie auf ihren scheinbar gleichaltrigen Sohn herab und küsste ihn auf die Wange, zur Begrüßung. Dabei schwangen ihre glatten, schweren Haare, wie ein Schleier um sie herum. Sie sah wirklich... Wow... aus. Ihre Haare hatten ein reines Weiß und gingen ihr bestimmt bis zum Hintern, wobei ich von ihren saphirblauen Augen fast schon in den Bann gezogen wurde. Sie war, mit Abstand, der schönte Mensch... Evok und Mensch, den ich jemals gesehen hatte.
„Und du bist Frost?“ Fragte die atemberaubende Frau, mit einem lieblichen Lächeln. Mein Nachname würde zu ihr vermutlich wesentlich besser passen, als zu mir. Zumindest, wenn das sonnenhelle Lächeln nicht vorhanden wäre.
„J-Ja?“ Wieso klang meine Antwort wie eine Frage? Vielleicht, weil ich so eingeschüchtert war?
„Das freut mich.“ Mit offenen Armen zog mich die große Frau an ihre Brust und küsste meine Wange, wie die von Jetan.
„S-Seratan!“ Schimpfte Jetan, vermutlich wegen dem, liebevoll gemeinten, Kuss. „Das war wirklich zu viel.“
Dem konnte ich kaum Widersprechen. „Aber sie ist doch deine Bynn. Wie sollte ich sie deiner Meinung nach, sonst begrüßen?“
Jetans Wangen färbten sich rot und er blickte verlegen zu Boden. „Wir sollten uns dringend einmal ernsthaft unterhalten, Seratan.“ Jetzt wirkte er eingeschüchtert, obwohl er streng sprach.
Seratan verdrehte ihre hübschen Augen. „Du bist immer so zimperlich, mein Jetan.“ Tadelte sie, gänzlich mütterlich, was mich schmunzeln ließ. Ich denke, ich mochte sie jetzt schon. „Und jetzt zu dir, meine liebe Frost.“ Die Königin legte einen ihrer schmalen Arme um meine Schulter und zog mich zu einer diamantenbesetzten Bank. Ich wagte es kaum, meinen Hintern darauf niederzulassen, denn ich hatte Angst, irgendetwas kaputt, oder gar dreckig zu machen. Wie hielten die Evok generell, bei so einer hohen Luftfeuchtigkeit, alles so rein? Man musste doch ununterbrochen putzen.
Neugierig spitze ich meine Ohren und erwiderte den gewünschten Augenkontakt. „Wie ich hörte, hat Jetan dich zu unserer Vermittlerin ernannt.“
Zwar wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte, immerhin ist sie das Oberhaupt von vielen tausenden Evok, doch ich probierte es, so gut ich konnte. „Ja, das ist eine sehr große Ehre für mich. Vielen Dank dafür.“
„Jetan ist mein Sohn, er weiß was, oder in diesem Fall, wer gut für uns ist.“ Verlegen blickte ich zu Jetan, welcher neben mir auf der Bank platz genommen hatte, als er mir seinen Arm um die Taille legte. „Das... kann ich nur hoffen. Trotzdem bin ich ein Mitglied der Menschen.“ Meine Stimme wurde etwas ernster. „Deshalb möchte ich Euch bloß warnen, Madame.“ Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei, sie mit ihrem Namen anzusprechen. „Vertraut mir bitte nichts an, was man von hier wegnehmen könnte. Ich will nicht schlecht über meine Spez... über mein eigenes Volk sprechen, doch...“
Jetan beendete den Satz für mich, da ich es nicht recht konnte, nicht ohne mich überraschend schuldig zu fühlen. „Sie sind nicht vertrauensvoll. Das haben wir bereits wahrgenommen, Frost. Aber du bist anders... du >fühlst< dich anders an.“
Dankbar lächelte ich zu Jetan hoch und legte meine Hand auf sein Knie. Es fühlte sich so vertraut und gut an. Das ängstigte mich ein wenig, aber ich wollte auch nicht, dass es endete. „Danke! Trotzdem...“ Er verstand es, auch ohne das ich meinen Satz beenden musste. Ich bin bloß ein Köder. Das war mir vorgestern umso mehr klar geworden, nachdem ich mit dem General über die Spritze gesprochen hatte. Vielleicht war das ja alles bloß ein gemeiner Plan? Um die Wahrheit, welche auch immer das sein sollte, bloßzulegen?
„Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.“ Beschwor, Seratan mich. „Aber wie viel Zeit bleibt dir denn überhaupt noch? Wie ich hörte, wurde dieses schnelle Gerät kaputt, am Zugang zur Oberwelt, gefunden. Aber uns hat man nicht wirklich erzählt, was los gewesen ist.“
In einem ausführlichen Bericht erzählte ich Seratan und Jetan von unserem empfindlichen Problem, woraufhin die Königin, ihrerseits ihre Hilfe anbot.
„Das ist sehr liebenswürdig, von Ihnen. Jedoch bin ich mir nicht sicher, ob Sie uns helfen können. Die Gleise stehen unter elektrischen Spannung, außerdem ist das Tunnelsystem gefährlich beschädigt...“
„Wer, wenn nicht wir, die Evok, können etwas unter der Welt schaffen?“ Grinste Jetan.
Dankbar nickte ich beiden zu. „Ich werde uns da etwas organisieren.“ Zwar war ich mir nicht sicher, ob ich das konnte, doch probieren würde ich es bestimmt.


- - - - -


Eine Stunde später und nach einem kleinen Essen mit der Königin, verließen Jetan und ich das Anwesen wieder. Er bestand darauf, mir etwas zeigen zu wollen. Ich hatte mich überzeugen lassen und folgte ihm nun stromaufwärts, direkt auf den Wasserfall zu. „Ich verspreche dir, es wird dir gefallen.“ Jetan schien sich seiner sicher zu sein.
„Pass auf das es mir nicht zu sehr gefällt.“ Grinste ich frech zurück. „Sonst werdet ihr mich überhaupt nicht mehr los.“
Jetan, welcher eben auf einen rot gefärbten Stein kletterte, reichte mir seine Hand und zog mich mit einem Ruck zu sich hoch. Diese Evok waren wirklich unfassbar stark. Fast schon beängstigten, wenn man gegen sie kämpfen müsste.
„Das wäre auch zu schön.“ Ich kam wieder auf die Beine und blickte Jetan fragend an. Was wollte er mir damit sagen?
„Was denn? Du bist noch überhaupt nicht abgeschreckt von mir? Das überrascht mich.“ Einerseits meinte ich es ernst, andererseits, hoffte ich darauf, dass er wirklich sagen würde, ich solle hierbleiben. Nicht das es irgendetwas ändern könnte.
„Als ob ich von dir abgeschreckt sein könnte, Frost.“
Ich klopfte meine dreckigen Knien ab und nahm wieder Jetans Hand, welche er mir erwartend hinhielt. In der Nähe des Wasserfalls nahm die Luftfeuchtigkeit extrem zu, doch das wunderte mich nicht, bei dieser Hitze. „Verschrei das bloß nicht, sonst nerve ich dich noch mit meinem wahren Charakter.“
Jetan ließ sich nicht beirren, während er mir über die rutschigen Steine half. „Ich kenne bereits deinen wahren Charakter und finde ihn keinesfalls abstoßend.“
Einer unter sieben Milliarden? „Damit bist du ein Unikat, Jetan.“ Ich rutschte aus, doch natürlich hielt mich der Evok sicher fest, bis ich meinen Stand zurückhatte. „Aber jetzt im ernst. Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet.“
Vorhin hatte ich ihn mehrfach gefragt, ob Bynn bedeutet, dass ich die Vermitlerin war, vielleicht hatten sie ja einen neuen Titel für mich erfunden?
„Und ich habe dir gesagt, erst wenn du mit mir an diesem Ort warst.“ >Dieser Ort< stellte sich schlussendlich als Öffnung des Wasserfalls heraus. Zumindest hatte ich so eine böse Vorahnung.
„Wieso kannst du es mir nicht hier unten sagen?“ Wir schafften es über die rutschigen Steine, welche sich um das Ufer des Wasserfalls gebildet hatten und wagten nun den Aufstieg, über offensichtlich absichtlich angelegten Steintreppen. Sie waren hinter dem glatten Stein, des Wasserfalles eingelassen worden, sodass man einige kleine Lichtlöcher hatte machen lassen, um etwas sehen zu können.
„Oh, nein. Wir müssen doch nicht jetzt bis dort hinauf, oder?“
Jetan grinste hinterhältig. „Wenn du schon müde bist, kann ich dich auch tragen?“
Gespielt verärgert, kniff ich die Augen zusammen. „Danke, aber wenn ich Tarzan benötige, rufe ich Jane an.“
Natürlich verstand er den Witz nicht, doch ich ging bereits mit erhobenen Haupt an Jetan vorbei und schaffte es bis über die Hälfte des Weges. Also wirklich... wurden diese Menschen denn niemals müde? Nicht nur, dass wir vom Apartment der Königin, bis zum Wasserfall gelaufen sind, nein wir mussten auch noch dreimal den Fluss überqueren, bloß um dann hinter einer geheimnisvollen Wand zu verschwinden, welche sich endlos nach oben zuziehen, schien.
„Könntet ihr nicht endlich einmal einen Lift erfinden? Das wäre viel einfacher.“
„Aber nicht so körperlich betätigend.“
Jetzt war ich überrascht. „Du weißt, was ein Lift ist?“
Der Prinz nickte. „Natürlich, deine Menschen beklagen sich ja dauernd darüber, dass es in unserer Stadt keine Lifte gibt.“
Oh! Ja, das erklärte einiges. „Und weshalb entwerft ihr dann keine? Also, nicht für uns, sondern für euch selbst?“ Ein Aufzug, ähnlich gebaut, wie ein Rad, das man drehen musste, um sich nach oben zu befördern, würde ja schon reichen.
„Weil uns die Treppen und Rampen reichen. Außerdem reagieren unsere Rappen nicht gut auf Veränderungen.“ Rappen, damit meinte er wohl die Riesenratten. Witzig wie ähnlich die beiden Worte klangen, obwohl die beiden Tiere kaum noch etwas miteinander zu tun hatten. Bei uns sind sie nervige Plagegeister. Hier unten eher Nutztiere.
„Woran denkst du?“ Ich hatte nicht bemerkt, dass Jetan sich eine Stiege unter mir befand und somit beinahe gleichauf mit mir. Jetzt machte mich seine Nähe doch ein wenig nervöser, als sonst und mein Herz drehte nun selbst am Rad.
„Nur daran, wie gleich, aber doch auch unterschiedlich wir sind.“
„Es ist doch gut, Unterschiede zu haben.“ Moment, hatten wir diese Diskussion nicht bereits einmal?
„Ist das wieder ein Test?“ Forderte ich ihn heraus.
Jetan wusste, dass ich auf unser erstes Treffen anspielte. „Vielleicht ist es ja eine Fortsetzung?“ Schlug er vor, kam eine Stufe höher, wobei er meinen Körper absichtlich streifte.
Mein Herz klopfte so laut und schnell, dass ich schon fast den reißenden Lärm des Wasserfalls, nicht mehr hören konnte. Er steckte immer noch voller Überraschungen und schaffte es mich verlegen zu fühlen. Dabei war mir kaum etwas peinlich, was ich von mir gab. Nun, ja außer Estelle, meine beste Freundin, doch sie ist speziell, so wie ich. „Wenigstens sind hier keine Körperfressende Hirnknacker.“
Ich bekam einen fragenden Blick von Jetan zugeworfen, doch offensichtlich wusste er bereits, wann es besser war, nicht nachzufragen. „Wir sind schon fast da.“
Ich lachte. „Sagte er, bevor ihn ein Monster riss.“ Oh, ja. Da war Estelle wieder in meinem Kopf.
„Was ist denn ein Monster?“
„Das kommt immer auf die Auslegung an.“ Damit verwirrte ich ihn nur noch mehr. „Aber derzeit bist du hier das Monster, da du mich einen Wasserfall hinauf jagst.“
Noch bevor Jetan seine Arme ausstreckte, wusste ich alleine dank seines Blickes, was er vorhatte. Jedoch konnte ich nicht ausweichen, ohne die Treppe wieder hinunterzustürzen, daher blieb mir nichts übrig, als erschrocken aufzuschreien. Lachend hielt ich mich an Jetans Nacken fest, als er mich hochriss und mit einem flotten Tempo, in seinen Armen hinauf trug. „Du hast Glück, dass du so groß und stark bist, sonst würde ich dich mit Sicherheit dafür bestrafen.“
Jetan lachte ungläubig auf. „Ach, ja? Das denkst du?“
Gespielt bockig streckte ich ihm die Zunge heraus. „Worauf du Wetten kannst, du Riesenbaby. Wären wir nicht in einem wirklich rutschigen, engen Pfad in einer Wand, hinter einem Wasserfall unterwegs, würde ich es dir schon zeigen.“ Ich streckte mein Kinn hoch, doch wirkte dabei vermutlich bloß noch lächerlicher als bisher.
„Davon gehe ich aus, kleine Kriegerin.“ Schlagartig schien alles still zu werden. Ich fühlte wie ich zusehends verlegener, in Jetans Armen wurde, und mein Herz schien selbstständig die Treppen hoch und hinunter laufen zu wollen, so energetisch schlug es. Er überwand die letzten zehn Stufen und wandten seinen viel zu intensiven Blick, gezwungen, von mir ab. „Wir sind da.“ Verkündete er, doch machte keine Anstalt, mich wieder hinunterzulassen.
Jedoch war ich wirklich froh darüber, denn dank seines Haltes fühlte ich mich wesentlich sicherer. „Ach du heilige...“ Mit offenen Mund, starrte ich von oben, auf den Wasserfall hinab, der meterweit hinunterlief und in einem kristallklaren See landete. Bauschige Wolken hingen vor dem Wasserfall und wäre ich nicht wissenschaftlich gebildet, würde ich schwören, dass es sich hierbei um Watte handelte und hinunter springen, um mich in dem süßen Flausch zu wälzen.
„Es gefällt dir?“ Jetan wirkte überraschend unsicher.
„Ob es mir gefällt?“ Fragte ich immer noch ungläubig. „Es ist... atemberaubend.“ Wegen der Büsche und Sträucher, welche ihren Weg an etlichen Felsspalten erklommen hatten, sah man natürlich bloß einzelne Dunstwolken vor dem Wasserfall hängen. Jetzt jedoch, befanden wir uns auf dem Vorsprung, direkt über dem Wasserfall und man konnte wirklich die ganze Höhle sehen. Von hier, bis auf die gegenüberliegende Seite, wo sich unsere Basis befand. Sogar das bedrohlich instabil wirkende Ziel des Zuges, sah so klein und... unerreichbar aus. Fast schon so fehl am Platz, wie wir Menschen. Unsere Basis, so gut getarnt sie auch schien, ragte wie ein Geschwür heraus. Es ist nichts, was hier entstanden ist, sondern etwas das eingeschleppt wurde. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie wenig wir hier her passten. Die friedlich lebenden Bewohner, die strukturiert wachsenden Pflanzen und die erlesenen Tiere, welche hier unten existierten, hatten ihren Sinn und Zweck. Ihr System, fast schon wie ein eigener Organismus und die Evok waren das Herz dieser Höhle. Ruhig, pulsierend, wie eine Einheit, lebten sie im Zentrum dieses Organismus und kümmerten sich um alle Schwachstellen.
„Du weinst ja schon wieder.“ Vorsichtig, damit wir nicht abstürzten, denn der Absatz war wirklich nicht breit, senkte Jetan sich mit mir auf den moosbedeckten Boden, sodass ich zwischen seinen Beinen saß. Wäre ich nicht gleichermaßen überwältigt, wie auch traurig, würde ich jetzt vor ihm zurückweichen. „Frost?“
Erst als Jetan, zärtlich meine Tränen entfernte, konnte ich mich losreißen. „Entschuldige... mein Kopf, er arbeitet einfach zu viel.“ Das war nicht einmal gelogen.
„Das ist bloß ein Teil der Wahrheit. Bitte... vertrau dich mir an, Frost.“ Jetan konnte einfach viel zu leicht aus mir herauslesen.
Nickend erlaubte ich ihm, sich einen Eindruck aus meiner Sicht zu machen. Mein Blick richtete sich zu der Schönheit dieses Ortes. Da sich unsere Köpfe beinahe gleichauf befanden, legte ich meine Hand an seine Wange, sodass seine andere Wange, an meine Schläfe stieß und er in dieselbe Richtung blickte wie ich. „Siehst du dieses Land, dort unten?“
Er bejahte. „Es ist mein Land, zumindest wird es das irgendwann einmal sein.“
„Siehst du auch diese atemberaubende, einzigartige Stadt, wo alle leben?“ Sie waren nicht gezwungen dort zu leben, da es keine Wetteränderungen, keine Jahreszeitenwechsel, oder gefährliche Jäger gab, konnte sie theoretisch ihre Zeit immer in der Natur verbringen, wann immer sie wollten.
„Von hier wirkt sie so...“
„Leicht zerbrechlich?“ Obwohl die hohen Mauern, ihre erhobenen Schädel bis hoch zur Decke trugen, fest und sicher behüteten sie ihre Einwohner, doch wirkten sie dabei auch wie ein Bienenstock. Sie konnten ihre Einwohner nicht vor allem beschützen. „Jetzt sieh dir das an.“
Mein Blick richtete sich von der Basis, langsam hinüber zur Endstation des Zuges, wo sich einige Leute tummelten. Vermutlich reparierten sie den Schaden, welcher durch den Durchbruch des Zuges entstanden war.
„Das ist dein Volk.“ Stellte Jetan fest. Vielleicht konnte er doch nicht alles sehen, ohne den Hintergrund zu kennen.
„Nein, ich sehe etwas anderes.“ Noch einmal ließ ich meinen Blick, zusammen mit ihm, über diese kleine, doch behütete Welt wandern. „Das alles hier. Ich weiß zwar nicht was, aber die Menschen könnten bestimmt das eine, oder andere hiermit anfangen. Wissenschaftler, können sich hier sesshaft machen und alles studieren, damit experimentieren und ausnutzen, so viel sie nur können.“
Mein Blick schweifte zum gut sichtbaren Zelt, des Generals und den daneben liegenden Krankenstationen. „Hier werden neue Kraftstoffe her gebracht, Waffen befinden sich dort und jede Menge Metall, Plastik und anderer Dreck, wird sich anhäufen. Tourist... Besucher von oben kommen um sich eine ruhige Zeit zu machen, sie trampeln alles nieder, verschmutzen diesen... einzigartigen See und euren Fluss.“ Jetan schwieg, doch ich fühlte, wie er schwer schluckte. „Jetan... wenn wir... falls wir abgeholt werden, werden so wenige Menschen wie nur möglich hier unten bleiben. Das ist die Zeit... in der ihr euch einschließen müsst. Kannst du mir das versprechen?“
Jetan entzog sich meinem sanften Griff und blickte mir forschend ins Gesicht. „Was soll das bedeuten, Frost?“
Das sollte bedeuten, dass wir ein Virus sind. Etwas das sich, selbst gegen den Willen des Wirtes, hier einpflanzen wird, zu einem Geschwür wächst und ausbeutet, was es in diesem kleinen, einzigartigen, Körper zu holen gäbe. „Es bedeutet, dass ihr uns vergessen müsst. Schließt uns aus, bitte Jetan. Vielleicht werden wir nicht in den nächsten Jahr... in nächster Zeit zum Problem, aber irgendwann werden sich die Menschen alleine durch ihre überschwängliche Willenskraft hier unten festsetzen. Sie werden alles erfahren, Jetan. Egal was ihr für Geheimnisse mit euch herum tragt, egal, ob ihr mit uns entfernt verwandt seid... ihr müsst uns alle, wirklich alle Menschen >vergessen<. Selbst wenn einige dafür hier unten zurückbleiben müssten.“
Jetan knirschte hörbar mit den Zähnen, während er seine Beine fester um mich schloss. „Du weißt, was bei uns >Vergessen< bedeutet, Frost.“
Mit zitternden Unterkiefer nickte ich. Auf dieses >Vergessen< zählte ich ja auch. „Jetan, wenn dieser Tunnel noch einmal neu erbaut wird, dann wird er so stabil gestaltet sein, dass nicht einmal mehr die Lava ihr etwas anhaben kann. Verstehst du das?“
Er nickte, doch ich sah ihm an, dass ihm meine Gedanken nicht behagten. Oder viel eher meine Voraussage. „Du weißt, dass ich dich niemals vergessen werde. Es nicht einmal kann.“
Zum ersten Mal wurde mir bewusst, weshalb.
Nein, ich konnte Jetan auch nicht vergessen. Das war unmöglich für mich, dafür saß er zu tief in meinem Herzen und das völlig unerwartet. „Ich dich auch nicht, Jetan.“ Meine Worte kamen bloß noch flüsternd heraus, da der Evok sich vor lehnte und damit die kurze Distanz zwischen uns schloss. So voraussehend er den Kuss auch gestaltet hatte, so überrascht war ich trotz allem, als seine Lippen meine berührten. Ich hatte noch genug Zeit gehabt, um ihn abzuweisen, ihm zu sagen, dass das, was er tun wollte, Unsinn, bloßes Wunschdenken war. Doch ich tat es nicht. Ich wollte es auch nicht tun. Einmal in meinem Leben wollte ich nicht so klug sein und mich auf diesen >wohligen Unsinn< einlassen. Bloß dieses eine Mal.
Jetan schloss seine Arme fester um mich, sodass ich gemütlich an ihm lehnte und ich selbst, legte meine Hand an seine Wange, um den Kuss zu vertiefen. Diese süße Geste hatte nichts Eiliges, nichts Leidenschaftliches. Es ging viel tiefer. Ich fühlte diesen Kuss bis tief unter meine Haut dringen, mich einnehmen und mir noch verdeutlichen, was ich doch für ein riesengroßer Idiot doch war.
Nein, weder Jetan, noch diese Welt würde jemals etwas sein, das ich >Vergessen<, ausschließen würde. Nicht einmal in Betracht könnte ich es ziehen, dafür war mir mein Herz zu wichtig und aus irgendeinem Grund, hatte es entschieden hierbleiben zu wollen, bei Jetan, auch wenn es mein restlicher Körper nicht konnte.


- - - - -


Meine halbe Zeit war um. Der neue Tag brach an, zumindest laut meiner Digitalanzeige, und ich gähnte ausgiebig. Ich hatte die ganze >Nacht< mit Jetan oben, auf dem Vorsprung verbracht. Außer dem Kuss war nichts mehr zwischen uns geschehen. Wir haben uns einfach hingelegt und geredet. Stundenlang habe ich Jetan von meiner Welt erzählt, von meinem eignen Volk, das ich so hinterhältig betrog. Im Gegenzug ließ er mich in seinen Armen einschlafen und auch wieder erwachen. Seit ich mich hier unten befand, hatte ich nie besser geschlafen und ich wusste, ich würde es auch nie wieder.
Gegen meinen Willen hatte sich mein Körper an diesen anderen, viel besser angepassten, gewöhnt und für sich beansprucht. Das war es dann auch wohl, was eine Bynn ausmachte. Eine Gefährtin, eine geliebte Person, für die man den Rest seines Lebens, sein Herz und seinen Körper geschenkt hatte. Ob man es wollte, oder auch nicht. Eigentlich ergab es überhaupt keinen Sinn. Jetan lebte Kilometer unter der Erde, tief unter Afrika, verborgen unter dem südatlantischen Ozean und ist für die Zukunft, unerreichbar geworden. Hätte ich früher gewusst, wer hier in dieser zauberhaften Welt auf mich wartete, hätte ich niemals sechs Tage damit verschwendet zu hoffen, dass diese aufkeimenden Gefühle, nichts weiter als Aufregung vor dem >Neuen< waren.
„Du bist wach. Ich wusste nicht, dass Menschen so lange schlafen.“ Ich hatte noch nicht einmal meine Augen geöffnet, doch sobald Jetan bemerkte, dass ich erwache, zog er mich fester an seinen Körper, auf dem ich mich genüsslich ausstreckte.
„Entschuldige... aber ich konnte bisher, bei dieser Affenhitze nicht schlafen.“
Immer noch hatte ich meine Augen geschlossen, doch fanden seine Lippen meine ohne Umschweife. „Auf das hast du mich ziemlich lange warten lassen.“ Murrte er, gespielt beleidigt und luchste mir gar noch einen ab.
Schmunzelnd öffnete ich die Augen und hörte deutlich, wie Jetan die Luft tief einsog. Ich wurde rot und fühlte mich plötzlich etwas unwohl. „Entschuldige... für einen Moment dachte ich wirklich, ich träume noch.“
Ich erhob mich von seiner Brust und setzte mich auf. Kurz rieb ich mir den Staub von den Armen, da bekam ich erneut einen Kuss, einen etwas längeren, welcher meinen Kopf leicht nebelig machte. Oder war es der Dunst dieser Welt, der sich in meinem Kopf langsam einnistete? Jedenfalls bekam ich nach diesem Kuss mein dämliches Grinsen nicht mehr fort. „Ich weiß nicht, wie träumen aussieht, aber die Realität sieht wunderschön aus. Sogar nach dem Aufstehen und wenn sie verlegen ist.“
Lachend schob ich Jetan weg und wandte mein glühendes Gesicht ab. „Auch wenn...“
„Oh! Nein! Du sagst jetzt nicht, dass es atemberaubend war, deinen so genannten >Schlaf< mit mir zu verbringen, aber das wir zu unterschiedlich sind. Oder aus verschiedenen Welten. Das ist mir...“
Die Augen verdrehend, kam ich auf die Beine und Jetan folgte mir geschmeidig, wie immer. „Halt die Klappe, du Riesenbaby.“ Schimpfte ich lächelnd, zog ihn zu einem erneuten Kuss zu mir hinab und genoss es, wie er meinen Körper an seinen zog. Es fühlte sich so richtig, so vertraut an. Mehr als glücklich, blickte ich zu Jetan auf. Seine blassgrauen Augen sahen so liebevoll zu mir herab, dass ich ihn am liebsten in einen Koffer gepackt hätte und mit hinauf geschmuggelt, in meine Welt. „Ich wollte eigentlich sagen, dass ich diesen Ausblick ja wirklich sehr genieße... aber ich habe auch Hunger.“ Und vor allem Durst.
Erleichtert seufzte Jetan. „Deinetwegen werde ich noch schneller altern.“
Fragend zog ich eine Augenbraue hoch. Bisher waren mir noch keine alten, faltigen, oder grauhaarigen Evok aufgefallen. „Es gibt alte Leute bei euch?“
Mit einem mysteriösen Schmunzeln entließ mich Jetan, aus seiner Umarmung. „Ich dachte, du hast Hunger?“
Empört stemmte ich die Arme in die Hüften. „Ich hasse es, neugierig zu sein! Erzähl es mir!“ Forderte ich, doch Jetan verschwand bereits in den Höhleneingang. Ich folgte ihm auf den Schritt und sprang auf seinen Rücken. Überrascht drehte er seinen Kopf, soweit er konnte.
„Was machst du denn?“
„Eigentlich wollte ich dich ja die Treppe hinunter schubsen, aber dann dachte ich mir, dass ich dich lieber erwürge.“
Laut lachend, legte Jetan seine Arme unter meinen Hintern, jedoch ohne mich ungebührlich dabei zu berühren, und trug mich tatsächlich den ganzen Weg hinunter. Was für ein Service!
„Ich freue mich, dass du so energiegeladen bist. Eigentlich dachte ich, dass du mit mir >das Gespräch< würdest führen wollen.“
Seufzend legte ich mein Kinn neben seinem Hals ab. „Das würde ich ja auch gerne, aber nicht jetzt. Dafür haben wir noch so viele Tage.“
Ich sah sein stolzes Lächeln und fragte mich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, seinen Kuss zu erwidern. Seltsamerweise mochte ich Jetan. Mehr, als ich mir hatte eingestehen wollen. Jetzt jedoch fragte ich mich... wieso ich?
Am Ende der langen Steintreppe ließ Jetan mich wieder hinunter und wir liefen nebeneinander her. Fast schon wirkte es normal. Jetan und ich, hier >Unten<. Ich kam mir nicht seltsam vor. Man grüßte mich respektvoll und ich wirkte, ganz ohne Sarkasmus zurück.
Ja, ich hatte es verloren. Eindeutig. Ich wusste nicht wann, oder wieso? Doch ich wusste, hier ist der Ort, an den sich mein Herz, mein Körper und meine Gefühle immer hinsehen würden. Es ist der Platz, an den ich gehöre. Ganz ohne Vorurteile, ohne Hindernisse.
Wir erreichten die Stadt und Jetan hauchte mir einen letzten Kuss auf die Lippen. „Wir sehen uns später?“ Glücklich blickte ich auf, in seine hoffnungsvollen, wunderschönen Augen und seufzte tief.
„Versprochen.“ Damit machte ich mich auf, zurück zu meiner Basis, um mich zu duschen, doch vorher musste ich dringend etwas in den Magen bekommen.

Sehnsucht nach der Heimat

Heute war der siebente Tag, welchen ich unter der Erde, im Reich der Evok verbrachte. Mit jedem Tag war mir aufgefallen, dass sich etwas weniger Wissenschaftler in der Kantine einfanden, doch umso mehr sich in der Basis tummelten. Anfänglich dachte ich mir nichts dabei. Gestern hatte ich die sich leerende Kantine ebenfalls ausgeblendet, doch heute war es anders... Alles schien ein wenig anders geworden zu sein.
Die, normalerweise, müde scheinende Kantinenfrau, war nicht mehr da. Stattdessen hing ein Schild, das sagte, man solle sich selbst etwas zusammenstellen, was drei Männer auch im Moment taten. Einer schimpfte mit dem billigen Gasherd, ein zweiter verlor irgendetwas in einem Kanal.
Langsam kam ich auf die drei Männer zu, die einzigen, die sich hier befanden. „Guten Morgen.“ Wünschte ich ihnen.
Sie blickten bloß kurz von ihrer Arbeit auf, grüßten zurück und taten dann mit dem weiter, womit sie im Moment beschäftigt waren. „Schlafen heute alle länger?“ Scherzte ich, in der Hoffnung ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
Ein Dunkelhäutiger antwortete mir in gebrochenen Englisch. „Die meisten sind bereits krank. Es werden nicht mehr viele kommen.“
Stimmt, die erste Woche war um. Ich hatte allgemeines Husten und einvernehmliche schwere Atmung bemerkt, doch konnte schlecht etwas dagegen tun. Medizin war eben nicht unbedingt mein Lieblingsfach.
„Sind wirklich schon so viele betroffen?“ Die Mehrzahl hatte ihre Arbeit fortgesetzt, als wäre nichts Geschehen, viele hatten auch am Problem mit den Gleisen gearbeitet, doch soviel ich wusste, konnte man den Schutt kaum abtragen, da die Arbeiter zu schnell außer Atem kamen.
Einstimmig nickten die drei Männer. „Ich arbeite eigentlich auf der Krankenstation.“ Betonte derjenige, welcher auf den Knien hockte und mühsam seinen Arm in den Kanal steckte. Irgendwie hatte ich Angst >die< Frage zu stellen, was genau er da suchte. „Derzeit gibt es aber nicht wirklich etwas zu tun, außer abzuwarten.“ Bis alle es hinter sich gebracht hatten. Ich verstand.
„Habt ihr schon welche fesseln müssen?“ Fragte ich besorgt. Wie konnte ich bloß mein eigenes Volk, so grausam es auch sein konnte, bloß vergessen?
„Ja, die Dreiwöchigen. Jetzt können sie niemanden mehr schaden, doch zerkratzen sich selbst, wo sie nur können.“
Zuerst litt man an schwachem Asthma, danach wurde die Atmung schwieriger und zum Schluss begannen die Betroffenen verrückt zu spielen. Sie wurden paranoid, erlitten Schlaganfälle, oder versanken auch in ihrer eigenen kleinen Welt, bis ihnen die Lichter ganz ausgingen.
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich daran dachte, bloß noch eine Woche zu haben. Sieben Tage, bevor auch mir die Atmung wieder schwieriger fallen würde. „Jetan...“ Stieß ich hervor, vergaß auf meinen Hunger, denn dieser war mir vergangen, und lief den Weg zurück, den ich eben noch gekommen war.
Zwar waren meine Beine strikt dagegen und meine Lunge rebellierte, nachdem ich die Stadt verlassen hatte und zum beinahe zentralsten Gebäude gelaufen war, doch ich zwang mich weiter. Die Zeit! Nein, meine Zeit! Ich hatte es vollkommen verdrängt. Ständig hatten sich meine Gedanken darum gedreht, dass mich dieses Volk, diese Höhle fasziniert und aus irgendeinem Grund auch anzog.
Doch dann war da noch Jetan! Seine Art, sein Lächeln, einfach alles von ihm, ließ mich vergessen, dass ich doch eigentlich überhaupt nicht hier her gehöre. Natürlich sprachen die anderen Wissenschaftler nicht mit mir über ihre Sorgen und die Evok behandelten mich, als gehöre ich schon immer hierher. Dank diesem Verhalten, von beiden Seiten, hatte ich es verdrängt. Sie durch meine Finger sickern lassen, ohne mich groß darum zu scheren, ob nebenbei einige bereits starben.
Wie viele hatten das Zugunglück überlebt? Vier? Mit mir fünf. Gerade einmal ein Drittel, doch bloß ein Prozent davon, konnte hier herumlaufen. Der derzeitige General, dieser Basis, lag ebenfalls im Sterben. Es war nun seine dritte Woche hier unten und Asthma war sein kleinstes Problem. Er würde nun verrückt werden.
Fünf Tage. Bloß fünf verdammte Tage hatte ich hier aktiv verbracht. Hier, Kilometer unter der Erde. Frei, von meinen Sorgen. Frei davon, ausgeschlossen zu sein. Frei davon, mich anders zu fühlen. Glücklich, ich selbst sein zu können. Und das Beste an allem?
„Jetan!“
Ich erwischte ihn, als er gerade aus dem Hauptgebäude kam, gefolgt von seiner Assistentin und seinem Berater. Er hörte mich nicht, dafür war ich noch zu weit weg, doch schien er mich aus dem Augenwinkel zu sehen und mehr benötigte es auch überhaupt nicht mehr.
Jetan wandte mir einen besorgten Blick zu, erkannte dass ich weinte und ließ die Kiste fallen, welche er eben noch getragen hatte. Ohne etwas zu erklären und vor allem, ohne zu zögern, kam er mir mit langen Schritten entgegen, öffnete seine Arme und ich krachte im vollen Lauf gegen seinen Brustkorb. Aber anstatt mir wehzutun, oder eine weitere Quetschung davonzutragen, riss er uns herum und glich damit meinen Schwung aus. Somit stand ich nun mit dem Rücken, zu den anderen beiden Evok, die verwirrt ihrem Prinzen hinterher sahen. Eigentlich sollte ich mir lächerlich vorkommen. Mich einem Mann, wie ein kleines Kind in die Arme zu werfen! Wer tat denn so etwas und das auch noch in meinem Alter! Verdammt, ich bin bereits achtundzwanzig!
„W-Was ist passiert, Frost? Was ist los?“
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da Jetans besorgter Blick, mir den wertvollsten Muskel, in meinem gesamten Organismus zusammen zog, schloss ich ihn wieder, zog hörbar auf und wischte meine Tränen verlegen weg. Nein, ich konnte ihm doch nicht so etwas sagen. Ihn manipulieren, indem ich damit drohte, sterben zu müssen.
Kurzerhand zog ich ihn die restlichen Zentimeter zu mir herab und legte meine Lippen auf seine. Zuerst schien es, als würde er meinen Kuss nicht erwidern wollen, doch zu meiner Überraschung hob er mich an der Taille hoch, sodass wir gleichauf waren. „Für was war der denn?“ Fragte er, nachdem ich den langen Kuss beendet hatte.
„Weil ich vergessen habe, ihn dir zu geben.“ Grinste ich und sah, wie Jetan regelrecht unter mir dahinschmolz. Jedoch nicht sonderlich lange, denn er durchschaute mich.
„Du lügst wieder, zum Teil.“ Warf er mir vor, doch konnte nicht aufhören stolz zu lächeln. Oder war es eher ein verliebtes Grinsen?
„Das... Das liegt bloß daran, dass ich... dir nichts aufhalsen möchte.“
Jetan entließ mich auf meine eigenen beiden Beine und legte den Kopf schräg. „Was meinst du, Frost? Was möchtest du nicht?“ Ich erkannte die Unsicherheit in seinem Gesicht.
„Jetan... das...“ Ich deutete zwischen uns. „Ist das wirklich?“
„Was >das<?“
„Zwischen uns... >das<“ Ich zog ihn für einen weiteren Kuss herab, der uns beide für einen Moment seufzen ließ. Nichts fühlte sich besser an.
„Das fragst du auch noch?“ Jetan wirkte beinahe beleidigt.
„Nun, ja... es wäre ja nicht so... Und...“
Jetan legte seine Hände auf meine Wangen und hob mein Gesicht, sodass ich seinem forschenden Blick nicht ausweichen konnte. „Du zweifelst. Aber weshalb? Habe ich dir irgendeinen Grund dafür gegeben? Irgendeinen, den ich nicht verstehe?“
Ich schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er wirklich nicht. Er gab mir nicht eine Sekunde das Gefühl, das er es nicht ernst meint. Eigentlich war viel eher ich diejenige, die zweifelte. „Nein, ich bin es, die zweifelt, Jetan. Einfach,... weil ich es nicht glauben kann... es nicht glauben möchte. Ich lebe oben, über dem Mantel der Erde. Jetzt sind bereits sieben Tage um und ich habe bloß sieben weitere...“ Ich erkannte, dass die Zeit für Jetan selbstverständlich keinen Sinn gab. Kurzerhand nahm ich meine Uhr vom Handgelenk und stellte meinen Timer auf sechs Tage und vierzehn Stunden, denn die Würden reichen, um ihm zu demonstrieren, wie wenig Zeit noch blieb. Für mich. Für uns beide...
„Hier.“ Ich legte die Digitaluhr in seine geöffnete Hand. „Das ist ein Timer. Er zeigt an, wie lange ich noch Zeit habe, bevor meine Atembeschwerden beginnen werden. Bleibende... Atembeschwerden, Jetan. Wenn der Timer auf Null ist, werde ich krank nach Hause zurückkehren. Dann läuft mein Leben in weniger als diesen sechs Tagen dahin und ich werde... nicht mehr die sein, die du kanntest und sterben.“
Ich hörte Zähne knirschen, doch seine Gesichtszüge änderten sich nicht. „Wieso läuft das so schnell, Frost? Diese letzten Zahlen? Sie laufen viel schneller, als die anderen.“
„Das sind die Sekunden.“ Jetzt standen sie bei siebzehn. „In siebzehn Sekunden wird wieder eine Minute vergangen sein, dann schaltete diese Anzeige um eines hinunter.“ Abermals knirschte etwas hinter seinem stark gespannten Kiefer. „Und wenn sechzig von diesen Minuten um sind, ist eine weitere Stunde vergangen. Vierundzwanzig von diesen Stunden und ein ganzer Tag ist um.“
Langsam schien wieder Bewegung in Jetan zu kommen und er blickte mich verzweifelt an. „Aber wenn wir sie kaputt machen... diese Uhr. Dann rinnt die Zeit nicht weiter. Dann hast du so viel Zeit, wie du brauchst, oder?“
Gerührt schüttelte ich den Kopf. „Nein, Jetan. So funktioniert die Zeit leider nicht. Sie ist nicht bloß eine Zahl auf der Uhr, sie ist etwas, das sich überall befindet. Wenn die Strömung des Wasserfalls stärker wird, dann ist wieder Zeit vergangen. Dann sind Wochen vergangen, Jetan. Wenn ein voll ausgewachsener Strauch, aus einem kleinen Samen gesprossen ist, dann sind Jahre vergangen.“
Langsam schien Jetan zu dämmern, wovon ich da sprach. „Das bedeutet, dass es nicht einfach bloß eine Richtlinie von euch Menschen ist? Es ist wirklich etwas... das existiert?“
Ja zu sagen, wäre falsch, doch ich wusste nicht, wie ich es ihm sonst erklären sollte. „Ja. Jedes wertet das Folgende auf. Sechzig Sekunden machen eine Minute. Sechzig Minuten, eine Stunde. Vierundzwanzig Stunden machen einen Tag. Sieben Tage sind eine Woche und vier Wochen ein Monat und wenn zwölf dieser Monate um sind, ist ein weiteres Jahr vergangen. So war es schon immer Jetan, bloß da ihr hier unten keine Tageszeiten besitzt, oder gar Jahreszeitenwechsel, fällt es euch einfach nicht auf. Ihr habt keinen Regen, keine tosenden Stürme, keinen Schnee oder sogar Eis. Bei euch ist es immer... wie wir es nennen würden, Sommer und immer hell. Unsere Welt kann, zumindest eine Hälfte, dunkel werden, sodass wir die Sterne sehen, welche Milliarden von Kilometer entfernt sind. Dass was ihr hier unten habt, ist nicht einmal ein Bruchteil davon, was es im Weltall, also außerhalb der Erde gibt.“
Jetan verstummte, blickte auf die Uhr zurück und knirschte noch einmal mit den Zähnen. „Ich werde nicht zulassen, dass sie dich holt, Frost. Niemals wieder.“ Ich verstand zwar nicht was das bedeuten sollte, doch in weniger als zwei Stunden später, stand Jetan mit einigen seiner besten Bauarbeiter vor dem Tunnelsystem, meine Uhr trug er ab diesem Zeitpunkt immer nahe bei sich.


- - - - -

 

„Erzähl mir mehr.“ Ich saß am Eingang des Tunnels, mein müder Kopf, wurde von einem gelben Sicherheitshelm geschützt, genauso wie der von Jetan, wobei es bei ihm unglaublich lustig aussah. Gelb war definitiv nicht seine Farbe. Geschickt ließ ich die kühl gelagerte Wasserflasche zwischen meinen Händen rotieren, bis sie mir hinunter fiel, dann hob ich sie wieder auf, oder sie rollte zu Jetan, welcher sie mir abermals reichte.
„Was willst du denn noch hören?“ Grinste ich.
„Noch mehr über deine Welt. Du erwähntest tosende Stürme?“
In den letzten Stunden, es war bei uns bereits später Abend, doch ich wollte nicht vom Tunnel weggehen, während Jetans Volk darin arbeitete. Sie sind noch immer nicht zurück und wir beide machten uns große Sorgen. Ein kleiner Trupp an Menschen ist ihnen gefolgt, drei Soldaten und zwei Wissenschaftler, doch sie waren ebenfalls noch nicht wieder zurück. Von der Basis her, konnte man gut auf den Ausgang des Tunnels sehen, daher vermieden Jetan und ich es, uns zu nahezukommen. Jetan war es zwar egal, doch wir beide wussten nicht, was die Menschen über uns beide sagen würden. Sie konnten es einfach nicht verstehen, vermutete ich.
„Als ein >Sturm< werden Winde bezeichnet, die mindestens neun Beaufort aufbringen...“ Ich erkannte, dass ich schon wieder unverständlich sprach. „Okay, Einfacher. Es gibt Bewegungen in der Erdatmosphäre. Du kannst sie nicht sehen, doch selbst erzeugen.“ Ich hob mein Kleid an und fächerte mit dem Saum, damit >Wind< entstand. „Das kennt ihr bestimmt.“
Jetan nickte. „Ja, das fühlen wir auch, wenn wir schnell laufen.“
Ich lachte. „Genau! Aber es gibt oben Winde, die viel, viel Stärker sind. Wenn der Wind über siebzig Kilometer in der Stunde zurücklegen, dann spricht man von einem Sturm. Er kann so reißend sein, dass er Gegenstände mit sich reißt. Zum Beispiel, diese Wasserflasche.“ Ich warf ihm meine Flasche zu, die er geschickt auffing. „Ein Sturm kann auch so stark werden, dass er Türen aufreißt, Stühle anhebt, den stillsten See in einen reißenden Ozean verwandelt...“
„Das klingt ja furchteinflößend! Dann könnte ein Sturm sogar einen ganzen Menschen mitreißen?“
Ich nickte. „Da lernen sogar Kühe das Fliegen.“ Jetan verstand den Witz nicht, doch ich lachte und genoss die eigene Aufheiterung. „Jedoch wenn ein Sturm einen Truck, oder einen Menschen aufhebt, dann ist das bereits ein Tornado. Zu diesen Stürmen regnet es sehr viel, dunkle Wolken, so wie die, welche man über dem Wasserfall sieht, nur in einem schaurigen Grau, bedecken den Himmel, Blitze zucken über den Himmel und wenn sie auf die Erde treffen, ertönt ein Donnern, das weite Kilometer noch hörbar ist.“
Jetzt kroch Jetan ein gerechtfertigter Schauder über den Rücken und er rieb sich die Arme. „Und in so einer Welt lebst du? Das klingt grauenhaft.“
Seufzend lehnte ich mich zurück und streckte meine Beine aus, wobei ich mir durchaus bewusst war, dass Jetan diese Chance nutzte um seine Beine, an meine zu lehnen. „Nein, eigentlich ist es wunderschön. Zumindest, wenn du dich nicht mittendrin befindest.“ Ich kicherte und spürte Jetans Blick über meinen Körper gleiten. „Es gibt Dinge... Lebewesen, die viel schauriger sind, Jetan. Das kann ich leider nicht bestreiten. Es gibt Monster. Dunkle Geheimnisse und mehr als genug Lügen.“ Ich sah vor meinem inneren Auge die vielen Obdachlosen, zahlen von verhungernden Menschen tagtäglich und Schmutzberge, die langsam zu richtigen Riesen werden. „Wir haben Meere, solche Seen, wie ihr einen habt, nur tausendmal größer. Sie nehmen einen Großteil unserer Erde ein, doch trotz all ihrer Tücken, befahren wir sie mit Schiffen. Wir bezwingen Berge, sprengen sie wenn nötig. Roden Wälder um Papier zu erzeugen, und schaufeln nach einer Substanz, die wir Öl nennen.“ Ich schwieg einen Moment und Jetan schwieg mit mir. Er wartete, dass ich weiter sprach.
„Trotzdem ist es ein schöner Ort, Jetan. Ich wünschte, ich könnte es dir einmal zeigen. Nachts die kleinen hellen Sterne am Himmel.“ Ich lehnte mich auf dem Stein zurück und blickte hoch, wo die vielen Leucht-Dinger waren, zu denen die Wissenschaftler noch keine Möglichkeit gehabt hatten, sie zu erreichen. „Wunderschöne, bunte Blumen, Bäume die so hoch sind, wie eure Bauten, Kliffe mit so vielen schönen, bunten, einzigartigen Fisch... Lebewesen.“ Ich seufzte, als mich das Heimweh packte. Trotzdem sind wir im Begriff, das alles zu zerstören. Was ist mit unseren Kindern? Den Kindeskindern? Sollen sie die Schönheit unserer Erde denn nicht mehr erleben dürfen? Wie egoistisch!
Ich merkte überhaupt nicht, wie ich einschlief, erst als Jetans Finger, zärtlich über meine Wange und meine Unterlippe strichen, schreckte ich auf und blickte in die schönen rauchgrauen Augen, meines Evoks. Ich wünschte, ich könnte jeden Tag so erwachen. Spüren, wie Jetans süßen Lippen meinen erschöpften Körper wach küssten, seine kräftigen, doch liebevollen Hände über meinen Hals strichen, oder mit meinem Haar spielte.
Sehnsüchtig streckte ich meine Hände aus, als Jetan den Kuss beendete und etwas sagen zu wollen schien, doch ich zog ihn wieder zu mir herab und küsste ihn weiter. Auffordernd leckte ich über seine leicht rauen Lippen, woraufhin mich seine eigene Zunge erwartend empfing. Mein Evok senkte sich wieder herab zu mir, sodass sein Körper auf meinem lag, doch ohne mich zu beschweren. Zärtlich presste er unsere beiden Körper aneinander, was bei dieser stehenden Hitze, nicht wirklich vorteilhaft war, doch es fühlte sich einfach viel zu herrlich an, als das wir es beenden wollten. Auch seine Hände, die neugierig meinen Körper entlang strichen, lockten mich aus meinem Schlaf hervor, sodass ich langsam gänzlich wach wurde und verschmilzt, zu Jetan hoch grinste. Wieso trug ich hier unten immer dieses dämliche Grinsen? Eigentlich sollte es mir peinlich sein, doch in Jetans Nähe, fühlte es sich so gerechtfertigt an. „Daran könnte ich mich gewöhnen.“ Flüsterte ich glücklich.
Jetan küsste mich abermals, dann zog er sich eilig zurück. „Sie sind da.“ Stieß er noch hervor, dann stand er gut drei Schritte von mir entfernt und wirkte mindest so verlegen, wie ich selbst.
Räuspernd, um meine Stimme wiederzufinden, setzte ich mich auf und richtete meine Haare eilig. „Jetan! Frost!“ Die fünf Evok nickten uns respektvoll zu, doch schienen zu ahnen, dass sie in etwas hineingeplatzt waren. Die fünf Menschen, die hinter den Evok dahin schlichen, sichtlich erschöpfte Menschen, bemerkten überhaupt nichts, außer die bereitgestellten Wasserflaschen, über die sie sich hermachten.
„Wie sieht es aus? Könnt ihr etwas tun?“ Fragte ich sofort, doch entschuldigte mich sofort wieder. „Entschuldigt. Ich war zu voreilig.“
Jetan grinste verstehend und nickte dem zuständigen Evok zu, dass er meine Frage beantworten solle. Dem schien mein Verhalten überhaupt nicht zu stören, er grinste sogar belustigt. „Den Zug können wir nicht mehr retten, sollte noch etwas übrig sein, dann hat es der Fluss mitgenommen, da sind wir machtlos.“
Ich nickte dankbar. Aber der Zug war mir ehrlich gesagt, ziemlich egal. „Und der Tunnel?“
„Er ist eingestürzt, wie weit, können wir nicht sagen, da es zwischen dem Einsturz und unserer Seite, ein großes Loch gibt.“
„Die Gleise sind scheinbar noch in Ordnung, sie halten, solange sie nicht belastet werden.“ Mischte sich nun ein Wissenschaftler ein. „Wenn wir die Kluft überbrücken könnten, mit irgendetwas, können wir die Steine einfach in den Fluss hinunter werfen und müssten sie nicht hinaus tragen.“
Begeistert klatschte ich. „Das bedeutet, sie können uns, sobald wir die Steine entfernt haben, abholen kommen?“
Einstimmig nickten Evok, wie auch Menschen und beide Völker warfen sich ein erleichtertes Lächeln zu. Ich selbst blickte zu Jetan, der aussah, als würde er mich in seine Arme schließen wollen, doch ich legte bloß meine Hand auf seinen Oberarm und lächelte dankbar zu ihm auf. „Danke Jetan. Dafür das du hilfst.“ Mein Blick glitt zu den anderen Evok. „Und auch euch. Vielen Dank.“ Jetzt bestand doch die Hoffnung, dass es einige wenige Überleben.
„Komm jetzt, Frost. Du musst wieder etwas essen.“ Jetan nahm meine Uhr aus seiner Bauchtasche und blickte darauf. Langsam wirkte er wie besessen von der Zeit, doch wollte ich ihn nicht damit aufziehen. Er machte sich eben Sorgen. Große sogar.
An der Basis zurückgekommen, fuhren die drei Soldaten, zwei Wissenschaftler, Jetan und ich, mit dem Truck zurück, wobei ich fuhr, da die anderen fünf zu erschöpft waren und Jetan bloß meinetwegen einstieg.
In der Stadt machte ich allen etwas zu Essen, für ihre Mühen, was sie dankbar seufzen ließ. Sie waren sogar zu erschöpft, um abzulehnen, dass ich für sie arbeitete.
„Es werden immer weniger Menschen hier in der Stadt.“ Sellte Jetan fest, welcher neben mir den Teig rührte, so wie ich es ihm gezeigt hatte. Auch daran könnte ich mich ernsthaft gewöhnen.
„Ja, ich weiß. Viele liegen im Sterben, sie werden künstlich ernährt. Andere sind zu erschöpft um hier her zu kommen, die Fittesten, nehmen den anderen etwas mit, wenn sie herkommen.“
Für einen Moment schwieg Jetan, zumindest so lange, bis der Teig fertig gerührt war und ich den ersten Löffel in die heiße Pfanne goss. „Das heißt, in wenigen Tagen werden überhaupt keine Menschen mehr her kommen, oder?“
Ich nickte betrübt. „Wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen...“ werde auch ich nicht mehr hier her kommen. Ich sprach es nicht aus, doch wusste, dass er mich verstanden hatte, denn Jetan legte unbemerkt seine Hand um meine Taille und streichelte mich liebevoll.
„So weit wird es nicht kommen. Dafür werde ich sorgen, Frost.“ Ich lachte dankbar. Was wollte er denn machen? Die Steine mittels Telekinese bewegen?
Die ersten Evok waren bereits in den Tunnel gegangen um mit der Verbindung zum verschütteten Teil herzurichten. Wir würden ihnen später folgen.
„Was willst du denn machen? Die Steine dazu zwingen wegzulaufen? Willst du husten und Pusten, bis sie schreiend weglaufen?“
Jetzt lachte Jetan auch. „Ich wünschte, das könnte ich. Das wäre wirklich imposant.“
Ich stieß ihn mit der Hüfte an und grinste zu ihm hoch. „Du bist auch jetzt schon imposant genug, Prinz Jetan.“
Für einen langen Moment blickten wir uns sehnsüchtig an, doch als ich merkte, dass Jetan vorhatte mich zu küssen, blickte ich zurück auf den bereits teilweise fertigen Teig. „Sie können uns sehen.“ Flüsterte ich leise, um mein Verhalten zu erklären.
„>Sie< beobachten uns schon, seit wir weggegangen sind. Ich glaube sie ahnen bereits etwas.“
Tatsächlich? Verhielten wir uns etwa so auffällig? Bisher hatten wir uns kein einziges Mal berührt, außer wenn ich Jetan etwas übergeben hatte, oder umgekehrt. „Wodurch denn? Wir sind vorsichtig.“ Ich blickte nicht auf, doch fühlte, wie Jetan sich neben mir hinab beugte, um mir ins Ohr zu flüstern.
„Manches kann man nicht verbergen, egal wie gut man es versucht. Es ist einfach zu offensichtlich.“ Mein Herz schmolz vor Freude und ich konnte nicht mehr verhindern, ihn liebevoll anzulächeln. Nein, manche Dinge waren einfach zu offensichtlich.
Bevor ich etwas erwidern konnte, verschwand Jetan mit den bereits fertigen Pfannkuchen und brachte sie den hungrigen Menschen. Sie bedankten sich begeistert und jeder schnappte sich eines, sodass Jetan mit dem leeren Teller wieder zurückkommen konnte. Jetzt waren sie definitiv abgelenkt.
„Was hältst du davon, wenn wir kurz zum See gehen, bevor wir den anderen folgen. Ich könnte ein Bad gebrauchen.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte ich zu Jetan hoch. Lud er mich etwa zum Baden ein? „Was soll das denn für eine Anspielung werden?“ Kicherte ich.
„Anspielung?“ Jetan schien nicht zu verstehen, was ich meinte. „Wir baden oft im See. Er ist sauber, dir kann nichts passieren und es gibt auch keine Monster.“ Versicherte er mir, was mich nur noch mehr zum Lachen brachte.
„Okay, okay. Überredet.“ Es gab keine Lebewesen im See und auch keine großartig bedenkbaren Bakterien, so viel wir wussten. Wieso also nicht? Meine Unterwäsche konnte ich als Badekleidung nehmen, es war nicht viel anders. „Aber wir bleiben nicht lange, sonst komme ich überhaupt nicht mehr nach Hause.“ Jetan lenkte mich definitiv zu viel ab.
„Keine Sorge. Ich schwöre dir, dass du gesund nach Hause kommst.“ Ich fühlte einen süßen, flüchtigen Kuss auf meiner Wange, dann verschwand Jetan auch schon, grinsend, zu den Menschen um sie nach ihren Meinungen zu befragen. Schmunzelnd sah ich ihm hinterher. Wenn er so etwas sagte, glaubte ich ihm das sogar.

Sehnsucht... nach dir

Es dauerte drei weitere Tage, bis die Evok es endlich schafften. Sie gruben uns einen Weg durch den gefallenen Stein. Anfänglich hatten die Menschen noch fleißig geholfen, aber mittlerweile gab es mehr Kranke und Tote, als diejenigen, die helfen konnten. Ich half dort, wo ich konnte, insofern es Jetan zuließ. Immer wieder fing er mich ab und lockte mich zu ein, oder zwei Stunden mit ihm, sodass es zu einem kleinen Ritual zwischen uns beiden wurden. Einmal wurden wir von einem Evok erwischt, der uns grinsend zuzwinkerte und sich höflich wieder verzog. Peinlich berührt hatte ich flüchten wollen, doch Jetan hatte seine ganz eigene Überredungskunst. Oder vielleicht war ich einfach bloß zu leicht zu beeinflussen. Zumindest, wenn es um Jetan ging.
Nun war es soweit. Unsere Funkverbindung funktionierte endlich wieder. Als Erstes, da ich derzeit dank meiner großen Klappe die Führung übernommen hatte, gab ich die Todesfälle durch. Einige andere Dinge wollten sie ebenfalls wissen, doch allzu viel konnten sie nicht fragen, da Jetan mich so gut wie überall hin begleitete. Jedem anderen wäre ich dafür längst angestiegen, doch nicht meinen Evok.
Die rothaarige Frau, Anna Hofer, welcher mir schon vor fast zwei Wochen als Dolmetscherin gedient hatte, saß in ihrem eng sitzenden Kostüm und ihr Blick zuckte ständig zu dem Evok hinter mir. Offenbar hatte sie noch nie einen gesehen, oder aber es gab andere Gründe. Immerhin sah Jetan wirklich heiß aus, zumindest meiner Meinung nach und mein Körper konnte dies keineswegs abstreiten. „Senator Efolson würde Sie gerne noch unter vier Augen... entschuldigen Sie, sechs Augen sprechen, Professor Frost. Denken Sie, dass sich das einrichten ließe?“
Der Evok schräg neben mir, verschränkte bedrohlich seine Arme vor der Brust. „Gibt es etwa immer noch Geheimnisse zwischen den Evok und den Menschen? Sie sollten niemals vergessen, wer Ihren Leuten den Zugang nach oben ermöglicht hat!“
Ja, das war mein Jetan. Ganz Diplomat und Prinz in diesem Moment.
„Nein, nein.“ Lachend winkte Miss Hofer ab und man sah ihr an, dass sie sich unwohl in ihrer Haut fühlte. Natürlich wollte sie keine möglichen Beziehungen zu diesem Volk ruinieren. Das würde ihr den Ruf und die Stellung kosten. „Eigentlich wollte Senator Efolson bloß nachfragen, ob das Paket auch sicher angekommen ist?“
Auffordernd blickte sie mich an. Ich warf einen Seitenblick zu Jetan und fühlte mich sogleich schuldig. Man hatte mich her geschickt, um diesem Volk etwas zu stehlen. Ich sollte sie hintergehen, aber man kann sein eigenes Herz nicht hintergehen. „Ja, es ist sicher hier unten angekommen.“ Erwiderte ich lediglich. Es war nicht gelogen, die Spritze war heil und angekommen. Fragte sich bloß wie lange, denn ich hatte nicht vor sie zu benutzen. Ich konnte ja behaupten, dass ein Evok es bemerkt hätte und sie verschwinden ließ, auf dem Weg nach oben.
„Frost, wir müssen jetzt los. Du musst dich noch von meiner Mutter verabschieden, bevor wir uns an den Aufstieg machen.“
Ich verabschiedete mich kurz von den beiden Menschen in dem kleinen Apparat und schaltete ihn dann aus. Erleichtert seufzte ich. „Danke Jetan. Ich wüsste nicht, wie ich diese Befragung ohne dich überlebt hätte.“
Jetan kam vor mir auf die Knie, da ich auf einem Sessel saß und legte beide Arme um mich. Sanft küsste er mich. „Was war das für ein Paket?“
„Nichts über das ich mit dir sprechen darf.“ Ich sah zu, wie er das Gesicht verzog, und wurde weich. „Ich darf es dir wirklich nicht verraten, Jetan. Vielleicht denkst du dann anders über mich.“
Er schüttelte entschlossen den Kopf. „Niemals, Frost.“ Schwor er völlig ernst.
Schweren Herzens gab ich nach und führte ihn zu meinem, am äußersten Rand liegenden, Zelt. „Ich weiß, ich hätte sie längst wegschmeißen sollen, doch ich hatte Angst, dass sie irgendjemand finden könnte.“
Ich kramte in meinem Rucksack und zog meine heiß geliebte Lederjacke heraus. Darunter hatte ich mittlerweile die Spritze versteckt und zog sie nun auch hervor. Vollkommen erschlagen, reichte ich sie ihm. „Diese ist eine Spritze, mit der man eine Lumbalpunktion durchführt. Das bedeutet, man sticht in die Wirbelsäule von jemandem, um ihm etwas Rückenmarksflüssigkeit zu nehmen. Eine etwas schmerzvolle... Sache.“ Ich fühlte mich so unglaublich, unwohl mit ihm darüber zu sprechen. Es war fast so, als müsste ich ihm einen Mord gestehen.
„Was macht man mit der Flüssigkeit? Wozu wird sie gebraucht?“ Verlangte er zu wissen, doch verzog dabei keine Miene. Er schien wieder vollkommen Diplomat und Prinz zu sein.
„Für Gentests? Für Tests? Du kannst so gut wie alles aus dieser Probe lesen, was du brauchst.“
„Und >die< wollten natürlich, dass du einen von meinem Volk damit quälst?“
Mit <die< meinte er vermutlich die beiden, mit denen wir eben gesprochen hatten. Ich nickte. „Ja, aber es hätte nicht weh getan, ich hätte die Person vorher betäubt, anders wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, ohne bleibenden Schaden anzurichten. Eine falsche Bewegung und die Person wäre für das restliche Leben teilweise gelähmt... Man hätte seine Beine, Arme oder sogar eine ganze Körperhälfte nie wieder spüren, oder bewegen können.“ Erklärte ich eilig.
Jetan kam auf mich zu, bis er mich fast mit seinem Körper berührte, tat es aber nicht. „Und wieso hast du es nicht getan? Wieso hast du dich gegen den Befehl gestellt?“
Entrüstet stemmte ich die Arme in die Hüften. „Das fragst du auch noch? Weil ich es nicht konnte! Ich soll euer Vertrauen gewinnen, bloß um euch dann auszunehmen, wie eine Weihnachtsgans? Da riskiere ich es lieber, dass mir mein restliches Leben, von irgendwelchen Büroscheißer kaputt gemacht wird, als sie zu unterstützen, euch als Laborratten zu benutzen!“
Ich war mir ziemlich sicher, dass Jetan nicht jedes Wort verstand, da ich ordentlich in Fahrt kam, trotzdem ließ er die Spritze sinken und legte sie zurück in meine Hand. „Sie würden dir dein Leben kaputt machen?“ Fragte er besorgt.
„N-Na, ja. Nicht direkt. Sie würden es mir bestimmt beschweren, wenn ich in ein anderes Land reisen möchte, wieder irgendetwas studieren, oder... Ja, sie würden mir ordentlich im Nacken sitzen, als Strafe. Aber wenn ich >zufällig< die Spritze am Rückweg verlieren würde... über dem Lavastrom, oder so.“
Ich beobachtete Jetan, wie er vor mir auf die Knie sank, vermutlich um nicht länger gebückt zu stehen, dann zog er mich an sich und küsste meinen bedeckten Bauch. „Deshalb, bist du meine Bynn.“ Langsam schob er mein Kleid hoch und küsste nun meinen nackten Bauch.
„Du bist mir nicht böse? Ich dachte, du würdest mich dafür hassen. Dafür, dass ich bloß eine Puppe für diese Idioten bin.“
Jetan ließ das Kleid über seine Schultern hinab gleiten und kämpfte mit dem Saum meiner Hose, um an meiner Hüfte knabbern zu können, wie er es immer so gerne tat, nachdem wir... es getan hatten. „Du bist keine Puppe, sie benutzen dich nicht, Frost. Dafür bist du eine zu große Kriegerin... Nein, du bist meine Prinzessin.“
Überrascht lachte ich, vor allem deshalb, da er mich etwas kitzelte. „Woher weißt du denn, was eine Prinzessin ist?“ Fragte ich sehr belustigt.
„Ich habe gefragt, was das Gegenstück zu einem Prinzen ist, immerhin nennen die Menschen mich so. Sie sagten eine Prinzessin, wäre die weibliche Bezeichnung. War das falsch?“
Ich streichelte über seinen halb bedeckten Rücken, heute trug er einmal kein Oberteil, was mich wahnsinnig machte, denn ich wollte ihn am liebsten ständig berühren. „Nein... das ist genau richtig.“
Er gab mir noch einen letzten, liebevollen Kuss auf den Bauch, dann kam er wieder hoch, um mit meinen Lippen weiterzumachen. Ich wollte mich schon mit ihm auf den Boden sinken lassen, doch Jetan ließ es nicht zu. „Wir sollten meine Mutter nicht zu lange warten lassen. Sie hasst es.“
Mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen führte er mich ins Zentrum der Stadt, wobei Jetan mich keine Sekunde aus der Hand gab. Jetzt war es ohnehin schon egal. Die Evok wusste von uns und die Menschen befanden sich beim Tunnel. Ich fühlte mich sogar überraschend wohl dabei, denn ich wollte Jetan ebenfalls nicht aus der Hand lassen.
Als wir bei der Königin ankamen, vermied ich es, einen Knick zu machen, doch löste mich von Jetan, immerhin wollte ich nicht, dass sie von mir dachte, ich würde seinen Stand ausnutzen. Nun, ja gewissermaßen tat ich es ja, doch bloß im besten Sinne.
„Frost, meine Kleine!“ Wirklich sehr überrascht, fand ich mich in den Armen von Seratan. „Ich dachte schon, du kommst dich überhaupt nicht verabschieden.“ Überschwänglich drückte sie mir einen Kuss auf die Wange und schob mich dann von sich, als würde sie ihr lang vermisstes Kind betrachten wollen. „Du siehst so hübsch aus. Unsere Kleidung schmeichelt dir.“ Kurzerhand deutete sie mir, mich einmal im Kreis zu drehen, was ich auch tat, während sie über das Kleid strich, um irgendetwas zu richten.
„Ich danke Ihnen wirklich. Die Kleidung ist auch wirklich ein Traum, schön und praktisch. So etwas gibt es bei uns oben nicht.“ Leicht errötete sie bei meinem Lob und winkte verlegen ab.
„Ach, das ist das Werk meines Volkes. Sie haben ein handwerkliches Geschick für hervorragende Qualität.“ Abermals drückte sie mich an sich, bevor sie sich endlich ihrem vollkommen roten Sohn zuwandte. „Jetan! Keine Angst, ich vergesse dich so schnell nicht.“ Sie umarmte ihn ebenfalls und küsste ihn auf die Wange.
„Ich hoffe doch, mein Jetan hat sich dir nicht zu sehr aufgedrängt. Männliche Bynn können oft über das Ziel hinaus gehen, wenn sie etwas wollen.“
Nun war ich es, die rot wurde und Jetan schien sich wieder zu fangen. „E-Er ist... I-I-Ich...“ Verdammt, seit wann stotterte ich denn? Ich!
„Du brauchst nicht verlegen zu sein. Bei unserem Volk ist das eine Ehre, eine sehr seltene, daher feiern wir eine Verbindung immer ganz groß. Auch wenn es eine Ungewöhnliche, wie bei uns beiden ist.“
Auffordernd streckte Jetan mir seine Hand hin. Was sollte schon schief gehen? Außerdem hatte ich ihn schon zu lange nicht mehr berührt. Seufzend schmiegte ich mich an seine Brust und genoss den Kuss auf mein Haupt, welchen ich dafür bekam.
Seratan strahlte beinahe wie ein heller Sonnenstrahl. „Das dieser Moment jemals kommen würde, für meinen Jetan!“ Sie griff sich auf den Brustkorb und seufzte tief. „Ich wünschte nur, du könntest auch bleiben. Du würdest dem Volk sehr gut tun, an Jetans Seite. Nicht nur als Vermittlerin. Als eine von ihnen.“
Gerührt ließ ich eine Träne verschwinden. „Ich würde auch nicht gehen, wenn es nicht sein müsste. Ich habe bloß noch zwei Tage, dann beginne ich krank zu werden.“
Seratan nickte, doch wirkte traurig. „Kommst du denn wieder einmal?“
„Wenn unsere Wissenschaftler einen Weg finden, dass diese Atmosphäre uns nicht mehr schadet, dann bin ich die Erste, die hier unten ist und nie wieder hinauf geht.“ Vermutlich würden Anzüge helfen, doch die Bewegung, das Verständnis und die Arbeit erschweren.


- - - - -


Der Besuch fiel kurz aus, da wir beschlossen hatten, um vierzehn Uhr loszugehen. Jetan begleitete uns, bis zum Übergang. Weiter würden die Evok auch nicht gehen. Sie sahen keinen Sinn darin, sich zu verabschieden, doch ich kam leider nicht daran vorbei. Ich bin ein Teil des Volkes, nicht bloß durch die Kleidung, die ich trage, sondern da ich ein Teil von Jetan bin. Ich gehöre nun zu ihnen und sie würden mich verteidigen, als würde ich schon immer hier leben.
Der Abschied, da sich gut vierzig Evok von mir verabschieden wollten, fiel wirklich lange aus, daher beschlossen die meisten Menschen, bereits vorzugehen. Wir mussten noch einen knappen Kilometer, zu einem bereitstehenden Zug zurücklegen, da man sich nicht näher an das Loch heranwagte.
„Frost...“ Jetan stand keinen halben Meter, von mir entfernt und blickte sehnsüchtig auf mich herab.
„Jetan...“ Antwortete ich mit demselben Bruch in meiner Stimme. Hier würden sich unsere Wege trennen... für immer. Es gab noch keine Möglichkeit in absehbarer Zeit wieder hier her zu kommen, nicht wenn die Evok sich weigerten irgendetwas abnehmen zu lassen.
„Pass gut auf dich auf, Frost.“ Bat er mich.
„Und du, halte dich an unsere Abmachung, Jetan.“ Ich wusste zwar, dass noch immer eine Soldatin hinten an der ersten Kurve stand, da sie auf mich wartete und mich durchaus sehen konnte, doch in diesem Moment war es mir egal. Jetan beugte sich zu mir hinab und ich legte meine Arme um seinen Nacken. Kurzerhand hob er mich am Hintern auf und wirbelte uns beide, einmal im Kreis. Lachend erwiderte ich seinen Kuss und umarmte ihn danach noch fester, als zuvor.
„Ich werde dich jede Sekunde vermissen.“ Säuselte er in mein Ohr.
Offenbar hatte ich meinem Evok doch einiges beigebracht. „Übernimm dich nicht, Riesenbaby.“ Ich wollte ihn überhaupt nicht mehr loslassen, denn ich wusste, es wäre das letzte Mal.
„Wenn es eine Möglichkeit gibt, dann bist du doch immer noch die Erste...“
Ich küsste Jetan abermals, damit er den Satz nicht beendete. „Mach einfach das, was wir besprochen haben. Ich will nicht das wegen uns, dein ganzes Volk leidet.“ das uns bezog sich auf beide Sache. Auf >uns Menschen<, die Ausbeuter, Eroberer und verrückten Wissenschaftler. Aber auch auf >uns, Jetan und mich<, da wir uns liebten und natürlich beieinander sein wollten. Aber das eine, würde auch dem anderen die Türe öffnen.
Mein Blick streifte über die grimmig dreinsehenden Evok, einer größer, breiter, länger, stärker, oder weißer als der andere. Ein Volk voller Überraschungen, Herzensgüte und Vertrauen. „Du weißt, dass wir auch Krieger sind, Frost. Wir können uns verteidigen, dich beschützen.“
Ich lächelte gerührt. Eine Millionen Evok, wollten mich gegen sieben Milliarden Menschen beschützen. Jedes Gesicht versicherte mir, dass ich hier her gehöre. Zu ihnen, an Jetans Seite, ihrem Prinzen. „Manchmal muss eine Prinzessin ihre Liebe opfern, um ihr Volk zu retten... oder nicht?“ Dafür bekam ich einen langen, gefühlvollen Kuss, denn ich sogar bis in die kleinste Zehe spürte.
Seufzend vertiefte ich den Kuss, schlang meine Beine um seinen einfach unglaublichen Körper und ließ mich von ihm gegen die Wand lehnen, damit er mit seinen Armen etwas Freiraum gewann. „Sicher, dass ich dich nicht überreden kann?“
Es dauerte einen etwas längeren Moment, bis ich verstand, was Jetan mir sagen wollte. „N-Nein.“ Nuschelte ich hervor und wurde noch einmal von Jetan so unglaublich geküsst. Ich musste zugeben... wenn Jetan etwas wollte, dann bekam er es auch normalerweise. Ein Charakterzug den ich keinesfalls mochte, doch bei meinem Evok hatte es etwas das ich... wirklich sexy fand, so dumm es auch klang!
„Nur noch einen Tag, Frost. Du hast noch etwas Zeit.“ Bettelte er an meinem Hals, liebkoste mein Ohr und ließ mich wieder an den See wünschen.
„Oh, Scheiße. Du machst es mir echt schwer, Papabär.“ Säuselte ich und kicherte, als er in mein Schlüsselbein biss.
„Es gibt so vieles, das wir noch nicht getan haben, Frost.“
Wenn ich an die letzten vier Tage dachte, hatten wir ohnehin mehr getan, als gut für uns beide war. Hoffentlich hatten wir uns nichts vom jeweils anderen eingefangen, immerhin gab es hier unten nichts zur Verhütung, wieso denn auch? Wenn die Evok miteinander schlafen wollten, taten sie es. Sie hatten keine Krankheiten zu befürchten und Kinder wurden hier gerne aufgezogen. Sie waren sogar notwendig, für die Arbeiten auf Feldern, oder für die Transporte. „St-Stopp... Jetan!“
Gerade noch so, konnte ich Jetan von mir wegdrücken und meinen Stolz bewahren. Zumindest die kleinen restlichen Krümel davon. „Ich liebe dich, Frost.“ Jetan setzte mich auf den Boden ab, denn er wusste, er konnte mich nicht mehr aufhalten. Mein Weg war gewählt und vorherbestimmt. Ich bin ein Mensch, wir hatten hier unten nichts verloren.
„Nim diesen hier mit. Die Soldatin dort, hat mir geholfen.“ Er nickte in die Richtung der Frau, welche so tat, als fände sie die Wände plötzlich höchst interessant und Jertan drückte mir einen Brief in die Hand. Genauer gesagt einen Zettel. „Ließ ihn, wenn du... an mich denkst.“
Ein letztes Mal, zog ich Jetan zu einem langen Kuss herab, wir sahen uns wortlos an, dann ging ich. Schweren Herzens und vollkommen gegen meinen Willen, trat ich den Rückweg an. Ich wusste, die anderen warteten bereits. Menschen, die dringend Behandlungen benötigen.
„Vergiss nicht, die Antwort ist in unserer DNA, Frost.“ Ich stand direkt auf dem Übergang und wandte mich etwas verwirrt zu Jetan um. Er war, mit seinen beiden engsten Vertrauten, der Letzte, der dort stand.
Ich erinnerte mich an die Spritze in meiner Jackentasche, zog sie hervor und funkelte dieses Stück Unheil wütend an. „Ich weiß, Jetan.“ Ich hatte es nicht vergessen. „Dich braucht jetzt niemand mehr.“ Niemals wieder. Damit ließ ich sie hinab fallen, doch sah ihr nicht hinterher. Ich wollte es nicht sehen. Der Lavastrom trieb mir jetzt schon den Schweiß aus den Poren, da bekam ich Angst, gleich von hier oben gedünstet zu werden.
Eilig lief ich an die Seite der Soldatin, welche mir bereits seit meinem ersten Tag folgte. Gemeinsam traten wir den Heimweg an. „Werden Sie etwas wegen meiner Beziehung erwähnen?“
„Sie meinen wegen ihrem Stand als Vermittlerin? Mal sehen, ob wir jemals wieder so jemanden bekommen. Sie waren ein ganz schöner Glücksgriff.“
Dankbar lächelte ich. Die Soldatin nickte mir aufmunternd zu. „Irgendwann werden Sie ihn wieder sehen können.“
Natürlich dachte sie das. Sie wusste es immerhin nicht besser. „Hoffentlich.“ Sagte ich bloß, den Rest der Strecke schwiegen wir.


- - - - -


Endlich! Angekommen! Stöhnend ließ ich mich auf den Stuhl sinken, schnallte mich an und stemmte die Beine gegen den Vordersitz, da ohnehin die meisten lagen, wegen ihrer begonnen Behandlungen. Wir fuhren los, dieses Mal mit einem etwas weniger schnellen Zug, doch das war egal. Uns allen. Wir bekamen hier erst einmal erstklassige ärztliche Betreuung, doch ich konnte mich nach einer kurzen Befragung hinlegen, ich hatte keine Priorität.
Müde schloss ich die Augen und hatte vor etwas zu schlafen, doch dann fiel mir der Zettel in meiner Hosentasche ein. Ich hatte das Kleid mitgenommen, doch ganz unten in meinem Rucksack versteckt. Zur Sicherheit. Mit freudigem Herzklopfen öffnete ich den sorgfältig gefaltete Brief und erkannte erst einmal, dass er ziemlich vollgeschrieben war.
Grinsend über Jetans Redeschwall, drückte ich das einzige Stück, was ich noch von Jetan hatte, an meine Brust, dann entschied ich, es erst einmal zu lesen. Er sagte doch, dass ich es lesen solle, wenn ich an ihn dachte. Also war jetzt der perfekte Zeitpunkt, besonders da meine Neugierde wieder einmal die Oberhand übernahm.
In freudiger Erwartung, da ich mir vorstellen konnte, dass es wieder etwas Schnulziges sein würde, strich ich den Brief wieder glatt, legte ihn auf meinen Oberschenkeln auf und las die fein säuberliche, weibliche Schrift, der Soldatin.
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was genau da stand, denn mein Hirn wollte es einfach nicht akzeptieren. Mein Herz kämpfte gegen einen Krampf an und meine Atmung versagte ihren Dienst. Ich konnte es wirklich nicht glauben! Nein, ich wollte es nicht glauben! „Dieser... miese... beschissene... Lügner...“ Fauchte ich so laut, dass mich einige mehr als deutlich hörten, doch zum Glück niemand verstand, denn ich sprach auf Deutsch. Zum ersten Mal seit einer Woche, wobei es mir fast wie ein Jahr vorkam. „Das kostet ihm mindestens die Eier!“ Schwor ich mir selbst, ballte den Brief zu einem Ball und steckte ihn in meinen Rucksack zurück.
Das konnte ja eine lange Heimfahrt werden...

Der Brief

Wenn du diese Zeilen liest, bist du dann schon zuhause? Bei deiner Estelle, oder gar noch im Zug? Ich weiß du hast für unser Volk bloß das beste im Sinn und ich weiß, dass du ein unglaublich guter Mensch bist. Ein einzigartiger, aufrichtiger und du lebst mit deinem Herzen auf der Zunge, wie du einmal gesagt hast.

Aber es tut mir leid, du wirst mich nun hassen, denn wenn du diese Zeilen liest, habe ich es nicht getan, das, worum du mich gebeten hast. Ich kann es unmöglich tun, nicht wenn es bedeutet, dass ich dich niemals wieder sehe. Nicht, wenn es bedeutet, dass mein Volk weiterhin hier unten festsitzt.
Niemals hätten wir zu träumen gewagt, was du mir erzählt hast. Sterne, Meere, Stürme und weite Dünen. Das alles klingt so unwirklich und wunderschön. Wir wissen, wie die Menschen sind. Auch wissen wir, dass unsere Völker irgendwann aneinandergeraten werden. Missverständnisse, Vorurteile, Rangkämpfe. Wer von uns, ist wohl die höher, stärker und schneller entwickelte Spezies? Wer von uns kann die Macht besitzen?
Aber es spielt im Moment keine Rolle, alle haben sich entschieden. Wir haben abgestimmt, denn ich habe ihnen alles erzählt. Von den Menschen, der Welt, dem Universum und der Zeit. Von allem, von dem du mir erzählt hast Frost und noch mehr.
Offensichtlich hast du verstanden, was es heißt, eine Anführerin zu sein. Mein, nein dein, unser Volk, ehrt dich im höchsten Maße, denn du hast das ultimative Opfer für sie erbracht. Das Problem ist bloß, dass du dabei, wie ein Mensch gedacht hast, nicht wie eine Evok, diesen Fehler habe ich eingesehen und ich hoffe, du wirst es auch eines Tages. Du hast über die Köpfe unseres Volkes entschieden und angenommen, dass du richtig handelst, ganz wie ein Mensch, aber es war weder deine noch meine Entscheidung, Frost. Es ist immer die Entscheidung eines jeden einzelnen, immerhin ist es ihr Leben. Ihr Schicksal, das sie selbst bestimmen müssen.
Wir haben dich aufgenommen, geliebt und akzeptiert, sowie du uns. Wir alle. Aber das, was du von uns verlangst, diese einmalige Chance können wir uns nicht entgehen lassen, selbst wenn es bedeutet, dass wir unseren Untergang besiegeln. Lieber aufrecht im Kampf, als versteckt unter der Erde.
Vielleicht nicht heute, oder morgen. Aber irgendwann... wirst du es verstehen. Du wirst endlich erkennen, was es heißt, eine Bynn eines Evok zu sein. Du bist mein Leben, mein Herz und du alleine besitzt die Kraft über meinen Körper. Du bist meine größte Stärke, doch auch meine größte Schwäche. Du bist meine Welt, Frost. Ohne dich mache das alles keinen Sinn mehr. Bitte... verzeih mir eines Tages, egal wie lange es dauert, ich werde, alles daran setzten! Achte bis dahin gut auf dich... stell keinen Unsinn an.

Ps.: Entweder Keratan, oder Tiszatan, sind die nächsten in ihrer Folge.

Es liegt in deiner DNS was du bist... in deinem Charakter, was du sein wirst!

Seufzend spielte ich mit dem Schlüssel, meines Autos in meiner Hand. Sie waren spät, doch das spielte keine Rolle, die meisten Züge zwischen Underworld und Oberfläche, hatten ihre Macken.

Es dauerte fast eine Stunde und ich klapperte mit meinem Stock ungeduldig am Boden herum, während der kleine, scheinbar dreijährige Junge auf meinem Schoß, mit meinem Handy spielte und Gleichungen löste, die ich ihm zusammengestellt hatte. Stumm konzentrierte er sich auf die Übungen, während meine Geduld den Siedepunkt erreichte.
Beinahe sogar gleichzeitig, mit dem Zug. „Komm, es ist so weit.“ Der Junge reichte mir sein Handy und glitt auf den Boden. Auffordernd hielt er mir seine Hand hin, ich ergriff sie mit meiner freien und ächzte extra Laut, damit die umstehenden, Platz für eine alte Frau, mit einem kleinen Jungen an ihrer Hand machten.
Bereitwillig wichen sie. Die meisten kannten mich noch, sie kannten mein Gesicht, als die Verrückte, die den damaligen Senator, des Projekts Evok, das Jochbein gebrochen und das Schlüsselbein zertrümmert hatte. Seitdem war ich berüchtigt dafür, jedem windelweich zu schlagen, wenn sie über diese besonderen Wesen sprachen. Selbst jetzt, wo ich über siebzig bin und nicht einmal jemanden ansah, hielt man respektvollen Abstand von mir. Einige himmelten mich an, andere verabscheuten mich.
Aber eigentlich sollte ich nicht diejenige sein, die sie verurteilten. Es sollte jemand ganz anderes sein, denn es war eindeutig seine Schuld, dass ich dermaßen ausgetickt bin, zu dieser Zeit, als meine Wunde noch ganz frisch gewesen ist.
Ohne mich aufzuhalten, ließ man mich passieren, bis ich den Anfang der Aufregung erreichte und schob den kleinen Jungen hinter mich, damit er nicht so auffiel. Generell schien man ihm kaum zu bemerken, da alle mit Tuscheln wegen meines Anblicks beschäftigt waren.
„Professor Frost.“ Wurde ich einstimmig begrüßt. Ja ich bin eindeutig eine Legende geworden, jedoch keine von denen, die man groß feierte.
„Beweg deinen Schwabbel, sonst steckte ich dir das Ende meines Stockes dorthin, wo die Sonne nie scheint!“ Fauchte ich und sofort machte man mir Platz. Ich stellte mich zwischen die Soldaten und wartete. Ein >Ding< erklang und die Lufttüre öffnete sich.
Es war das erste Mal, dass sie hierher kamen. Es war natürlich Jetan, der ganz vorne stand. Sein Kinn hoch erhoben und mit zusammengepressten Lippen, starrte er auf die tosende Menge. Scheinbar unbeeindruckt schweifte sein Blick über sie hinweg, bis er an etwas hängen blieb. Etwas das er eindeutig nicht erwartet hatte, so nahe vor der Lifttüre zu sehen.
„Ich hatte es nicht erwartet.“ Stellte er überrascht fest. In den letzten Monaten hatte Jetan mehrfach versucht, mich zu erreichen, doch ich hatte abgeblockt. Ich wollte nicht, dass er etwas über mein Leben erfuhr, über mich, denn ich hatte es mächtig versaut. Mein ganzes Leben war einfach dahin... bloß wegen meiner... dezenten... Überreaktion. Natürlich mit Jetan als Auslöser.
„Es hat mich auch Überwindung gekostet.“ Antwortete ich, mit erhobenen Kinn.
„Du hast tatsächlich deine Haare verändert.“ Nachdenklich legte Jetan seinen Kopf schräg, wobei sein langes, weißblondes Haar kippte, dabei über seine Schulter fiel und mein Blick folgte dieser Bewegung, gegen meinen Willen.
„Wessen Schuld ist das Wohl? Ich habe mich so viel geärgert, dass sie grau wurden!“ Fauchte ich und wandte mich zum Gehen. „Komm jetzt mit, eine alte Frau lässt man nicht einfach so im Gang stehen.“
Der kleine Junge an meinem Rockzipfel folgte mir, ohne das Gesicht zu verziehen, ohne jemanden zu beachten, als wäre er überhaupt nicht anwesend. „Forst ich...“
Wütend fuhr ich herum. „Beweg dich du mieses Schwein, oder ich Prügel dich gleich hier windelweich!“ Ja, die Zeit hatte mich verändert, mich verbittert. Zumindest nach außen hin.
Weder die Soldaten, noch die noch immer jubelnden Menschen hielten mich auf. Jetan behielt etwas Abstand, vermutlich um meinem gefährlichen Stock nicht zu nahezukommen, und folgte mir aus dem Damm heraus. Dort wartete bereits eine Limousine auf uns drei. Ich stieg laut stöhnend vor Altersbeschwerden ein und nahm neben einer weißhaarigen, menschlichen, Schönheit platz. Das Alter hatte Estelle erwischt, das sah man an ihren, mit Schönheitsmittelchen behandelten, Falten. Sie sah tausendmal besser aus als ich, aber selbst heute war sie nicht vergleichbar mit der Schönheit von Jetan. Er hatte sich kein bisschen verändert. Keine Alterung, keine Falten, nichts.
„Estelle.“ Stellte sich meine beste Freundin kühl vor.
„Je...“
„Ich weiß, wer du bist und ich bin bei Weitem nicht deine Freundin.“
Die Fahrt dauerte gut eine Stunde, bis wir an Estelles und meinem Haus ankamen. Vor fünf Jahren ist ihr Ehemann gestorben, da hatte sie ordentlich abkassiert und sich ein Haus, so nahe und doch weit entfernt des Dammes bauen lassen.
„Ihr lebt schön.“ Gab Jetan zu, als ich den schlafenden Jungen aus dem Auto, in die Villa trug.
„Dabei kennst du nicht einmal unser Spielzeug.“ Bemerkte ich und grinste gehässig. Ja, ja. Estelle hatte keinen einzigen Cent an der Sicherheit für uns drei gespart. Wir waren wie Zwillinge, zumindest sagte man uns das ständig.
„Warum hast du mich hergebracht, wenn du mich doch offenbar nicht ausstehen kannst?“
Jetan blieb am Eingang der Villa stehen und sah sich neugierig um. Er konnte nicht bestreiten, das Haus nicht genauer unter die Lupe zu nehmen. „Ich habe dir etwas versprochen, jetzt komm, oder muss ich dir wieder mit dem Stock drohen?“
„Für was hast du ihn überhaupt? Du benötigst ihn nicht.“
Ich reichte meinen Stock an Estelle weiter und richtete mich zu meiner vollen Größe auf, während sie ihren eigenen Weg für diese kühlende Nacht ging. „Aber es schüchtert die anderen ein.“ Sanft küsste ich die Stirn des kleinen Jungen und er umarmte mich fester im Schlaf.
„Frost... Wenn du...“
„Nicht jetzt, Jetan. Halt deine Klappe und komm endlich.“ Gehörig folgte er mir, was wollte er schon einer alten Frau, wie mir abschlagen? Einer Frau, vor der sogar er sich nun fürchten musste. Vermutlich war ich nun seine größte Feindin und somit eine ernstzunehmende Bedrohung.
Ich lief mit Jetan zwei Stockwerke höher, bis wir uns auf dem Dach der Villa wiederfanden. Von hier hatte man eine traumhafte Aussicht und die genoss ich beinahe tagtäglich. „Du... hast es nicht vergessen?“
Mit offenen Mund trat Jetan an das Geländer heran. Noch stand die Sonne direkt über dem orange gefärbten Meer, doch auf der anderen Seite des Hauses, konnte man bereits die ersten Sterne am klaren Himmel erkennen . „Ich habe nichts vergessen, Jetan. Nicht einmal eine einzige Sekunde.“
Der Evok, weiß wie eh und je, drehte sich wieder zu mir um. Ich legte den weißblonden Jungen auf einer Sonnenliege ab und schüttelte den alten Mantel ab. Danach entfernte ich meine Perücke und seidiges, weißes hüftlanges Haar, kam zum Vorschein. Einen Moment später, folgte noch meine extra gefertigte Maske und da war ich. Mein Wahres Ich, das Ich, wovor sich niemand fürchtet, das niemand mehr kennt.
„Du bist... Ich glaube, du bist sogar noch schöner als damals.“ Mit verschränkten Armen trat ich auf Jetan zu, holte aus und schlug ihm mitten ins Gesicht. Vor Schreck ging er beinahe zu Boden.
„Das ist dafür, dass du mich dermaßen ausgetrickst hast! Mieses Schwein!“ Jetans Blick glitt auf den schlummernden Jungen, auf dem Liegestuhl.
„Unten wird es ihm besser gehen.“ Das war etwas, das ich bereits wusste, doch musste ich noch warten, bis man auch Kinder mitnehmen durfte, ohne in Erklärungsnot zu kommen.
„Wenn nicht, mache ich dich unten zur Sau, vor deinem Volk, wenn es sein muss!“ Dieses Mal war es Jetan, der auf mich zukam. Sein Blick wanderte sehnsüchtig über meine Lippen und schon war es, als wären keine vierzig Jahre zwischen uns. Da gab es keine vergangene Zeit mehr, denn Evoks brauchten diese Zeitmessung nicht. Sie besaßen ihre Eigene.
„Wie lange wird er noch wachsen?“ Fragte ich, um mich auf etwas anderes, als seine Lippen zu konzentrieren.
„In der menschlichen Zeitrechnung? Noch einige hundert Jahre, bis er als Erwachsen angesehen wird. Und er benötigt Training.“
„Keratan ist ein wirklich sehr kluger Junge. Er kann seinen Vater jetzt sehr gut gebrauchen, denn er versteht immer noch nicht alles.“
„Das liegt an der Umwelt, der Ernährung. Er gehört zu uns, so wie du. Das habe ich dir immer gesagt.“ Ja, das hatte er.
„Komm mit.“ Forderte ich und Jetan folgte mir tatsächlich.
„Wohin führst du mich jetzt?“
Ich öffnete das Kleid an der Seite und ließ die Träger hinab rutschen. „Keratan schläft immer hier oben, er fühlt sich dir dann näher. Wir haben noch gut vierzehn Stunden. Bis dahin musst du mich beschäftigen.“
Jetan packte mich an der Taille, hob mich hoch und der Rest meiner Kleidung verlor sich irgendwo im Flur. „Sag mir welches Zimmer.“ Lachend klammerte ich mich an seinen sehnlich vermissten Hals und küsste seine, niemals vergessenen, Lippen.
Zeit spielt eindeutig keine Rolle für Evok und Jetan hatte ebenfalls damit recht behalten, dass sich die Antwort in der DNA befand. Eine DNA die er in den letzten Tagen, meines Aufenthaltes in der Underworld, mehr als einmal in mir platziert hatte. Zwar dachte ich nicht viel darüber nach, da ich ursprünglich davon ausging, dass sich Evok und Menschen nicht verbinden konnten, doch ich hatte unrecht behalten. Es funktionierte. Jetans DNA, oder viel eher Keratans Existenz, veränderte auch meinen Strang, sodass ich wie sein Vater wurde.
Anfänglich waren es bloß meine Haare und ich verstand nicht wieso. Irgendwann war es eine jahrelange Übelkeit, dann ein jahrelanger Bauch und plötzlich gebar ich, nach vier Tagen in den Wehen, einen gesunden, weißblonden Sohn.
Estelle war die ganze Zeit da, sie kümmerte sich um mich, um Keratan. Unseren kleinen Prinzen. Sie selbst hatte zwei Töchter bekommen, die natürlich unser Geheimnis niemals offenbart hatten und für mich selbst wie Nichten, oder gar wie eigene Töchter waren. Nicht einmal Estelles vielen Ehemänner hatten uns trennen können, uns Schwestern. Sie war mit mir gemeinsam hier her, nach Afrika gezogen. Hier hatte sie nach meinen Plänen ein Hochsicherheitshaus bauen lassen, das weder per GPS, noch per Satellit verfolgt werden konnte.
Trotz all der Risiken, trotz all meiner Tränen, Flüchen und Verzweiflungstaten, hatte ich Jetan niemals vergessen. Wie könnte ich denn auch? Er ist mein Bynn. Die Liebe meines Lebens, mein Herz, mein Mann. Er hatte mir das ultimative Geschenk gemacht, dass ein Mann seiner Frau machen konnte.
Die Unsterblichkeit.
Das einzige was jetzt noch fehlte, war, dass Keratan und ich in die Familiengeheimnisse eingeweiht wurden und zurück zu unserem Volk kehren...

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Tag der Veröffentlichung: 27.07.2016

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