Im Großen und Ganzen, war eigentlich mein Leben angenehm und beinahe wie geplant. Ich war verheiratet mit einem total netten Kerl und hatte ihm zwei gesunde Söhne geschenkt. Der ältere wurde im Sommer drei Jahre und der Jüngere war eineinhalb. Wir lebten in einem Haus, das mein Mann von seiner verstorbenen Großtante vererbt bekommen hatte. Eigentlich war es zwar ein Totenhaus, doch damit mussten wir uns anfreunden. Ich schwöre euch, dass ich noch hin und wieder nachts ihre Stimme im Stiegenhaus höre!
Spaß beiseite. Konzentrieren wir uns lieber auf die Fakten. Das Haus ist total heruntergekommen und von innen vermodert, mein Mann hat Lungenkrebs und betrügt mich seit Monaten mit Jüngeren. Meine beiden Söhne leben bei meiner Mutter, da ich nicht möchte, dass sie vom Pilz, der in den Wänden saß, krank wurden. So sieht die Realität aus. Das Leben ist scheiße und ich habe schon mehrmals versucht mich, selbst um zu bringen. Doch es funktionierte irgendwie nicht. Jedes Mal scheitere ich. Ich war schon bei etlichen Therapien, doch die helfen gegen Geldsorgen nichts. Oder gegen gesundheitliche Probleme.
Wieder einmal, war es ein ruhiger Freitagabend und ich lag erschöpft in meiner Badewanne. Ich hatte sie gerade einmal so weit befüllt dass, wenn ich meine Beine aufrecht stehen hatte, mir das Wasser bis zur Hälfte des Unterschenkels reichen würde. Mehr Wasser kann ich nicht verschwenden, um mich zumindest ein klein wenig auszuruhen. Immerhin wollte mein Mann auch noch duschen, wenn er heimkam und würde wieder wütend werden, wenn er dann kein heißes Wasser vorfand. Als Erstes wusch ich mir die Haare und spülte sie nur kurz aus. Dann kamen meine Beine dran. Ich benutzt keinen Rasierschaum, da er zu teuer ist. Zwar hatte ich dadurch überall ganz feine dünne Narben, da ich mich des öfteren aus Versehen schnitt, doch das störte mich nicht. Geschweige denn das es auffiel, wenn man nicht von ihnen wusste. Seufzend griff ich nach der Rasierklinge, die ich täglich schärfte und schnitt mich schon beim Ansetzen. Ich verzog nicht einmal das Gesicht, als das Blut mein Bein hinab lief und das Wasser ein wenig rot einfärbte. Ich setzte abermals an und wieder schnitt ich mich. Dies passierte noch weitere, drei Male, bis ich fünf diagonale Schnitte auf meinem Bein vorfand. Immer noch spürte ich nichts. Auch dies war mir egal. Erst jetzt begann ich mein Bein zu rasieren, mit schnellen und geschickten Bewegungen. Zum Schluss kam mein zweites Bein dran, doch da schnitt ich mich kein einziges mal. Hin und wieder bin ich wirklich tollpatschig...
Nach einer kurzen Abspülung, säuberte ich die Badewanne und wickelte mich in ein altes Handtuch. Meinem Mann hang ich eines auf die Heizung, damit er es schön warm hatte, wenn er heraus stieg. Im Schlafzimmer kuschelte ich mich in meinen abgetragenen farblosen Pyjama und legte mich in das leere Ehebett. Heute würde er wohl wieder nicht heimkommen. Vermutlich verbrachte er seine Nacht wieder mit seiner Sekretärin. Oder gar einer völligen Fremden?
Woher ich das wusste? Ich erkannte ihren Geruch an seinen Sachen. Mittlerweile verheimlichte er mir nicht einmal mehr, wenn er bei ihr war. Manchmal hatte er noch Lippenstiftspuren im Gesicht, oder auf der Kleidung. Aber wer konnte es ihm schon verübeln? Vor drei Jahren hat er erfahren, dass er krebskrank ist. Chemo können wir uns nicht leisten, daher vegetiert der Krebs einfach vor sich hin. Natürlich gönnte ich es ihm da zumindest einigermaßen, dass er sein Leben noch etwas auslebte, solange er noch die Chance dazu hatte. Der Tod war immerhin vorprogrammiert. Wer wusste schon ob er nicht in den nächsten zwei Tagen, zwei Wochen, oder gar erst in zwei Jahren Tod umfiel? Ich wünschte, er täte es heute schon. Er sah mich kein Einziges mal mehr an, geschweige denn das er mich anfasste. Dabei sind wir ein junges Ehepaar und schwiegen uns an, als wären wir bereits vierzig Jahre zusammen. Wir waren einfach dumme Kinder.
Mit Tränen in den Augen schlief ich ein und färbte mein Bettlacken rot.
„He! Komm endlich! Wir verpassen die Bahn! Das ist die Letzte!“
Erschrocken blickte ich auf und versuchte zu verstehen, was meine beste Freundin gesagt hatte. Welche Bahn? Ach, ja. Wir mussten ja nach Hause. Seufzend kam ich aus der Hocke hoch und zog mein Rückgeld aus dem Getränkeautomaten. Schon wieder zu wenig zurückbekommen... Shit Happens!
Ich sparte jeden Cent und drehte in fünf Mal im Kreis, bevor ich mich doch dazu entschloss ihn doch für etwas aus zu geben, das ich dringend benötigte. Nun, ja. Eine Cola würde mich ja doch nicht pleite machen. Zudem war es mein erstes Getränk heute, abgesehen von meinem morgendlichen Glas Wasser.
„Komme ja schon!“ Sophie, meine beste und älteste Freundin stand an einer Kreuzung und deutete auf die grün blinkende Ampel. Ich lief zu ihr und wir überquerten noch schnell die Straße, obwohl unsere Ampel bereits rot leuchtete und die Autos uns ungeduldig anhupten.
Gestresst liefen um die Wette zur Straßenbahn, doch als wir ankamen, war sie schon weg.
Fluchend trat meine beste Freundin gegen einen Mülleimer, der dabei umkippte und den gesamten Inhalt verlor. Empörte rufe eines Polizisten ertönte von der anderen Straßenseite. Lachend liefen wir weg, als Hunde begannen wie wild zu keifen und die Aufmerksamkeit ebenfalls auf uns lenkten. Wir liefen rasch einige Straßen weiter, bis wir uns sicher waren, dass uns niemand gefolgt ist. Die Straßen heutzutage waren vollkommen unsicher in einer Großstadt und man wurde bereits bei der kleinsten Auffälligkeit festgenommen.
„Ups...“ Murmelte meine Freundin und ich kniff sie in die Seite. „Jetzt sagst du >Ups<! Du hast gerade Sachbeschädigung betrieben!“
Sie kicherte und nahm mir den schweren Rucksack ab. „Du sagst das, als würde ich das alltäglich machen!“
Ich zuckte mit den Schultern und winkte einfach ab. „Als wäre es nicht so. Immer wenn du dich aufregst, machst du etwas kaputt.“
„Nicht immer...“ Gab sie halblaut zurück und warf gespielt arrogant dabei ihr dunkelrotes gefärbtes Haar über die Schulter.
Kopfschüttelnd blickte ich auf die Armbanduhr an meinem Handgelenk und seufzte. „In fünfzehn Minuten fährt unsere letzte Bahn, das schaffen wir ja nie!“ Beschwerte ich mich und warf den Straßenbahngleisen einen bösen Blick zu, auch wenn sie nichts dafür konnten.
„Ach, komm schon! Das schaffen wir. Wir laufen einfach durch die Seitengassen und passen auf uns gegenseitig auf. Komm!“ Sie zog mich einfach hinter sich her.
Ich hasste die Seitengassen in dieser großen Stadt. Sie waren viel zu gefährlich, da sich dort Straßengangs herum trieben. Vielleicht trafen wir ja auf welche. Zumindest würde es mein verkommenes Leben komplett machen. Eine Nachricht auf meinem Handy lenkte kurz meine Aufmerksamkeit ab.
>Wann kommst du heim, habe Hunger!< Eine Nachricht von meinem Mann. Er war wohl bereits aus der Spätschicht zu Hause. Ein Wunder, dass er einmal die Zeit nicht bei seiner Sekretärin verbrachte. Oftmals blieb er sogar über die Nacht fort und bemühte sich nicht einmal eine Ausrede zu finden. In diesen Nächten jedoch schlief ich am ruhigsten. Es war entspannend zu wissen, dass er nicht in der Nähe war, um mir mein versautes Leben noch unangenehmer zu machen.
Ich packte verärgert mein Handy wieder in die Hosentasche und beschleunigte meine Schritte. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass ich plötzlich alleine war. Wo war Sophie? Ich rief mehrere Male nach ihr, doch sie gab mir keine Antwort.
Kopfschüttelnd packte ich mein Handy wieder aus und suchte über das Internet meinen Weg zum Bahnhof. Dort würde sie zweifellos auf mich warten.
Oder sollte ich sie zuvor anrufen? Nein... Das würde nur unnötig Zeit verschwenden.
Alleine, bahnte ich mir meinen Weg durch eine Straße voller Abfalltonnen und versuchte dabei so wenig zu Atmen wie nur möglich. Als sich plötzlich ein Schatten daraus löste, schrie ich auf.
>Miau< Eine Katze? Plötzlich wurde der Schatten im Schein der Laternen größer und im nächsten Moment wieder kleiner und ein abgemagerter Straßenkater stand vor mir.
Lächelnd packte ich mein Rest vom Sandwich aus, das mit meine Freundin übrig gelassen hatte und ich im Zug essen wollte und warf ihm die Wurst hin. Sofort stürzte er sich darauf und schnurrte dabei laut.
Ich schlich mich an ihm vorbei und setzte meinen Weg fort. Wenigstens Tieren konnte ich noch vertrauen.
„Hi, Süße! Wie ich sehe, verteilst du Leckereien an arme Straßenkater... Stell dir vor, ich bin auch ein Tiger. Was bekomme ich von dir?“
Eingeschüchtert blickte ich in zwei dunkle Augen und unterdrücke einen Aufschrei. „Tut mir Leid. Mein Freund wartet, ich muss weiter.“
Ich ging an ihm vorbei, doch er folgte mir langsam in einiger Entfernung. Warum tat er das? Wollte er mich überfallen? Blöd schauen würde er, wenn er in meiner Geldbörse einen abgelaufenen Gutschein und vierzehn Cent fand. Mit meinem Handy steuerte ich in eine, noch kleinere, Gasse in der ich hoffte, ihn abzuschütteln, und es funktionierte anscheinend.
Dachte ich...
Ein Schlag auf den Hinterkopf ließ mich Schwarzsehen und ich knallte gegen die Hausmauer. Ich fühlte, wie an meiner Schläfe Blut herablief und lächelte darüber. Würde es nun so enden? Schwankend kam ich wieder auf und sah meinem Angreifer in die Augen. Es war ein Mann, der jünger zu sein schien als ich. Er packte mich an der Kehle und drückte mich an die Hausmauer, während mich ein Zweiter nach Wertsachen abtastete.
Eine Erinnerung von meiner Freundin kam mir durch den Kopf >Wir sind schon so oft durch die Gassen gelaufen und uns ist noch nie etwas passiert.<
Tja, das konnte ich wohl nun nicht mehr behaupten. Nun wurde ich überfallen. Ob sie ihnen entwischt ist? Ich hoffte es um ihretwillen.
Der jüngere Kerl blickte mich forschend an, während der andere schimpfte, dass ich kaum etwas einstecken hatte.
„Hör auf, so dämlich darüber zu grinsen, oder dir passiert noch etwas.“
Ich hörte auf zu lächeln und konzentrierte mich auf die andere Hausmauerseite, um ihn nicht noch mehr anzustacheln. Vielleicht ließen sie mich ja gehen.
Im hinterher, wusste ich, dass es eigentlich egal gewesen wäre, was ich getan hätte. In jeder Situation wäre es gleich ausgegangen. Die Kerle fielen nur wenige Minuten später über mich her und ich wehrte mich nicht. Ich lag einfach nur auf den Boden und zählte die Sekunden, die ich hier verschwendete. Eigentlich sollte ich mich bereits im Zug Befinden und am Weg nach Hause sein. Ich wollte eigentlich meine Söhne noch einmal sehen, bevor ich heimfuhr, wollte ihnen beim Schlafen etwas zu sehen und ihnen zuflüstern wie sehr ich sie liebte. Doch nun würde ich das wohl für heute vergessen können.
Als mein nackter Hintern den kalten, feuchten Boden berührte, erinnerte ich mich wieder, in welcher Lage ich mich eigentlich befand. Sollte ich nicht jetzt schreien? Mich wehren? Stattdessen wandte ich einfach den Kopf in Richtung der Mülltonnen, während diese Wiederlinge einfach ihre schmutzigen Hände an meinem Körper rieben. Mich dort anfassten, wo ich es überhaupt nicht wollte, doch ich ließ es über mich ergehen. Sollen sie doch. Was hatte ich denn sonst noch zu verlieren ? Alles andere war doch schon längst weg.
Versteht mich nicht falsch, nicht dass es mich glücklich machte, oder dass mir das Messer an meiner Kehle, keine Angst einflößte, aber es war mir egal, was sie taten. Mein Leben war so kaputt. Menschen, die mir viel bedeuteten sind gestorben, betrogen mich oder lachten mich für mein kümmerliches Leben aus.
Als sich das Messer durch meine Haut bohrte und ein Feiner Rinnsal von meinem eigenen Blut über mich lief, war es mir ebenfalls egal. Obwohl nein... Es erregte Freude in mir. Ich kann endlich sterben! Ich brauchte nur etwas Druck auf die Klinge ausüben, oder mich wehren, sodass sie mich töten. Etwas das ich schon seit Monaten versuche. Doch niemals klappte es. Warum war ich nicht schon früher auf diese Idee gekommen. Mich einfach umbringen lassen, war das Beste, das mir noch passieren konnte.
Mit einem Lächeln im Gesicht drückte ich meinen Hals stärker gegen die Klinge, als plötzlich das schwere Gewicht auf mir verschwand. Enttäuscht ließ ich meinen Kopf wieder zurück auf den Beton fallen und fühlte Tränen meine Wange hinunter laufen.
Schon wieder versagt! Jeden Tag hörte und las ich von Leuten, die sich umbrachten. Warum schafften die es und ich nicht? Ich war doch so kurz davor., endlich Ruhe und Frieden zu finde, war das denn etwa zu viel verlangt? Abdriften in eine unendliche schwarze Stille. Zu schlafen und zu wissen dass man niemals wieder aufwachen müsse. Einfach ruhen könnte, ohne sich jemals wieder Sorgen machen zu müssen.
„He, alles in Ordnung?“ Ich setzte mich auf und wischte mir einige meiner Tränen aus dem Gesicht. Sie waren tatsächlich weg. Wie viele sind es überhaupt gewesen? Zwei? Drei? „Ist schon gut, komm, ich bringe dich zum nächsten Polizeirevier. Kannst du dich an ihre Gesichter erinnern?“
Polizei? Warum sollte ich zur Polizei gehen? Die würden nur unangenehme Fragen stellen, auf die ich keine Antworten geben wollte.
Ich blickte hinauf in zwei hellbraune Augen und betrachtete die Jacke, die über meine entblößten Beine lag.
„Komm, keine Angst, ich will dir wirklich helfen!“
Helfen? Er wollte mir helfen? „Was kann ein kleines Kind wie du schon richten? Wieso hast du mir geholfen? Ich wollte doch das sie mich töten!“ Meine Stimme klang so vorwurfsvoll, wie ich mich fühlte. Ich wollte doch sterben. Einfach weg sein, damit ich niemanden mehr Schwierigkeiten mache.
Der Junge legte beide Arme um meine Schultern und blickte mich voller Mitleid an. „Ach, was. So viel älter bist du ja nicht. Außerdem, was redest du denn da für Blödsinn? Niemand will mit diesem Alter sterben. Du bist doch noch viel zu jung dazu.“
Zu Jung? Was wusste er schon davon. Alles was ihn sorgen musste, waren Mädchenprobleme, die erste Liebe und seine Zukunftspläne. So jung…
Ich betrachtete ihn genauer. Er war vielleicht dreizehn oder vierzehn und hatte mich gerettet. Was wusste ein junger Bub wie er schon vom Leben? Es war grausam und hinterhältig. Das würde er auch noch lernen, so viel stand fest.
„Ich bin zweiundzwanzig... Glaube mir, wenn ich sage, dass mein Leben kaputt genug ist, dass es nicht mehr Wert ist, gelebt zu werden. Ich habe niemanden mehr, der auf mich wartet, oder der sich freut, mich zu sehen. Ich habe alles in den letzten Jahren verloren, warum hast du mich nicht einfach von den Idioten töten lassen?“
Nun brachen endgültig meine Tränen aus meinen Augen hervor und ich konnte einfach nicht mehr aufhören zu weinen. Verdammt ich wäre mit einem Lächeln gestorben. Ich hätte gewusst, dass ich nichts zurücklasse, das um mich trauern würde. Es wäre so einfach gewesen.
Der Junge zog mich an sich und redete beruhigende Worte auf mich ein. Schon ironisch, wenn plötzlich ein kleiner Junge einen tröstet.
„Schon gut. Ich werde dich einmal mit zu meiner Familie nehmen und die werden dann entscheiden, ob es wirklich besser wäre, wenn du stirbst, in Ordnung?“
Ich nickte und zog meine Hose wieder an. Nun, ja. Wenigstens haben sie mich noch nicht beschmutzt...
„Du blutest, warte...“ Er zog aus seiner Jeansjacke einen dünnen Schal und band ihn um meinen Hals. Ich hörte abermals eine Stimme in meinem Kopf, die sich wünschte, dass er jetzt einfach zuzog und mich erdrosselte.
Aber er tat es nicht. Stattdessen zog er mich auf meine gebrechlichen Beine und da merkte ich, dass er älter als dreizehn sein musste. „Wie alt bist du?“ Ich spürte, wie sich mein Hals zusammen zog, da ich im Grunde die Antwort überhaupt nicht hören wollte.
„Ich bin fünfzehn, warum?“
„Und du hast dich mit den beiden einfach so angelegt? Hattest du einen Selbstverteidigungskurs?“
Er winkte ab und stützte mich beim Gehen, als ich beinahe umkippte. Was war nur mit meinem Kreislauf los? Ach, ja ich hatte ja noch überhaupt nichts getrunken. Während ich nach meiner Tasche griff und meine Cola gierig austrank, sprach der Junge weiter.
„Nein, nicht direkt. Aber ich habe mit solchen Leuten schon mein Leben lang zu tun, daher kenne ich den einen oder anderen Trick. Und wie sieht es bei dir aus? Du sagtest, dass du sterben wolltest. Warum?“
Ich warf meine leere Flasche in einen der Container, die in meiner Nähe standen und winkte danach ab.
„Nicht so wichtig. Wohin gehen wir?“
Der Junge lächelte mich an, als würde ihn die Frage belustigen. „Ist nicht so wichtig.“ Die Antwort entlockte auch mir ein Lächeln. Nun, ja. Es gab schlimmere Leute.
Nach wenigen Minuten kamen wir an ein Gebäude, das sogar mehr nach Altbau aussah, als das Haus in dem ich lebte, seit ich neunzehn war.
Er sperrte die Eingangstüre auf und ich setzte mich auf ein Sofa, das voll geräumt von Kleidung und Zeitungen war. Er entschuldigte sich für die Unordentlichkeit doch so, wie er es sagte, klang es einstudiert. Als würde er das monoton immer sagen, wenn jemand kam.
Als ich mich umsah, bemerkte ich als Hausfrau, die ich ja auch war, dass in dem Haus schon lange niemand mehr lebte. Der charakteristische Geruch von verstaubten Holz und trockener Luft stand mir in der Nase und schon alleine am Tisch sah ich den typischen Lurch Ansatz, der entstand, wenn man Räume längere Zeit nicht benutzte oder pflegte.
„Das ist nicht dein Haus.“ Murmelte ich, während er im Kleiderkasten etwas suchte.
„Nein, ist es nicht. Woher weißt du das?“
Ich deutete auf den Kamin, der bereits verstaubt war. „Wenn man in einem Haus lebt und selbst wenn man unordentlich ist, staubt man im Vorbeigehen immer wieder etwas den Kamin ab, oder bei dem kleinen Beistelltisch, selbst wenn man Sachen immer wieder dazulegt, sammelt sich nicht einfach so Lurch dort an, besonders da man durch das ständige Türe öffnen den Raum gleich mit lüftet und Lurch somit auf den oberen Flächen vermeidet.
Die Bücher jedoch, sehen auch nicht echt aus. Es ist mehr so, als wollte man, dass das Haus von außen bewohnt aussah. Jedoch, wenn man sich darin befindet und die abgestandene Luft atmet, merkt man sofort, dass hier schon seit Jahren niemand mehr lebt.“
Der Junge kam aus dem Kasten wieder heraus, in den er vor Überraschung den Halt verloren hatte und blickte mich verwirrt an.
„Also... Warum sind wir hier?“ Fragte ich skeptisch.
„Eigentlich... War ich aus einem anderen Grund hier. Soviel ich aus deinen Worten heraus gehört hatte, wollte ich dir eigentlich beim Sterben helfen und dir einen Tee anbieten, in dem Gift ist. Aber gerade eben habe ich meine Meinung geändert.“
Er wollte mir beim Sterben helfen? Seltsamerweise war das das Netteste, was ich seit langem gehört hatte. Auch wenn es mich enttäuschte, dass er seine Meinung geändert hatte.
„Warum... wolltest du mir dabei helfen?“
Der Junge schloss die Türe des Kastens, ohne etwas daraus hervor zu holen, und setzte sich mir gegenüber auf die andere Bank.
„Nun, ja. Ich kann deinen Willen zum Sterben verstehen und wenn du lieber auf Selbstmordmissionen gehst, anstatt dir einfach ein neues Ziel zu suchen, dann hat alles so wie so keinen Sinn.“
„Hättest du mir gesagt, das im Tee Gift darin ist?“
Er lächelte schwach und nickte. „Selbstverständlich. Ich hätte dir gesagt, das sich in deiner Tasse Gift befindet und in meiner nicht. Danach hätte ich dich entscheiden lassen, welche du wählst.“
Sie kicherte und stellte sich vor, wie das abgelaufen wäre. „Um ehrlich zu sein, hätte ich darauf bestanden ein Glas mit Wasser und das Gift zu bekommen, da du nicht wegen mir einen Teebeutel verschwenden solltest. Immerhin ist Wasser genauso gut wie jede andere Flüssigkeit.“
Lachend wischte er seine wuscheligen blonden Haare nach hinten. „Du bist echt witzig. Schade, das wir uns nicht schon früher kennen gelernt haben...“
Ich griff nach einem Flusen und pustete es in die Luft. Als es abermals auf der Stelle landete, von wo ich es angehoben hatte, musste ich darüber lächeln. „Manches... ist nicht vorhersehbar...“ Der Flusen hätte überall anders auf dem Tisch oder auf dem Boden landen können, aber nein, er ist wieder auf seiner Ausgangsposition gelandet. Wie ironisch. Ich bin gerade eben noch Hand in Hand mit dem Tod gegangen und nun ist er abermals einfach an mir vorbei und ich stehe wieder dort, wo ich angefangen habe. Zum zweiten Mal an diesem Abend.
„Denkst du... du könntest ein neues Leben beginnen. Mit neuen Leuten, einen neuen Ort und ohne dich jemals wieder umzudrehen?“
Ich biss mir auf die Unterlippe und dachte darüber nach. „Rein hypothetisch gesprochen, wenn jetzt jemand käme und mir eine neue Identität in die Hand drücken, würde und sagen würde... hier... lebe ein neues Leben.... dann, ja ich würde es beginnen. Aber ich würde mich ständig nach meiner Vergangenheit umsehen. Es gibt gerade einmal zwei Menschen, die ich nicht verlieren möchte, aber ich denke nicht, dass ich es Wert bin, dass sie mich eines Tages so lieben wie es eigentlich sein sollte. Darum.... Ja... ich würde neu beginnen. Ich würde mir einen neuen Job suchen und mich aus meinem Elend hinauf arbeiten. Jedoch wenn ich genug verdiene, würde ich als... ich weiß nicht... ich würde ihnen immer Geld schicken. So... wie zur... Entschuldigung, das ich nicht bei ihnen sein kann.“
Der Junge stieg über den Tisch, fegte die Zeitschriften vom Tisch und setzte sich vor mir darauf. „Und was wäre, wenn du schwören müsstest, dass du ihnen niemals schreiben dürftest, niemals sagen dürftest, wo du bist und wie es dir geht. Wenn du dich auch niemals nach diesen Menschen erkundigen dürftest und wenn du sie zufällig triffst, dich umdrehen müsstest und gehen. Würdest du es machen?“
Viel verloren sie ja nicht dadurch. Und ich könnte an einem anderen Ort anfangen... „Vermutlich. Solange ich ihnen ausschließlich Geld schicken darf, bis ich sterbe... mehr würde ich niemals verlangen.“
Meine Sicht verschwand etwas vor meinen Augen und ich zwinkerte ein paar mal um meine Tränen loszuwerden, bevor ich den Jungen wieder anblickte. Er lächelte von seiner erhöhten Position zu mir herab und ich ließ mich in die Bank zurücksinken. „Jedoch denke ich, das Sterben immer noch einfacher wäre. Da ich kein Geld hätte, um die Person zu bezahlen, die das für mich machen würde.“
Ein lautes Lachen erschreckte mich. Überrascht wandte ich mich um.
„Chef, was soll denn das. Quäle doch das Mädchen nicht so. Du bist doch so wie so schon von ihr überzeugt.“
Chef? Mit wem sprach er? Meinte er den kleinen Jungen? Ich betrachtete den stämmigen Mann, der um die Dreißig zu sein schien. Sein breites einladendes Lächeln, war an mich gerichtet und seine Augen glänzten unter seinem dunklen Hautton.
„Koch? Was suchst du hier oben? Solltest du nicht unten sein und Dia helfen? Ich bin hier mitten in einem Gespräch.“
Der so genannte >Koch< setzte sich neben mich auf die Bank und reichte mir die Hand. Dass er dabei die Kleidungen zerknitterte, auf der er saß, schien ihm nicht zu interessieren.
„Hi, ich bin Koch. Was Chef dir glaube ich, gerade sehr ungeschickt versucht zu erklären ist, dass er dir diesen Deal tatsächlich anbieten möchte. Wir alle arbeiten für ihn und verdienen, wenn wir unsere Arbeit meistern, gutes Geld. Würde es dich interessieren?“
Ich blickte den Jungen verwirrt an, der seinerseits eher genervt aussah. „Ich weiß nicht. Was ist es denn für ein Job?“ Mittlerweile fühlte ich mich sehr unsicher. An was für Leute bin ich denn da geraten? Und was für Namen hatten sie? Waren es vielleicht Synonyme?
„Das kann ich dir noch nicht sage, aber keine Sorge, es hat weder etwas mit Menschenhandel, noch was mit Prostitution zu tun. So viel kann ich dir versprechen.“
Ich blickte wieder zum >Koch<, der immer noch freundlich lächelte. „Wir sagen die Wahrheit. Und du sagtest, ja dass du dich umbringen mochtest. Also, warum willst du nicht einmal für ein paar Tage, oder Wochen bei uns zusehen und danach kannst du dich immer noch entscheiden zu sterben?“
Ein paar Tage, oder Wochen? Nun, gut was war das schon mehr? Seit beinahe zwei Jahren musste ich die Gemeinheiten meines Mannes ertragen und dessen Affären. Ich hatte alle Freunde verloren, bis auf eine, wo ich mir aber nicht sicher war, ob sie nicht einfach mit mir befreundet war, da sie sich über mich lustig machte. Und meine Kinder? Sie sagten bereits zu meiner Mutter >Mummy„Ist schon gut. Du wirst sehen, es gibt auch einen spaßigen Teil im Leben.“
Ich schüttelte den Kopf und fühlte, wie ich in eine tröstende Umarmung gezogen wurde. War das der Beginn eines neuen Lebens?
Hustend zog ich mich aus dem Schwimmbecken und ließ mich erschöpft am Rand auf die Knie sinken.
„Fünfzehn Minuten. Du wirst besser. Wenn du es zwei Stunden durchgehend schaffst, dann können wir mit etwas Neuem anfangen. Also mach weiter.“
Ich blickte hinauf zu Dia, die sichtlich Spaß daran hatte mich das Schwimmbecken rauf und runter schwimmen zu lassen.
Ich war nun bereits einen Monat hier unten in der Kanalisation einer riesigen Stadt und ergötzte mich an meinem neuen Leben. Ich bekam regelmäßig etwas zu essen, damit ich wieder kräftiger wurde, nach meiner jahrelangen Hungerpause und wurde gezwungen mindestens drei Liter am Tag zu trinken. Meine Blase spielte deswegen verrückt.
Was ich von dieser Gruppengemeinschaft so alles mitbekommen hatte, war Dia, eine diabolische Menschenquälerin. Sie liebte es andere unangenehme Fragen zu stellen und sie an ihr Limit zu treiben. Beim Essen, Trinken oder beim Sport. Einmal durfte ich sogar bei der Folterung eines Gefangenen dabei sein. Um was es eigentlich gegangen war, hatte ich nicht richtig verstanden, doch wie sie mit nur kleinen Gesten einem Menschen so viele Qualen erleiden lassen konnte, war mir immer noch ein Rätsel. Mitleid hatte ich keines empfunden. Oder konnte ich es einfach nicht mehr?
Wenn andere meiner Gruppe mit Verletzungen zurückkamen, kümmerte ich mich um diese. Ich machte den Abwasch, absolvierte jeden Tag mein Training, half in der Küche aus und putzte die ganze Anlage. Ich tat alles, was Anfänger ebenso taten.
Monoton machte ich das, was mir Angeschafft wurde und fand es überraschend angenehm.
Vor ein paar Tagen, hatte ich mein erstes Geld bekommen und war überrascht, als es um die Neunhundert Scheine waren. Acht ließ ich von >Koch< in einem unbeschrifteten Kuvert an eine Adresse bringen. Persönliche Notizen durfte ich nicht darauf schreiben. Was mir ehrlich gesagt zugutekam. Ich wusste nicht, was ich darauf schreiben sollte.
Das zweite Monat verging und ich hatte sogar noch mehr als Fünfzig von meinem ersten Monat übrig. Ich schleppte immer Wasserflaschen mit mir herum und machte mir mein Essen selbst, das aus einem Apfel und einem Stück Brot am Tag Bestand. Abermals schickte ich achthundert an meine Söhne und spürte, wie sich bei diesem Kuvert mein Herz zusammen zog.
Im dritten Monat musste ich eine Träne wegwischen und am Ende des Vierten hörte ich auf zu schlafen.
Koch gab mir zum Einschlafen jedes Mal eine Schlaftablette zum Essen dazu, da er es bemerkte. Koch, war inzwischen so etwas, wie mein Mentor geworden und Dia war meine persönliche Trainerin, die meinen Körper bis ans äußerste forderte. Was ich einmal machen würde, wusste ich nicht. Koch und Dia verrieten es mir nicht. Sie sprachen generell nur wenig mit mir über Persönliches. Sie hatten noch nicht einmal nach meinem Namen gefragt, sondern nannten mich immer nur >Neue<. Mich störte es nicht. Es war kein richtiger Name, noch war es eine Bezeichnung, wie unnötig ich bin.
„He, Chef will dich sehen.“ Koch meinte mit >Chef< den blonden Jungen, der mich gefunden hatte. Und genauso wie man ihn nannte, war er auch. Er war der Chef dieses wild zusammen geworfenen Haufens.
Als ich ihm in den ersten Tagen eröffnete, dass ich mich entschlossen hatte zu sterben, wurde er erst einmal kreidebleich, danach bekam er einen Schreianfall und begann mit Dia zu streiten. Dia und Koch waren die einzigen älteren Leute hier in der Kanalisation. Der Rest bestand aus Leuten, mit denen ich zwar nichts zu tun hatte, diese jedoch jünger als ich waren und so wirkten, als würden sie diesen Job schon seit Ewigkeiten machen. Was sie genau machten, wusste ich nicht. Soviel ich bei Gesprächen gehört hatte, ging es darum, korrupte Politiker auffliegen zu lassen und Anschläge zu verüben oder zu vereiteln. Angeblich zum Wohle der Menschen, doch was interessierte mich das? Ich war von einem Unglück in ein lebloses Leben gestolpert. Hatte einen Vertrag unterzeichnet, der mich dazu verpflichtete alle Gesetzte zu befolgen und verdiente jedoch dafür gutes Geld.
„Okay. Wann kommt er?“
Koch zeigte hinter mich und ich seufzte. „Hi!“ Sein strahlendes kindliches Lächeln eilte ihm voraus. Ich begrüßte ihn lediglich mit einem Nicken, da ich dank seinem Verbotes mich nicht umbringen durfte. Andererseits konnte es auch schlimmer kommen und meine Kinder hatten immer genug Geld. Zumindest hoffte ich das.
„Na, wie geht es dir? Jetzt ist es ja bereits das fünfte Monat, dass du hier bist oder?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, erst in einer Woche.“ Warum ich das so genau nahm, wusste ich nicht. Vielleicht wollte ich ihm einfach nur widersprechen. Aber Spaß empfand ich dabei nicht.
„Okay... Ähm, wie sieht es mit deinem Selbstmord aus? Möchtest du immer noch sterben?“
Ich nickte. „Natürlich. Aber andererseits, denke ich, ist es besser, wenn ich lebe, so kann ich Geld verdienen und es denen Schicken, die es brauchen.“
Lächelnd legte er einen Arm um mich und schob mich vorwärts, damit wir in Bewegung blieben. „Verstehe. Das ist ja gut. Dann kannst du dich uns vielleicht eher anschließen. Also, wenn du noch mehr Geld verdienen möchtest?“
Ich blickte zu ihm. Würde er mich so ausbilden lassen, wie die anderen, die hier herumgeisterten? „Wie meinst du?“
„Sieh her... Wir sind hier eine eingespielte Gemeinschaft. Alle hier erfüllen einen Zweck. Sie reisen, forschen, spionieren, zerstören und machen noch vieles mehr. Leute wie Koch und Dia, die nicht mehr in den Außeneinsatz wollen, die machen andere Aufgaben, wie eben Kochen und Befragungen führen, putzen, die anderen versorgen, wenn sie Verletzungen haben und Ähnliches. Alles Jobs wo sie sich abwechseln können und was ihnen allen nicht unangenehm sind. Was wenn ich sagen würde, dass ich gerne hätte, dass du dich von Dia für Außeneinsätze ausbilden lässt? Und Doc würde dir viele andere Sachen lehren.“
„Und ich würde danach mehr Geld verdienen?“
Chef nickte und lächelte herzlich.
„In Ordnung. Aber eine Frage habe ich. Ich bin immer ehrlich, wenn mich jemand etwas fragt, und erwarte nun dieselbe Ehrlichkeit von dir.“
Chef blickte sich um, ob niemand in Hörweite war, dann deutete er auf die Türe, die hinab zum Pool führte, in dem ich heute noch schwimmen würde.
Unten angekommen, setzten wir uns an den Poolrand und ließen unsere Beine hinein hängen.
„Okay, du kannst mich alles Fragen, was du willst. Ich habe nicht vor jemals unehrlich zu dir zu sein.“
Ich überlegte gut, wie ich meine Frage umschreiben sollte, ohne dabei unhöflich zu klingen. Darum ließ ich es einfach und fragte gerade heraus. „Bekommen sie das Geld?“
Chef war keine Sekunde verwirrt und nickte. „Ja. Jeden Monat. Du gibst es Chef, er bringt es mir und ich gehe nach der Schule vorbei und schleiche mich ins Haus, deiner Mutter. Ich lege ihr immer den Brief auf den Küchentisch. Im ersten Monat hat sie bitterlich geweint, nachdem sie erkannte, dass er von dir kam. Die restlichen Monate, empfing sie das Kuvert wie einen heiligen Schatz. Sie sammelt sie alle und legt das Geld alles sorgsam in eine Sparbox.“
Ich fühlte Tränen aufsteigen, doch stattdessen fing ich an zu lächeln. „Danke. Das zu hören tut gut.“
„Du weißt, dass es keinen Weg zurückgibt. Das du niemals...“
Ich blickte auf sein Spiegelbild im Wasser und seufzte schwer, bevor ich ihn unterbrach. „Von mir aus teste mich. Ich bin weder psychisch soweit jemanden aus meiner Vergangenheit zu sehen, noch habe ich überhaupt den Willen dazu. Sie sind besser ohne mich dran.“
Er stieß mich mit der Schulter an und lächelte mir aufmunternd zu. „He, denk daran. Du bist hier die Einzige, die noch irgendwie Kontakt zu ihrer Vergangenheit hat. Denkst du, ich sehe nicht, wie du leidest? Obwohl... Nun, ja du merkst es ja selbst nicht einmal.“
Ich sah von den Wellen, die das Wasser machten auf zu ihm. „Was meinst du?“
Plötzlich beugte er sich vor und küsste mich unvermittelt auf meine Lippen. Für eine Sekunde war ich überrascht, dann wusste ich, was er meinte.
„Verstehst du, was ich meine? Was hast du empfunden?“
Ich wandte meinen Blick wieder der Wasseroberfläche zu. „Ja. Ich verstehe. Ich habe lediglich Verwirrung gefühlt. Danach nichts mehr. Ich bin wohl etwas zu sehr in meinem Selbstmitleid versunken.“
„He... Es ist nicht nur das. Du fühlst absolut nichts mehr. Als du die ersten male beinahe ertrunken bist, da du nicht schwimmen konntest, sah ich keinerlei Angst in deinen Augen. Als du reanimiert wurdest, sagtest du zwar Danke, aber es lag weder Freude noch Trauer in deinen Augen. Dia trainiert dich ständig und kann nicht an deinem Gesicht sagen, ob du erschöpft bist oder nicht. Sie sieht es lediglich an deinem restlichen Körper, wenn er plötzlich nachgibt.
Wenn du lächelst, könntest du genauso gut einen Kaktus dabei umarmen. Es würde auf dasselbe heraus kommen.“
Nickend dachte ich an alle diese Ereignisse zurück. Auch die Freude, die ich vorhin empfunden hatte, hatte nichts mit einer richtigen Freude zu tun. Es war lediglich eine freudige Erkenntnis gewesen, dass es ihnen gut ging. Die Tränen, die mir aufsteigen wollten, waren einfach wieder verschwunden. Chef hatte wohl recht. Ich sollte mit etwas neuem Anfangen.
„Okay, dann werde ich wohl mit der Ausbildung anfangen. Wie lange wird sie dauern?“
„Etwas mehr als zwei Jahre. Und danach kannst du bei Außeneinsätzen mehr als fünfzig Tausend verdienen. Sofern du deinen Job gut machst. Aber wie gesagt das wird erst in Jahren sein. Du wirst bis ans Äußerste gefordert und musst Sachen lernen und meistern die andere von klein auf lernen.“
Bis zu fünfzig tausend? Darüber werden sich meine Mutter und meine Kinder bestimmt freuen. „Ja, passt. Wann fange ich an?“
Ich zog meine Beine aus dem Wasser und trocknete sie ab, damit ich auf den Fliesen nicht noch einmal ausrutschte. Diesen Fehler, hatte ich tagelang bereut.
„Morgen früh, kannst du beginnen, wenn du möchtest?“
Ich nickte und zog mich danach in mein Zimmer zurück. Zwei Jahre... Eine lange Zeit, jedoch wenn ich es schneller schaffen könnte... Irgendwie...
Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Ich öffnete die schwere Stahltüre und war überrascht, als mich Dia spöttisch anlächelte. Was wollte sie hier?
„Wie ich gerade hörte, beginnst du morgen deine richtige Ausbildung?“ Ein belustigter Ausdruck legte sich in ihr Gesicht.
Ich nickte. Hielt sie mich etwa zu so unfähig? Vielleicht ja tatsächlich. Vielleicht hatte ich mir zu viel zugemutet. Was wäre, wenn sie auf einmal starb und kein Geld mehr schicken konnte? Sterben... Wann hatte ich den willen abgelegt zu sterben?
„Hallo! Ich spreche mit dir!“
Meine Gedanken hatten mich wieder abschweifen lassen. „Entschuldige. Was sagtest du? Ach, ja... Die Ausbildung. Ja, ich möchte sie beginnen. Wenn ich es nicht schaffe, dann ist es ja auch egal. Hauptsache ich probiere es mehr Geld zu verdienen.“
Dia kippte den Kopf nach rechts und musterte mich genauer. „Also, ich habe dich ja für vieles gehalten die letzten Monate, aber nicht für geldgierig.“
Geldgierig? Ich winkte ab. „Aber es nicht für mich. Ich gebe selbst nur sehr wenig davon aus.“
Nun wirkte Dia interessiert und setzte sich auf meinen einzigen Stuhl in dem kleinen Raum. „Echt? Ich komme, mit meinen tausend dreihundert kaum über den Monat. Was legst du denn weg?“
„Ich bekomme neunhundert und davon nehme ich achthundert, die ich wegschicken lasse. Die restlichen Hundert nehme ich für das Essen und Kleinigkeiten. Davon lege ich den Rest in eine kleine Spardose, für Ernstfälle.“
Dia klappte der Mund hinunter. Sie schien es kaum glauben zu können, dass ich einen hunderter im Monat behielt und damit über die Runden kam.
„Okay... das ist echt wenig. Und darf ich fragen, wohin du es schickst?“
Ich schwenkte meinen Blick Richtung Boden. „An meine Mutter. Ich bin einfach gegangen, ohne etwas zu sagen, und habe sie auf meinen Scherben sitzen gelassen. Das ist meine Art ihr zu zeigen, wie leid es mir tut.“
Das war vermutlich das persönlichste Gespräch, das sie seit Monaten geführt hatte. Abgesehen von Chef. Doch er war auch wirklich mein Chef und zu ihm musste ich ehrlich sein.
Dia lächelte mich freundlich an. „Jetzt weiß ich wenigstens warum dich Chef zu uns geholt hat. Am Anfang dachte ich, er macht es, da er gerade in der Pubertät ist und dich hübsch findet.“ Sie lachte übertrieben und sie selbst tat es einfach so ab. Das war etwas, was ich ernsthaft lächerlich fand.
„Eigentlich wollte er mich töten, als er mich in das Obergeschoss brachte.“
Dia hörte auf zu lachen und blickte mich verständnislos an. „Ich wurde gerade von zwei Kerlen vergewaltigt, als er mich fand und die Angreifer in die Flucht trieb. Einer von ihnen hielt mir ein Messer derweilen an den Hals, damit ich nicht schrie, doch ehrlich... ich wollte nicht schreien. Ich wollte mich gerade gegen das Messer lehnen, damit er mir den Hals aufschneidet, doch ich habe zu spät reagiert. Chef hat mic her gebracht um mir einen vergifteten Tee anzubieten, als ich etwas unbewusst sagte, dass seine Meinung änderte. Dann haben Koch und er mich mit herunter genommen und mir gezeigt was ich tun muss, um Geld zu verdienen. Ehrlich gesagt, habe ich es mir schlimmer vorgestellt, als das es nun doch ist.“
Dia wirkte sehr betroffen. „Okay... dann musst du wirklich noch mehr Eindruck hinterlassen haben, als das ich selbst gedacht hatte. Über was habt ihr denn gesprochen damals?“
Ich überlegte und berichtete ihr, um was es gegangen war. Über das was er im Kasten gesucht hatte, über meine Eindrücke, die ich ihm geschildert habe und darüber wie wir über den Tee gesprochen haben.
Dia wirkte derweilen sehr konzentriert, unterbrach mich aber nicht. Was wohl in ihrem Kopf vor ging? Verurteilte sie mich? Wenn ja, für was?
„Hm... Ich verstehe warum er dich im Außeneinsatz lieber sieht. Auch wenn du mir mehr wie eine Soldatin vorkommst, die ohne zu fragen, handelt.“ Dia kicherte über ihren eigenen Witz, jedoch verstand ich ihn nicht. „Okay, jetzt Spaß beiseite. Ich freue mich, dich auszubilden.“
Okay... das kam überraschend... Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass sie noch mehr Infos haben möchte, doch sie schien damit zufrieden zu sein mit dem, was sie wusste. Nun, ja wenigstens konnte ich mich ausruhen bis morgen. Dachte ich zumindest...
Diese Nacht war die kürzeste, die ich hier bis jetzt erlebt hatte. Kaum war ich eingeschlafen, war ich auch schon wieder hellwach.
Dia stand neben meinem Bett und hielt mir einen grauen Trainingsanzug hin. Bis jetzt hatte ich immer einen schwarzen getragen, so wie Dia, Koch und die anderen die in meinem Abschnitt wohnten. Wieso bekam ich nun einen Grauen?
Ich zog ihn wortlos an, spritzte mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht und folgte Dia zu den Aufzügen. Das einzige Mal, als ich diese Aufzüge benutzt hatte, war als Chef und Koch mich hinunter begleitet hatten. Wie sich heraus stellte, waren die falschen Bücher, tatsächlich wie ich vermutet hatte falsch, und dahinter befand sich der Eingang zu den Aufzügen.
Als ich dieses Mal einstieg, fuhren wir abermals nah unten. Ich frage mich, wie weit ich mich überhaupt unter der Erde befand. Wir mussten weit unter den U-Bahnen sein, da sie immer nur in der Ferne zu hören waren, falls überhaupt.
Ob ich sie nun noch immer hören würde? Kopfschüttelnd betrachtete ich die neue Umgebung. In den oberen Stockwerken hatte alles aus Betnn bestanden und ziemlich kahl gewirkt. Gerade einmal UV-Lichter sorgten dafür, dass man nicht depressiv wurde.
Bei mir war es so wie so schon zu spät...
Im Gegensatz zu oben schien dieser Abschnitt farbenfröhlich. Überall standen Pflanzen und Kinder liefen kreuz und quer durch die Gegend. Hinterher liefen gestresst aussehende Erwachsene die regelmäßig den Kopf schüttelnden. Als sie mich erblickten, sahen sie eher skeptisch drein, doch sie wirkten nicht unhöflich.
Nach einiger Zeit wurden mir die neugierigen Blicke zu viel und ich ging einen weiteren Schritt hinter Dia. Manche sprachen sie höflich an, doch mich übersahen sie dabei absichtlich. Aber immer noch besser als wenn sie mich verachtend musterten...
Nach endlosen Gängen passte sich Dia meiner Geschwindigkeit an. „Weißt du, wenn du Fragen hast, kannst du ruhig fragen.“
Ich nickte stumm und reihte mich wieder einen Schritt hinter ihr ein.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Mir wurde Selbstverteidigung beigebracht. In jedem Kurs wechselte ich zu anderen Klassen, da eigentlich alle zwischen fünf und zwölf Jahre alt waren. In Kontakt kam ich mit niemand. Dafür war meine Zeit die ich mit ihnen verbrachte zu kurz. Die längsten Unterrichtsstunden bestanden aus Laufen, Gewichtheben und Schwimmen. Erst nachdem mein erstes Jahr vorüber war und Dia mich wieder in neue Trainingskurse eintragen musste, kamen neue Übungen dazu. Ich musste in wenigen Stunden im Jahr eine Vielzahl von Kampfübungen, die einerseits töten konnten, andererseits aber auch zur Selbstverteidigung genommen werden konnten. Im zweiten Jahr fingen nun auch meiner Politisch-Lehrkurse statt. Ich wurde in jedes, nur allzu kleines dreckiges Geheimnis eingeweiht, was die Regierung anging. Musste jedes Volk kennen und fünf Sprachen lernen. Seltsamerweise fiel es mir auch relativ leicht. Mehr oder weniger... Es gab Tage, an denen wurde Koch und Dia beinahe wahnsinnig und wollten alles wegschmeißen. Dann saß ich abends und büffelte so lange, wie ich musste, damit ich es konnte.
Langsam kam mein vierundzwanzigster Geburtstag. Danach mein Fünfundzwanzigster und ich lernte immer noch. Drei Jahre... Drei Jahre in denen ich Texte auswendig lernte, mir Sprachen einprägte und Kampfübungen im Schlaf lernte. Drei Jahre, in denen ich mit beinahe niemanden sprach und immer wieder Feldgruppen in den leichteren Außeneinsatz begleitete. In den Außeneinsätzen war ich immer die Kundschafterin. Ich untersuchte die Gegenden und lokalisierte Feinde. Gab wichtige Anhaltspunkte weiter und leitete die Einsatzgruppe über Funk durch feindliche Gebiete.
Ich beklagte mich nie, denn mir gefiel dieser Seitenjob. Ich war gut darin. Ich sammelte Daten ziemlich schnell, wertete sie aus und gab sie an meine Gruppe weiter. Als ich endlich einen Brief bekam in dem die Initialen L. C. Eingebrannt waren konnte ich es kaum glauben.
Ich war fertig. Jahrelanges Training. Und nun lag meine Einladung vor mir. Jeder Rekrut bekam am Ende seiner Ausbildung, die Individuell von der Person selbst abhing, einen Brief mit diesen Initialen wo alles darauf stand was man wissen musste um einen >Alleingang< zu bewältigen.
Als ich nun tatsächlich diesen Brief in meinen Fingern hielt, spürte ich zum ersten Mal seit drei Jahren Tränen aufsteigen. Drei Jahre lang... Wie doch die Zeit verging.
Ich war fünfundzwanzig und hatte eine beschissene Vergangenheit hinter mir. Nun hatte ich in drei verfluchten Jahren, in denen ich Kontakt mit allen vermieden habe, so gut es ging eine Undercover-Ausbildung abgeschlossen.
Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Brief und staunte nicht schlecht.
Alive!
Wir Gratulieren Ihnen zu Ihrer erfolgreichen Meisterung der Ausbildung zur GS.
Im beiliegenden Formular finden Sie eine Einladung. Ort und Datum sind bereits enthalten. Zielobjekt ist der Gastgeber.
Auf guten Erfolg L. C.
Wer wohl dieser L. C. war? So viel ich gehört hatte, war er derjenige, der sämtliche Ausbildungen genauestens aussuchte und persönlich anpasste.
Als ich den Brief abermals laß, bemerkte ich erst, dass ich einen Namen bekommen hatte.
Alive? Das sollte nun für die Zukunft mein Name sein? Wie passend... Das stimmte sogar. Bis jetzt war ich lebendig geblieben. Ich lebte mein neues Leben, schickte monatlich meine Briefe und lernte wie eine Verrückte.
Ich fragte mich, ob diese drei Jahre Schaden an mir hinterlassen hatten.
Ich legte den Brief zur Seite und betrachtete den mit einem schwarzen Tuch abgedeckten Spiegel. Diesen hatte ich seit Beginn meiner Ausbildung nicht benutzt. Ich hatte mir von Dia ein Tuch bringen lassen, mit dem ich es abdecken konnte. Hin und wieder hatte ich auf das Tuch etwas geschrieben, doch dadurch das ich einen schwarzen Stift benutzt hatte, konnte man es nicht sehen.
Als ich nun noch einmal den Namen auf dem Brief anblicke spürte ich, wie ein Schauder über meinen Rücken kroch. Vorsichtig packte ich das Ende des Tuches und zog nur leicht daran. Das Tuch glitt sofort vom Spiegel und ich betrachtete die Frau die vor mir stand.
Mit einem gezwungenen Lächeln blickte sie mich an. Ihre Haare lagen matt an ihrem Gesicht, ihre verschieden farbigen Augen blickten mich verwirrt an und ihre Wangen wirkten kräftiger als noch vor drei Jahren.
Sie wirkte muskulöser und ihr kleiner Körper konnte sich perfekt seiner Umgebung anpassen. Jedoch sah ich auch die Ausstrahlung, die diese Person besaß. Das gezwungene Lächeln, das genauso aussah, wie es war... gezwungen. In ihren Augen saß tiefe Trauer und ihre straffen Gesichtszüge ließen darauf schließen, dass sie nur selten Gefühle zeigte.
Tja... diese Frau bin ich. Die strähnigen ungepflegten schwarzen Haare gehörten mir. Die beiden verschiedenen Augenfarben, trug ich schon seit Geburt an und durch mein regelmäßigeres und vor allem ausgewogenes Essen, sah ich wieder aus, wie bevor ich geheiratet hatte.
Ich war im Gesicht rosiger, auch wenn mein Hautton ziemlich blass war. Und meine normalerweise blassen Lippen, wirkten nun auch viel rosiger. Das lag aber lediglich daran, dass ich zitterte und total nervös darauf herum biss.
Ich griff nach dem Stift, der neben dem Spiegel auf dem Boden lag und öffnete ihn.
Mit Blockbuchstaben schrieb ich >ALIVE< auf die glatte Oberfläche des Spiegels und schluckte schwer.
Wenn ich wieder vergessen sollte, wer ich war. Brauchte ich nur in diesen Spiegel blicken, um mich daran zu erinnern.
Die Frau im Spiegel bückte sich und setzte sich auf den Boden. Der Spiegel war zwei Meter groß, daher konnte ich mich sehr gut selbst überblicken. Jedoch schien etwas immer noch nicht zu stimmen.
Natürlich...
Ich öffnete den Stift abermals und schrieb in die untere linke Ecke, so klein, dass nur ich es lesen konnte. B. und ein S.
Diese Bedeutung kannte nur ich. Mein kleines Geheimnis.
Als es klopfte, zuckte ich zusammen und versteckte den Stift hinter dem Spiegel.
„Ja?“
„Ich bin es!“ Dia kam in mein Zimmer und blickte mich verwirrt an. „Wo bleibst du denn? Du solltest schon längst bei deinem Training sein... Oh... Warum hast du den Spiegel ausgepackt? Ich dachte, du machst dir nichts daraus?“
Ich nickte und deutete auf die obere Hälfte des Spiegels.
„Was soll das bedeu.... Ach um Himmels willen! Na endlich!“
Dia war mit einem Satz bei meinem Esstisch, der beinahe immer unberührt war und staunte nicht schlecht.
„Was für ein passender Name für dich. Mich nervte es so wie so schon seit Jahren, dich immer Rekrut fünf, fünfzehn zu nennen. Oh, Wow. Den sollst du killen? Puh... Nice... Okay, das wird anstrengend werden. Hast du schon einmal geschaut wo du hinmusst?“
Seufzend stand ich auf. „Nein, ich habe eigentlich bis jetzt nur versucht, ein Gesicht für diesen Namen zu erkennen.“
Dias Gesichtsausdruck wurde weicher. „Verstehe... Aber glaub mir, für eine Person wie dich wird es nicht gerade einfach werden. Dort werden unglaubliche Berühmtheiten sein. Du wirst lächeln müssen und mit Leuten reden!“
Oh, je. Das konnte zu einem Problem werden. Als ich die Einladung durchlas, galt sie einer Siena Malez. Ich blickte zurück zum Spiegel und fragte mich, wer diese Fakenamen überhaupt aussuchte...
Kopfschüttelnd las ich weiter. Es ging um eine Modevorführung in der unglaubliche berühmte Persönlichkeiten herum laufen würden. Sie würde im neun Uhr abends in einem riesigen Ballsaal stattfinden und dort würden tausende von Leute hinkommen. Als ich jedoch laß, wer der Gastgeber war, konnte ich es nicht fassen.
Mister Valek und Miss Sophie Andersen.
Meine Finger begannen zu zittern und Dia fing das Papier, auf dass ich fallen ließ. Wenn ich die Fähigkeit gehabt hätte, Sachen in die Luft zu sprengen, so hätte ich das nun getan.
„Alive? Ist alles in Ordnung?“ Dia schüttelte mich, doch ich hörte sie überhaupt nicht. Kopfschüttelnd ging ich ins Badezimmer und griff nach der Schere, die daneben lag.
„Alive? Was hast du damit vor?“ Ihre Stimme klang unsicher. Ich konnte es verstehen. Immerhin war ich selbstmordgefährdet und hielt eine scharfe Schere in der Hand.
Ohne ein Wort zu sagen, setzte ich mich auf den Klodeckel und zog Schuhe so wie Socken aus. Ich hob meinen rechten Fuß auf meinen Oberschenkel und zeigte ihr meine entzündenden sowie vernarbten Fußsohlen.
Erschrocken sog sie die Luft ein und fiel vor mir auf die Knie. „Was hast du da getan?“ Flüsterte sie und murmelte etwas in ihrer Heimatsprache.
Ich zog meinen linken Fuß nun hinauf, der sogar noch schlimmer aussah.
Obwohl sie von Natur aus nichts dagegen hatte, andere Leute zu quälen, schien sie nun das blanke entsetzten zu packen.
„All die Jahre... Ich habe monatlich Geld geschickt. An meine Kinder. Ich habe mich selbst verachtet dafür, dass ich so einfach gegangen bin. Ich habe mich selbst jeden verdammten Tag verletzt, um zu wissen, dass ich noch lebe. Irgendwann fühlte ich die Schmerzen in meinen Fußsohlen nicht mehr. Ich ritzte tiefer und schnitt alte Wunden wieder auf. Ich habe hin und wieder auch meine Fußsohlen mit Zitronensaft abends eingeschmiert, um zu spüren, dass ich noch lebe. Und was nun? Weißt du, wen ich töten darf? Meinen Mann und meine beste Freundin. Anscheinend sind sie verlobt.
Ich habe mich all die Jahre ferngehalten. Ich habe wie verlangt keine Fragen gestellt. Und nur, um was zu lesen? Er... Sie...“ Ich konnte nicht mehr weiter sprechen. Ich konnte nur mehr empfinden. Empfinden was ich all die Jahre verdrängt hatte. Sie lebten ein glückliches Leben. Sie... lebten zusammen. Und ich ackerte mich hier ab um ihnen ein gutes Leben zu finanzieren! Sollte er nicht eigentlich bereits tot sein? Mein... Ehemann? Was ist mit seiner Krankheit? Unseren Kindern...
Mehrere Stunden liefen all die Tränen, die seit Jahren nicht geweint worden waren. Selbst als keine Tränen mehr nachkamen, weinte ich weiter. Meine Körpertemperatur wechselte zwischen unterkühlt und überhitzt. Ich konnte nicht einmal mehr sagen, was ich alles nicht erzählte. Doch Dia hörte mit zu. Sie sprach gut auf mich ein und erst als ich kraftlos im Bett lag, rief sie Doc an, das er sich um meine Beine kümmerte. Er wollte mir ein Beruhigungsmittel geben, doch mit nur einer Handbewegung, lag es zertrümmert am Boden.
„Ruhiger als jetzt, werde ich erst sein, wenn meine Mission zu Ende ist.“
Dia sagte Doc, das er mich einfach so behandeln sollte. Er war zwar nicht begeistert, doch tat es. Er öffnete alte Wunden, desinfizierte sie und verband meine Fußsohlen. Dia half ihm dabei und ich sah lediglich stumm dabei zu.
„Du hast deine Nerven stark beschädigt. Durch die jahrelangen Schmerzen wirst du vermutlich nicht einmal spüren, wenn dir ein Reißnagel in der Zehe steckt.“
Ich nickte lediglich. Was machte das schon?
„Alive, ich weiß das du es nicht hören willst. Aber du musst zu Liam gehen und dir einen anderen Auftrag geben lassen. Du weißt, dass das gegen unsere Gesetze verstoßt?“ Ich blickte Doc warnend an.
„Wenn ihr es jemanden sagt, werde ich euch ebenfalls töten.“ Eigentlich ein leeres Versprechen, jedoch sahen sie sich verwirrt an und schienen es ernst zu nehmen.
„Also die Rekrutin, mochte ich lieber.“ Murmelte Dia und zwang sich zu einem Lächeln.
Doc schüttelte den Kopf und predigte eine seiner ewig langen Vorträge. Jedoch war sie mir dieses eine mal egal. Jedes mal wenn er etwas lang und breit predigte, hörte ich zu und saugte es auf wie ein Schwamm. Doch jetzt? Jetzt war es mir plötzlich egal. Ich hatte eine letzte Aufgabe. Ich würde meine Kinder, von diesem Ekel an Vater definitiv endgültig befreien.
Drei Tage und unzähligen Gesprächen mit Dia später, betrachtete ich die Outfits, die sie mir mitgebracht hatte. „Ich wusste nicht recht, was zu dir passt, bei dir sieht ja überhaupt nichts gleich aus. Verschiedene Augenfarben, deine Haare dunkel, deine Haut hell, dein Gesichtsausdruck abweisend, aber dein Körper weiblich. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich anfangen soll.“
Dia verschwendete zwei Stunden damit, in meine Haare locken hinein zu bekommen, dann steckte sie sie teilweise hoch, damit sie etwas Schwung bekamen. Mit etwas Rouge bekam sie Farbe in mein Gesicht und ein schwarzes Abendkleid mit tiefen Ausschnitt ließ mich weiblich wirken. Einerseits fand ich es absolut lächerlich. Andererseits... sah ich einfach umwerfend aus. Schweigend betrachtete ich mich im großen Spiegel, während mein Blick immer wieder hinauf zu meinem Namen gezogen wurde.
Alive... Ja das hatte ich tatsächlich.
Ich spürte, wie sich ein aufrichtiges Lächeln auf meine Lippen legte und selbst Dia wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.
„Okay... ähm... du brauchst vielleicht etwas mehr Lipgloss. Du hast ein echt umwerfendes Lächeln, wenn du das willst.
Ich nickte ihr durch den Spiegel zu und beobachtete sie dabei, wie sie mir Lipgloss auftrug. Tatsächlich... Die Frau im Spiegel log mir tatsächlich etwas vor. Oder auch nicht? So unterschiedlich wie mein Aussehen war, genauso unterschiedlich waren nun meine Empfindungen. Nach drei verdammten Jahren konnte ich so etwas wie Freude empfinden.
Freude darüber, mich endlich zu wehren.
Als ich eine halbe Stunde später das Gebäude verließ, das ich vor dreieinhalb Jahren durch ein unbewohntes Haus betreten hatte, wurde mir etwas mulmig zumute. Eine warme Sommerbrise wehte mir durch das Haar und über meine Haut. Ich fühlte mich dabei, als würde mich der Wind, gleich mit sich tragen. Weit weg von hier. Und von meiner Vergangenheit.
Ich betrachtete die Limousine, die glänzend vor mir stand und fragte mich, was wohl die anderen über mich denken würden.
Als mir die Türe geöffnet wurde, saß Koch darin und lächelte mich herzlich an.
„Koch! Das man dich auch einmal wieder sieht!“
Sein Lächeln wurde noch breiter, als er seinen Blick über mich gleiten ließ und deutete mir, mich einmal im Kreis zu drehen.
Staunend klappte ihm der Mund hinunter. „Ach du meine Güte. Wer bist du und was hast du aus dem kleinen zerbrechlichen Mädchen gemacht, das wir damals gefunden haben?“
Kichernd fiel ich ihm um den Hals und er erwiderte verwirrt meine herzhafte Umarmung.
„Tja, eine Prise hiervon und eine Messerspitze davon, dann gewürzt mit einem Löffel Tymian und schon entsteht etwas neues.“
Laut lachend half er, mir einzusteigen, und setzte sich danach in den vorderen Teil der Limo, wo ihn niemand sehen würde, wenn ich ausstieg.
„Okay, flirten kannst du später mit mir. Jetzt muss ich dir erst einmal alles über deine Mission sagen. So viel Zeit haben wir ja nicht.“
Nickend konzentrierte ich mich auf seine Worte. Koch wusste nichts von meiner Vergangenheit, darum schmerzte es auch nicht, wenn er vollkommen sachlich sprach.
„Okay, hier geht es um ein Pärchen, das Teile an einer großen Firma gekauft hat, die Milliarden im Jahr verdienen. Das Pärchen Andersen ist durch ein Unterwäsche Kollektion in den Markt gekommen und ziemlich schnell berühmt geworden. Sie sind Partner an der Milliardenfirma und sehr gute Zahlende Kunden. Und das müssen wir einstellen. Wir haben schon mehrmals versucht, sie dazu zu überreden die Geschäfte mit der Firma zu unterbinden, doch es nützte bis jetzt nichts. Wenn wir das Pärchen eliminieren, dann stoppen wichtige Zahlungen, die die Firma aufrecht halten. Und das ist auch deine Aufgabe.“
„Irgendwelche Verwandte, auf die etwas abfallen könnte?“ Fragte ich und versuchte dabei nicht allzu neugierig zu wirken.
„Nein. Der Mann hat zwar zwei Söhne, doch er hat weder Obsorge zu denen, noch besucht er sie. Bei Gesprächen stritt er sogar mehrmals ab, Kinder zu haben. Er ist ein komischer Kauz. Aber, egal. Die Frau ebenfalls nicht. Sie sind erst seit kurzem verheiratet. Ungefähr vor zwei Jahren sind sie mit ihrer Kollektion durch gekommen.“
Sophie... Sie hatte schon immer eine Schwäche für Mode. Doch dass sie sich selbst als Stylistin probierte, hätte sie nicht gedacht.
„Das heißt sie haben ihre Kollektion und alles aus dem Nichts aufgebaut?“
Koch blätterte in seinem Block herum und nickte. „Ja. So ziemlich. Wie es aussieht, haben sie von... Verwandten oder so... ein Startgeld bekommen. Damit haben sie das große Geschäft gemacht.“
Zorn wallte wie ein unbändiger Sturm in mir hoch. Ach Mutter, was hast du denn da wieder angerichtet?
Kopfschüttelnd massierte ich meine Schläfen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ohne meine Zahlungen wäre sie bereits die Kinder los und wahrscheinlich im Irrenhaus.
„Okay, das reicht mir. Und die Milliardenfirma? Was ist so... speziell an ihr?“
„Sie führt unter der Hand einen großen Drogenhandel und außerdem verschiffen sie Flüchtlinge und Ähnliches. Ziemlich verfahren das alles. Sie stecken außerdem mit vielen mafiaähnlichen Gruppierungen unter der Decke und erpressen sogar ihre Angestellte, damit die die Klappe halten. Ganz fiese Jungs...“
Nickend nahm ich alles zur Kenntnis. Nicht das etwas daran meine Meinung geändert hätte, die beiden zu töten.
„Gut, wir sind da. Und jetzt lächeln und tu so als wäre das alles alltäglich für dich!“
Alltäglich? Von was sprach er?
Als die Türe von außen geöffnet wurde, blendete mich auf der Stelle ein Blitzlichtgewitter. Verdammt, wo hatten mich die da hinein gesteckt?
Verwirrt mich in einer solchen skurrilen Situation zu finden, ließ ich mir aus dem Wagen helfen und hörte noch wie Koch hinter mir „Lächeln und freundlich winken!“ rief. Ich und freundlich? Ich war vielleicht schüchtern und lieber für mich, eventuell konnte man mich noch als höflich abweisend bezeichnen. Aber >freundlich?<
Ich versuchte, den dicken Klos in meinem Hals hinunter zu schlucken und zu lächeln. Mir persönlich kam das ganze Ansehen völlig lächerlich vor, doch ich musste den Schein wahren, während ich versuchte, meine Mission zu erfüllen.
Fünf Minuten später durfte ich >endlich< den roten Teppich verlassen und wurde vom Personal zur eigentlichen Veranstaltung gebracht.
Staunend betrachtete ich die Unterwäsche Kollektion. Auch wenn ich Sophie hasste, sie hatte einen einwandfreien Geschmack. Staunend erlaubte ich mir einige Komplimente über die Kollektion. Es war einfach der Wahnsinn.
Staunend schnappte ich mir ein Champagner Glas und nippte daran. Ich durfte mich auf keinen Fall betrinken!
Hin und wieder sprachen mich die nächste Stunde immer wieder fremde Leute an und stellten sich mir vor. Ich selbst hatte die falsche Identität eine Käuferin zu sein und versuchte mich dementsprechend anzupassen.
Leider hatte ich bereits nach wenigen Minuten drei Anhänge, die sich mit mir bis ins kleinste Detail über die Kollektion unterhielten. Hin und wieder wurden wir sogar fotografiert und ich musste Nummern mit ihnen Austauschen. Anscheinend fanden sie mich äußerst sympathisch. Oder hatte ich unbemerkt Fehler gemacht und sie machten sich nun über mich lustig?
Aber dafür wirkten sie viel zu nett.
„Siena! Siena! Komm Sie schon. Der Walk fängt endlich an. Wir müssen unbedingt nebeneinandersitzen und darüber ab lästern.“ Ohne großartig etwas sagen zu können, hakte sich eine Modedesignerin bei mir ein und flüsterte mir Sachen ins Ohr, die jede andere Designerin rot sähen, hätte lassen. Ich kannte die Frau zwar nicht, doch etwas sagte mir, das sie nicht sonderlich beliebt bei den anderen war.
Kichernd ließen wir uns in den hinteren Reihen nieder und die Frau kam kaum noch aus ihren Spott heraus. Negatives zieht sich wohl oder übel an...
Als die große Show begann, konnte ich nicht anders und musste unbedingt mit lästern. Verdammt... Ich mochte die Frau tatsächlich. Auch wenn ich eine falsche Identität trug und mich nicht so verhielt wie sonst immer, war es erfrischend jemand anderes zu sein. Im Gegensatz zu meinem sonstigen Verhalten fühlte ich mich übertrieben... charakteristisch.
„Los, komm. Lass uns gehen, bevor Mister und Miss Andersen bemerken, dass ich hier bin.“
Verwirrt blickte ich sie an. „Ach so, sind Sie etwa ohne Einladung hier?“
Sie winkte ab und kicherte übertrieben. „Ach, was... So würde ich es nicht nennen. Ich war diejenige, die Sophie entdeckt hat. Jedoch finde ich ihre Unterwäsche viel zu Ordinär und eher etwas für Frauen mittleren Alters, die sich große Mühe geben müssen, sexy zu wirken... oder billig... Trotzdem lassen sie sie in beinahe jeder Modezeitschrift erscheinen und das, obwohl ihr Stil total abgegriffen ist.“
Ja... und ich wusste auch, warum das so war. Moment... „Was wäre wenn ich Ihnen ein kleines dreckiges Geheimnis über Miss... Andersen verraten könnte?“
Die Designerin wurde sofort hellhörig. „Und das würden Sie einfach so mit mir Teilen?“
Ich lenkte uns in einen Seitengang und lächelte sie verschwörerisch an. „Lediglich unter der Bedingung, dass Sie dieses Geheimnis so gut wie nur möglich... weitergeben.“
Für einen Moment wirkte sie enttäuscht, doch als sie das Wort >weitergeben< vernahm, wurde ihr Gesichtsausdruck strahlender.
„Also, ich verrate Ihnen nun alles, was ich über die beiden herausgefunden habe. Vor einigen Jahren war Mister Andersen bereits schon einmal verheiratet. Seine Frau ist leider verstorben und danach hat er die jetzige Miss Andersen geheiratet. Die Mutter der verstorbenen Exfrau hatte einige... Ersparnisse auf der Seite. Und nun raten sie einmal... Nur kurze Zeit nach der Hochzeit, ist was passiert?“
Die Augen der Designerin fingen gierig an zu leuchten. „Was! Das heißt sie haben die Ersparnisse gestohlen?“
Ich winkte ab, als wäre es selbstverständlich. „Nun, ja geborgt werden sie es sich ja doch nicht haben, da die Mutter der Verstorbenen ihn nie leiden konnte. Also warum sollte sie den Witwer mit Geld vollstopfen?“
Kichernd machte sie sich sofort über diese Story her und schrieb sich alles auf, was ihr wichtig erschien. „Nur damit ich es nicht vergesse. Wäre ja schade darum.“
Kichernd hörten wir, wie der Walk endete und sich die Menge in Richtung des Buffets begab.
Unsicher blickten wir um die Ecke und reihten uns in der Mitte der Gruppe ein.
„In Ordnung, ich sollte nun lieber gehen. Ich möchte ja nicht, dass mir jemand mit dieser Story zuvorkommt.“
Kopfschüttelnd winkte ich ihr und grinste vor mich her. Wenn ich die beiden heute Abend tötete, dann würden sich die Milliardenfirma niemals alles schön reden können oder sich gar herausreden. Suchend schlich ich durch die Menge und versuchte den Kameras und den Leuten auszuweichen, mit denen ich mich in den Ersten Stunden unterhalten hatte.
Jetzt ging es, darum das Paar zu töten, noch bevor sie von der Feier verschwanden. Als ich gerade nach einem Champagner Glas griff um dieses Mal einen Schluck zu nehmen, traute ich meinen Augen nicht. Mein Blick traf zufällig hellblaue Augen, die ich bereits seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Mit einer unauffälligen Geste nickte ich ihm zu und im selben Moment formten seine Lippen das Wort >Nein!<
Verdammt, das hatte ich total vergessen. Chef wusste natürlich über meine Vergangenheit Bescheid. Genau in dem Moment, wo ich den Entschluss fasste, unter zu tauchen, legte sich eine eiserne Entschlossenheit in seinen Blick und er deutete mir, zu bleiben wo ich war.
Kopfschüttelnd mischte ich mich unter die Menge und öffnete mein Haar, damit er mich nicht allzu leicht fand.
Meine Locken hüpften nun wild um meinen Kopf, während ich mich unauffällig zwischen den Leuten bewegte und mich immer wieder hinter kleineren Gruppen versteckte.
Das hatte mir noch gefehlt. Chef würde es bestimmt nicht zulassen, dass ich gegen das Gesetz verstieß, das mir verbat, die Leute aus meiner Vergangenheit zu treffen.
Dia war mittlerweile meine Freundin, genauso wie Doc, doch Chef... er war mein Boss. Er musste mich dazu bringen, mich an die Gesetze zu halten.
Als ich mich in dem großen Raum befand, in dem der Walk, stattgefunden hatte, lief ich hinter die Bühne und... wurde sofort wieder zurückgezogen.
„Oh nein. So schnell entkommst du mir nicht!“ Raunte er mir ins Ohr und zog mich aus dem Blickfeld einiger Models.
Verdammt, zu langsam...
Eine Hand lag auf meinem Mund, sodass ich keinen laut machen konnte, doch andererseits wollte ich das auch überhaupt nicht. Er war keine Bedrohung für mich und so ließ ich mich von ihm in den Gang ziehen, in dem ich vorher noch mit der Modedesignerin gestanden hatte.
„Was soll das werden, Alive? Willst du, dass du getötet wirst?“
Ich schüttelte seine Hände ab und blickte ihn finster an. „Warum getötet? Das ist meine Aufgabe. Ich muss das tun, damit meine Ausbildung...“
„Quatsch! Ich kenne dich. Ich weiß, dass du die beiden kennst und zornig bist. Und ich finde es echt Scheiße, dass Hass die erste emotionale Reaktion ist, die ich bei dir sehe, aber wenn du dich ihnen zeigst und sie tötest, dann kommst du vor das Gericht. Unser Rat wird zweifellos dafür stimmen, dich töten zu lassen, da du gegen ein sehr strenges Gesetz verstoßen hast. Du hättest das melden sollen, verdammt noch einmal!“
Chef wirkte plötzlich nicht mehr wie der kleine fünfzehnjährige Junge der mich vor drei Jahren gefunden und beschützt hatte. Nein... Mittlerweile war er achtzehn, doch seine Augen hatten den Blick eines vierzigjährigen, erfahrenen Mannes.
Was war nur in den letzten drei Jahren aus dem kleinen süßen Jungen passiert, den sie so um seinen Charakter beneidet hatte.
„Was? Du denkst, du kennst mich? Wir haben uns schon drei Jahre nicht mehr gesehen, also sag, nicht dass du weißt, was ich denke, oder wie ich fühle! Und ja vielleicht ist meine erste Emotion Hass, doch kannst du es mir verübeln? Chef! Sie haben meine Mutter bestohlen. Das Geld, das ich ihr jeden Monat schicke! Wie denkst du, fühle ich mich dabei? Dieses Geld war für meine Kinder! Für ihren Erhalt und Ausbildung! Als ich ging, hatte mein Exmann Krebs, hat mich jeden Tag betrogen und mich wie seine Sklavin behandelt. Okay, er hat eine neue Freundin gefunden. Das stört mich nicht so sehr. Die beiden Idioten haben einander verdient. Aber meine Mutter! Verdammt! Sie haben ihr alles genommen und amüsieren sich nun genüsslich! Denkst du ernsthaft, das lasse ich ihnen durchgehen?“ Für einen Moment sah er mich unschlüssig an. Vermutlich konnte er nachempfinden, was ich damit sagte, doch er war im Vorstand. Klar, dass er darauf aus war seine Angestellten zurechtzuweisen.
„Ja, ich weiß, was du meinst...“
Ich steckte die Klammer wieder zurück in mein Haar, da ich ja jetzt nicht mehr vor ihm flüchtete und überprüfte mein Aussehen in einem Spiegel.
„Gut. Dann lass mich das bitte erledigen. Ich werde mich auch von ihnen nicht sehen lassen. Und ich habe sogar dafür gesorgt, dass ihnen jemand auf die Spur kommen wird. Die Milliardenfirma wird auffliegen. Keine Sorge.“
Ich schritt an ihm vorbei und sah mir das Abendprogramm an. Noch zwei Stunden, bevor alle gehen würden. Das war genügend Zeit.
Mit einem klopfenden Herzen machte ich einen prüfenden Griff zu meinen Stiefeln, in dem ich meine Schere versteckt hatte und seufzte erleichtert. Jetzt war meine Zeit gekommen.
Ich mischte mich abermals unter die Gemeinschaft und sah das verliebte Pärchen in der Nähe der Reporter. Die würden ihnen den ganzen Abend wohl an der Seite kleben. Irgendwie musste ich sie von ihnen losbekommen.
Vielleicht wenn ich...
Eine Hand legte sich auf meinen Rücken und ich sah hinauf zu Chef. Wann ist er denn so gewachsen?
Er lächelte mich höflich an und ließ danach seinen Blick zu meinen Zielobjekten schweifen.
„Die werden die beiden nicht aus den Augen lassen.“ Bemerkte er und griff dankend nach meinem Champagner Glas.
Traurig sah ich dem Getränk hinterher. Das war gemein... „Ich weiß. Ich denke nur, wenn ich ihnen nur eine Nachricht zulassen kommen könnte.“
„Ich helfe dir, vorausgesetzt ich darf die Nachricht davor lesen.“
Seufzend nickte ich und Chef hielt mir eine Serviette und einen Kugelschreiber hin. Wir zogen uns zu einem freien Tisch zurück und ich überlegte, was ich darauf schreiben sollte.
„Denk gut darüber nach, was du schreibst. Wenn es mir nicht gefällt, blase ich sofort alles ab.“
Seine Hand lag immer noch wie zu Erinnerung auf meinem Rücken. Andere würden uns vermutlich für ein tuschelndes Pärchen halten, was mir einen Schauder über den Rücken jagte. Chef war so absolut nicht wie Valek.
Valek war damals ein Student gewesen und hatte viel geträumt. Jeder Tag war mit ihm ein Abenteuer gewesen und wir haben viel gelacht. Er hatte sogar spontan immer etwas mit mir unternommen und mir beim Lernen geholfen. Irgendwann hatte er dann bei einem Ausflug um meine Hand angehalten und nur kurz darauf haben wir geheiratet und haben unsere Kinder bekommen. Jedoch sobald wir in das Haus eingezogen waren, hatte er seinen Job verloren, ihm wurde Krebs diagnostiziert und er wurde zunehmend aggressiver und launischer.
Chef jedoch war ein bodenständiger Kerl, der das bekam, was er wollte. Auch mich hatte er an seine Seite bekommen, auch wenn ich nicht sonderlich viel Mitspracherecht dabei hatte.
Ich war ihm so zu sagen dabei in die Arme gestolpert.
Plötzlich erinnerte ich mich an etwas. Ich schrieb ein Datum auf die Serviette und schrieb die Initialen meiner Söhne darunter. Ich zeigte es Chef und er blickte mich fragend an.
„Das Datum war der Abend, an dem wir uns das erste mal geküsst haben, Valek und ich. Das darunter sind die Initialen der beiden Personen, die mir am Wichtigsten sind. Er wird sich auskennen.“
Chef verdrehte die Augen und seufzte schwer. „Denkst du, nicht dass er sofort wissen wird, dass du das geschrieben hast?“
Ich nickte und schrieb darunter noch einen Treffpunkt, den ich gut überblicken konnte.
„Nein. Die Initialen werden ihm bekannt vor kommen und das Datum wird ihm sagen, dass es jemand aus der Vergangenheit ist, der mich kannte. Und nun lass ihnen das zukommen.“
Ich drückte ihm die Serviette gefaltet in die Hand und blickte ihn erwartend an.
Kopfschüttelnd steckte er sie in die Jackentasche und sah sich nach den Mordopfern um.
„Aber danach verrätst du mir, wer diese beiden Personen sind.“ Noch bevor ich >Nein< sagen konnte, war er schon in der Menge verschwunden und ich konnte es nicht fassen. Wieso tat er das alles? War er verrückt? Wollte er mich quälen?
Kopfschüttelnd machte ich mich auf den Weg zu den Gärten, die in einer romantischen Stimmung gehalten wurden und kicherte darüber. Also gab es doch einen Romantischen Tot...
Eine halbe Stunde später sah ich Valek und Sophie aus dem Gebäude kommen und sich entschuldigen, dass sie einen romantischen Spaziergang machen wollten.
Während die beiden, sichtlich nervös durch den Garten schlenderten, folgte ich ihnen mit einigem Abstand, um zu überprüfen, ob ihnen auch niemand folgte.
Als ich sicher war, dass niemand in der Nähe war, fluchte ich leise.
„Entschuldigen Sie die Störung. Aber dürfte ich von dem entzückenden Paar ein Bild in dieser romantischen Atmosphäre machen?“
Woher hatte er den die Kamera? Außerdem was tat er denn da?
Noch während ich mich in das Gebüsch duckte, hörte ich einen gurgelnden Aufschrei. Was zur... Valek sank zitternd zu Boden und Sophie schrie um Hilfe.
Chef deutete mir zu verschwinden und feuerte einen zweiten lautlosen Schuss ab. Er traf Sophie an der Schläfe und auch sie kippte lautlos zur Seite.
War das sein ernst! Dieser verdammte Idiot! Was fällt ihm ein... er kann doch nicht...
Mit stolpernden Schritten lief ich auf ihn zu. Mit einem kräftigen Schwung schlug ich ihm ins Gesicht und staunte über mich selbst. Woher war das denn plötzlich gekommen? „Oh, je. Das tut mir jetzt leid. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe... ich...“
„Hör auf dich zu entschuldigen. Lauf schnell, es werden gleich andere Kommen. Da sollten wir bereits in der Limo sitzen.“
Er zog mich hinter sich her und hielt grimmig seine linke Wange, die meinen Schlag abbekommen hatte. Ich riss mich schnell los und schnappte mir die Kamera, die bei meinem überraschenden Schlag hinunter gefallen ist. Nette Idee, darin eine Pistole zu verstecken.
„Komm jetzt!“ Zischte Chef und ich lief ihm hinterher. Am Hinterausgang, wartete bereits eine Limousine und Koch hielt uns die Türe auf.
„Da bist du ja... Oh. Chef! Warum...“ Chef deutete ihm einzusteigen und wir sprintenden hinterher.
Als der Wagen startete, atmeten wir tief durch.
„Wow, da hast du ja ein schönes Veilchen. Mit welchem Ehemann hast du dich jetzt wieder angelegt?“ Koch kicherte und hielt Chef ein Tuch mit Eiswürfeln hin, die er auf den geschwollenen Wangenknochen presste und fluchte dabei.
„Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe...“ Murmelte ich und schob seine Hand weg, um den Knochen zu betasten.
„Du warst das? Dann muss er es aber ordentlich vermasselt haben!“
Ich verspürte weder einen Knacks, noch einen Bruch und legte das Tuch, mit dem Eis darin, wieder auf die Schwellung damit sie wegging.
„Nun, ja eigentlich...“ Chef unterbrach mich, bevor ich ausreden konnte, und erzählte eine Lüge. „Ich wusste nicht, wer sie war und dachte, es wäre ein Überfall oder so. Jedenfalls, hat sie sich erschreckt, ausgeholt und ich bin nicht rechtzeitig ausgewichen. Das war alles. Darum hat es etwas länger gedauert als geplant. Jedoch hat sie trotz allem ihre Mission erfüllt. Hier ihre Waffe.“
Er nahm mir die Kamera weg, in der eine Pistole eingebaut war und warf sie Koch zu, der sie erschrocken auffing. Fluchend sicherte er sie und beschwerte sich, dass man ihn in seinem Alter nicht mehr so erschrecken sollte.
Lächelnd sah ich ihm dabei zu, wie er etwas auf einen Fragebogen ausfüllte und Chef beantwortete für mich sämtliche Fragen.
Mir jedoch, warf er immer nur vorwurfsvolle Blicke zu, während ich seine Haare zur Seite strich und die Eiswürfel austauschte, als sie beinahe alle geschmolzen waren.
Als wir nach einigen Minuten, die mir unangenehm lange vorkamen, endlich vor das verlassene Haus vorfuhren, das hinunter zu unseren Quartieren führte, konnte ich es überhaupt nicht erwarten aus dem Auto zu kommen.
„Alive! Endlich! Und wie... war... Chef? Was machst du hier?“ Dia, die mir freudig entgegengekommen war, blickte verwirrt zwischen Chef und seinem Eisbeutel hin und her. „Okay, das verspricht eine lustige Geschichte zu werden. Was ist passiert?“
Koch stieg nun ebenfalls hinter uns aus und umarmte Dia freundschaftlich. Kichernd entwand sie sich seinen riesigen Armen.
„Vergiss es. Anscheinend ist es etwas peinliches, da mich Chef vorhin im Auto angelogen hat.“
Dia zog erstaunt die Augenbrauen hoch und lächelte anzüglich. „Na, dann... Dann muss ich wohl Alive ausfragen.“
Chef warf mir einen warnenden Blick zu und ich richtete meinen Blick Richtung Boden. „Was mein Veilchen verursacht hat, geht euch nichts an. Fakt ist, Alive hat ihre Sache äußerst gut gemacht und nun gehen wir bitte hinein.“
Koch ging voran, doch steuerte nicht, wie ich dachte zu den Liften hin, sondern ging in die Küche und setzte uns einen Tee auf.
„Ich hoffe, es stört niemanden, wenn ich nach unten fahre. Ich bin wirklich müde.“ Gähnend, da der Abend tatsächlich sehr anstrengend gewesen war, griff ich zu dem einzigen halbwegs echten Buch, das der Hebel war um die Lifte zu erreichen, doch Dia packte mich am Arm und hielt eine Sektflasche in die Höhe.
„Vergiss es. Jetzt wird gefeiert. Man absolviert immerhin nicht jeden Tag so einen Abschluss wie du! Das ist ja echt der Hammer. Ich hätte niemals gedacht, dass du mit deiner Story durch kommst. Und...“ Dia fragte mich über den ganzen Abend aus und ich berichtete ihr, und Koch auch, wie ich den Ruf der beiden noch extra geschädigt hatte.
„Da hat mein Mädchen, echt gut aufgepasst!“ Lobte mich Koch. Natürlich hatte ich nur die Fakten aufgezählt, die mir Koch im Auto gesagt hatte, doch trotz allem wirkten sie beide wie stolze Eltern. Plötzlich fühlte ich dass meine Wangen rot wurden, und wandte meinen Blick Richtung Boden ab.
„Nun, ja. Ich denke ich geh dann einmal. Dia kommst du?“ Dia gähnte ausgiebig und schloss sich Koch an.
„Macht ihr noch den Abwasch bitte? Wer weiß wann wieder mal jemand hier hochkommt.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand Dia im Lift und lächelte mich aufmunternd an. Was wollte sie von mir?
„Ich mache den Abwasch. Fahr du schon mal runter und lass Doc deine Wange ansehen.“ Chef, der die ganze Zeit mit seinem, mittlerweile kalten Tee, dagesessen hatte und ganz in seine Gedanken versunken war, blickte mich nun erstaunt an.
„Was? Entschuldige, ich war in Gedanken. Wo sind die anderen hin?“
Lächelnd nahm ich ihm die kalte Tasse ab und stellte es auf das Servierblech zurück. „Erst seit einer Minute. Fahr auch hinunter, ich komme dann nach, wenn ich hier etwas sauber gemacht habe.“
Ich griff in den Kasten und zog mir Wechselkleidung heraus. Ohne darauf zu achten, was Chef machte, ging ich ins Bad und zog mir das viel zu enge Abendkleid aus. Ich würde es später mit hinunter nehmen und es waschen, bevor ich es Dia zurückgebe.
Als ich aus dem Bad zurück kam und mich nach dem Servierblech umsah, war es verschwunden. In der Küche hörte ich Wasser laufen und schüttelte den Kopf.
„Was machst du denn? Ich sagte doch...“
„Machen wir das zusammen, dann geht es schneller.“ Er sah zwar nicht auf, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde etwas nicht stimmen.
Ich griff in einem der Laden nach einem Geschirrtuch und fing an die nassen Gläser und Tassen abzutrocknen.
Die ganze Zeit verbrachten wir schweigend. Eigentlich kam es mir zugute, so konnte ich endlich einmal an die letzten Minuten denken, die ich im Garten verbracht hatte.
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Sie sind nun beide tot. Ich konnte noch immer das Blut sehen, das sich auf den Kiesweg ausgebreitet hatte. Chef hatte einfach, ohne zu zögern, abgedrückt. Dann war der entsetzte Gesichtsausdruck von Sophie erschienen, bevor auch ihr Kopf ein blutendes Loch erhalten hatte und sie neben Valek auf den Boden sank.
Und was würde jetzt passieren? Werde ich jetzt so wie die anderen durch die Welt reisen und Attentate verüben, andere Auffliegen lassen oder ausspionieren? Was würde nun meine Rolle im Leben sein. Eigentlich hatte ich darüber noch nie nachgedacht. Ich habe immer nur in den nächsten Tag gelebt, mit einem strengen Stundenplan. Aber jetzt war ich nicht mehr angewiesen auf Dia, Koch oder den Doc. Ich hatte zwar immer noch niemanden getötet, doch andererseits...
Seltsamerweise war sterben für mich absolut kein Thema mehr. Ich wollte nicht einmal daran denken einfach zu sterben.
Lag es daran, dass es mich sehr verletzt hatte, das Valek und Sophie einfach ihr Leben weiter gelebt hatten, ohne über mich nach zu denken. Hatte ich ernsthaft in meinem vorherigen Leben so wenig Eindruck hinterlassen, oder einfach den falschen?
Nach den drei vergangenen Tagen, wo ich wie ausgewechselt und auf Hochbetrieb war, was meine Gefühle anging, fühlte ich mich plötzlich wieder so leer wie schon die letzten drei Jahre.
Nun, ja. Wenn ich unten bin und der nächste Morgen anbricht, werde ich bestimmt meine neue Aufgabe in die Hand nehmen dürfen. Hoffe ich...
„Du weißt, dass du bereits seit sieben Minuten an dem letzten Glas herum reibst und es bereits trocken ist?“
„Was?“ Ich betrachtete das Sektglas und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“ Ich stellte es weg und schloss die Läden wieder. Was für ein verrückter Tag...
Plötzlich erinnerte ich mich wieder an den Schlag, den ich Chef verpasst hatte und wandte mich zu ihm um. Die Schwellung an seiner Wange war bereits zurückgegangen, doch es begann, sich blau zu färben. Er würde morgen früh fürchterliche Schmerzen haben, wenn er sprach...
„Ich... denke, ich sollte mich noch einmal entschuldigen. Ich weiß nicht, warum ich dich geschlagen habe.. ich habe ehrlich gesagt nicht darüber nachgedacht... ich...“
„Schon gut. Passiert.“
Was? >Schon gut. Passiert.< Das war alles? „Ich weiß, das du sauer auf mich bist, bitte sag wenigstens irgendetwas. Sei wütend, oder enttäuscht...“
Er warf mir einen überraschten Gesichtsausdruck zu, der sich sogleich in einen belustigen verwandelte. „Wieso denkst du, dass ich deswegen wütend bin? Immerhin habe ich es verdient.“
Verdient? Jetzt war ich mir nicht mehr sicher ob ich ihn nicht, vielleicht doch zu heftig getroffen hatte. „Ich denke, du solltest heute wirklich noch zu Doc. Ich glaube, ich habe dich härter getroffen, als das ich annahm...“
Ich griff in sein Gesicht und betastete die Haut darum herum, ob sich vielleicht irgendwo in der Nähe etwas gelockert hatte, oder angeknackst war. „Ich kann zwar nichts ertasten, aber du solltest es dir wirklich ansehen lassen. Vielleicht sogar röntgen.“
Kopfschüttelnd packte er mich am Handgelenk und hielt es weiter von sich weg, während er meine Handfläche forschend musterte.
„Hm... Zeig mir einmal deine andere Handfläche.“ Ich sollte ihm die Handfläche zeigen? Ich hob meine linke an, an die einige Schwielen besaß, von den Malen, wo ich mich aus Versehen mit der Schere selbst erwischt hatte. Als er meinen Blick bemerkte, sauste sein Blick suchend über meinen Körper, bis er bei den Lederstiefeln hängen blieb, die ich immer noch trug, da ich im Kasten nur Sandalen gefunden hatte, und diese nicht anziehen konnte. Doc hatte meine Fußsohlen bis zu den Knöchel eingebunden. Vermutlich eher um mich zu ärgern, als das es nötig war.
„Alive!“ Sein Ton war drohend. „Zieh die Schuhe aus!“
Ich zog meine Hände zurück und verstecke sie hinter meinem Rücken. „Ähm... ich steh schon den ganzen Abend in den Stiefeln und denke nicht das es ratsam...“ Ohne auf meine Proteste zu achten fiel er vor mir auf die Knie und öffnete sie einfach.
„Eigentlich hätte mir das schon früher auffallen sollen, da Dia niemals solche Fehler machen würde.“
„Chef! Wirklich. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst.. Ich wollte nicht...“ Aber es war bereits zu spät, er zog meinen Fuß aus dem Schuh und wickelte den dicken Verband ab. Danach entfernte er die Auflagen die, die Creme vom Verband fernhielten und stieß entsetzt die Luft aus.
„Alive... warum?“
Ich wandte den Blick ab und wusste nicht recht, was ich sagen sollte. „Du... Du hast mir verboten, mich umzubringen. Aber... Ich habe die ganze Zeit nicht gelebt... Und die Schmerzen... haben, mir gezeigt, dass ich noch lebe.“ Plötzlich legte sich eine Müdigkeit über mich und ich ließ mich vor Chef auf den Boden sinken. Der Abend war wirklich viel zu lange gewesen.
Er wickelte mein Bein wortlos wieder ein und ich zog den Schuh selbst wieder an. Was dachte er wohl über mich? Jetzt musste er bestimmt stink wütend auf mich sein.
„Sag mir... die Initialen B. und S. Wer ist das?“
Das war ernsthaft seine Frage? Kein Wutausbruch? Kein Tadel oder keine enttäuschten Worte?
„Ich... ehrlich, ich möchte nicht...“
Ich saß ihm gegenüber auf dem Boden und starrte überall hin, während ich mich versuchte, aus der Situation heraus zu reden. Im nächsten Moment fühlte ich eine starke Hand, die sich um meinen Hals legte und zudrückte. Für einen Moment fühlte ich entsetzen durch meinen Körper schießen, bevor ich merkte, dass ich keine Luft mehr bekam. Meine Hände zuckten zwar zu seinen zudrückenden Arm, doch ich verspürte kein Bedürfnis, ihn weg zu drücken. Alleine schon weil ich wusste, dass er viel stärker war als ich.
„Wieso bist du so? Wieso... Merkst du nicht, dass du damit Leuten weh tust, denen etwas an dir liegt? Ich meine... du wehrst dich nicht einmal. Ich bräuchte nur einen Ruck mit dem Arm machen und dein Genick würde brechen. Du würdest uns alle niemals wieder sehen. Auch B.S. Würdest du niemals wieder sehen, niemals wieder an uns denken. Du würdest verschwinden und einfach so ein Loch in unseren Herzen hinterlassen. Würdest du das wollen?“
Während mir der Atem fehlte um etwas zu sagen, fühlte ich auch, wie mein Gehirn aufhörte zu arbeiten. Es war, als wollte ich mir das nicht einmal ausmalen. Warum sollten auch andere um mich trauern? Als würde ihnen etwas fehlen, das war doch lächerlich. Sophie und ich kannten uns von klein auf und mit Valek war ich fünf Jahre verheiratete gewesen. Abgesehen von meiner Mutter waren diese beiden die Einzigen, denen ich nahe stand und sie hatte weitergelebt, als wäre niemals etwas passiert. Sogar als hätte ich nicht einmal existiert. Also warum sollten sich Leute um mich scheren, die mich nur drei Jahre kannten? Und das nicht einmal gut genug, dass sie mich als Freundin bezeichnen konnten.
Enttäuscht lockerte er seinen Griff und lehnte sich an die Küchenzeile zurück. „Okay, ich verstehe...“ Was verstand er? Ich habe doch überhaupt nichts gesagt. Vielleicht hat er durch meinen Mangel an Taten, eigene Schlüsse gezogen?
Ich wandte ebenfalls mein Gesicht ab und fühlte, wie sich eine unangenehme Spannung zwischen uns ausbreitete.
„Es tut mir leid, dass ich nicht so stark sein kann wie du. Ich lebe lediglich, weil du mir verboten hast zu sterben. Ich tue alles mir menschenmögliches, um zumindest einen Nutzen aus meinem kümmerlichen Dasein zu ziehen. Entschuldige, wenn dich das enttäuscht. Aber mehr habe ich nicht zu bieten.“
Ich blickte ihn immer noch nicht an, doch hörte ein Glucksen, als er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Toll... jetzt lachte er mich auch noch aus. Mein Leben war gerade von wertlos zu lächerlich herb gestuft worden...
„Entschuldige einmal... Aber du hast gerade eine Ausbildung meisterhaft bestanden, für die man normalerweise sieben Jahre braucht. Die was hier leben, fangen mit sieben Jahren an und beenden es mit vierzehn. Du brauchtest lediglich drei Jahre. Ich bin keineswegs enttäuscht von dir, ich finde es lediglich interessant, dass du mein Verbot tatsächlich ernst nimmst. Oder nimmst du das nur als ausrede, da du selbst nicht sterben willst?“
Entsetzt blickte ich ihn an. „Was redest du denn da? Natürlich will ich immer noch sterben. Nur... Ich weiß nicht, ich... Ich habe nur das Gefühl, als müsste ich darauf hören, was du sagst... Zumindest fällt mir das jetzt gerade erst auf...“
Mir war dieses Pflichtgefühl noch nie so bewusst gewesen wie jetzt, aber es stimmte. Chef verbot mir, mich zu töten, ich hörte auf damit. Er schlug mir vor diese Ausbildung zu meistern und ich tat es, quasi ohne zu zögern. Nun, gut eigentlich hatte mich damals mehr das Geld interessiert... Vielleicht nahm ich tatsächlich seine Worte als Vorwand, um weiter zu machen.
„Okay, wenn du meine Worte tatsächlich so ernst nimmst, dann bitte... hör auf damit.“ Er deutete auf meine Beine und ich zog sie peinlich berührt ein. „Aber nicht nur das. Hör einfach auf, dir selbst schaden zu wollen. Du fühlst vielleicht solche Art von Schmerzen nicht, aber deine Freunde tun es.“
„Meine Freunde?“
Kopfschüttelnd stand Chef auf, und reichte mir seinen Arm um mir auf zu helfen. Ein Stich fuhr durch meine Beine, als ich sie belastete. Das war wohl die Strafe für meine Taten...
Ich blickte zu ihm hoch. Er war wirklich groß geworden in den letzten Jahren. Melancholisch geworden dachte ich an meine Söhne... Wie groß sie wohl jetzt schon waren? Ob ihnen der Kindergarten gefiel? Wie waren sie wohl vom Charakter? So viele Fragen, auf die ich niemals Antworten bekommen würde.
„Ben und Sam.“ Chef sah mich verwirrt an. „Die Initialen. Sie stehen für meine Söhne, die bei meiner Mutter leben. Sie heißen Ben und Sam.“
Laut auflachend legte er seine Stirn gegen meine. Was war daran jetzt wieder lustig? Ich verstand ihn einfach nicht... Teenager...
„Jetzt komme ich mir lächerlich vor... Tut mir leid, dass ich dich deswegen so angefahren bin.“ Eigentlich war es nicht so verwerflich, dass er es wissen wollte. Diese Initialen würden für den Rest meines Lebens eine tiefere Bedeutung haben und Chef konnte von sich behaupten dass er mit jungen fünfzehn Jahren, jemanden eine zweite Chance und damit ein zweites Leben geschenkt hatte. Somit hatte auch er für mich eine tiefere Bedeutung, auch wenn es dumm klang.
Dankbar für sein unendlich gütiges Herz, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die gesenkte Stirn. Ohne ihn hätte ich vor Jahren alles aufgegeben, oder würde nur noch tiefer in Kummer und Sorgen stecken.
Als ich kurze Zeit später in meinem Zimmer ankam und meine Verbände wechselte, sowie duschen ging, blickte ich mich danach in meinem karg eingerichteten Zimmer um. Es standen darin ein Feldbett, ein Kasten mit meiner Kleidung, ein Esstisch mit zwei Stühlen und der große Spiegel. Wenn man bei meiner Eingangstüre nach rechts ging, kam man in die Küche und die Türe neben meinem Bett führte ins Badezimmer. Mehr war hier tatsächlich nicht.
Plötzlich fühlte ich mich seltsam leer und wünschte mir, dass irgendjemand hier wäre. Einfach nur zum Reden. Obwohl nicht einmal zum Reden. Einfach nur damit ich mich nicht mehr so alleine fühlte.
Ich betrachtete den wasserfesten Stift hinter dem Spiegel und lächelte schwach. Warum eigentlich nicht?
Ich öffnete ihn und kniete mich vor den Spiegel. Danach schrieb ich noch neben das B. und das S. ein C.
Eigentlich kam es mir dumm vor, aber andererseits, warum nicht? Chef ist mir wichtig. Doch wie sehr konnte ich jetzt noch nicht sagen.
Erst drei Tage nach meinem, mehr oder weniger, Abschluss bekam ich endlich anfragen. Doc hatte mir erklärt, das ich vorerst vermutlich einmal als Söldnerin mein Geld verdienen würde und sobald ich mir einen Ruf gemacht hatte, richtige Arbeit bekam, die besser bezahlt wurde.
Von nun an konnte ich an der Oberfläche herumlaufen, wie es mir gefiel. Zumindest, wenn ich Aufträge für die Oberfläche bekam. Tatsächlich bekam ich gleich als erstes einen Brief von einem eifersüchtigen Ehemann, der wollte, dass ich seine Frau ausspionierte. Wie sich heraus stellte, traf sie sich lediglich mit einem Dolmetscher, der ihr half, die Landesprache ihres Mannes zu lernen, um ihn zu seinem Geburtstag der ein paar Wochen darauf war zu überraschen. Der Ehemann hatte mir sogar noch Extrageld hinterlassen, da er so froh über dieses überraschende Ergebnis gewesen war.
Meine restlichen Monate bestanden darin, dass ich recherchierte und Gespräche führte zwischen den verschiedenen Stockwerken. Seltsamerweise stellte sich das als Schwieriger heraus als das ich es jemals für möglich gehalten hatte. Chef und Dia sah ich in dieser Zeit nicht. Koch nur hin und wieder, wenn ich im obersten Geschoss war und er mich mit etwas zu essen überraschte. Auch Doc half ich immer wieder aus, da er zu wenig Personal besaß und es täglich mit Verletzten zu tun hatte. Auch wenn mein Teil des Jobs nicht so gefährlich war, hatten anscheinend viele andere ziemlich viel Pech.
„Hi, Stone!“ Ich begrüßte unseren Stammgast. Er war beinahe jeden zweiten bis dritten Tag wegen Schussverletzungen, Verbrennungen, Fleisch- so wie Platzwunden bei uns und hatte dabei seltsamerweise ständig ein Lächeln auf den Lippen.
Als ich dieses Mal eine Brandverletzung, die ihm die Haut vom Fleisch verkohlt hatte, desinfizierte, konnte ich einfach nicht anders als fragen. „Sag, mal... Wie oft müssen wir dich eigentlich noch nähen und desinfizieren? Wegen dir haben wir bald keine Verbände mehr.“ Dank der hier fortgeschrittenen medizinischen Ausrüstung, konnten solche Verbrennungen innerhalb der nächsten Stunden vollkommen verblasst sein.
Kichernd reiche er mir das Klebeband, damit der Verband hielt. „Kommt darauf an, wie lange du noch hier aushilfst.“
Überrascht blickte ich ihn an. „Was hat das mit mir zu tun? Ich kann doch nichts dafür, wenn du deine Arbeit schlecht machst.“ Sollte dies etwa ein Vorwurf sein?
Stone lachte laut auf und bewegte den Unterarm um zu überprüfen, wie gut er ihn bereits wieder verwenden konnte. „Das meinte ich so nicht. Ich versuche bloß, seit Wochen, etwas mehr über dich zu erfahren. Ich bin nur überrascht das jemand, wie du hier arbeitet.“
Jemand wie ich? Was meinte er damit? „Denkst du etwa nur Männer dürfen hier arbeiten?“ War das vielleicht seine Ansicht? Wenn ja, war das ziemlich sexistisch. Zwar musste ich zugeben, dass überraschend wenige Frauen auf der Krankenstation aushalfen, doch bisher hatte ich es nicht sonderlich seltsam empfunden.
„Ähm... Ach, vergiss es einfach. Ich muss so wie so hinauf und mal sehen, was sich so ergibt. Tschau!“
Verwirrt schüttelte ich den Kopf und packte alles wieder an seinen Platz zurück, was noch brauchbar zu sein schien. Manche Menschen hier waren seltsamer als andere. Im Großen und Ganzen sind die Leute, die hier leben, auf ihre eigene Art und Weise seltsam. Sie wuchsen hier auf, lernten, wie man kämpfte, lebten ein teilweise gefährliches Leben und starben relativ früh. Wenn man hier fünfzig werden konnte, wurde man als alt bezeichnet. Manche stiegen auch früh genug aus, um noch ein halbwegs normales Leben zu leben. Ob ich auch einmal aussteigen würde, bezweifelte ich. Was sollte ich auch anderes machen. Das hier war mein Neues zuhause. Ich gehörte von nun an hier her.
„Du bist aber ganz schön gemein zu Stone.“ Erschrocken blickte ich Doc an. Er war bestimmt schon über fünfzig, doch er lebte auch ausschließlich hier unten und erweiterte sein Wissen alleine durch das Internet. Zumindest soviel ich wusste, doch das sagte überhaupt nicht viel aus.
„Ich bin gemein zu ihm? Er ist sexistisch. Ich verstehe nicht, warum manche Männer so festgefahren sind und nicht akzeptieren, dass auch Frauen intelligent sein können.“
Doc blickte mich an, als wäre ich vollkommen verrückt. Beschwichtigend hob er seine alten knochigen Hände und nahm auf der Untersuchungsliege Platz „Okay, lass uns das jetzt einmal ganz von Anfang analysieren, Alive. Stone ist beinahe jeden Tag für ein paar Minuten hier unter und verlangt immer >dich< zu sehen und das >du< ihn verarztest. Er versucht, dich zum Lachen zu bringen und deine Aufmerksamkeit zu bekommen. Dann möchte er dir ein Kompliment machen, das jemand der so hübsch ist wie du sich nicht in diesem Teil unseren Bunkers verstecken sollte und du wirfst ihm an den Kopf, das er sexistisch sei?“
Okay, so hatte ich das noch nie gesehen. „Dann sollte ich mich wohl entschuldigen... Ich komme gleich wieder.“ Versprach ich. Eilig lief ich aus dem Krankenabteil und fuhr eine Etage hinauf. Dort befanden sich Büros und etliche andere Abteilungen, von denen ich noch nicht alle gesehen hatte.
„Stone!“
Stone stand an einem Wasserständer und ließ sich gerade heißes Wasser in einen Becher laufen. Überrascht blickte er mich an, doch lächelte dabei. „Alive? Was machst du denn hier?“
„Ich... Ich wollte mich entschuldigen. Doc hat mir gerade bewusst gemacht, das ich dich falsch verstanden hatte. Es tut mir leid, dass ich dich als sexistisch bezeichnet habe, und hoffe wirklich, dass du in Zukunft vorsichtiger bei deinen Aufgaben sein wirst.“
Stone blickte mich entsetzt an und warf einem Mann, der neben ihm stand einen verwirrten Blick zu. Dieser wirkte erheitert und zwinkerte ihm aufmunternd zu.
„Ja. Das war alles. Ich muss wieder hinunter. Bye.“
Ich drehte mich um und ging mit flotten Schritten zurück in meine heutige Etage. Als ich bei den Liften ankam und wartete, dass endlich einer hinab fuhr, fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, welche diese sanft drückte.
„Chef?“
„Hi, Alive. Sag mal... Was war das gerade eben?“ Wollte er wissen und musterte mich dabei eingehend.
„Du meinst wegen Stone? Ich habe ihm vorhin gemeine Sachen an den Kopf geworfen und mich deshalb bei ihm entschuldigt.“
Kichernd drückte er den Knopf, zum hinunter fahren noch einmal. Hatte er nicht gesehen, dass ich bereits gedrückt habe?
„Ich verstehe und...“
„Alive!“ Stone kam schlitternd neben uns zum Stehen und blickte kurz unsicher zu Chef, der seine Hand immer noch auf meiner Schulter liegen hatte, bevor er abweisend schnaufte und bloß noch mir seine volle Aufmerksamkeit schenkte. „Es tut mir wirklich leid, dass ich vorhin nichts gesagt habe, das war unhöflich. Ich war nur überrascht. Du wirkst nicht wirklich wie eine Frau, die zugibt, wenn sie falsch liegt.“
Dankend nahm ich seine Entschuldigung an. „Ist schon in Ordnung.“
„Okay... denn eigentlich wollte ich dich vorhin fragen, ob du vielleicht morgen mit mir einen Feldausflug machen würdest? Ich bin statt Pink eingeteilt worden ein paar Leuten auf den Zahn zu fühlen und würde mich freuen, wenn du mich unterstützen würdest.“
Er wollte, dass wir als Partner zusammen arbeiten? Das war toll! Ich konnte mir nichts Besseres vorstellen. In Gruppen zu arbeiten war etwas, das ich gerne machte, da ich dort immer abseits die Kommandos gab. Alleine arbeiten fand ich eher mühsam, doch als Partner arbeiten und immer zu wissen, dass man sich aufeinander verlassen konnte, fand ich einfach perfekt!
„Ja, klar! Ich... Das... Das wäre so toll! Ich liebe es, zu zweit zu arbeiten. Und vielleicht kann ich auch verhindern, dass du schon wieder verletzt wirst. Schick mir einfach eine Mail.“ Bestätigte ich den morgigen Auftrag mündlich und strahlte überglücklich vor mich hin.
„Okay... dann... sehen wir uns morgen!“ Mit einem unsicheren Lächeln wandte er sich ab und winkte noch einmal, bevor er um die nächste Ecke stolperte.
Im nächsten Moment ging hinter Chef und mir die Türe auf und wir stiegen ein. Chef drückte einen Knopf für eine Etage, die sehr weit unten lag. Ich fragte mich ernsthaft, was ganz unten für Leute waren. Selbst drückte ich den Nächstgelegenen, da ich nur eine Etage fahren musste.
„Und... du denkst, du schaffst das morgen?“
Überrascht blickte ich zu ihm hoch. „Warum nicht? Partnerarbeiten sind die Besten hier. Man kann sich immer darauf verlassen, dass man jemanden hat, der auf einen aufpasst und einem hilft. Was könnte es Besseres geben?“
Chef schüttelte kichernd den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, was sein Problem dabei war.
„Du bist echt süß.“
Überrascht sah ich zu ihm hoch, doch dann ging bereits meine Türe auf und ich verließ den Lift, damit er weiterfahren konnte. Warum fand er mich süß? Oder hatte ich mir das eingebildet? Nein, so etwas Dummes konnte ich mir nicht einbilden.
Am nächsten Tag, stand ich pünktlich um fünfzehn Uhr im ersten Untergeschoss und wartete in der Autogarage auf Stone. Er hatte mir letzten Abend noch eine Mail geschickt mit den Eckdaten zu unserer Mission und unserem Treffpunkt. Ich konnte es kaum erwarten endlich einmal wieder hier hinaus zu kommen.
Als Stone um die Ecke bog und seine sämtliche Ausrüstung in einem, der Pkws verstaut hatte, fragte ich mich, ob ich vielleicht doch mehr als eine normale Schutzausrüstung unter meiner normalen Kleidung und einer Pistole, sowie zwei Messern brauchen konnte. Jedoch sollten wir ja nur eine Warnung zuschicken.
„Also, wie sieht es jetzt genau aus? In deiner Mail stand, dass du die Gang bereits kennst und sie schon einmal gewarnt hast. Denkst du, es ist klug das noch einmal zu versuchen? Sie werden vorbereitet sein.“
„Was solls? Es ist nur ein fuking Auftrag. Denkst du mich interessierte, es ob ihnen das passt? Auf dem Zettel steht, dass sie ihren illegalen Handel immer noch nicht aufgegeben haben. Sie haben ihn lediglich verlegt. Tja, der Rest erklärt sich von selbst.“
Das war dumm. Ich wusste nicht, auf welchen Handel es sich hierbei bezog, doch wenn sich unsere Organisation dadurch bedroht fühlte, dann musste etwas Schlimmeres dahinter stecken. Oder es steckte vielleicht ein Auftraggeber dahinter, dem dieses Geschäft im Weg war. So genau konnte man das bei unserer Arbeit niemals sagen. „Okay, dann sag einmal, was dein Plan ist.“
„Also, ich dachte mir, wir gehen hinein, prügeln die scheiße aus ihnen heraus und gehen danach einen Kaffee trinken?“
Kaffee um diese Uhrzeit? Nun, ja. Warum eigentlich nicht? Aber der Anfang gefiel mir irgendwie nicht. „Ich bezweifle, dass diese Variante zwei Mal funktioniert. Sie werden bestimmt bereits mehr Leute haben, um sich zu verteidigen.“
„Wieso gehst du eigentlich davon aus, dass ich beim ersten Mal genauso vorgegangen bin?“
Ich blickte ihn erwartungsvoll an. Wollte er ernsthaft eine Antwort darauf?
„Okay, ja du hast ja recht. Und wie sähe dein Plan aus?“
Ich lächelte ihn verschwörerisch an und griff nach hinten auf den Rücksitz. Kurz darauf zog ich meinen Laptop hervor und schaltete ihn ein. „Sag mir die Adresse an.“
Hm, mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Die Gang, wie ich jetzt erfuhr, die mit gefährdeten Tierarten handelt, hatte sich in einer Lagerhausreihe eingenistet, die weit abgelegen von sämtlichen Städten und Dörfer stand. Im Grunde ein gutes Versteck, doch durch die vielen Wälder waren sie auch ziemlich aufgeschmissen.
„Also, ich würde vorschlagen, wir sehen uns jetzt einmal um und ich logge mich über meinen Computer in das Sicherheitsnetz ein. Danach überprüfen wir wann sich am wenigsten Leute dort befinden und schlagen dann erst zu. Auf alle Fälle sollten wir uns erst einmal eine Übersicht verschaffen. Den Rest können wir auch später klären.“
Stone nickte, doch sagte nichts darauf.
Als wir in die Nähe der Lager ankamen, stellten wir unseren Pkw versteckt hinter Gebüschen ab und zogen eine Tarnkleidung über. „Also, ich sehe mich hinten um und du vorne.“ Bestimmte Stone und machte große Handbewegungen, die das Gelände einschlossen. „Danach treffen wir uns auf der anderen Seite und machen eine Besprechung.“
Nickend setzte ich mich in Bewegung. Der Weg war schwieriger als gedacht. Das Gestrüpp stand viel weiter zusammen, als das ich es aus dem Training kannte und zerrte überall an meiner Kleidung. Meine Sicht war auch nicht sonderlich optimal, doch sie reichte aus, um genau das zu sehen, was ich brauchte. An der Vorderseite befanden sich sieben Kameras. Sie auszuschalten und das auch noch gleichzeitig würde sich als schwer erweisen.
Während ich über alternativen nachdachte, musste ich mich zurück in eine Hecke fallen lassen, da verdächtige Personen an uns vorbei kamen. Sie lachten und sprachen in einer anderen Sprache. So wie sie sich fortbewegten, als wäre es selbstverständlich sich in einem Lagerbezirk so häuslich fühlen, mussten sie schon länger hier sein. Stones letzter Besuch war an einem anderen Ort gewesen und das nicht vor allzu langer Zeit. Wir waren wohl an einen Stützpunkt oder so etwas geraten. Verdammt ich sollte mich ernsthaft mehr damit befassen. Immerhin konnte dieser Auftrag meine Chance sein bessere Außeneinsätze zu bekommen.
Als die drei Kerle an mir vorbei waren, robbte ich mich weiter durch das Gebüsch, bis mich ein nervöser Stone zu sich winkte. Schnaufend lief ich zu ihm. „Was ist den los?“
„Du wirst es nicht glauben, doch das ist ein Hauptstützpunkt oder Ähnliches. Die Kerle, die ich beim letzten Mal erwischt habe, tragen immer noch Prellungen von mir herum und müssen hinten Mist ausleeren. Ich denke...“
„Ja das habe ich auch schon gesehen. Vorne ist eine kleine Patrouille gegangen, die sehr heimisch wirkte. Das hier ist was Größeres, wir sollten Verstärkung holen.“
Stone blickte mich an, als wäre das völlig abwegig. „Was! Von wegen. Das ist unsere Chance. Wenn wir die alle gefangen nehmen, dann haben wir die größte Gruppe von Tierhändlern erwischt, die es in unserem Staat gibt. Weißt du was dann für Aufträge auf uns beide zu kommen?“
Eigentlich klang das überhaupt nicht übel. Er hatte ja recht. Wenn wir die aufmischten, dann könnte das unser ganz großer Sprung sein.
„Okay, machen wir einen Deal. Es ist zu gefährlich dort einfach hinein zu stürmen und einfach darauf loszuschlagen, das ist klar. Wir machen es so, kurz bevor wir uns hinein wagen, schicken wir eine Mail an Chef, der uns Unterstützung schicken soll. Bis sie hier sind, haben wir die Kerle bereits überwältigt, jedoch wenn sie uns gefangen halten, dann haben wiederum Leute die uns retten.“
Stone wirkte nicht sehr überzeugt davon. „Und wenn sie uns fragen, warum wir nicht auf die Unterstützung gewartet haben.“
„Dann sagen wir, dass wir dachten, gesehen worden zu sein und deswegen in die Offensive gehen mussten.“
Nun stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Süße, ich wusste, es würde sich auszahlen dich mitzunehmen.“
Süße? Schon wieder das Wort >süß< „Warum findest du mich süß? Ich habe das gestern schon einmal gehört und es... nervt mich irgendwie.“
In seinem Gesicht schien sich ein großes Fragezeichen zu bilden, dann zuckte ein funken Wut durch seinen Blick und ich schreckte innerlich zurück.
„Lass mich raten... Chef!“ Es klang mehr wie ein Vorwurf, als eine Frage.
„Ähm... Ja, wieso? Ist das so schlimm?“
Stone blickte über meine Schulter und zog mich plötzlich ins Gebüsch. „Nicht jetzt. Dieses Gespräch kann warten. Sieh dort!“ Ich folgte mit meinem Blick seinem Finger und erkannte was er meinte. Gerade fuhren drei Lkw an und parkten quer über die Parkplätze.
Wir sahen ihnen mehreren Minuten zu, bevor wir zur Sicherheit unsere Position wechselten.
„Denkst du, das ist neue Ware?“ Fragte ich und zog mein auf lautlos gestelltes Handy hervor.
„Ja sieht tatsächlich so aus. Anscheinend haben wir uns nicht gerade einen guten Zeitpunkt ausgesucht. Ich denke, wir sollten... Alive? Was machst du da?“
Ich sprang gerade über das Gebüsch hinweg und duckte mich hinter eine Abfalltonne. Mit mein Handy machte ich einige Fotos und als sie die Tiere in ihren kleinen Käfigen ausluden, filmte ich einige Sekunden mit.
„He! Sie da!“ Verdammt... Ich packte mein Handy weg und machte Stone ein Zeichen, das er verschwinden sollte. So schnell ich konnte, lief ich in die Gegengesetze Richtung von den Leuten und begab mich somit noch mehr in eine Zwickmühle.
Währenddessen drückte ich auf senden. Ich war bereits darauf vorbereitet gewesen, dass sie mich erwischen würden, darum hatte ich sogleich die Bilder weitergeschickt. Ich hoffte nur, dass Chef sie rechtzeitig bekommen würde.
Eine Sekunde bevor sie mich erwischten, schlug ich mein Handy auf dem Boden auf und zerstörte es, indem ich so fest ich konnte, darauf stieg.
Wild fluchend trafen mich einige Schläge im Gesicht, die ich keinesfalls abwehrte und schlugen mich beinahe bewusstlos. Da hatten sich meine selbst zugefügten Schmerzen wohl doch ausgezahlt...
Zwar fühlte ich, wie mein Kiefer gefährlich knackste und meine Schulter ausgerenkt wurde, doch das war es dann auch schon. Kein stechender Schmerz, kein unangenehmes Ziehen, als sie mir in den Magen traten und auch reißendes Gefühl, als sie mich an den Haaren hochzogen und hinterher schleiften. Ich war zwar einigermaßen durch die Schläge und Tritte benommen, doch versuchte mir, trotz allem, zu merken wie wir gingen. Zuerst schleifte man mich Stufen hinunter und beschimpften mich in einer fremden Sprache. Danach gingen wir zweimal nach links und einmal nach rechts. Sämtliche Gänge stanken nach den vernachlässigten Tieren, die entsetzlich schrien. Auch wenn viele von ihnen noch gut aussahen, warfen die Tiere, die eindeutig schon länger hier waren, kein gutes Bild auf ihre Besitzer.
„So... Ich hörte, du hättest ein paar unangenehme Bilder von meiner Ware geschossen.“ Das war eindeutig keine Frage, auch wenn die Frau sehr freundlich klang, als würden wir uns schon lange kennen. Ihre rotschwarzen Haare fielen ihr Wild über die Schulter und ihr dunkler Blick schien mich regelrecht zu durchbohren.
„Genaugenommen siebzehn und noch dazu zwei Videos, wo alle die ein- und ausgeladen haben sehr gut zu sehen sind.“ Ich antwortete genauso ruhig, was der Dunkelhaarigen ein Lächeln entlockte.
„Schatz! Wir haben wohl eine Diplomatin erwischt. Das wird einfach.“ Aus einem Nebenzimmer kam ein zustimmendes „Mh-hm“ Dann sprang sie auf und stöckelte um den Tisch herum zu mir.
„Sag mir, für wen arbeitest du?“
„Den Tierschutz!“ Antwortete ich prompt. Vielleicht auch etwas zu schnell, doch ihr Blick änderte sich nicht sonderlich. Zumindest konnte ich nicht viel erkennen, da sie eine Sonnenbrille von ihrem Haar hinab auf ihre Nase zog, dabei war es hier unten nicht einmal besonders hell.
„Hm... Das war zu schnell, Süße. Nur zur Warnung, ich kann es nicht leiden, wenn man mich anlügt. Ich gebe dir noch eine Chance.“
Sie blickte mich erwartend an. „Wenn man nichts Gutes zu sagen hat, sollte man besser schweigen.“
Sie kicherte lediglich. Im nächsten Moment fühlte ich, wie mir jemand ins Gesicht schlug.
„Nicht ins Gesicht! Das ist nicht sehr nett. Sie ist hübsch, wenn sie nicht gerade voller Dreck vom Wald ist.“
Der nächste Schlag landete gegen meinen Brustkorb und ich spürte, wie sich meine Lungen beleidigt zusammen zogen. Hustend rang ich nach Luft.
„Besser?“ Fragte eine Männliche Stimme, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte.
„Besser!“ War die Antwort der Frau. „Nun, gut. Ich kann mir denken, dass du die Bilder geschickt hast. Sag mir an wem.“
Diese Fragerei ging noch einige Zeit so. Wie lange konnte ich unmöglich schätzen. Ich verlor zwischendurch ständig das Bewusstsein, durch die vielen Schläge dich ich einstecken musste. Seltsamerweise fühlte ich, selbst nachdem sie mich in einen Käfig warfen, der für größere Tiere gemacht waren keinerlei Schmerzen. Eher Ungeduld, da es mich wesentlich mehr schmerzte die Tiere, hier unten dermaßen leiden zu sehen.
Ein verrückt gewordener Kapuzineraffen brüllte alle paar Minuten sein Futter an, bis es sich endlich einmal dazu entschloss es doch zu essen.
Ansonsten befanden sich hauptsächlich bunte Vögel und vermutlich etliche giftige Reptilien in dem Raum, in dem sie mich festhielten.
Seufzend lehnte ich mich an die unbequeme Gitterwand und riss einige Stoffteile meiner Hose ab, um blutende Stellen abzudrücken. Gegen meine Prellungen und meinen gebrochenen Rippen konnte ich nichts ausrichten im Moment.
Das Atmen fiel mir währenddessen zunehmend schwerer. Wenn nicht bald etwas passierte, würde ich an inneren Blutungen sterben. Ächzend versuchte ich, meine Rippe wieder zurückzubiegen, doch diese Bewegungen bereiteten mir tatsächlich schmerzen. Offenbar war ich noch nicht vollkommen immun gegen Schmerzen geworden. Das sollte ich wohl sofort Chef erzählen, damit er wieder schimpfen konnte.
Verdammt was sollte ich nur machen? Wenn ich noch ein paar Stunden wartete, würden sich Gerinnsel bilden oder schlimmeres.
Suchend ließ ich meinen Blick durch den Raum gleiten, doch konnte außer Abfall und Kot nicht viel entdecken.
Vielleicht konnte ich ja mit Stroh etwas erreichen... Kopfschüttelnd verwarf ich diese Idee wieder. Wie sollte ich ein Türschloss mit Stroh öffnen? Ich brauchte etwas Festeres.
Gerade als ich nach einem angeknabberten Stück Apfel greifen wollte, erschreckte mich ein gezischtes „Scht!“
Suchend blickte ich mich im Raum um, doch konnte niemanden finden, der auch nur ansatzweise menschlich genug war um dieses Geräusch zu erzeugen.
„Scht!“ Das kam von oben. Tatsächlich! Kichernd winkte ich Stone zu mir herab.
„Sind die anderen draußen?“ Er nickte mir zu. „Ihr müsst euch beeilen. Ich habe vermutlich innere Blutungen.“
Wieder nickte er mir zu. „Verstanden. Zettel einen Streit an. Dann kommen wir rein.“ Er verschwand wieder durch die Lüftung und überließ den Rest offenbar mir. Ich mochte mir überhaupt nicht ausmalen, wie sehr es dort drinnen stinken mochte, wenn sich mir hier unten bereits der Magen leicht umdrehte.
Jedoch stellte sich mir die Frage, wie sollte ich hier einen Streit anfangen, wenn ich alleine... Obwohl, ich war doch eigentlich überhaupt nicht alleine. Abermals langte ich nach dem angeknabberten Apfel und warf es gegen den psychisch instabilen Kapuziner. Erschrocken keifte er auf und blickte sich um, woher das gekommen war. Angewidert schnupperte er am Apfel und warf ihn wieder weg.
Diesmal musste ich weiter durch die Käfigstäbe langen, doch erreichte ihn abermals. Ich warf ihn so stark, wie ich konnte, und katapultierte dadurch seine Wasser und Essensschüssel von seiner Plattform. Jetzt war er so richtig verärgert und tobte herum. Stroh, Kot und Essens Reste flogen wild umher. Schützend legte ich mir einen Arm über das Gesicht.
Einer meiner Entführer kam in den Raum und versuchte den bissigen Affen zur Vernunft zu bringen.
Sofort ließ ich mich im Käfig unangenehm hin fallen, sodass ich wie tot aussah.
Nach wenigen Minuten hörte ich, wie mein Käfig geöffnet wurde und fühlte, eine kalte Hand an meiner Halsschlagader, die anscheinend fühlte, ob ich überhaupt noch einen Puls besaß. Blitzschnell zog ich ihn hinein und traf ihn an der Schläfe. Bewusstlos ging der Mann zu Boden. Mühselig schleifte ich meinen Körper bis zur Vergitterten Türe. Draußen standen mehrere Wachen, die unruhig in den Gängen auf und ab gingen. So eine Chance würde ich niemals wieder bekommen. Ich durfte sie auf keinen Fall verspielen.
Fluchend wie ich zum Teufel an mehreren muskulösen und bewaffneten Leuten vorbei kommen sollte, betrachtete ich den Schlüssel in meiner Hand, den ich dem bewusstlosen Kerl abgenommen hatte.
Vorsichtig versuchte ich, mit dem Schlüssel, die anderen Käfige aufzusperren. Es funktionierte. Ich entfernte sämtliche Schlösser und brachte die Tiere dazu völlig auszuflippen. Ein riesiger Leguan versuchte, sich sofort auf einen anderen zu stürzen, was die vielen exotischen Vögel dazu veranlasste wie wild herum zu fliegen und die Schlangen wanden sich zischend an meinen Beinen vorbei Richtung Ausgang. Ich selbst eilte ihnen, mit einem sicheren Abstand wahrend, hinterher und öffnete die Gittertüre, die einen einfachen Hakenmechanismus besaß.
Draußen begannen sofort mehrere Leute zu schreien. Sie riefen um Hilfe, und befahlen sämtliche Türen zu schließen. Jedoch war es zu spät. Manche schossen wie wild auf die Schlangen und versuchten den hackenden Schnäbenl der Vögel aus zu weichen.
Bloß eine Minute, nachdem das Chaos seinen Anfang genommen hatte, ertönte von oben eine mächtige Explosion, die mich am ganzen Leib erzittern ließ.
Benommen, von meinem Blutverlust, schleppte ich mich die Gänge entlang, bis ich endlich ein vertrautes Gesicht erblickte. "Stone!"
Stone fing mich auf und betastete meine Brüche. "He! Leute. Ich habe Alive gefunden. Wir müssen sie sofort in das HQ bringen, sie ist sehr schwer verletzt."
Ich sah gerade noch wie mich zwei Frauen, die ich nicht kannte, hoch stemmten und mich geradezu hinter sich her schleppten. Es war als würde sich mein ganzer Körper dagegen wehren, sich irgendwo hin transportieren zu lassen. Ich wusste ja, dass es wichtig war, dass ich ärztliche Versorgung bekam, warum ließ mich mein Körper nur so im Stich?
Als ich nach ein paar gefühlten Minuten die Augen wieder öffnete, blickte mir Docs breites Lächeln entgegen.
"Na, endlich wach. Wie fühlst du dich?"
Ich blickte mich verwirrt um. Um mich herum standen Unmengen von Geräten die fürchterlich lästige Geräusche von sich gaben. Murrend verzog ich das Gesicht. "Was denkst du wohl? Ich wurde zusammen geschlagen."
Doc kicherte spöttisch. Wieso musste er überhaupt sprechen? Das war nur noch ein zusätzliches nervendes Geräusch, das in meinem Kopf pulsierte.
"Das habe ich auch bemerkt. Ich habe dir vier Rippen zusammen bauen müssen und deine Lunge war auch ziemlich angeschlagen. Ein paar Minuten später und ich hätte dir nicht mehr helfen können. Außerdem hast du nicht bemerkt, dass dein Knöchel ausgekugelt war?"
Ich versuchte, entsetzt, meinen Fuß zu bewegen, doch konnte nicht. Verdammt das hatte mir gerade noch gefehlt, dass eines meiner Körperteile unfähig war etwas zu tun.
"Schon gut. Beruhige dich Alive. Ich habe ihn bloß eingegipst.“
Erleichtert stieß ich die Luft wieder aus und hustete, als sich meine Lunge über die unangenehme Belastung beschwerte. „Es wird wohl noch etwas dauern, bis du wieder auf dem Damm bist. Du wirst wohl oder übel eine...“
Ich unterbrach ihn barsch. „Ich werde bestimmt nicht länger als eine Woche hier drinnen bleiben. Nur weil mein dummes Bein...“
„Du wirst hierbleiben, immerhin warst du so dumm und hast dich gefangen nehmen lassen.“ Stone stand von einem Stuhl auf, der in der Nähe stand und grinste verschwörerisch.
„Aber ich kann nicht einfach nur tatenlos herumliegen, ich muss arbeiten. Ich muss mein Einkommen sichern.“
Stone verdrehte die Augen und neben ihm erschien eine Frau mit einem gebieterischen Ausdruck im Gesicht.
„Wenn du dich, abgesehen vom auf die Toilette gehen, auch nur einen Zentimeter von diesem verdammten Krankenbett wegbewegst, bevor unser lieber Doc dich nicht entlässt, dann kannst du dir sicher sein, dass ich dich für die nächsten drei Monate auf die Ersatzbank setzten, lasse und dich tagein tagaus...“
Ergeben hob ich beide Hände. Alleine schon, da es Dia war, die mir drohte, machte mir bewusst, wie ernst es um mich stehen musste. „Schon klar. Ich bleibe liegen, bis Doc mich entlässt. Aber sagt mir die Wahrheit. Wie schlimm steht es um mich? Hat ein Organ versagt, oder...“
Lachend schüttelten alle den Kopf. „Nein, um Himmels Willen. Wir machen uns nur sorgen um dich.“ Stone ging einen Schritt zurück, da Dia eine Seite des Bettes für sich beanspruchte und meine Hand in ihre nahm. „Wenn du weiterhin so unvorsichtig bist mit deinem Körper, dann werden wir demnächst einzelne Körperteile von dir einsammeln. Außerdem will Chef, dass du zu ihm kommst, sobald du gesund genug bist. Er will dir einen Spezialauftrag geben.“
Stone stieß pfeifend Luft aus. „Du meinst einen so richtig speziellen?“
Dia nickte mit einem strengen Ausdruck im Gesicht. „Ja, er ließ keinen Zweifel daran, dass er genau dies meinte. Sie soll tiefer in unsere Familiengeschichte eingeführt werden.“
Nun wirkte Stone verärgert und verschränkte abweisend die Arme vor den Oberkörper, während er nebenbei seine wirren schwarzen Haare aus dem Gesicht strich.
Ein Spezialauftrag und das auch noch von Chef. Das er es mir nach dieser Aktion überhaupt zu traute, wunderte mich. Viel eher hätte ich von ihm erwartet, dass er mir monatelang aufzwang in meinem Zimmer zu sitzen und Däumchen zu drehen. Nicht dass es für mich keine Strafe gewesen wäre.
Lächelnd dachte ich an Chef und seinen Ausdruck, den er im Gesicht gehabt haben muss, als er hörte, wie es um mich stand. Ein warmes Gefühl durchströmte mich und der Schlaf ereilte mich ziemlich rasch. Ob vor Erschöpfung, oder da es vielleicht an einem der Mittel, die Doc mir spritzte, lag, doch diese Nacht schlief ich ausgesprochen tief und gut.
Nach knapp sechs Wochen schaffte es Doc, nicht mehr mich länger im Bett zu halten. Ergeben, schrieb er mich als wieder arbeitsfähig ein, obwohl ich noch unter Kurzatmigkeit litt. Doch mir persönlich war das vollkommen egal. Meine Knochen waren verheilt, alle offenen Wunden bereits verblasst, also sollte meine Lunge von selbst zusehen, dass sie wieder in Ordnung kam. Direkt nach der Krankenstation, ging ich in mein Zimmer um zu duschen und mir frische Kleidung zu besorgen, dann schritt ich, noch etwas steif, zum Lift um zum ersten Mal seit ich hier war den Knopf für die Ebene 17 zu drücken. Zwar befand sich Chefs Büro ebenfalls oben im dritten Stock, doch soweit Doc wusste, hielt sich dieser derzeit dort unten auf.
Leider reichte jedoch meine Zugangskarte nicht so weit, sodass eine heisere Stimme im Lautsprecher erklang. „Alive. Zugang bloß bis Ebene5 gestattet.“
Ich drückte den Knopf für die Gegensprechanlage. „Ich wurde von Chef persönlich zu sich geladen, sobald ich wieder gesund geschrieben worden bin.“
Für einen Moment musste ich warten, nach knapp zwei Minuten rauschte der Lautsprecher abermals.
„Zugang genehmigt. Ich erwarte Sie auf Ebene 17.“
Geschmeidig glitt der Lift hinab, tiefer in die Erde hinein, bis sie sich vor einer hoch gebauten Frau wieder öffnete. Für einen Moment starrte ich die adrette Dame einfach nur an. Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass mich ein Mann abholen würde. Vorsichtshalber schielte ich noch einmal nach oben, wo die Ebene angezeigt wurde, und stieg dann unsicher aus.
Mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen und einer dicken Mappe in der linken Hand, reichte sie mir die rechte zum Gruß. „Willkommen auf Ebene 17, dem Herzstück von Underworld.“
Noch verwirrter hob ich beide Augenbrauen hoch und schüttelte stark verunsichert die Hand der seltsamen Frau. „Underworld?“ Bisher hatte ich niemals gehört, dass unsere kleine Welt hier unten einen speziellen Namen hätte.
„Nun, ja von Stockwerk sechs abwärts kann man bloß noch von einer Unterwelt sprechen. Die ersten fünf Stockwerke, liegen etwas tiefer, als man eine U-Bahn legen würde.“ Nickend stimmte ich ihr einfach einmal zu, was auch immer sie eben gemeint haben sollte. „Nun, denn. Wenn ich bitten dürfte. C-L erwartet Sie bereits.“
C-L? Stumm folgte ich der hochgewachsenen Frau, während sie irgendetwas in der Mappe zu suchen schien und beinahe blind durch die Gänge steuerte. Gerade als ich dachte, dass sie mich in die Irre führte, stoppte sie vor einer breiten Metalltüre, gab einen Code ein und hielt mir unerwartet einen Stapel Papiere hin. „Die Unterschreiben Sie zum Ende der Besprechung hin.“ Während die Türe sich langsam öffnete, verschwand die seltsame Frau wieder in dem Gang, aus dem wir eben gekommen waren und ließ mich vollkommen alleine.
„Alive! Ich dachte, Doc hätte die Anweisung dich erst in einigen Tagen zu entlassen.“ Erschrocken von der Stimme, die mich von irgendwo her ansprach, folgte ich ihr hinein in den großen Raum. Akten über Akten, so wie dicken Wälzer, stachen mir als aller erstes ins Auge. Sämtliche Wände schienen von ihnen tapeziert worden zu sein, bis hoch an die Decke.
„Alive?“ Erschrocken riss ich mich von dem unglaublichen Anblick los und ging auf einen von drei voll geräumten Schreibtische zu.
„Entschuldige, ich war... abgelenkt.“ Musste ich zugeben.
Schmunzelnd deutete mir Chef mich ihm gegenüber auf einen der wenigen freien Stühle zu setzen und lehnte sich breit grinsend über den Schreibtisch hinweg. „Also, wieso bist du hier?“
War das nicht offensichtlich? „Du hast mich gerufen. Wenn du rufst, dann komme ich auch sofort.“ Antwortete ich, während ich darüber nachdachte, weshalb ihm das noch immer nicht klar geworden ist.
„Fühlst du dich denn überhaupt bereits wieder in der Lage, volle Leistung zu bringen?“ Entschlossen nickte ich.
Seufzend gab er auf. „Na, gut. Ich kenne dich mittlerweile schon ganz gut, oder?“ Wieder nickte ich. „Und ich muss zugeben, dass ich dir mehr vertraue, als den meisten, die ich bereits mein ganzes Leben kenne.“
Berührt lächelte nun auch ich. „Das kannst du auch, Chef. Es gibt niemanden auf dieser verfluchten Welt, oder darunter, dem ich mehr Loyalität entgegenbringen würde, als dir.“
Chef erhob sich von seinem Stuhl und drehte ihn etwas gedankenverloren im Kreis. „Aber hätte dich jemand anderes gerettet, als ich, dann wärst du dieser Person ebenfalls dermaßen treu?“
Erschüttert schüttelte ich den Kopf. Wie kam er bloß auf diesen Gedanken? „Niemand anderes, als du hat mich gerettet. Nicht bloß an diesem kalten Abend, als man mir an die Wäsche wollte, du wolltest mir für einen Moment sogar helfen mein Leben zu beenden. Du hast in mir etwas gesehen, das ich und alle anderen nicht mehr gesehen haben. Du warst es auch, der mich dazu zwang weiter zu leben, diesem Leben einen neun Sinn verlieh und mir eine Bestimmung für meine Zukunft aufgab. Keine einzige Person im ganzen Universum könnte es jemals mit meiner Loyalität zu dir aufnehmen.“ Bestimmt starrte ich seinem forschenden Blick entgegen, ohne ihn abzuwenden. Er musste mir es mir glauben. Unter allen Umständen, musste er verstehen, was ich für ihn empfand.
„Deine Loyalität würde sich auch nicht ändern, wenn sich plötzlich herausstellen würde, dass ich eigentlich ein Schwerverbrecher wäre? Der Menschheit Dinge, die ihr Leben erheblich verbessern und verlängern könnte, vorenthalte? Millionen sterben lasse, obwohl ich Heilmittel für … so ziemlich jede Krankheit hätte?“ ich schüttelte demonstrativ den Kopf. „Terroranschläge vorhersehen könnte?“ Wieder schüttelte ich den Kopf. „Auch nicht wenn ich dich bloß ausnutze und als meinen Sündenbock hinstelle?“
Also langsam reichte es. Ich stand nun ebenfalls auf und ging um den Schreibtisch herum. Konnte er meinen Worten nicht glauben, oder wollte er es bloß nicht? Sanft umfasste ich sein Gesicht mit meinen Händen, sodass er mir ganz genau in die Augen sehen musste, und sprach so deutlich, sodass er mich auch bestimmt, verstand. „Du kannst die Pest persönlich, oder ein Attentäter selbst sein. Von mir aus sogar ein Maffiaboss, oder drogenabhängiger Vollidiot.“ Nun musste er doch wieder lächeln. „Du kannst mir auch erzählen, dass du selbst Krankheiten erschaffen hast, die niemand heute mehr heilen kann, dass du selbst Krebszellen in Personen heimlich austeilst. Nichts von alldem würde Meinung über dich ändern, Chef. Zudem bezweifle ich, dass du all diese Dinge bloß willkürlich, oder aus reiner boshaft tun würdest. Du bist ein herzensguter, doch auch strenger Mensch. Du beschützt, was dir wichtig ist und das alleine zählt für mich.“
Das aufsehen zu ihm, drückte bereits auf meine Lungen, daher ließ ich ihn wieder los und versuchte wieder einen ruhigeren Atem zu bekommen. Jedoch im nächsten Moment bereits, schlossen sich feste Arme um mich und drückten meinen Körper an einen anderen Warmen. Glücklich das Chef mir glaubte, kuschelte ich mich an ihn und seufzte zufrieden.
Unter meiner Hand konnte ich bereits nach wenigen Sekunden einen eilig schlagenden Herzschlag wahrnehmen, kräftigen Atem, der meinen Kopf sanft wiegte und heiße verbrauchte Luft, welche mir in den Nacken blies. „Also gehe ich einmal davon aus, dass es dich nicht stören wird in Zukunft enger mit mir zusammen zu arbeiten.“ Chefs Stimme erklang bloß leise neben meinem Ohr und kitzelte mich sanft am Hals, was mich zum Kichern brachte.
„Es würde mir sogar große Freude bereiten.“ Gab ich zu und wurde dafür noch ein bisschen fester umarmt.
Es dauerte noch einen langen Moment, den ich nicht enden lassen wollte, bis er mich losließ und mich gut eine Armlänge von sich entfernt schob. „Und du bist dir wirklich sicher, dass du mir voll und ganz vertraust?“
Entschlossen nickte ich. „Natürlich.“
„Nicht jeder der oben arbeitet, hat jemals von diesem Ort hier unten gehört.“ Setzte Chef mich in Kenntnis.
„Ist es denn so furchtbar?“
Schmunzelnd verneinte er. „Aber es kommt immer auf die Sichtweise an. Sollte die obere Welt zu ende gehen, dann werden wir hier unten die letzte Rettung für einige von ihnen sein.“
„Klingt in meinen Ohren nicht unbedingt als etwas schlechtes.“ Gab ich zurück. So etwas wie eine >Arche Noah<, konnte doch nicht schlecht sein, oder?
„Alive, deine letzte Chance. Du bist dir wirklich vollkommen sicher, dass du mir vertraust?“
Ich streifte Chefs Hände von meinen Schultern und fädelte für einen Moment meine Finger in seine. „Ja, ich bin mir sicher, dass ich dir vertraue und das dir sogar jetzt Hörner wachsen könnten, doch ich würde trotzdem an deiner Seite bleiben.“
Lachend wandte sich Chef ab und ging auf die Türe zu. „Nun, gut. Es ist deine Entscheidung, aber es wird kein Zurück mehr geben.“
Meine Schultern zuckten beiläufig. „Solange ich dir irgendwie vergelten kann, was du für mich getan hast, nehme ich sogar Aliens in Kauf.“
„Nun, ja so schlimm ist es auch wieder nicht. Mit Alien haben wir überhaupt nichts zu tun, aber dafür haben wir in den letzten Jahrzehnten, große Fortschritte in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft gemacht.
Neugierig folgte ich Chef zu einer weiteren Türe, dessen Griff, er erst einmal fest umschloss. „Gentechnik?“
Der ehemalige Junge, der mir immer mehr wie ein junger Mann vorkam, zuckte bloß mit den Schultern. „Unter anderem.“ Gab er zu. „Aber...“
Nachdenklich legte ich Chef meine Hand auf den Unterarm, als er erneut zu zögern begann. „Chef?“
Er nahm seine Hand von der Türklinke und drückte sie mit der Schulter auf. „Entschuldige, normalerweise... verfallen die Leute, die ich einweihe in Panik, wenn ich ihnen das nun erzähle.“ Räuspernd schlug er einen Weg, in einem weißen, kahlen Raum ein und ich folgte ihm, Seite an Seite. „Aber wir haben nicht bloß in der Gentechnik Fortschritte gemacht, auch in vielen anderen Bereichen. Kannst du... Könntest du mir glauben, wenn ich sage, dass ich vor dreihundert Jahren begonnen habe, diese Einrichtung hier zu bauen?“
Ungläubig zog ich die Augenbrauen hoch. „Dafür wirkst du noch etwas zu jung.“
Mittlerweile gingen wir an einigen grau, weisen Türen vorbei, deren Aufschriften ich nicht entziffern konnte, da die Wörter zu lange und zu... wissenschaftlich waren.
„Ich weiß. Wie gesagt... Gentechnik ist eines der vielen Dinge, in denen wir voraus sind, doch die Menschheit leider noch nicht weit genug, um damit umgehen zu können.“ Plötzlich stoppte er seine raschen Schritte vor einer Türe und klopfte dagegen. „Alle fünfzig Jahre, injiziere ich mir ein Serum, dass es mir erlaubt, jünger zu werden, dann fängt mein Alterungsprozess von neuem an.“
Es klang völlig gelogen, doch... „Das erklärt einiges.“
Lächelnd hob Chef seine Hand und strich mir für einen Moment über die Wange. „Es sind meine Augen, nicht wahr?“
Ich nickte bestätigend.
„Das habe ich schon öfters gehört. Wissen ist etwas, dass ich zu meinem Glück nicht auslöschen kann...“ Er dachte einen Moment darüber nach und korrigierte sich dann. „Zumindest nicht mein eigenes.“
Fragend zog ich die Augenbrauen hoch, doch erwartete nicht wirklich eine Erklärung. „Wie oft hast du denn dieses Mittel bereits eingenommen und schadet es dir?“
Chef senkte seine Hand. „Nein, tut es nicht. Es ist viel mehr das Leben... dem ich leid werde. Das kennst du wohl zu gut, bloß auf eine andere Art und Weise.“
Verstehend blickte ich zu ihm hoch. Meinem Retter, meinem Anker in seine gütigen Augen. Nun erkannte ich auch, dass er dasselbe Leid empfand wie ich, bloß dass er das Leben, dank dessen Dauer leid war, dank der Einsamkeit, der Einzige zu sein.“
„Danke.“ Flüsterte er so leise, dass ich es bloß an seinen Lippen ablesen konnte.
„Sir.“ Ein Wissenschaftler, gehüllt in einen sterilen Stoff, öffnete die Türe, an welche Chef geklopft hatte und blickte forschend zwischen ihm und mir, hin und her.
„Das ist Alive. Sie wird gerade von mir eingeweiht.“ Erklärte Chef und der Wissenschaftler trat zur Seite, sodass wir hinein konnten.
Zu meiner Überraschung, landete ich nicht in einem Forschungslabor, oder Ähnlichem, sondern viel eher in einer Speisekammer. „Entschuldige, aber ich habe noch nichts gegessen.“ Entschuldigte sich Chef, was mich zum Kichern brachte. Während er sich ein Brot richtete, nahm ich neben dem Wissenschaftler platz, der eben eine frisch gebrühte Suppe genoss und dabei die Zeitung las.
„Mein Vater hat das Serum, ursprünglich hergestellt. Er war ein sehr, sehr kluger Kopf, zumindest für sein Zeitalter. Ich war... aus einem Zufall heraus, sein Versuchskaninchen. Er injizierte mir die Stammformel, während ich zwölf war. Mein Körper nahm es gut an, da ich mich noch in einer Entwicklungsphase befand. Er, sein älterer Körper jedoch stieß das Mittel ab, er wurde anfällig auf so gut wie jede Krankheit und starb an seinem eigenen Experiment.“
„Sein Immunsystem ist zusammengebrochen?“ Fragte ich, interessiert nach.
Chef deutete mir, ebenfalls zuzugreifen, ich lehnte ab. „Zu meinem damaligen Bedauern, ja. Doch da er sein Genie an mich weiter gegeben hat, konnte ich seinen Traum perfektionieren und... begann damit, meinen eigenen zu erfüllen.
Einen Traum... Chef hat es tatsächlich geschafft seinen Traum in die Realität umzusetzen. Aber was ist mit mir? Was ist mein Traum? Früher, zu meinen Schulzeiten noch, wollte ich nichts sehnlicher, als eine große, glückliche Familie, mit einem treuen, fleißigen Ehemann und klugen Kindern. Als es dann soweit war, schien einfach alles zusammenzubrechen. Mein Mann wurde untreu, krank und meine Kinder litten unter der Beziehung.
Chef streckte unbemerkt seine Hand aus und trocknete eine meiner Tränen mit einer Serviette. „Mit den Jahren habe ich gelernt, die menschlichen Gedanken, an deren Gesichtszügen zu erkennen.“
Ich glaubte ihm aufs Wort und lächelte verlegen zu ihm hoch. „Entschuldige... E-Erzähl mir lieber...“
Chef unterbrach mich. „Nein, Alive. Ich will nur noch einmal sicherstellen, dass du niemals, wirklich niemals, zurück kannst, das weißt du doch, oder?“
Bedrückt nickte ich und lehnte mich an seine Brust. Natürlich konnte ich nicht zurück. Was sollte ich ihnen auch erzählen? Dass ich Menschen ermordet habe? Ausspioniert habe? Oder vielleicht dass ich sie alle drei, meine Mutter und meine Söhne, auf meinen eigenen Scherben habe sitzen lassen, weil ich schwach gewesen bin... angst hatte? Nein, dem konnte und wollte ich mich nicht stellen. Lieber liebte ich sie aus der Ferne, als erneut in diesem Höllenloch der Verachtung und des Selbsthasses zu leben.
Chef schlang seine Arme um mich und drückte mich fest an sich.
Hier ist es definitiv besser. Hier kann ich jemand sein, etwas erreichen, von Leuten geschätzt und geachtet werden. Hier ist mein Zuhause, war es schon immer und meine Familie, zumindest der Rest davon, kann in Frieden, mit dem Geld, welches ich zu genüge schicke leben.
„Alive?“
Ich öffnete meine Augen wieder, die ich fest zusammengepresst hatte und bemerkte, dass der Wissenschaftler, von vorhin, bereits verschwunden war. „Ja?“
„Versprich mir, dass du niemals von hier wegwillst, zurück in dein eigenes Leben, ja?“
Hörte ich da etwa Angst aus Chef´s Stimme? Oder Sorge und Verzweiflung?
Ich blickte hoch und bemerkte, dass auch er den Tränen nahe war. „In meinem ganzen Leben, ist es mir noch niemals so schwer gefallen, jemanden zu sagen, dass ich ihn töten muss, wenn er mich verrät, oder fort möchte.“
Sanft legte ich meine Hand auf seien Wange und blickte entschlossen in seine blauen, beruhigenden Augen. „Und ich war mir noch niemals in meinem ganzen Leben so sicher, wo ich hingehöre, wie heute. Du hast mich nicht nur gerettet... Du hast mir ein völlig neues Leben ermöglicht. Mein altes Leben ist tot. Das einzige was ich wirklich möchte, ist dass der Großteil meines Vermögens, so wie bisher, weiter an meine Kinder geschickt wird. Mein restliches Leben, mein gesamtes Sein und meine Treue jedoch, gehört dir alleine.“
Sichtlich beruhigt, stahl sich ein Lächeln auf seine schmalen Lippen. „Nur weil du denkst, du schuldest es mir, oder weil du es wirklich willst?“
„Ich wollte schon seit Jahren nichts mehr so sehr, wie das hier.“ Schwor ich aufrichtig.
Und plötzlich endete es. Einfach alles! Ich hatte mit diesen Worten, meiner Vergangenheit abgeschworen und es war der laute Klang einer Sirene, der uns auseinanderfahren ließ und damit auch mein neues Leben beendete. Chef stürmte, fluchend aus dem Raum. Ich folgte ihm auf den Schritt, völlig verwirrt darüber, was eben passiert war.
„Rüste dich zum Kampf!“ Wurde mir entgegen gebrüllt und wie eine gute Soldatin, ließ ich mich zu einem Waffenraum führen. Mit Todesboten, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, fand ich mich wenige Minuten später, innerhalb einer Spezialeinheit wieder. Darunter Dia.
Unbemerkt stahl ich mich zu ihr. „Was ist los?“ Keiner hatte mir irgendetwas erklärt.
„Das Militär stürmt uns. Wir müssen uns verteidigen.“
Ungläubig klappte mir der Mund auf. „D-Das Militär?“ Fragte ich ungläubig. „Ich dachte, die verschleiern unsere Existenz?“
Dia zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat ihnen irgendjemand ans Bein gepinkelt, was weis ich?“ Natürlich hatte sie auch nicht sonderlich viel mehr Informationen, als wir anderen.
Kaum fand ich heraus, wie man dieses ungelenke Ding überhaupt bedient, fiel überall das Licht aus. Dia und ich standen, Rücken an Rücken, in völliger Dunkelheit und verstanden überhaupt nicht mehr, was hier überhaupt geschah. Unerwartet, hörte man nur noch fürchterliche Schreie, aus Angst und Schmerz. Irgendjemand schoss auf uns, doch wir konnten es nicht sehen, niemanden erkennen.
„Alive?“
„Dia?“
Ihr Rücken, der bisher meinen bloß gestreift hatte, lehnte sich ganz plötzlich viel fester an meinen. „Ich glaube...“ Etwas, dass sich wie Würgen anhörte, erklang hinter mir. Es dauerte noch eine Sekunde, bis ich es begriff.
„Dia!“ Schrie ich panisch auf, drehte mich um und das Licht ging wieder an. Ihr weißes Shirt, das sie bisher getragen hatte, war unter der Brust, rot gefärbt, als hätte sie jemand aus versehen mit Saft angeschüttet.
„Ich...“ Blut spuckte aus ihrem Mund, während die starke, unnachgiebige Frau, einfach in meinen Armen zusammenbrach.
„Dia! Dia! Nein!“ Sturzfluten an Tränen tränkten meine Wangen und ich ließ mich mit ihr zu Boden gleiten „Nein! Nein... Komm schon. Du bist... Dia...“ Einfach so verschwand sie. Das Licht in ihren Augen und der Funke, der immer spöttisch da gewesen war, wurde einfach ausgelöscht... Sie war auch fort. Von einem Moment auf den anderen.
„Chef!“ Ich musste ihn finden! W-Wo hatte ich ihn verloren? Wo musste ich ihn suchen? Durch das ganze Chaos erkannte ich überhaupt nichts mehr. Meine Beine trieben mich einfach ziellos, durch das Desaster, dass sich mir bot. Tote, oder schwerverletzte Körper, überall. Viele von uns, manche Fremde. Doch niemand von ihnen schien Chef zu sein, zu meinem Glück. Aber wo dann? Wo würde ich ihn finden? Ganz vorne im geschen? Versteckt? Wie reagiert ein Unsterblicher in so einer Situation?
„Alive!“
Mein Herz setzte für einen Moment aus. Da stand er! Blutüberströmt und mit einer Schusswunde am Arm, doch er war heil. Im Gegensatz zu mir und Dia, hatte er sich Schutzkleidung besorgt und sich sogar besser gerüstet, als viele andere Soldaten. „Chef!“ Mit einem erleichterten Aufschrei fiel ich ihm in die ausgestreckten Arme. „Dem Himmel sei dank! Dir geht es gut!“
Jetzt wieder... Nun da ich wusste, dass es ihm gutgeht. „Ich hatte so Angst! Was ist bloß los?“
Unwissend schüttelte er sein blondes Haupt. „Ich weiß es nicht. Eine Minute, bevor der Alarm losging, bekam mein Assistent eine Nachricht, dass es einen Maulwurf bei uns gibt und dann... brach auch schon die Hölle los.“
„Weshalb.... Wie kam es denn dazu? Wieso sollte dich irgendjemand verraten?“
Chef zuckte unwissend mit seinen Schultern. „Das werde ich wohl später klären müssen...“
„Bitte alles Herhören!“ Erklang es plötzlich viel zu laut aus einem der Sprechanlagen und dröhnte in die Ohren aller Anwesenden. „Ihre Organisation wird hiermit aufgelöst. Jeglicher Widerstand ist vollkommen sinnlos. Ergeben Sie sich problemlos, dann wird Ihre Strafe, einer terroristischen Organisation anzugehören....“
„Die Lautsprecher sind von meinem Büro aus zu bedienen. Lass sie uns noch einmal aufmischen.“
Ich griff in meine Seitentaschen der Hose und holte zwei Waffen hervor. „Bekomme ich eine Prämie pro Kopf?“ Scherzte ich mit einem zuversichtlichen Grinsen im Gesicht.
„Je nachdem was der Kopf wert ist, bestimmt.“ Chef zwinkerte mir zu und übernahm dann die Führung. Von einem gefallenen Eindringling, übernahm ich den Schutzanzug, dann folgte ich ihm rasch.
Offenbar hatte sich der Großteil von Chefs Anhang bereits ergeben. Die meisten weinten, saßen neben toten, oder blickten irgendwo hin, in die Ferne, wohin ihnen niemand folgen konnte. Als sie jedoch sahen, wie Chef und ich diese verdammten Ignoranten, die seinen Traum zerstören wollten, einfach erschossen, schien so etwas wie eine Entschlossenheit in ihnen zurückzukehren. Ich zweifelte nicht daran, dass sie schlussendlich nichts lieber, als Rache wollten.
Nun besser organisiert und nicht überall verteilt, in allen Stockwerken, kamen wir wesentlich besser voran. Chef an der Spitze, gefolgt von mir und zwölf weiteren überlebenden, schaffte es in weniger als einer dreiviertel Stunde, die meisten Soldaten auszuschalten. Zumindest wirkte es auf mich so.
Als wir endlich im Büro und damit auch die Zwischenstation zwischen dem oberen und dem unteren Bereich ankamen, deutete uns Chef, dass wir vorstürmen würden. Mit einer geballten Schusskraft würden wir die Eindringlinge vollkommen ausschalten.
„Los!“ Flüsterte Chef, stieß die Türe auf und wir stürmten... direkt in eine Falle. Gerade noch rechtzeitig, bevor das große Feuer der Gegner eröffnet wurde, riss Chef mich herum und legte seinen Arm um meinen Kopf.
Todes- und Schmerzensschreie, erklangen überall um uns herum. Männern und Frauen fielen auf den Boden, krümmten sich und verloren. Erst als der große Feueransturm vorbei war, riss ich mich von Chef los und wollte schon auf den Kopf der Eindringlinge zielen, doch erkannte rechtzeitig, dass es keinen Sinn gemacht hätte. Zwanzig Soldaten mit automatischen Waffen und deren KOpf, saß hinter einem kleinen Schutzwall. „Wie feige!“ Stieß ich von oben herab, hervor.
Der Kopf der Soldaten, lächelte bloß feindselig. „Mag sein, doch wenigstens hält mich das am Leben, im Gegensatz zu... so manchen anderen.“ Damit deutete er auf die am Boden liegenden Gefallenen.
„Was, zum Teufel, suchen Sie hier! Diese Organisation ist streng geheim und wird...“
„Tja, nun ist sie nicht mehr >streng Geheim<. Ihre, oder nun viel mehr, meine Arbeitgeben bestehen darauf, dass dieser Ort hier abgebrannt wird und sämtliche Angehörige hingerichtet.“
Chef spuckte wütend auf den Boden. „Ich scheiß darauf, was >Ihr Arbeitgeber< will! Das hier ist ein Familienunternehmen, ein wissenschaftlicher Bereich. Ein Ort mit Zukunft und Wissen, dass Ihnen niemals zuteilwerden wird!“
Der Kopf der Eindringlinge schob den Laptop zur Seite, vor dem er gesessen war. „Mag sein. Aber mir ist es ehrlich gesagt gleich. Ich will überhaupt nicht wissen, was für kranke Versuche Ihr hier macht....“
„Was bezahlt die Regierung Ihnen? Ich zahl Ihnen das Doppelte... was sage ich, das Dreifache! Und ich übernehme die Kosten für Ihre Verluste.“
Der Kopf der EIndringlinge, schien für einen Moment darüber nachzudenken. „Eigentlich soll ich ja bloß den Kopf dieser Organisation liefern... Das Feuer könnte ich zufällig mit genug Geld gelöscht werden.“ Schlug er gierig vor.
„Okay, ich mache es!“
„Was?“ Chef blickte mich schockiert an.
„Ich sagte, ja. Ich gehe auf den Deal ein. Mein Buchmacher wird Ihnen heute noch das Geld überweisen, egal um welche Zahl es sich handeln möge und wenn es meine restlichen Leute rettet, werde ich kampflos mit Ihnen ziehen. Ich werde mich jeglichem Urteil stellen.“ Zufrieden nickte der Chef der Eindringlinge.
„A-Alive! Das lasse ich nicht zu! Du kannst doch nicht...“
„Barsch unterbrach ich Chef, als wäre ich hier die Anführerin.“
„Tu was ich sage, verdammt!“
Ungläubig über meine harschen Worte blickte Chef mich an, dann wurden seine Augen wässrig. „Du... Du kannst doch nicht einfach...“ Er flüsterte die Worte lediglich noch und versuchte nach meiner Hand zu greifen.
„Ich tue das einzige richtige. So habe ich es geschworen und genauso gemeint.“ Mir kamen zwar selbst bereits die Tränen, doch ich meinte es vollkommen ernst. „Wie bereits gesagt... Ich würde einfach alles tun!“
Zähneknirschend nickte Chef und erwiderte nichts mehr dagegen, während ich rückwärts auf die Feinde zuging. „Versprich mir... das du es niemals bereust.“ Bettelte er.
Ich lächelte zuversichtlich, während mir Handschellen angelegt wurden. „Nur, wenn du mir versprichst, dass du mich heiratest, wenn ich wiederkomme.“
Chefs Augen leuchteten rapide auf. Mehr Worte bedurfte es nun nicht mehr zwischen uns, während ich abgeschleppt wurde und mir vornahm ab diesen Zeitpunkt niemals wieder zu sprechen, so lange, bis ich wieder vor Chef stand.
Bloß das charakteristische Piepsen, der Komastation war zu hören. Das Sauerstoffgerät, welches in regelmäßigen Abständen Sauerstoff in die Lungen der jungen Frau blies und abzog, glitt geräuschlos dahin, während in ihrer ausgestreckten Hand, ein kleines Gerät lag, dass wenn man es drückte, ein Signal zur vordersten Station schickte.
Die Stunden vergingen. Die Tage vegingen und die Wochen krochen dahin, bis sie zu Monaten wurden. Jeden Tag, kam zur gleichen Zeit der Chefarzt zur Visite. Viel Hoffnung hatte er nicht für das kalkweise Wesen, dass unter den Laken fast vollständig verschwand. Als sie eingeliefert wurde, schien sie dem Tot schon länger, näher gewesen zu sein, als jeder andere, den er jemals gesehen hatte. Ihre Haut hatte eine graue, ungesunde Färbung angenommen, die Augen waren etwas verquollen und an so gut wie jedem Körperteil konnte man mühelos die Knochen zählen.
Seit diese Person im Koma lag, jedoch, schien sie wieder gesünder geworden zu sein. Wenn man jeden Tag kam, bemerkte man diese Veränderung kaum, doch irgendwann... nach und nach, bemerkte man sie. Jetzt, nach einem halben Jahr, lag keine graue, magere Person mehr hier, sondern eine typisch, blasse Komapatienten. Dünn, ja, aber nicht mehr abgemagert, wie anfänglich.
Wie jeden Tag, seit der Einlieferung und dem Abklingen des schweren Hirntraumas, schrieb er >Unverändert< in seine Akte. Eigentlich sollte man meinen, dass die Person, die kaltblütig zusammengeschlagen und vergewaltigt worden war, bereits wieder erwacht sei, nach der OP und dem Abklingen der Anästhesie, doch nicht so, dieses Opfer. Sie schlief weiterhin, einen ruhigen, bewegungslosen Tiefschlaf, aus dem nichts sie bisher hatte wecken können.
Seufzend und enttäuscht von dem Anblick, den sich ihm tagtäglich bot, verließ er das Zimmer. Nichtsahnend, dass sich fünf zarte Finger, um das Gerät in der Hand, der Komapatientin schlossen.
Langsam, wie zäher Klebstoff, löste ich mich aus einer Art Trance. Ich wusste im selben Moment, indem ich meine schweren Augenlider hob, dass ich mich nicht mehr in der Nähe von Chef befand. Nein, im Gegenteil. Ich befand mich so weit von ihm entfernt, dass ich bereits in Lichtjahren messen konnte.
Mit mühe, drehte ich meinen steifen Nacken und sah mich in dem befremdlichen Zimmer um. Oder steckte ich gar in einem anderen Körper? In einer anderen Welt? Alles war so befremdlich... so klar... Als ich versuchte, meinen Mund zu öffnen, fühlte es sich an, als würde Reibpapier, über Reibpapier schaben und mein Kiefer ließ sich kaum bewegen.
Panisch griff ich mit meiner rechten Hand, nach dem Gegenstand, der verhinderte, dass ich den Mund bewegen konnte und staunte nicht schlecht, als ich darin ein kleines weises Gerät, mit einem roten Knopf fand. Jedoch noch bevor ich ihn drücken konnte, stürmten zwei Krankenschwestern in meinen Raum.
„Hol sofort den Chefarzt! Sie ist endlich aufgewacht!“ Wies die Ältere, die Jüngere an, welche sofort loslief. Die Ältere ging auf mich zu und lächelte mich beruhigend an.
„Ruhig. Das ist bloß ein Beatmungsschlauch, Liebes.“
Es dauerte nicht lange, da wurde Alive von ihrem Atemgerät getrennt und fand sich vor einer erleichterten Belegschaft wieder. Was sie jedoch hörte... war alles andere, als erleichternd zu hören.
Es war alles bloß ein Traum gewesen. Jeder Tote, jeder Auftrag, jede Person die sie kennen gelernt hatte in den letzten Jahren... Tatsächlich waren es lediglich sechs Monate gewesen.
„Immer mit der Ruhe, Liebes. Der Chef ist gerade bei einem Notfall, aber dann kommt er sofort, ja? Ihre Familie wurde ebenfalls benachrichtigt.“
Familie. Etwas das Alive so unendlich lange nicht mehr gesehen hatte. In ihrem Traum, da hatte sie sich abgefunden, akzeptiert, dass sie niemals wieder zurückkonnte. Aber jetzt... Alleine der Gedanke daran, ihre Söhne und ihre Mutter wiederzusehen, ließ ihr das Herz hochhüpfen.
Und da kamen sie dann auch. Mit einem lauten „Mami!“ Stürzten sich ihre beiden, kleine, tränenverweinten Söhne ins Bett. Anfänglich schmerzten ihre Knochen und ihre Muskulatur rebellierte, ihre Kinder an sich zu drücken, doch rasch vergaß sie den Schmerz. Auch ihr liefen dicke Tränen über die Wangen, vor Glück.
Im Traum war es ihr so leicht vorgekommen. Sie dachte, alle wären besser dran, ohne sie. Vielleicht wären sie das auch, doch als sie nun ihre Mutter sah. Gerade einmal fünfzig und doch besaß sie schneeweises Haar. Ergraut vom Stress und den vielen Sorgen.
„M-Mama!“ Schlussendlich fielen auch die beiden sich in die Arme. Alive, nein Charlotte, wagte es kaum, ihre drei engsten Vertrauten aus den Armen zu lassen. Jedoch folgte bekanntlich nach dem Hoch, ein Tief. „Was ist... Mein Mann. Was...“
Noch viel es ihr schwer etwas zu sagen. Ihre Kehle war rau vom Beatmungsgerät und ihre Muskulatur noch nicht wieder in Höchstform.
„Es tut mir leid.“ Charlottes Mutter schüttelte betrübt den Kopf. „Er... weilt nicht mehr unter uns. Die... Krankheit... du weißt...“
Stammelte ihre Mutter zusammen, doch hob überrascht die Augenbrauen, als ihre Tochter erleichtert seufzte. „Ich gehe nicht mehr.“ Versprach Charlotte in die verwuschelten Haare ihrer Söhne und küsste beide erneut. „Jetzt werden wir es, gemeinsam, besser machen!“
„Wie ich sehe, geht es Ihnen bereits besser, als erwartet. Entschuldigen Sie bitte, meine reichliche Verspätung. Ich wurde aufgehalten. Wie fühlen Sie sich, Miss?“
Mit offenen Mund starrte Charlotte den Mann vor sich an. Definitiv der Chefarzt dieser Abteilung und er lächelte aus hellblauen, gütigen Augen zu ihr hinab, während er ihre Hand nahm und ihren Puls fühlte.
Ein verlegenes Lächeln zeichnete sich auf Charlottes blassen Lippen ab. Vielleicht... war doch nicht alles in ihrem Traum von den Haaren herbeigezogen gewesen? Wenigstens konnte sie sich nun sichersein, dass egal, wie hart es noch kommen würde, es würde immer wieder eine Chance geben, das wiedergutzumachen, was man einmal verbaut hat. Man muss nur den richtigen Ansporn finden und einen Hauch von Fantasie beifügen, dann klappt das schon.
--> Nicht alles ist möglich, aber es ist mehr möglich, als du glaubst.<--
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2014
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