Cover

At first…

 

 

 

Berlin – Istanbul

 

 

Ein Thriller von Michael Knox

 

 

Copyright (Text, Cover) by Michael Knox, Berlin 2015

 

 

 

Dank an Matthias und Steffi.

 

***

Führt den bewaffneten Kampf gegen diejenigen, die nicht an Allah und an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und sein Gesandter verboten haben, und die nicht dem wahren Glauben folgen, bis sie aus freien Stücken den Tribut entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen. (Koran, Sure 9, 29)

***

Für die Ungläubigen haben wir im Jenseits Ketten und Fesseln und den Höllenbrand bereit. (Sure 76,4)

***

„Glaubst Du an Gott?“

„Allah ist mein Herr.“

„Was ist die Welt für Dich?“

„Nur Leere…“

„Und die Menschen?“

„Traumwandler, die in der Leere verloren sind.“

„Hast Du ihnen Verpflichtungen gegenüber?“

„Nein, denn ich stehe Gott näher als ihnen.“

„Wie findest Du zu Gott?“

„In dem ich mich ihm unterwerfe und seinem Wort folge.“

„In dem Du Suren aus dem Koran auswendig lernst?“

„In dem ich sie lebe.“

„Welche Aufgabe hat Dir Allah zugewiesen?“

„Ich bin sein Zorn, seine Rache, sein schwarzer Engel.“

„Warum lebst Du nicht nach den Worten des Korans und strebst ein frommes Leben als Moslem an?“

„Weil Allah mir den Krieg zur Aufgabe gemacht hat. Und der Krieg erfordert Strategie, Taktik, List und Überraschung.“

„Wirst Du nach Deinem Leben einen Platz im Paradies finden?“

„Das ist anderen vorbehalten. Mein Leben dient dem Zorn Allahs. Ich erwarte keine Gegenleistung.“

„Fürchtest Du Dich?“

„Die anderen fürchten mich. Ich diene Gott.“

***

Berlin, Mittwoch - 18. September

I

Der Regen wurde stärker. Die Temperatur war auf unter zehn Grad Celsius gefallen. Der Sommer war vorbei. Der halbjährige Berliner Winter kündigte sich an. Ben musste die letzten 50 Meter alleine laufen. Yusuf hatte sich an der Straßenecke verabschiedet und ihm Glück gewünscht. Yusuf würde hier stehen bleiben und auf ihn warten.

Über seinem T-Shirt trug Ben nur eine leichte Stoffjacke, die bereits durchnässt war. Ihm war kalt. Und Ben hatte Angst. Ben lief mit festem Schritt die Straße hinunter. Seine Hände umklammerten die Riemen seines Rucksacks. Er dachte an Sidon, seine Heimatstadt. An das Meer und die Sonne. Die Hitze im Sommer. Berlin war kalt. Er mochte die Stadt nicht. Hier gab es kein Meer, keinen Strand. Die nasse Berliner Kälte kroch durch seinen Körper. Er zitterte, die Angst nahm zu.

Ben verlangsamte den Schritt und blieb schließlich stehen. Zehn Meter vor ihm lag sein Ziel. Das „Saigon“, ein vietnamesisches Restaurant in Neukölln. Ben wusste nicht, wo Vietnam lag und wer oder was Saigon war. Er starrte auf das rote Schild, was auf den Gehweg hinaushing und einen goldenen Drachen zeigte. Die Schrift darüber konnte er nicht lesen. In der Schule in Sidon hatte er Arabisch gelernt. Lateinische Schriftzeichen und die deutsche Sprache waren ihm fremd. Auch in Berlin sprachen alle in der Familie arabisch. Aber das war nicht seine richtige Familie.

Er vermisste seine Mutter, die in Sidon geblieben war. Er hatte sie zum letzten Mal im Frühling gesehen, als Onkel Kahlid ihn mitgenommen hatte in das Flugzeug. Ben fand den goldenen Drachen schön. Sein Vater war tot. Als Held in irgendeinem Krieg gestorben als er noch sehr klein war. Jetzt war er neun Jahre alt. Ein großer Junge, wie Onkel Kahlid meinte. Und weil er ein großer Junge sei, sollte er mit nach Berlin kommen. Dort werde er es besser haben, weil Berlin und seine anderen Onkel reich seien, aber seine Mutter arm.

Ben starrte auf den goldenen Drachen. Die Angst in ihm wuchs und wurde größer. Und er war traurig, weil er seine Mutter vermisste. Aber er sollte ihr nicht weiter zur Last fallen, meinte Onkel Kahlid. Tränen stiegen in ihm auf. Das Zittern des Jungen nahm zu. Kälte, Angst, Trauer… Der goldene Drache verschwamm hinter dem Salzwasser seiner Augen.

Ben weinte, er wollte weglaufen, aber er durfte nicht. Yusuf würde ihn schlagen. Ibrahim, Yusufs Vater, würde ihn auch schlagen. Und er würde dann wieder viele Tage in seinem Zimmer bleiben müssen. Das war jedes Mal so, wenn er nicht gehorchte. Außerdem hatte ihm Yusuf ein großes Eis versprochen. Ja, er wollte ein Eis. Schoko, Pistazie und dann noch eine Kugel von diesem blauen Eis, mit viel Streusel drüber. Ben wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er dachte an sein Eis. Er dachte an sein Training mit Yusuf und Onkel Ibrahim. Die Trauer verschwand. Die Angst erstarrte. Die Kälte blieb.

Ben nahm seinen Rucksack ab, öffnete den Reißverschluss und ging zur Eingangstür des „Saigon“. Er zog die Tür auf und ging hinein. Es war kurz vor elf Uhr. Noch keine Gäste. An einem Tisch rechts vom Tresen saßen vier Männer über Papierstapel und einem Laptop gebeugt. Ben erkannte an den Gesichtern und mandelförmigen Augen, dass es Vietnamesen sein mussten. Die Männer sahen auf. Ben holte die Uzi aus seinem Rucksack, drückte die Sicherungstaste und feuerte die 32 Schuss des Magazins auf die Männer am Tisch. Der Rückstoß der Uzi war kaum zu spüren.

Ben hörte den Lärm nicht. Wie im Training konzentrierte er sich nur auf sein Ziel. Als das Magazin leer war, lagen die Männer am Boden. Auch der Laptop. Papier war überall verstreut. Blut färbte es rot. Blut war auf den Hemden der Männer, in ihren Gesichtern. In ihren Augen waren noch die Überraschung und das Entsetzen über die plötzlichen Schüsse eingraviert. Der Wunsch, ewig zu leben, hatte sich für sie nicht einmal ansatzweise erfüllt. Ben sah es nicht. Wollte es nicht sehen. Er steckte die MP wieder in seinen Rucksack, schulterte ihn und ging hinaus auf die Straße. Da vorne sah er Yusuf.

Er freute sich auf sein großes Eis mit Streusel oben drauf. Sein Herz raste, es regnete und es war kalt, aber das war ihm egal. Yusuf nahm ihn an der Hand und sie gingen zum Eisladen.

 

Berlin, Donnerstag - 19. September

II

8:00 Uhr. Der Wecker seines Handys sonderte unerbittlich und rhythmisch digitale Klangwolken aus. Martin seufzte, griff sich den südkoreanischen (taiwanesischen?) Quälgeist und befahl ihm in fünf Minuten erneut zu lärmen. Dann drehte er sich wieder in sein Kopfkissen.

Was für ein beschissenes Spiel: Dortmund war völlig nervös wie ein aufgescheuchtes Huhn gegen Neapel ins Verderben gelaufen. Klopp, das alte Rumpelstilzchen, war nach dem 0:1 auf die Tribüne geschickt worden, Weidenfeller sah noch vor der Pause die Rote Karte, zu zehnt schaffte es der BVB dann nur noch zu einem 1:2 gegen abgewichste Italiener. Chancen-Verwertung unterirdisch. Was für ein Riesenmist…

Wenigstens Schalke hatte gegen Barfuß Bukarest ein 3:0 rausgehauen… Während des Spiels war in seiner Stamm-Kneipe Bier geflossen, danach Jägermeister, dazwischen auch. Und davor eigentlich auch. Schalke-, BVB- und stinknormale Fußball-Fans hatten einträchtig in einer Kneipe um die Wette getrunken. Das gab‘s wohl auch nur in Berlin…

Martins Schädel tat noch nicht weh. Aber der Quälgeist zeterte wieder. Martin würgte ihn ab, rappelte sich auf und schleppte sich ins Bad, um eine Ibuprofen einzuwerfen. Präventiv. Wie fast jeden Morgen. Wie jeden Morgen.

Dave stieg aus der Dusche und sah ihn kopfschüttelnd an:

„Wie Scheiße siehst Du denn aus?!“

„Auch nen guten Morgen, danke…“

Martin sah in den Spiegel und verstand nun die Frage seiner Freundin.

„Aha…“

Verquollenes Gesicht, Haare zu Berge, Kloppis Sieben-Tage-Bart waren im nur leicht beschlagenen Spiegel deutlich zu erkennen.

„Kaffee ist noch heiß“, meinte Dave und wuschelte Martin durch die Haare: „Hast Du nicht um halb zehn nen Termin mit Schumann?“

„Jaja… Ist ja noch Zeit…“

Martin ging in die Küche, nicht ohne sich nach Daves Hintern umzudrehen, nahm die Mokka-Kanne, schenkte Kaffee ein und zündete sich eine Zigarette an. Puh… Jetzt nur noch den restlichen Tag überstehen… Schumann, der Chefredakteur des Tagesspiegels hatte ihn für heute zum Einzelgespräch geladen. Martin war gespannt warum. Vor etwa anderthalb Jahren war Martin vom Ressortleiter Sport zum Chefreporter aufgestiegen. Damals hatte er Marias Recherchen über einen Terroranschlag des Nazi-Untergrunds weitergeführt und eine Riesenstory gelandet.

Nun ja, er hatte es nicht ganz alleine geschafft, die Berliner Republik vor schmutzigen Bomben zu bewahren. Seine Kumpels hatten ihn ein wenig unterstützt. Die Berliner Polizei wurde danach neu strukturiert, in der lahmen Berliner Justiz und in der verpolitisierten Staatsanwaltschaft hatten ein paar Köpfe rollen müssen. So weit, so gut. Seitdem hatte er einige gute, sauber recherchierte Reportagen und Features gemacht, ansonsten aber meist nur unpolitisches Zeugs geschrieben - Lifestyle-Müll, Society-Dreck, Trend-Scheiße… Mal sehen, was Tim Schumann von ihm wollte.

Dave kam in die Küche und baute sich vor ihm auf. Er sah an ihr hoch: Chucks, zerlöcherte Jeans, T-Shirt, Kapuzen-Pulli und Armee-Jacke. Dazu die Retro-Adidas-Tasche in Giftgrün, in der sie ihr Laptop und dutzende kleiner Hardware-Artikel mit sich führte. Kurze nach vorne gegelte Haare und die Buddy-Holly-Brille.

Sie beugte sich zu ihm an den Küchentisch herunter und gab ihm einen Kuss:

„Ich hau ab, Du Irrer! Bis später!“

„Mach‘s gut, Du Nerd!“

Martin drückte seine Kippe aus, stand auf und umarmte seine Freundin.

„Aua! Nich so doll! Uaahh! Und außerdem stinkst Du ausm Maul und hast ne Mega-Fahne! Du bist soooo ekelhaft!“

Sie küsste ihn und verschwand.

„Leck mich!“ rief er lachend.

„Du mich auch!“ kam prompt das Echo.

Die Wohnungstür schlug zu.

Martin blickte aus dem Fenster: Die Sonne kam durch. Na, dem Himmel sei Dank. Martin hasste das Berliner Klima – kurze heiße Sommer, lange nasskalte Winter, kaum Übergangsjahreszeiten. Da war es in seiner Heimat im Ruhrpott noch angenehmer. Scheiß drauf. Martin trank seinen Kaffee aus und ging ins Bad. Langhaar-Rasierer. Den Sieben-Tage-Bart um fünf Tage zurückdrehen. Heiße Dusche. Zähneputzen. Raus. Anziehen. Jeans, schwarzes Hemd, Reporter-Sakko in Schwarz. Reporter-Tasche mit Laptop, Kabel etc., Reporter-Handy, Geldbörse, Schlüssel – ab die Post.

Samariterstraße runter, Steh-Café: Schoko-Croissant und Kaffee zum Mitnehmen. U-Bahn, 9:00 Uhr: 200 Menschen dicht gedrängt im Abteil, Totenstille, Menschen die auf ihre Smartphones, auf andere Menschen oder in die Leere glotzen. Martin genoss diese unnatürliche Ruhe wie jeden Morgen. Alex. Endstation. Umsteigen. Den Massen folgen. Hoch zur S-Bahn. Sonne. Zug fährt ein. Einsteigen. Dutzende Menschen drängelten wie immer in die Wagons, ohne Rücksicht auf die aussteigenden Fahrgäste zu nehmen. Ein Graus für Londoner, Tokioter oder Münchener Touristen. Berliner Freundlichkeit eben…

Bahnhof Zoo – aussteigen. Kippe an. Kopfhörer rein. Radio einschalten. Das News-Radio brachte die Meldungen: Assad: „Ja, wir haben Chemiewaffen“ - Neuer Präsident von Iran Rohani beteuert Verzicht auf Atombombe - Video-Botschaft Berlusconi: „Ich bleibe in der Politik“ - Rocker-Prozess in Berlin: Hell Bangels-Boss schweigt: 500 Euro Strafe – Berlin: Massaker in Neuköllner Restaurant: Vier Vietnamesen erschossen - Schwere Unwetter in Mexiko: 58 Menschen nach Erdrutsch vermisst - BVB-Niederlage in der Champions League: Das zweite Gesicht des Jürgen Klopp…

9 Uhr 35: Martin betrat das Redaktionsgebäude des Tagesanzeigers. Der Pförtner las wie immer in einem Boulevard-Blatt und grüßte ihn aus den Augenwinkeln. Für Martin öffneten sich die Lift-Türen. Er stieg ein und drückte den Knopf für die achte Etage – Chefredaktion. Fahrstuhlmusik. Martin musterte sich im Spiegel: Er sah wieder einigermaßen passabel aus. Tränensäcke auf Normal-Level. Nun gut: Die Geheimratsecken… Aber die deuteten nicht auf den letzten Abend hin. Martin griff in seine Sakko-Tasche: Fishermen’s Friend – die Fahne bekämpfen. Achte Etage: Die Türen des Aufzugs öffneten sich. Martin stieg aus, nahm die Kopfhörer aus den Ohren und stellte das Radio aus. Gang entlang – „Chefredakteur - Tim Schumann“ stand auf dem Schildchen an der Tür.

Martin klopfte und trat ein.

„Ah! Martin! Du bist’s! Sieben Minuten zu spät! Mann! Wir haben keine Zeit! Komm rein, komm rein!“ Schumann klopfte sich auf seinen Bauch, den wie immer ein weißes Hemd umspannte. Martin zu Ehren zog er sich sein Sakko über und strich sich nochmals durch sein dichtes graues Haar.

„Kaffee?“

„Gerne.“

Schumann nahm den Telefonhörer ab und bestellte bei seiner Sekretärin Kaffee und Wasser. Martin blickte sich kurz um. Es hatte sich nichts verändert: Stahl-Glas-Regale, Eck-Couch aus schwarzem Leder mit Glastischchen, gerahmte Kunstdrucke und Erinnerungsfotos von Schumann mit diversen Politikern und Promis.

„Setz Dich, bitte.“ Schumann wies Martin zur Couch.

Sie setzen sich an das Glastischchen, jeder in seiner Ecke. Irene, die Sekretärin kam herein und stellte ein Tablett mit Thermoskanne, Wasserkaraffe, Tassen, Gläsern, Löffeln, Zuckerdöschen und Milchkännchen ab. Irene war Mitte 50, korpulent, blond gefärbte kurze Haare, hatte alles im Griff, auch ihren Chef, und ließ nicht mit sich scherzen:

„Siehst ja wieder mächtig müde aus, Martin!“ raunzte sie Martin an und warf ihm einen mütterlichen Blick zu, den Martin nicht eindeutig als streng, besorgt oder mitleidig interpretieren konnte.

„Ich bin immer müde, Irene…“

„Pahhh!“

„Is ja gut, Irene!“ lachte Schumann und musterte amüsiert Martins Tränensäcke. Irene verzog sich und schloss nicht gerade leise die Tür.

Martin rutschte etwas verlegen auf seinem Platz herum und beugte sich schließlich vor, um beiden Kaffee einzuschenken. Schumann hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit seinem Fuß, so dass er immer wieder an den Couchtisch stieß. Nervös trippelte er mit den Fingern auf der Couch herum und beobachtete Martin ungeduldig, wie der sich Milch und Zucker in seinen Kaffee tat.

„So. Ja. Nun gut. Martin. Ähemm… Ich hatte da vor einigen Tagen ein interessantes Abendessen mit unserem Polizeipräsidenten…“

Schumann nahm seine Tasse, um mit einer kleinen Kunstpause die Spannung zu erhöhen. Er trank einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee und stellte die Tasse wieder ab:

„Martin, nach diesem Essen war ich ein anderer…“

„Aha...“

„Äh… Ja… Ich hatte ihn extra zu Marceaux eingeladen. Du weißt ja, wie diese hohen Tiere so sind. Die wollen umschmeichelt werden mit fünf Gängen à drei Sterne blabla… Egal – das Essen war natürlich vorzüglich… Allein die Vorspeise: Kalbsleber kurz angebraten an frischen Wiesenkräutern auf einer Gemüse-Textur – ahhh…“

„Soso, an Wiesenkräutern… Mann, Tim! Zur Sache! Was hat er Dir erzählt?!“

„Ja… Martin: Wir sind im Krieg!“

Martin glotzte seinen Chef an wie eine Kuh auf einer Bergwiese, die frische Wiesenkräuter wiederkäute.

„Wir sind im Krieg, Martin!“

Tim Schumann stand abrupt auf und stolzierte mit den Händen in den Hosentaschen in seinem Büro auf und ab:

„Täglich! Hier! In Berlin! Schießen! Morden! Brandschatzen Clans und Banden! Drogen, Waffen, Prostitution! Mädchenhandel! Schutzgeld! Bestechung!“

Schumann hatte sich vor seinem Büro-Fenster aufgestellt, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und blickte wie ein Feldherr über den Breitscheidplatz. Martin hatte es sich inzwischen auf dem Sofa bequem gemacht und verdrehte die Augen:

„Tja, Tim… Willkommen in der Wirklichkeit! So ist das bei uns hier in der Hauptstadt. Viel Verbrechen, wenig Geld für Polizei. Überforderte Gerichte, taktierende Staatsanwälte… C’est la vie…“

Schumann drehte sich plötzlich wie vom Blitz getroffen um, und marschierte im Stechschritt zurück zur Couch. Martin rappelte sich vor Schreck auf und ging sitzend in Hab-Acht-Stellung. Schumann streckte bohrend den Zeigefinger in Martins Richtung:

„Martin, das ist mittlerweile nicht mehr das gewöhnliche Großstadt-Verbrechen. Russische, türkische, libanonistische…“

„Libanesische…“

„Danke - libanesische, vietnamesische Clans haben die Stadt fest im Griff. Nach Kiez und Straßenblocks aufgeteilt. Die Polizei traut sich in manche Straßen gar nicht mehr hinein. Es haben sich nicht nur lustige Multikulti-Viertel in der Stadt gebildet, sondern kriminelle Ghettos, Halbwelt-Subkulturen, verbrecherische Neben-Gesellschaften, lauter kleine Unterwelt-Staaten im Staate. Dazu kommen noch diverse Rockerbanden – die Hell Bangels, die Pistoleros, was weiß ich noch… Der PolPräs spricht von professionell organisierter Kriminalität, derer wir – also er – nicht mehr Herr wird, weil die Weicheier in der Politik Angst vor härteren Gesetzen haben.“

Schumann lief wieder zurück zum Schreibtisch, kramte aus seiner Schublade einen Zigarillo und einen Aschenbecher hervor, nahm eine Aktenkladde vom Tisch und brachte alles zum Couchtisch. Erleichtert sah Martin auf den Aschenbecher, holte seine Kippen aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Schumann seinen Zigarillo. Beide bliesen selig ihren Rauch aus. Schumann sah Martin an:

„Martin, die Öffentlichkeit weiß nicht, wie es in dieser Stadt abgeht. Die Politik will es nicht wissen. Und die Medien haben keine näheren Infos, weil keiner recherchieren will, nur an der Oberfläche kratzen möchte, Angst hat. Verdammte Scheiße! Wie in einer Bananen-Republik…“

Schumann beugte sich zu Martin vor, sah ihm scharf in die Augen, paffte nochmals an seinem Zigarillo, genoss die weitere Pause und klopfte mit dem Zeigefinger auf die Kladde:

„Da! Der PolPräs hat uns exklusiv einige Infos überlassen! Haha!“

Schumann aschte ab und schob Martin die Kladde rüber.

„Da steht alles drin: Namen, Fakten, Statistiken der Berliner Polizei, des Amtsgerichts, eine Einschätzung der Lage des PolPräs – anonym natürlich…“

„Natürlich…“

„Ja, natürlich, weil der Mann unter enormen Druck steht. Was glaubst Du denn, wie ihm der Innensenator, dieses Weichei, die Hölle heiß macht! Und sein Staatssekretär, dieser schleimscheißende Karrierist…Da müssen in der Kriminalstatistik die Verbrechen jedes Jahr nach unten gehen, und wie geht das am besten?!“

„Hmmm… Verstärkte Polizeipräsenz? Abschreckung? Prävention?“

„Nein! Am besten ist es, bei der Polizei Personal einzusparen, dann können die weniger Fälle bearbeiten, selbst zur Anzeige bringen und sich weniger mit Kriminalität beschäftigen – weniger Polizei bedeutet statistisch weniger Verbrechen! Wo niemand ermittelt, wird auch nichts entdeckt, nicht aufgeklärt. Das ist Superscheiße, Martin! Und gleichzeitig kann unser armes Berlin so auch noch seinen angespannten Haushalt entlasten.“

Schumann schnaubte den Rauch seines Zigarillos aus wie ein wütender Drache. Er stand auf und wanderte wieder durch sein Büro – eine Hand in der Hosentasche, eine den Zigarillo haltend. Dann blieb er vor seinem Schreibtisch stehen und wandte sich wieder Martin zu:

„Martin, lies die Akte. Es geht im Kern um den Maru-Clan. Libanese. Gestern wieder ein Anschlag. Vier Tote. Vietnamesen. Die Polizei vermutet, dass es die Libanesen waren. Aber auch Türken, Russen, Motorrad-Gangs mischen in unserer Stadt kräftig mit… Dein Auftrag: Du gehst nach Kreuzberg, Neukölln in den Wedding und in die Hölle! Dahin, wo’s weh tut – wie im Fußball! Du wirst in der Sache recherchieren, Fakten sammeln, O-Töne einholen… Du wirst ein mehrteiliges Feature schreiben über die Mafia in dieser Stadt, über die organisierte Kriminalität hier, über den Untergang Berlins. Jawohl!“

Schumann kam wieder zur Couch und setzte sich:

„Junge, die Story wird hier in dieser abgewrackten Stadt für mehr Ärger sorgen als die Sache damals mit der NSF. Du, und natürlich Maria – Gott hab sie selig, ihr habt in diesem verschnarchten Beamten-Apparat die Köpfe rollen lassen, ihr habt die Politik mobilisiert, ein neues NVP-Verbotsverfahren anzustrengen... Martin: Das ist Deine Chance! Schluss mit dem Lifestyle-Müll! Der Tagesanzeiger gönnt es sich, Dich für eine mehrwöchige Reportage freizustellen – mach was draus, Junge!“

Schumann griff sich Martins Hand, bevor der zurückweichen konnte, und knuddelte sie wie eine Oma ihren Enkel.

„Deine Chance Junge!“

Martin zog seine Hand behutsam zurück:

„Ähem… Tim… Wie stellst Du Dir das vor? Recherche in der Halbwelt? Unterwelt? Undercover? Wie? Was?!“

Schumann stieß ein „Haha!“ aus, ging abermals zum Schreibtisch und zauberte eine Flache Brandy aus einer der Schubladen hervor. Kam zurück zur Couch und goss sich einen ordentlichen Schuss in den Kaffee. Sah Martin fragend an, der nickte, und füllte auch Martins Kaffeetasse auf.

„Prost!“

„Prost!“

Sie stießen mit ihren Kaffeetassen an und nahmen einen außerordentlich genussvollen Schluck aus ihren Tassen.

„Der Polizeipräsident wird uns unterstützen. Es ist sein letztes Mittel. Der Typ war früher bei der GSG9 und versteht wenig Spaß – und Politiker sowieso nicht.“

Schumann nahm noch einen Schluck:

„Er will die Politik unter Druck setzen. Das geht am besten über die Medien. Und am allerbesten exklusiv mit uns. Wir haben uns das Wort gegeben. Er versorgt uns mit Infos, stellt einen seiner besten Leute inoffiziell für uns ab, der für Dich immer greif- und ansprechbar ist. Du hast morgen einen Termin bei ihm. Um 10 Uhr.“

Martin trank seinen Brandy-Kaffee auf ex, schenkte sich Kaffee und Brandy nach und zündete sich eine neue Zigarette an. Was ihm da Schumann auftischte, war der absolute Hammer: Ein Superthema, viel Zeit zur Recherche, und exklusiven Zugang zu einem Top-Beamten. Aber er brauchte Unterstützung. Das Ganze würde nicht ungefährlich abgehen… Martin überlegte kurz, merkte, wie der Alkohol des Brandy-Kaffees ihm die Blutbahn überrannte und blies den Rauch langsam aus und schaute Schumann in die Augen, die ihn schon fixierten:

„Tim, das ist ne heiße Sache. Mach ich gerne. Aber…“

„Aber?“

„…aber ich brauche Geld und ich brauche zusätzlich Unterstützung – und zwar von Leuten, von denen Du lieber nichts wissen willst. Dann wird die Geschichte wirklich rund und wir können graben und nicht nur an der Oberfläche kratzen.“

Das war pure NLP – manipulative Rhetorik mit Hilfe Neurolinguistischer Programmierung: Martin wiederholte Schumanns Wunsch, nur interpretierte er ihn selbst: Schumann würde nun nicht „Nein“ sagen können. Und: Schumann war nicht auf Handeln eingestellt. Er taxierte Martin, seine selbstsichere Ausstrahlung, er sah den Komplizen, der ebenfalls Brandy in den Kaffee schüttete, den Mann, der ihm vor einigen Monaten einen enormen Auflagenschub beschert hatte, und sagte:

„Klar! Junge! Du hast freie Hand! Spesen-Abrechnung über Irene.“

Schumann griff wieder nach Martins Hand, um sie zu herzen. Martin ließ es geschehen und träumte von traumhaften journalistischen Bedingungen, die er sich damals im Studium als Normalfall vorgestellt und die in der Realität immer unerreichbar gewesen waren.

 

III

Er lag auf seinem Sofa und zog an seiner Shisha. Tabak plus Gras. Irgendeine Nichte irgendeines Verwandten machte sich gerade an seinem Schwanz zu schaffen. Yasin hielt den Shisha-Schlauch in der einen Hand und sog den betörenden Rauch ein, mit der anderen kraulte er das Haar von Alia, oder Alima? Egal. Wie auch immer… Er genoss es. Er genoss die Dienste seiner Nichte und er genoss das Leben hier in Deutschland, das ihm die letzten zehn Jahre einen gewaltigen Wohlstand beschert hatte. Als er mit seinen Eltern und Geschwistern 1983 als Achtjähriger aus dem Libanon nach Deutschland gekommen war, hatten sie nichts. Die Asylgesetzgebung war in Deutschland damals noch weich. Sie waren damals in einem Asylbewerberheim in München untergekommen. Das Verfahren wurde relativ schnell abgehandelt. Es folgten Aufenthalts- und schließlich Arbeitserlaubnis. Erstere letztlich unbefristet. Yasin Maru zog mit seiner Familie nach Berlin und sie gründeten in Neukölln erst einen Obst- und Gemüsehandel, später handelten sie mit allem Möglichen.

Als sein Vater Ende der 90er starb, handelte Yasin Maru vor allem mit Drogen, Waffen und Frauen. Den Obst- und Gemüseladen gab es heute noch. Neben zahlreichen anderen Geschäften, Trödelläden und Restaurants eine hervorragende Tarnung zur Geldwäsche.

Yasin zog an seiner Shisha. Er blickte durch sein Loft und blies den Rauch langsam aus. Er musste noch härter werden, wenn er es ganz nach oben schaffen wollte. Er blickte zu Alia oder Alima oder wie auch immer hinunter. Die Schlampe brachte es nicht. So würde er nie kommen. Wütend stand er auf, schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, packte sie bei den Haaren und drückte sie mit dem Gesicht aufs Sofa. Dann vergewaltigte er sie anal. Als er fertig war, zog er das bewusstlos röchelnde Mädchen an den Haaren quer durchs Zimmer und warf sie vor die Wohnungstür: „Verpiss Dich, Du dumme Schlampe!“

Ali, Yasins Leibwächter und Sicherheits-Chef, der vor der Tür postiert war, staunte nicht schlecht, als er sah, was ihm da vor die Füße fiel. Yasin warf die Tür ins Schloss und ging ins Badezimmer, um zu duschen. Ali packte das Mädchen und schleppte sie in den Fahrstuhl, drückte auf E und überließ sie ihrem Schicksal. Sie würde in vier Wochen wieder auf dem Damm sein. Er zog sein Handy heraus und informierte die Jungs unten, dass sie das Mädchen zum Arzt der Familie bringen sollten. Der war Kummer gewohnt…

Das Wasser lief heiß über Yasins Körper. Er war Mitte 40, muskulös, kein Gramm Fett. Er nahm alle möglichen Drogen, machte aber gleichzeitig viel Sport – Laufen, Squash und immer noch Kick-Boxen. Er hatte sich immer durchgeboxt. Nach der zehnten Klasse hatte er das Gymnasium geschmissen und angefangen zu arbeiten. Erst im Laden der Eltern und ein bisschen Dealen auf dem Schulhof, dann begann er mit Bekannten und Verwandten im Libanon zu handeln – Auto-Ersatzteile, Elektronik, Marken-Klamotten. Doch der Direktvertrieb per Post von Berlin nach Sidon und Beirut war schleppend. Das Geschäft florierte schließlich, als er die Türkei als Sprungbrett entdeckte. Er hatte sich erst der Kontakte türkischer Schulkameraden nach Istanbul bedient, dann hatte er in den 90ern selbst Vertriebspartner in Istanbul gewonnen, die in den Nahen Osten lieferten und von dort Lieferungen bezogen. Istanbul war seitdem seine Handelsdrehscheibe. Kokain, Heroin und Haschisch waren nun Haupt-Import-Artikel. Als das Internet den Vertrieb Ende der 90er exponentiell beschleunigte, katapultierte sich Yasin in die erste Liga der Berliner Drogen-Händler. Schließlich beantragte er die deutsche Staatsbürgerschaft. Falls er in Konflikt mit dem Gesetz – vielmehr mit den Gesetzeshütern – geraten sollte, würde er so einer möglichen Abschiebung entgehen. Er und seine Buchhalter schätzten das Gesamtvermögen des Maru-Clans mittlerweile auf mehr als 250 Millionen Euro – Festgeldkonten, Aktien, Bonds, Immobilien und kofferweise Bargeld. Er war froh, einen deutschen Pass zu besitzen. Allah sei Dank!

Yasin fühlte das THC in seinem Hirn, spürte die Hitze des Wassers, atmete die feuchte Luft, lehnte sich an den kühlen Marmor der Dusche. Niemand würde ihn jetzt noch abschieben können. Niemand würde ihn jetzt noch aufhalten können. In ein paar Wochen würde er in Deutschland die Branchen Drogen, Prostitution und Waffen dominieren und dann europaweit expandieren. Die ersten Schachzüge waren getan, die Gesamtstrategie entworfen, jetzt würde er zum Angriff übergehen. Berlin war ein idealer Ausgangspunkt für seinen Plan.

Heute Abend würde er dem erweiterten Kreis des Clans und der verbündeten Familien aus anderen deutschen Städten reinen Wein einschenken. Heute Abend würde er ihnen ein Stück weit Einblick gewähren und ihnen den Mund wässrig machen. Es würde eine Revolution geben. Er würde ihnen zeigen, was sein Wille zur Macht bedeutet. Er würde sie süchtig machen nach Macht, dann abhängig von seinem Willen. Er stellte das Wasser auf kalt.

 

IV

Er hatte noch am nächsten Tag den Geschmack des Pistazien-Eis auf der Zunge. Yusuf hatte ihm sein Wunsch-Eis gekauft. Ben war glücklich. Alle waren freundlich zu ihm. Er bekam reichlich zu Essen, sogar den Nachtisch, er durfte Fernsehen, raus zum Fußballspielen mit den anderen Kindern gehen. Ibrahim, Yusufs Vater, lobte ihn und steckte ihm noch einen Zehn-Euro-Schein zu. In seinem Bett fand er ein neues Kuschel-Tier. Einen niedlichen, flauschigen, hellbraunen Teddy-Bären. Ben war glücklich. Ibrahim hatte ihm eine Playstation versprochen, wenn er seine Aufgabe das nächste Mal genauso gut erledigen würde.

Ben war allein im Zimmer. Er lag in seinem Bett. Sein Bett war das obere eines der beiden Stockbetten. Er hielt den Teddy im Arm und starrte an die Decke. Er schaute ins weiße Nichts. Er hatte aufgehört zu denken. Er sah das Weiß über sich, das sich langsam rot färbte. Ben wurde heiß. Er begann zu schwitzen. Alles rot! Blut, überall! Ben schloss die Augen und drückte seinen Teddy.

 

V

Martin unterließ es an seinen Redaktionsschreibtisch zu gehen. Er wollte so schnell wie möglich nachhause. Er gönnte sich ein Taxi auf Schumanns Kosten. „Friedrichshain, Samariterstraße, bitte!“ gab er dem Taxi-Fahrer an und griff sich sein Handy, um Sven anzurufen. 10:24 Uhr – Sven sollte schon wach sein. Es tutete dreimal:

„Jo, Marty?“

„Hey, Sven! Alles klar bei Dir?“

„Logisch! Geschäfte laufen gut. Frauen ohne Ende. Meine Gehirn-Kapazität nimmt stetig zu. Und bei Dir? Was gibt’s? Haben uns ja schon n paar Tage nicht mehr gesehen…“

„Ha! Geld? Frauen? – Glaub ich Dir nicht… Hey, Sven: Ich hab ne heiße Geschichte am Laufen und brauch Deine Unterstützung. Ja. Und auch Ziggy sollte wieder mitmischen. Geht um organisierte Kriminalität in Berlin. Wird gut bezahlt.“

„Ohoooo! Hört sich spannend an, auch wenn das nix mit Antifa zu tun hat. Aber warum nicht… Wie lange?“

„Erst mal für ein, zwei Wochen. Haste eben n Stündchen Zeit?“

„Jo. Komm doch aufn Kaffee vorbei. Ich funk mal Ziggy an.“

„OK! Bin auf’m Weg. Bis gleich!“

„Jo. Bis glei-eich, Marty!“

Martin grinste in sich hinein, stellte sich Svens braune Rasta-Mähne vor, seine beiden T-Shirts (wahlweise mit den Motiven The Clash und Sisters of Mercy), fragte sich, ob er von beiden T-Shirts à zehn Ersatz-Shirts im Schrank liegen hatte. Martin hatte sich nach der Nazi-Terror-Geschichte mit Sven und Ziggy angefreundet, mit Dave sowieso. Auch wenn er mit den doch recht extremen politischen Ansichten der drei meist nicht einverstanden war, so waren ihre Unterhaltungen immer anregend. Die drei waren keine verbiestert, missionarischen Linken, sondern verfügten über die nötige Portion Selbstironie, um Ihre Überzeugungen nicht allzu wichtig zu nehmen. Aber sie nahmen ihre Überzeugungen stets ernst. Und das war es, was Martin bewunderte.

Er selbst hatte keine Überzeugung, keine Wahrheit. Er hatte ein vages Gefühl von politischer Correctness – zumindest in der Öffentlichkeit. Selbst aber verfügte er über keine politische Überzeugung, auch über keine philosophische, über keine gesellschaftliche oder moralische. Er handelte unbewusst, orientierte sich träumerisch an unscharfen Idealen, die ihm seine Eltern, seine Umwelt, die abendländisch-europäische Kultur eingeimpft hatten. Eine Emulsion aus griechisch-römischer Philosophie, Christentum, ritterlicher und klassizistischer Romantik, marxistisch-sozialdemokratischer Soziallehre und calvinistisch-wirtschaftsliberaler Arbeitsmoral, gepaart mit den sich stets wandelnden gesellschaftlichen, modischen, kulturellen Verhaltensnormen der 80er, 90er, 2000er und des jetzigen Jahrzehnts. Alles und nichts. Ohne Überzeugung. Ein waberndes Etwas, das… Egal… Das Taxi bog von der Frankfurter Allee in die Samariterstraße ab. Der Fahrer fragte mit typisch Berliner Charme:

„Ey, wo rauslasse, äh?!“

Mist! Er hätte ja zu Sven fahren müssen – verpeilt…

„Die nächste links und dann noch über die Proskauer, bitte.“

Der Fahrer tat wie ihm befohlen

„Hier bitte halten!“

Das Taxi hielt. Martin zahlte mit der Kreditkarte der Redaktion des Tagesanzeigers und stieg aus. Er klingelte bei Sven. Der Türöffner summte und er stieg die Treppen zu Svens Wohnung hoch in die dritte Etage. Sven wartete im Türrahmen:

„Hey, Marty! Cool! Komm rein!“

Die beiden umarmten sich und gingen dann in Svens Küche. Auf dem Tisch war bereits ein komplettes Frühstück aufgebaut: Brötchen, Wurst, Rührei, Speck, Käse, Müsli, und, und, und…

„Hey, Sven: Brunch für zehn?“

„Ne, Ziggy kommt ja noch… Setz Dich.“

Martin nahm am Tisch Platz. Sven reichte ihm einen Cappuccino mit perfekt geschäumter Milch. Dann klingelte Ziggy. Und 20 Sekunden später stand Ziggy in der Küche: Zlatan Ibrahimovic in breit, mit schwarzer Militärhose und Bomberjacke.

„Hi!“

„Hi!“

„Hi!“

„Mann, Ziggy!“

Martin umarmte seinen Kumpel. Sven:

„Los setzt Euch schon. Eier und Speck werden sonst kalt.“

Martin und Ziggy gehorchten Mamas Anweisungen.

„Also, Martin: Was ist Sache?“ fragte Ziggy und schaufelte sich den Teller voll, während Sven ihm servil eine Tasse Cappuccino kredenzte.

Martin strich sich gerade ein Brötchen:

„Nun… Ach, Sven: Hast Du vielleicht n Bier?“

„Klar, Marty!“

Sven sprang auf und hechtete zum Kühlschrank.

„Mirauchbütte!“ mampfte Ziggy vor sich hin.

Sven stellte drei Flaschen Augustiner auf den Tisch und öffnete sie:

„Bitte! Bitte!“

„Danke!“

„Danke!“

Und: „Prost!“

„Prost!“

„Prost!“

Alle saugten an ihren Flaschen. Martin setzte ab:

„Also: Mein Chef will, dass ich in Sachen Organisierter Kriminalität recherchiere. Und zwar tief. Ziemlich heiße Sache. Russen, Biker, Türken, Vietnamesen… Im Brennpunkt: ein libanesischer Clan. Schumann hat mir eine Akte des Polizeipräsidenten mitgegeben. Bin sie noch nicht durchgegangen, wollte erst mit Euch über Prinzipielles reden, aber laut Schumann soll das ziemlich heftig zugehen. In Sachen Kriminalität habe ich noch nie recherchiert. Bisschen was gelesen… Aber er traut mir das zu und gibt mir freie Hand. Habe auch gesagt, dass ich Verstärkung brauche – war ihm recht… Für zwei Wochen, schätz ich mal…“

Ziggy nahm sich Speck und Rührei nach:

„OK. Hat zwar mit uns als Antifa nix zu tun, ist zwar nicht unser Thema, aber die Kohle könnte ich natürlich gebrauchen.“

Sven verzog das Gesicht:

„Moment! Ziggy! Bist Du jetzt als Söldner unterwegs, oder was? Wir wollten in der Gruppe gemeinsam entscheiden. Martin: Was sagt Dave dazu?“

Martin durchfuhr es siedend heiß. Er hatte jetzt Sven und Ziggy eingeweiht, aber Dave außen vor gelassen. Fuck! Das würde sie ihm übel nehmen – aber wie…

„Ähh – keine Ahnung. Dave hat gerade nen Auftrag – IT-Sicherheit in nem Unternehmen checken. Ist unterwegs. Können wir abends fragen.“

Ziggy: „Aha…“

Sven: „Soso…“

Martin sah sich seine Freunde an: Sven, der Rasta-Mann, biss in ein mit Schinken belegtes Brötchen und schaute pikiert an einen fernen Punkt, der irgendwo hinter der Küchenwand liegen musste; Ziggy, der Ex-Soldat, schaufelte Rührei mit Speck in sich hinein, nicht ohne ihn aus den Augen zu lassen:

„Jungs! OK: Es geht hier nicht um rechts oder links. Ist klar. Ich frage Euch, ob ihr mir – ganz allein mir und nicht Eurer Sache – helfen wollt. Das wird keine Anti-Nazi-Sache. Das läuft in ne andere Richtung: Es geht vornehmlich gegen Ausländer…“

„Das heißt: Menschen mit Migrationshintergrund…“ ergänzte Sven.

„Ja… Wie auch immer… Und ich weiß, dass das für Euch schwierig ist: Keine Glatzen, keine Rechten, sondern Türken, Libanesen, Russen, Vietnamesen…“

„Russen sind keine Ausländer, sondern ein historisches Übel“, ergänzte Ziggy.

Sven konterte sofort:

„Das ist ostdeutscher Chauvinismus, Ziggy! Was soll das?“

Ziggy nahm noch Rührei nach:

„Quatsch! Russen sind hier in Ost-Berlin keine Ausländer, sondern immer noch Besatzer. Einige sind kriminell geworden. Andere über deutsche Abstammung nachgezogen… Im Osten Berlins Russen und der Vietcong, im Westen Türken und Libanesen. Klare Sache. Kannste in der Kriminalstatistik nachlesen…“

Sven fixierte Ziggy, während der sich nochmals Rührei auftat:

„Ziggy. Kriminalität ist herkunftsneutral. Es gibt deutsche Dealer wie mich, es gibt türkische, russische, botswanesische, völlig egal. Einbrecher kann jeder werden.“

Ziggy schluckte sein Rührei hinunter:

„Schon klar. Aber n deutscher Einbrecher würde nicht nach Botswana auf Beutezug gehen, weil‘s da nix zu holen gibt. Das Angebot ist in Deutschland eben reichhaltiger als in ärmeren Ländern. Es zum einen eine Sache der sozialen Schichtung, und zum anderen der inneren Sicherheit.“

Martin nahm einen tiefen Schluck und lauschte interessiert und amüsiert dem Schlagabtausch seiner Freunde. Währenddessen schickte er Dave eine SMS, um sie einzuweihen.

Sven:

„Ziggy. Du begibst Dich auf ein Minenfeld. Wenn Du Kriminalität isoliert auf Migranten beziehst, dann argumentierst Du wie ne Neo-Nazi-Glatze…“

Ziggy unterbrach ihn:

„Aber das machst doch nur Du! Du willst aus dem uns bekannten Antifa-Reflex von vornherein jede mögliche Schuldzuweisung gegenüber Ausländern…“

„… es heißt Migranten…“

„… - leck mich! - …gegenüber Ausländern abwehren. Nochmal: Gibt es auch kriminelle Ausländer?“

„Na klar, weil es überall auf der Welt…“

„Gibt es mehr Kriminalität begangen von Ausländern oder Deutschen? Oder Migranten, oder wie auch immer?“

„Da musst Du differenzieren. Die Statistik ist nicht immer eindeutig.“

„Die polizeiliche Kriminalstatistik ist da sehr eindeutig! Hier in Berlin begehen insgesamt etwa ein Drittel Migranten Delikte wie Raub, Drogen oder Gewaltverbrechen, der Rest geht auf das Konto von Deutschen. Bei den unter 21 jährigen sind über 70 Prozent der Tatverdächtigen Ausländer. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass viele dieser tatverdächtigen Deutschen einen Migrationshintergrund haben… Wahnsinn…“

Ziggy schluckte sein Rührei. Sven sein Bier. Sven blieb überraschen ruhig. Sah seine Augustiner-Flasche an. Sah Martin an, der ihn ansah. Sah Ziggy an:

„OK, Ziggy. Warum ist das so?“

„Weil Berlin arm ist. Weil die Berliner Ausländer arm sind. Weil es an Bildung fehlt. Weil die Scheißpolitiker seit Jahren keine echte Integration hinbekommen, keine Sprachkurse, sondern über Jahrzehnte Ghettos wachsen lassen, wo man kein Deutsch sprechen muss, sondern in der jeweiligen Muttersprache durchkommt. Ach, das liegt an vielem…“

„Nur zu, nur zu!“

Ziggy war es nun etwas peinlich. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch über den Küchentisch:

„Schau mal nach München oder Stuttgart: Das sind reiche Städte. Kaum Arbeitslosigkeit, praktisch Vollbeschäftigung. Die Menschen haben Vermögen, der Staat schützt es. Die Polizei ist dort viel resoluter…“

Sven lachte höhnisch:

„Ja, da wirste ja schon als Familie von Bullen eingekesselt oder bei Demonstrationen gegen unsinnige Bahnhöfe mit Wasserwerfern niedergemäht!“

Ziggy lachte seinerseits:

„Ja, aber die Gesellschaft dort will das harte Vorgehen der Polizei und mehrheitlich auch deren hohe Präsenz. Weil der Schutz des Vermögens wichtiger ist, als ein bisschen mehr Freiheit. Hier in Berlin interessiert es keinen Bullen, ob Du kiffst oder nicht. In München oder Stuttgart springen die ausm Mannschaftsbus, wennste als Langhaariger ne Kippe in den Rinnstein wirfst! In Berlin ist alles versifft, unordentlich, verschmiert, dreckig. Im Süden proper, blitzeblank.“

„Deswegen bin ich in Berlin und nicht in München!“

„Jaja… Arm aber sexy… Das ist aber keine Zukunftsperspektive! Sven! Die Stadt wird vor die Hunde gehen. Gotham City… Wenn die Polizei Dich als Klein-Dealer und auch Deine Kunden hier nicht weiter belästigt, ist das total cool. Es bedeutet aber auch, dass echte Verbrechen ähnlich lax verfolgt werden. Und die Politik hier in Berlin, dieser West-Berliner Filz bei Rot und Schwarz, gibt den Bullen immer weniger Geld, spart an Personal, an Sachmitteln… Haben das Thema Integration seit Jahrzehnten verpennt…“

„Ziggy! Ha! Du redest ja wie der Chef der Polizei-Gewerkschaft! Ich glaub, ich spinn!“

„Ja, mein Freund! Das ist der Unterschied zwischen uns: Ich bin bei der Antifa, weil ich Nazis nicht ab kann. Du verstehst den Staat an sich als Faschist. Aber dann bist Du kein Sozialist, sondern Anarchist!“

„Ganz genau! Der kapitalistische Staat ist auf Faschismus gepolt und wird automatisch im Polizeistaat, in der kapitalistisch-faschistischen Diktatur münden! Das ist das Prinzip des Kapitalismus: Vermögen, Kapital wird vom Staat geschützt. Mit Polizeigewalt. Der Rest nicht. Eine Perversion des Gesellschaftsvertrags!“

Ziggy warf seine Kippe in die leere Bierflasche: „Hör mir mit den Phrasen auf, Mann! Hätteste Dein Studium nicht abgebrochen, müssteste heute nicht den Dealer spielen!“

„Pahh! Du bist immer noch von Deiner NVA- und Bundeswehr-Zeit versaut, Soldat, Du Staatstreuer!“

„Pisser!“

„Bratwurst!“

Es klingelte. Sven stand auf, um die Tür zu öffnen.

„Sven kann manchmal so ein Penner sein!“ schimpfte Ziggy zu Martin hinüber. Der lag bequem die Hände hinterm Kopf verschränkt auf seinem Stuhl und grinste:

„Tja, Eure komische Antifa halt…“

Da packten ihn von hinten zwei Hände am Nacken und rissen den Stuhl nach hinten. Martin zuckte zusammen, er kippelte auf den hinteren Stuhlbeinen, eine vertraute Stimme krächzte:

„Na, mein Schatz!? Wieder in Schwierigkeiten?“

Dave drückte extra fest zu, um sich an ihm wegen der verspäteten Einladung zu rächen.

„Hi, Süße!“ röchelte Martin und umkrampfte seine Bierflasche: „Dachte, Du musst heute arbeiten?“

„Wenn Du mir mal zuhören würdest, wüsstest Du, dass ich nur für zwei Stunden zum Hacken zu unserem Kunden musste!“

Martin wurde rot:

„Ahh! Völlig vergessen… Klasse… Wir sind grad mittendrin. Geht um nen neuen Job. Schumann will, dass ich in Sachen Organisierter Kriminalität recherchiere. Verstärkung der anderen Art ist von ihm bewilligt.“

Der Stuhl fiel mit Martin nach vorne, das Bier schwappte über den Tisch.

„Marty!“ beschwerte sich Sven: „Pass doch auf!“

Schon hatte er den Wischlappen parat. Dave setzte sich an den Tisch, und Sven schenkte ihr Kaffee ein, nachdem er den Lappen in der Spüle entsorgt hatte. Dave fiel in den üblichen Schweige-Modus.

Sven fasste für Dave die Diskussion zusammen:

„Also: Wir sollen Marty in Sachen Ausländer… Ähh… Migranten-Kriminalität, vielmehr Kriminalität mit Migrationshintergrund helfen. Ein libanesischer Clan, der freidreht… Ich bin mir nicht sicher, ob wir das als Antifa unterstützen sollten. Wir könnten es als Privat-Personen, aber wir haben als Antifa-Zelle mit dem Thema nicht das Geringste zu tun.“

Ziggy hatte sich ein Brötchen geschmiert und dick mit Lachs belegt, verteilte gerade Sahne-Meerrettich drauf:

„Also ich kann das Geld gut gebrauchen, finde das Thema weder anstößig noch anti-antifaschistisch.“

Martin entzündete eine Kippe:

„Ja. Es ist auf den ersten Blick für Euch vielleicht thematisch nicht passend, aber die Sache ist interessant, bringt Geld und es geht definitiv gegen die Bösen.“

Martin zog nochmals an seiner Zigarette:

„Es wird spannend… Schumann hat mir ein inoffizielles Dossier des Polizeipräsidenten überlassen. Scheinbar spitzt sich die Lage hier in Berlin zu. Ich mach Euch nur ein Angebot. Ohne, dass ich das Dossier gelesen habe, weiß ich, dass ich von Sven Insider-Infos aus der Szene brauche, Daves Computer-Kenntnisse und einen wie Ziggy, der auch mal zur Waffe greift. Wir haben es… Wir hätten es… Ich habe es auf alle Fälle mit Kriminellen zu tun. Mit kriminellen Profis, die weder Gewalt scheuen, noch elektronisch minderbemittelt sind. Ihr müsst Euch also überlegen, ob Ihr erstens aus der Antifa-Ecke rauswollt, und zweitens, ob ihr die Gefahr scheut oder nicht.“

Martin schaute alle drei der Reihe nach an. Alle drei blickten ihn an. Zuletzt ruhte sein Blick auf Daves Augen. Sie durchbohrten seine Netzhaut, drangen direkt ins Hirn, dort wo es schwierig wurde. Hass? Liebe? Zustimmung? Ablehnung? Martin trank seine Flasche Bier aus.

Dave drückte ihre Kippe in der Untertasse aus:

„Sven. Haste n Problem, wenn wir Dich überstimmen? Machste trotzdem mit?“

Martin grinste innerlich. Ziggy reckte den Daumen. Sven schien erst ein wenig beleidigt. Ging dann aber zum Kühlschrank und stellte vier Flaschen August auf den Tisch:

„Demokratie mündet oftmals in Niederlagen. Entgegen Ziggys Einschätzung bin ich totaler Demokrat…“

Ziggy wuchtete seinen 90-Kilo-Körper hoch und reckte die Bierflasche empor:

„Totaler als total, Du alte Gurke! Prost!“

Die anderen drei lachten mehr oder weniger zustimmend und stießen die Flasche an die von Ziggy.

Alle setzten die Flaschen ab. Sven ergriff staatstragend das Wort:

„OK, Leute. Also, mit einer Gegenstimme mehrheitlich angenommen. Die Antifa-Zelle F’hain Nord widmet sich also dem Kampf gegen die Organisierte Kriminalität. Großartig! Lasst uns diesen Söldner-Dienst aber bitte öffentlich nicht allzu breit treten. Im APFD-Café sollten sie es besser nicht mitbekommen, sonst bin ich geliefert. Ich darf schließlich meinen guten Ruf nicht verlieren…“

Sven sah flehentlich in die Runde. Dave hustete schwer. Ziggy lachte:

„Klar, Du Salon-Anarchist! Dein makelloser Ruf als antifaschistischer Dealer bleibt erhalten!“

Dave nahm ihren Kumpel in Schutz:

„Is ja gut Ziggy! Sven hat eben noch Prinzipien. Prinzipiell zumindest. Wir sind schon fest mit einem Fuß im Staat der BRD angekommen. Find das immer noch unheimlich…“

Martin lachte:

„Echt?! Tut‘s so weh?“

Dave warf ihm einen feurig-teuflischen Blick zu:

„Leck mich, Arschloch!“

„Liebes! Immer gern, aber nicht vor Ziggy und Sven!“

„Feigling!“

„Schlampe!“

„Spielverderber!“

„Pathologisches Biest!“

„Weichei!“

Sven schlug mit den Handflächen auf den Tisch und erhob sich grinsend:

„Kinder! Alles ist gut. Es wird schrecklich, aber wir vertrauen auf Sapientia und Fortitudo, den besten der edlen Tugenden. Denn wir sind alle ungeduldig und dürfen kein Maß kennen, Brüder und Schwester…“

Die anderen drei lachten auf ihre krächzige, brüllende oder sanfte Weise. Sven:

„Okay! Lasst uns mal Martins Geheimakte durchgehen…“

 


(Nichtdeutsche Tatverdächtige mit ihren Anteilen an allen Tatverdächtigen zu Straftaten insgesamt im Langzeitvergleich. PKS Berlin 2014.)

 

VI

Er saß in seinem seidenen Morgenmantel auf dem Sofa und sah aus dem Fenster auf die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Yasin hatte sich einen süßen Mokka bringen lassen. Der Geruch des Mädchens stieg ihm in die Nase. Er zündete sich eine Zigarette an. Ibrahim kam und überbrachte ihm persönlich den Vollzug. Einer der vietnamesischen Führer, sein Gehilfe und zwei Lakaien waren tot. Gute Arbeit. Yasin spendete Lob:

„Sehr schön! Auf die Jungs kann man sich verlassen. Aus diesem Yusuf kann noch was werden. Behalt ihn im Auge.“

„Wird gemacht, Chef! Den kleinen Ben haben wir bald so weit. Er ist noch jung, aber in ein zwei Jahren…“

„Wie geht es ihm?“

„Er weint noch viel und verkriecht sich in seinem Bett.“

„Das gibt sich, nach dem dritten, vierten Einsatz. Gib ihm Spielzeug zur Belohnung und Süßigkeiten. Du musst ihn wie einen Affen dressieren – Zuckerbrot und Peitsche. Schlag ihn wenn er weint; belohne ihn, wenn er hart bleibt und seine Pflicht erfüllt. Nach einem Jahr ist er konditioniert und wird nicht anderes kennen. Er wird die Prügel genauso lieben wie seine Gummibärchen, das Blut genauso wie sein Eis. Er wird Dich hassen und lieben und schließlich beides miteinander verwechseln. Mit neun, zehn sind sie noch formbar, kann man sie noch abrichten, danach wird es schwierig.“

Yasin nippte an seinem Mokka. Ibrahim stand vor ihm bemühte sich, ein Pokerface aufzusetzen und ruhig stehen zu bleiben:

„Ja, Chef. Wir kriegen ihn schon so weit. Keine Sorge.“

„Wie sieht es für heute Abend aus?“

„Alles vorbereitet. Die auswärtigen Familien sind eingetroffen und in Hotels untergebracht. Location, Catering, Security – alles vorbereitet. Punkt neun kannst Du loslegen, Chef.“

„Gut. Notfall-Plan?“

„Alles gecheckt. Ansonsten haben wir ringsum Späher postiert und die Location konzentrisch abgesichert. Kennedy hätte bei uns problemlos durchfahren können.“

„Ich will nicht durchfahren. Ich will ne ruhige und sichere Veranstaltung abhalten… Was, wenn es intern Probleme gibt?“

„Alle werden nach Waffen durchsucht. Wir haben zehn Leute im Saal, die beim leisesten Verdacht eingreifen.“

„OK. Ich werde eine Waffe dabei haben. Ich muss sie womöglich disziplinarisch benutzen. Darauf muss die Security vorbereitet sein und darf nicht die Nerven verlieren, klar?“

„Klar. Ich werde es den Jungs sagen.“

Yasin fixierte Ibrahim, zündete sich eine neue Zigarette an, genoss die Gesprächspause, ließ Ibrahim dumm dastehen, schwitzen. Warf das Feuerzeug auf den Beistelltisch und trank den Mokka vorsichtig aus, bis er den Satz schmeckte. Dann kippte er die Tasse auf den Unterteller und sah Ibrahim in die Augen:

„Kannst Du aus dem Kaffeesatz lesen? Meine Mutter konnte es. Auch meine Großmutter und deren Mutter.“

Yasin blies Kringel in die Luft. Ibrahim versuchte weiterhin unbeweglich und cool dazustehen, nestelte jedoch unbewusst an der Tasche seines schwarzen Sakkos herum. Seit Beginn des Rechenschaftsberichts lief ihm der Schweiß den Rücken hinab. Yasin war launisch, despotisch, unberechenbar. Einem Lob konnte der Genickschuss folgen. Allein mit ihm in einem Raum zu sein, glich dem Aufenthalt in der Hölle, der Dschahannam des Korans, der Hölle, der Feuergrube.

Yasin war ein Mann, der einem in Albträumen erschien, der mit seinem ebenmäßig geschnitten Gesicht, der langen Adlernase, den tiefschwarzen Augen, dem starken Kinn und dem spöttischen Lächeln Frauen bezirzen und Männer eifersüchtig machen konnte. Mit seiner körperlichen Präsenz, seiner bulligen Kraft und seiner fürstlichen Aura Respekt erzwang. Ibrahim fühlte sich in diesem Moment wie ein kleiner Junge, der von seinem Vater beim Onanieren ertappt wurde, wie ein Bauer vor seinem König, wie ein vor Angst schwitzender Vollidiot.

Yasin drehte die erkaltete Tasse um und studierte scheinbar hoch konzentriert die Schlieren, die der Kaffeesatz im Inneren der Tasse gezogen hatte.

„Ahh… Schau an, Ibrahim… Die Zukunft, die Zukunft… Das ist auch Deine Zukunft…“

Yasin zog mit seiner Rechten aus der Tasche seines Morgenmantels eine Walther PP hervor und legte sie vor sich auf den Beistelltisch, während er weiter das Innere der Mokka-Tasse betrachtete.

„Deine Zukunft ist ungewiss…“

Ibrahim erstarrte. Schwitzte weiter vor sich hin. Betete in Gedanken zu Mohammed und allen anderen 24 Propheten des Korans:

„Allah sei mit mir und außerdem Adam, Henoch, Noah, Eber, Schilo, Abraham, Lot, Ismael, Isaak…“

Ibrahim sah, wie Yasin sein Walther in die Hand nahm, schwitzte, zitterte, betete:

„…Jakob, Josef, Hiob, Jitro, Mose, Aaron, Ezechiel, David, Salomo, Elija, Elischa, Jona, Zacharias, Johannes, Jesus.“

Dann gingen ihm die Propheten aus.

Yasin zielte auf Ibrahims Stirn, setzte ein gekünstelt peinlich berührtes Gesicht auf und entsicherte demonstrativ umständlich mit der linken Hand die Pistole, währender dabei noch die Mokka-Tasse hielt:

„Du bist für alles heute Abend verantwortlich!“ brüllte er: „Du darfst nicht versagen!“

Ibrahim spürte tröpfchenweise, wie er Urin verlor. Yasin sah die Flecken auf Ibrahims Jeans und begann zu lachen. Dann legte er die Walther zurück auf das Tischchen und warf die Tasse an Ibrahim vorbei an die Wand. Ibrahim zuckte leicht, als das Porzellan hinter ihm zersplitterte.

Yasin verengte die Augen zu Clint-Eastwood-Schlitzen:

„Meine Zukunft hängt von Dir ab, hab ich gelesen… Ibrahim… Ich verlasse mich ungern auf andere… Ich bin ein schlechter Beifahrer… Ich trage gerne alleine die Verantwortung… Wenn Du versagst, werde ich Deinen Zweig der Familie auslöschen – Dich, Deine Frauen, Deine Kinder… Du trägst Verantwortung – enttäusche mich nicht.“

Ibrahims Blase agierte fremdbestimmt. Der nasse Fleck auf seiner Hose vergrößerte sich:

„Mach Dir keine Sorgen. Alles ist perfekt organisiert. Mein Schicksal liegt in Allahs Händen…“

„Nein: Dein Schicksal liegt in meinen Händen, vergiss das niemals!“

„Niemals, Yasin… Niemals…“

„OK! Und jetzt verpiss Dich!“

Ibrahim verabschiedete sich mit militärischem Gruß und ging betont langsam zur Tür. Yasin wollte sich wegen der nassen Hose ein erneutes Lachen nicht verkneifen.

 

VII

Ben hatte geschossen und getroffen. Tor! Er war glücklich. Fußball spielten sie überall – in Sidon und Berlin. Und er hatte schon als Vierjähriger auf dem Bolzplatz in Sidon mitgemischt. Hackentricks, Lupfer, Beinschüsse – auf der Straße war das Pflicht. Ben wunderte sich, dass die anderen Kinder das nicht beherrschten. Es gab zwei, drei türkische Jungs, die auch alle Tricks konnten, die man eben können musste, wenn man auf dem Bolzplatz bestehen wollte, wenn man Messi, Özil oder Ronaldo nachereiferte, wenn man den Ball kontrollieren wollte, wenn man nicht Torpfosten sein wollte.

Ben konnte den Ball schon zehn Mal hochhalten, er konnte aber auch flache Pässe spielen und abgeben. Er wollte kein Ego-Shooter sein wie Robben, er wollte wie Ribéry dribbeln, vorlegen und wie Ibrahimovic abschließen. Alles in einem. Alle zusammen. Yusuf hatte ihm ein Messi-Trikot geschenkt. Stolz trug er das blau-rot gestreifte Shirt. Die türkischen Jungs spielten in einem Verein. In der E-Jugend. Sie trugen die Trainingsjacken ihrer Mannschaft. Da wollte Ben auch hin. Ein echtes Trikot tragen, in einer Mannschaft sein und Tore schießen. Ben nahm den Ball auf, täuschte rechts an, schob den Ball hinter seinem linken Bein vorbei und ließ den verdatterten deutschen Jungen dumm dastehen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mitspieler vors gegnerische Tor laufen und bediente ihn mit der Hacke – Tor.

Die Kinder jubelten. Ben und der Torschütze klatschten sich ab. Da sah er seinen Cousin Yusuf am Spielfeldrand stehen. Er winkte und bedeutete ihm, herzukommen. Sie mussten nun mit Onkel Ibrahim zum Zielschießen fahren, in irgendeine Heide. Was war eine Heide? Aber warum nicht? Ben war gut im Schießen. Er hatte ein Eis und einen Teddy bekommen, weil er so gut geschossen hatte. Und Süßigkeiten. Und sein Barcelona-Trikot. Und Yusuf hatte ihn gelobt. Sogar Onkel Ibrahim. Das war ok. Das war gut. Aber Ben hatte trotzdem Angst: Das rote Blut, das rote Papier, die Menschen, die so ruhig dalagen – voll Blut, bewegungslos, tot – wie in einem der Filme, die er zusammen mit Yusuf sah. War das echt? Oder nicht? Es war echt. Ben verabschiedete sich bei den anderen Kindern und trottete traurig vom Platz. Lieber hätte er weiter mit dem Ball trainiert als mit Waffen. Zusammen mit Yusuf ging der eins dreißig große Messi die Sonnenallee hinunter. Beim Laden der Familie holten Sie sich noch eine Schale Erdbeeren.

 

VIII

Svens Küchentisch hatte sich bis auf Aschenbecher und Bierflaschen geleert, um Platz für Martins Polizei-Material zu schaffen. Er hatte den Aktendeckel aufgeklappt und gemeinsam sichteten sie nun

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Michael Knox
Bildmaterialien: Michael Knox
Lektorat: Steffi und Matthias
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2015
ISBN: 978-3-7396-2730-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dank an Steffi und Matthias.

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