Cover

At first...

 Michael Knox

“Operation Göring”

 

Der Anti-Nazi-Thriller aus Berlin F’hain

 

Dank an Matthias, Rudi, Steffi und Timur. 

Copyright (Text, Cover, Bilder) Michael Knox, Berlin 2013

DDR, Brandenburg, Schorfheide – November 1989

Es war kalt. Es war windig. Es regnete. Und es war Nacht. Ein Diesel-Generator röhrte gegen den Wind an. Sie standen inmitten von Sanddünen, Heidekraut und Kiefern. Die vier Palästinenser, die sie ihm zugeteilt hatten, legten ihre Spaten ab. Den Mini-Bagger hatte sie nur zu Beginn des Aushubs nutzen können. Der Wind peitschte das Wasser in ihre erhitzten Gesichter. Unter ihren schwarzen Regen-Capes lief der Schweiß in Strömen. Zigaretten wurden umständlich angezündet. Gemeinsam begutachteten sie die Grube: etwa vier mal vier mal vier Meter – ein Würfelloch. Seit Einbruch der Dunkelheit schaufelten sie sich bereits durch den lehmigen Sandboden des nun ehemaligen Truppenübungsgeländes. Die Sonne war gegen 16 Uhr 45 untergegangen. Nun war es nach Mitternacht. Sie waren gut vorangekommen. Er hatte selbst mit Hand angelegt. Die PLO-Männer waren kräftig und diszipliniert. Keine Arier, aber immerhin Antisemiten. Sie hatten zügig, schweigsam gearbeitet. Die Verständigung lief auf Englisch. Der Großteil der Arbeit war erledigt. Er begann sich zu entspannen. Der Rest war Kür.

Die Führung der NVA hatte ihm den Auftrag gegeben. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit seinen letzten. Auch diesen führte er gewissenhaft aus. Wie immer. Höchste Sicherheitsstufe. Sondereinsatz. Er war zu allem legitimiert. Innerhalb der Militärischen Aufklärung war er der Mann fürs Grobe. Dann, wenn sich keiner die Finger schmutzig machen wollte oder durfte. Wenn Befehle mündlich, ohne schriftlichen Beleg ausgegeben wurden, war er zur Stelle. Seine Aktionen durften offiziell nicht existieren. Keine Spuren. Kein Schriftverkehr. Chiffrierte Telefonanrufe. Treffen im Park. Spaziergänge, Instruktionen. Vorbereitung und Recherche. Szenarien entwerfen und Eventualitäten ermitteln. Training bis zum Exzess. Auftrag ausführen. Präzise ohne Komplikationen. Erfolgsquote: 100 Prozent. Er war der Beste in diesem beschissenen System. Seinem System. Noch. Er genoss dadurch einige Privilegien. Durfte Wohnungen im Ausland und verschiedene Identitäten nutzen. Bekam ausreichend Devisen und führte alles in allem ein Leben, das der gehobenen Mittelschicht eines West- Europäers entsprach.

Er blickte in das Loch hinab und stieß den Rauch seiner Zigarette in den Wind. Ohne Nikotin hätte er die Wut und Enttäuschung über diese schwache, morsche Volksgemeinschaft nicht ertragen können. Die DDR – der letzte deutsche Nationalstaat. Rein, völkisch erneuert, das legitime Erbe des Dritten Reiches. Und diese Mumien im Zentral-Komitee hatten alles versaut… Diese jahrzehntelange Unterwürfigkeit vor dem jüdisch bolschewistischen Bruderstaat – ekelhaft. Egal – er stand vor diesem Scheiß-Loch und würde auch diesen Auftrag erfüllen. Wie alle zuvor. Gewissenhaft. Korrekt. Diskret. Scheinwerfer strahlten jeden Winkel der Grube aus. Das Brummen des Dieselgenerators wurde durch das Getöse von Wind und Regen beinahe übertönt. Ein verschissenes Loch. Sein letzter Auftrag. Und dann? Gestern war die Mauer gefallen. 9. November. Immer der 9. November. Scheidemann ruft 1918 die Republik aus. Reichskristallnacht 1938. Mauerfall 1989. Der 9.11. hatte es in sich. Ein deutsches Datum. Wie sollte man in Zukunft all diese Gedenktage nur unter einen Hut bringen. Er lächelte. Im Zeitraffer spulte er sein Leben in diesem Deutschland ab. Sein Schädel dröhnte lauter als Wind, Regen und Generator zusammen: 1952 bis 1973 West-Berlin – erst RAF, dann NPD; Übertritt Ost-Berlin – 1975 NVA, 1977 bis 1980 Studium in Moskau – dann Ausbildung NVA Militärischer Nachrichtendienst – seit 1982 Spezialeinheit Bersarin, Aufträge, exotische Auslandseinsätze, Liquidierungen, ein gefälliges, beinahe luxuriöses Leben – und 1990? 1991? Was würde kommen? Er würde ein neues System aufbauen. Sein System. Langsam. Geduldig.

Er hatte genug Geld zur Seite geschafft. Er würde sich die passende Identität zurechtlegen. Er lief die 10.000 Meter immer noch unter 32 Minuten. Er war im Nahkampf und in Guerilla-Taktiken ausgebildet. Er hatte kein Gewissen. Glaubte an Deutschland. Aber er würde auch ohne diesen bieder pseudo-ideologischen Arbeiter- und Bauernstaat zurechtkommen. Er blickte auf die Halbprofile der Palästinenser und schüttelte den Kopf. Den Nasen nach hätten seine Leute auch Juden-Karikaturen aus Streichers Stürmer entspringen können. Der Nahe Osten war ihm ein Widerspruch in sich geblieben.

„OK! Come on!“ schrie er die anderen durch den Wind an. Die vier Palästinenser zuckten zusammen, warfen ihre Kippen in die Grube und liefen zu einem der zwei P3, die bei der NVA als Standard-Geländewagen im Einsatz waren. Gemeinsam wuchteten sie die sechs Quadratmeter große Plastik-Plane mit Bleifüllung von der Ladefläche und zerrten die gut vier Zentner zum Rand der Grube. Als ob die Plane tatsächlich Schutz bieten würde – pah! Typisch DDR… Zwei der PLO-Leute kletterten über die an einem der P3 befestigte Strickleiter hinunter und nahmen die Plane in Empfang, die die beiden anderen hinunterwarfen. Zu viert breiteten sie sie am Boden der Grube sorgfältig aus. Das Ergebnis war die zweidimensionale Oberfläche eines Würfels. „Perfect!“ schrie er in die Grube hinunter. „Now, last step!“ Die vier kamen einer nach dem anderen die Strickleiter hoch und trabten brav zum anderen P3. Vorsichtig manövrierten sie den ein Kubikmeter großen Tresor auf den märkischen Sandboden und schleppten den Stahl-Kubus mit Tragebändern wie Möbelpacker zur Grube. „And now: Kick down this shit!“

Der Tresor landete auf dem Boden der Grube. Der Inhalt schien unempfindlich gegen Erschütterungen zu sein. Die vier wieder hinunter. Tresor in die Mitte auf die Plane. Dann legten sie die Plane um den Tresor und verschnürten alles mehrfach mit Stacheldraht. Kurz nach ein Uhr. Die vier wieder hoch. Einer kippte das Loch mit dem Mini-Bagger wieder zu. Die anderen halfen mangels anderweitiger Beschäftigung mit Schaufeln mit. Er stand da und rauchte Kette. 1990??? Gegen vier war das Loch wieder zu. Die Ketten des kleinen Baggers drückten die Erde schön platt. Bisschen Sand drüber. In ein paar Wochen hätte die Natur alles eingeebnet und weitgehend der Umgebung wieder angepasst. Und wann würde sich dann der neue Gesamtdeutsche auf diesen Flecken Erde vorwagen? Alles wird gut.

Wieder wurden Zigaretten angezündet. Wieder betrachtete man das gemeinsame Werk. Dieser Staat war zum Untergang verurteilt. Auferstanden aus Ruinen, abgelegt als Ruine. Abgewrackt. Der letzte Auftrag. Alle vier PLO-Schergen standen rauchend im Regen und glotzten auf das Areal, das sie eben zugeschüttet und planiert hatten. Perfekt. Adrenalinstoß. So liebte er es. Er zog und entsicherte seine Makarov und trat mit drei kurzen Schritten von hinten an die PLO-Kameraden heran. Genickschuss eins. Genickschuss zwei. Hinrichtung. Die ersten zwei fielen wie nasse Säcke in den Sand. Die beiden anderen drehten sich um. Er sah die Überraschung, die Angst, den Tod in ihren Gesichtern und drückte nochmal ab und nochmal. Weg. Tot. Erledigt. Liquidiert, so wie beauftragt. Zuverlässig. Ohne Komplikationen. Das Adrenalin stieg immer noch an. Das Herz raste und er fühlte sich wie immer gut. Sehr gut. Macht. Totale Macht. Befriedigung. Das letzte Mal? Das letzte Mal. Mal sehen… Er genoss den Augenblick. Zündete sich noch eine Zigarette an, zog tief ein und stand drei Minuten da und betrachtete nun seinerseits stolz sein Werk.

Halb fünf. Er schnippte die Kippe in den Wind. Die vier hatten keine Ausweise, Dokumente oder sonst was bei sich. Profis. Nacheinander hievte er sie in den nächst gelegenen P3. Fuhr fünf Kilometer durch die Heide. Stoppte. Benzin-Kanister. Farewell, my lovely. Durchatmen. Laufen. Kurz nach fünf. Auf den Mini-Bagger. Ein Kilometer nordöstlich. Sand-Düne. Unterstand. Benzinkanister. Weg mit dem Scheiß. Durchatmen. Laufen. Sechs Uhr 35. Es dämmerte. Er war fertig. Zu viele Zigaretten. Seine Kondition ließ nach. Scheiß drauf. Es war sein letzter Auftrag für diesen verschissenen, verlogenen Drecksstaat. Nationale Gesinnung hatte hier nie gezählt. Anti-jüdische Gesinnung wurde nur verhalten gezeigt. Nationaler Sozialismus hatte sich zwar in der SED weiter entwickeln können, wurde aber aus taktischen Gründen gegenüber dem bolschewistischen Bruderstaat klein gehalten. Verlogenes Pack… Er zündete sich eine Zigarette an. Sog den nikotingeladenen Rauch ein, hielt ihn lange in der pumpenden Lunge und stieß ihn hasserfüllt aus. „War das Deutschland???!!!“ brüllte er in die vergehende Nacht hinaus. „Scheiß drauf…“ Warf seine Zigarette in den Sand. Stieg in den verbliebenen P3 und fuhr die 50 Kilometer zum Treptower Park in knapp 45 Minuten. Handbremse. „Das war‘s DDR! Fick dich, Idiotenstaat!“

Berlin, März 2012 - 1. Halbzeit

I

Der Morgen fing nicht gut an. Es wurde zu früh hell. Die Jalousien hielten nicht, was sie versprachen. Martin wälzte sich in seinem Kissen, versuchte der Helligkeit zu entkommen, konnte jedoch nicht mehr einschlafen. Regungslos ergab er sich seinem Schicksal, hauchte reinen Alkohol aus und horchte in sich hinein. Er spürte das Bier in seinem Kopf und direkt hinter seiner Stirn tobten noch die kleinen Jägermeister herum, die ihm ein Bayern-Fan nach dem leider verdienten Sieg des FCB in der Champions-League ausgegeben hatte. Diese Type hatte sich neben ihn an seinem Stammplatz an der Theke gesetzt und versucht mit ihm über Taktik zu fachsimpeln. Konnte aber nicht recht zwischen 4-4-2- und 4-2-3-1-Systemen unterscheiden, so dass nach seiner Rechnung mindestens elf Feldspieler plus Torwart des FCB auf dem Platz hätten stehen müssen. Siegestrunken hatte er ihm dann die Kräuterschnäpse spendiert. Bayern-Fans waren ihm schon immer suspekt. Opportunisten, die kontinuierlich auf der Siegerstraße fahren wollten, zu weinen anfingen und die eigenen Spieler auspfiffen, wenn sie mal verloren hatten. Ekelhaft.

Er rollte sich von seiner Matratze und schleppte sich ins Bad, wich dem sicherlich deprimierenden Spiegelbild geschickt aus und stellte sich unter die heiße Dusche. Wechselbäder waren ihm zu stressig. Nach zehn Minuten hatte der Wasserdampf den Spiegel dezent beschlagen und er traute sich langsam zum Abtrocknen aus der Duschkabine heraus. In der Küche füllte er die Mokka-Kanne mit Kaffee und Wasser und stellte sie auf die Schnellkochplatte seines Herdes, daneben einen kleinen Topf mit Milch. „Volle Aschenbecher, leere Whisky-Flaschen – du erfüllst auch jedes Journalisten-Klischee“, murmelte er vor sich hin und leerte die Kippen in den Mülleimer und warf die Flasche hinterher. Mit einem „Scheiß-drauf“ zündete er sich eine Zigarette an und schenkte sich seinen Kaffee ein. Der kräftige Geschmack des Kaffees weckte ein paar schläfrige Lebensgeister, das Nikotin verstärkte allerdings die Kopfschmerzen. Nach ein paar Zügen drückte er die Zigarette aus, atmete tief ein und aus und machte sich wieder auf ins Bad, um sich der Realität zu stellen.

Was er sah, war ein ziemlich zerknittertes Gesicht mit Drei-Tage-Bart, einigen Lachfältchen um die Augen, die zwar nicht vom Lachen kamen, aber den zynisch nach unten hängenden Mundwinkeln noch eine versöhnliche Note gaben. Alkohol und Schlafentzug hatten ihm über Nacht die Tränensäcke aufquellen lassen, die aber für gewöhnlich wieder ihre unscheinbare Form annahmen, wenn sein Kreislauf erst mal wieder in Schwung gekommen war. Die hohe Stirn war in der letzten Hälfte seiner 30er Jahre durch Geheimratsecken noch höher geworden. Seit zwei Jahren trug er deswegen einen kompromisslosen Stoppelhaarschnitt. Seine verbliebenen Haare waren immerhin noch kräftig dunkelbraun. Ab und an riss er sich ein einsames graues Haar vom Kopf. Martin Schmidt, 39 Jahre, Leiter des Sport-Ressorts des Berliner Tagesanzeiger, geschieden, meistens Single, spannte die Muskeln seines müden Körpers an: Das Six-Pack vergangener Tage ließ sich nicht mehr erahnen, ein leichter Fettansatz verdeckte die schwächelnde Muskulatur. Brust, Schultern, Oberarme waren kräftig, aber nicht mehr durchtrainiert wie zu seinen aktiven Zeiten als Fußball-Spieler. Zumindest gab es noch einen Rest Körperspannung, der Martin etwas beruhigte. Er streckte seinem Spiegelbild die Zunge heraus, schluckte eine Ibuprofen und nach einem „Los geht’s, alter Sack!“ griff er zur Zahnbürste.

Alles in allem ein normaler Morgen für Martin. Verkatert wie fast jeden Morgen. Aber nach diesem Tag sollte Schluss sein mit Routine.

 

II

Kurz nach acht Uhr. So früh war er selten in der U-Bahn. Dicht gedrängt schwiegen sich die Menschen an. Die meisten starrten gebannt auf ihre Handys, die anderen starrten hypnotisiert ins Nichts. Am Alex war Endstation für die U5. Umsteigen in die S-Bahn. Die Rolltreppe hoch. Einem unbekannten Plan folgend, schoben sich hunderte von Menschen ameisengleich vorwärts, ohne sich schwerer als nötig zu behindern. Die nächste Rolltreppe führte zu den Hochgleisen der S-Bahn. Die März-Sonne schien durch die Glasscheiben und flutete den Bahnsteig. Martin kniff hinter seiner Sonnenbrille die Augen zusammen und konnte die anderen Wartenden dennoch nur als Scherenschnitte erkennen.

Scheinbar aus dem gleißenden Nichts der Sonne fuhr die S-Bahn ein. Martin wartete am Bahnsteig, während die anderen wie üblich die Waggons stürmten, ohne die angekommenen Fahrgäste aussteigen zu lassen. Berliner Höflichkeit. Vielleicht ließ diese Beton-Wüste den Menschen mit der Zeit auch spitze Ellbogen wachsen. Noch nirgendwo in Deutschland hatte er so viele Soziopathen gesehen wie in Berlin. In der Anonymität dieser Mega-Stadt gelang es vielen nicht mehr, den gesellschaftlichen Konsens und entsprechende Umgangsformen zu wahren. Erst in ihrem bekannten Umfeld, zu Hause oder im Büro, besannen sich die Großstädter wieder, dass sie menschliche Wesen waren und legten ihre Kampfmontur, die sie auf der Straße trugen, ab. Martin war kein Landei, war im Ruhrpott aufgewachsen, aber es hatte viele Jahre gedauert, bis er sich an Berlin und seine Bewohner gewöhnt hatte. Richtig warm war er mit der deutschen Hauptstadt noch nicht geworden, obwohl er bereits zum Studium nach Berlin gewechselt war und nun seit fast 20 Jahren hier lebte.

Martin stieg am Zoo aus und schlenderte in Richtung Redaktion. Die Temperaturen waren noch angenehm. Trotz Lederjacke verspürte er noch keinen Schweißfluss. Im Sommer konnte Berlin zu einem Backofen werden. Auch im Mai oder Juni waren wochenlange Hitzewellen keine Seltenheit. Straßen und Häuserblocks heizten sich dann unter der Sonne auf, was dann zu tropischen Nächten in der Stadt führte, während es im brandenburgischen Umland angenehm abkühlte. Doch Mitte März war erst mal der halbjährige nasskalte Berliner Winter vorbei und die Vorfreude auf bessere Zeiten hielt Einzug. Er ging langsam und atmete tief ein und aus. Die Schmerztablette hatte zu wirken begonnen. Martin zündete sich eine Zigarette an und ging weiter.

Beim Tagesanzeiger angekommen drückte er die Eingangstür, mit mehr Elan als er eigentlich hatte, schwungvoll auf. Der Pförtner am Empfang schaute erschrocken von seiner Bild-Zeitung auf, erkannte Martins Gesicht und nickte ihm kopfschüttelnd zu. Martin ging zum Lift und stieg ein. Als er seine Sonnenbrille in die kurzen Haare schob, sah er im Spiegel des Fahrstuhls, dass seine Tränensäcke wieder normales Niveau erreicht hatten. Geht doch… Martin streckte sich die Zunge heraus und wandte sich der Fahrstuhl-Tür zu. 6. Etage – Sportredaktion. In der Teeküche holte er sich seine eigens dort deponierte Mokkakanne aus dem Schrank und machte sich seinen zweiten Kaffee. Mit einem Kaffee-Pott bewaffnet ging er in den Raucherraum, um sich die heutige Ausgabe seiner Zeitung durchzulesen. „Morgen, Martin!“ lachte ihn Maria an. „Du siehst ja beschissen aus. Zu intensiv Fußball gekuckt, hm?“ Martin verengte die Augen zu Clint-Eastwood-Schlitzen und zog den imaginären Colt, um Maria mehrmals aus der Hüfte tödlich zu verwunden. Doch die Kugeln prallten an Marias guter Laune ab. „Schon gesehen? Meine Nazi-Reportage ist drin.“ „Endlich! Gratuliere! Und die Rechtsabteilung?“ „Hat alles gecheckt. Alle Fakten sind belegbar, alles wasserdicht.“

Maria war die Reporterin für die harten Geschichten. Kaum eine deutsche Tageszeitung konnte sich noch Reporter leisten, die investigativ recherchierten und akribisch arbeiteten. Maria war eine der wenigen Top-Rechercheure im deutschen Blätterwald, die ausreichend Zeit für ihre Geschichten bekam und sich nicht im Akkord 0815-Geschichten aus den Fingern saugen musste. Blond, blauäugig, ansehnlich gebaut, sympathisches Gesicht, empathiefähig, Anfang 30 konnte sie mit ihrer hartnäckigen Art jeden männlichen Gesprächspartner um den Finger wickeln und zu Aussagen und Informationen drängen, die sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ansonsten keinem Journalisten anvertraut hätten. Männer sind bekanntlich einfach gestrickt und vor einer attraktiven Frau musste sich wohl auch der hartgesottenste Politiker, Manager oder Penner produzieren und machohaft mit seinen größeren und kleineren Untaten prahlen. Gegenüber Frauen spielte Maria die einfältig Naive, der man alles zweimal erklären musste, und gerne erklärten die interviewten Frauen dann Maria pikante Details nur allzu genau.

Martin mochte Maria, war auch schon öfter mit ihr etwas trinken gegangen und ein paar Mal in ihrem Bett hängen geblieben. Die letzten Wochen immer öfter. Aber die fröhlich energiegeladene Maria und der melancholisch zynische Martin wussten, dass sie allenfalls eine unkomplizierte Kumpel-Freundschaft führen konnten. Als Paar wären sie wohl bereits im Ansatz grandios gescheitert, zu unterschiedlich waren ihren Charaktere und ihre Einstellung zum Leben. Martin, der nichts so sehr liebte wie Sarkasmus, Ironie und sich in Bier und Kneipen flüchtete; Maria, die den Morgen mit Tai-Chi begann, arbeitete wie ein Tier und ihre Freizeit mit Kunst und Kultur anfüllte. Doch als Maria vor drei Jahren nach Berlin gewechselt war, wussten die beiden nach der ersten Redaktionskonferenz, dass sie eine gemeinsame Wellenlänge verband: Beide hassten paradoxerweise nichts so sehr wie Journalisten. Und beide hatten das nach einigen wichtigtuerischen Wortmeldungen der Kollegen durch die Mimik des jeweils anderen gemerkt. Im Raucherraum waren die beiden ins Gespräch gekommen und am Abend nach dem zweiten Bier war klar: Man verachtete gemeinsam das ewig besserwisserische, leicht profilneurotische Abziehbild des Journalisten, der in der Regel bessere Politik machen konnte als die Regierung, ein Unternehmen souveräner lenken konnte als jeder Wirtschaftskapitän und selbstverständlich mehr strategisch-taktisches Spielverständnis aufzubieten hatte als der aktuelle Bundestrainer. So unterschiedlich ihre Auffassung von Leben auch war, ihre Welt war sich in vielem ähnlich.

„Und? Die Geschichte jetzt, das war aber doch nicht alles, oder?“ Maria lachte verschmitzt: „Ne, das war erst der Anfang. Aber alles mit der Ruhe. Ich kann noch ein paar Stories nachschieben. Danach sollte auch unser dusseliger Verfassungsschutz genug Hinweise an die Hand bekommen haben, um die Führungsriege der NVP ausheben zu können. Ich hab noch so viel Material auf der Festplatte…“ „Alles klar. Und Du glaubst, die Wichser lassen sich das einfach so gefallen?“ „Nö, deren Anwälte werden noch vorm Mittagessen aufschlagen. Aber das wird nix. Alles wasserdicht.“ „Und? Keine Angst?“ „Alles undercover. Falscher Name, keine Handy-Nummer, Pseudo-Email, außer bei den Informanten natürlich...“ „Pass auf, Mädchen, die wissen, dass nur Du so eine Geschichte bringen kannst. Nix pseudo-anonym…“ „Na, dann musst Du mich heute Nacht beschützen, mein Süßer, mit Deiner härtesten Waffe.“ „Klar! Aye-aye, Sir! Stehe bereit!“ brüllte Martin durch das Raucherzimmer und salutierte vor Maria. Sie schenkte ihm ein Lachen inklusive Kopfschütteln. Er küsste sie auf den Kopf und drückte sie fest an sich: „Gut, dass es Dich gibt, Süße!“ „Tjaha! Sonst hätte man mich erfinden müssen! Jetzt aber Schluss mit dem Gesülze, Martin! Los: An die Arbeit! Hau rein!“

Dann begann der Redaktionsalltag für Martin. Redaktionskonferenz am Vormittag, Aufgaben verteilen in der Ressort-Konferenz, Texte von freien Journalisten anfordern, Texte von freien Journalisten redigieren, Redaktionskonferenz am Mittag, Lunch im Döner-Laden an der Ecke, Telefonate mit Bundesliga-Trainern, Bundesliga-Informanten, Bundesliga-Managern, Bundesliag-Spieler-Vermittlern, einen Kommentar schreiben, Agentur-Meldungen checken, Agentur-Meldungen übernehmen, noch ein bisschen Leichtathletik, Formel-1 und Turnen, damit es nicht zu Fußball-lastig wird, Abstimmung Chefredaktion, Abstimmung Ressort-Redakteure, Abstimmung CvD, Fotos mit der Grafik aussuchen, bis 19 Uhr feilen, fertig. Den Rest bis zum endgültigen Redaktionsschluss um 23 Uhr würde sein Kollege übernehmen.

Erst mal ein Bier für die S-Bahn. Ab nach Hause, U5, Samariterstraße, Friedrichshain. Zwotes Bier Eckkneipe, Europa-League, Früh-am-Abend-Spiel: Hannover gegen Lüttich. 96 spielt modern, schnell, effektiv – aber eben nur Europa-League. „Fuck!“ schrie Martin, als Hannovers norwegischer Stürmer frei vorm Tor versemmelte und dann: „Ich hab Maria vergessen!“, rief Martin der ahnungslos achselzuckenden Barfrau zu und war bereits dabei Marias Nummer ins Handy zu drücken. „Naaa, Martin?“, meldete sie sich: „Ich glaube, ich brauche bald ganz, ganz dringend Personenschutz.“ „Okay…“ Dann traf der 96-Stürmer volley und die Bar-Besucher klatschten unter Grölen und Jubelschreien lautstark Beifall – und das in einer Berliner Kneipe. Aus dem Handy gurrte es verständnisvoll: „Gut, Martin, komm in der Halbzeitpause vorbei. Hier kannst Du dann die zwote Hälfte sehen. Hannover ist ja Free-TV.“ „Mann, Maria, hätte meine Verflossene seinerzeit so viel Verständnis gehabt…“ Außer einem „Jaja… Und jetzt beweg schon Deinen Arsch, Süßer!“ bekam er von Maria nichts weiter zu hören. Na, gut. Auf der Herren-Toilette befühlte er kurz seinen Schwanz, freute sich, dass er ihn nicht nur zum Pinkeln hatte, packte ihn wieder ein und machte sich auf den Weg.

 

III

Maria wohnte ebenfalls in Friedrichshain. Süd-Kiez, nähe Boxi. Martin lief beschwingt vom Bier und intensiv rauchend die Samariter abwärts, über die Frankfurter, rein in die Mainzer Richtung Boxhagener Platz. Es war schon dunkel, aber es roch bereits nach Sommer. Ein wunderbarer Frühling kündigte sich an. Jede Kneipe hatte Tische auf dem Gehweg aufgestellt, die letzten alternativ organisierten Wohnhäuser hatten ihre Abend-Party ins Freie verlegt. F’hain wie Martin es mochte. Trotz beginnender Mietpreiserhöhungen hatte sich der Kiez seinen Charme bewahrt. Als er kurz nach der Wende hier ankam, waren alle Häuser abbruchreif in tristem DDR-graubeige gewandet. Über die Jahre wurde saniert und nachdem der Prenzlberg seine Bevölkerung ausnahmslos aus den Münchener Nobel-Stadtteilen Schwabing und Bogenhausen rekrutiert hatte, wurde langsam auch F’hain zum Objekt besser verdienender Begierde. Doch die Hausbesetzer, alternativen Clubs und die abgefuckten Kneipen hatten Gegenwehr geleistet und behaupteten sich wacker, obwohl sie auf Dauer keine Chance haben würden. Martin passierte den Boxi an der Ostseite. Ein paar Straßen weiter lag die Touristen-Meile, die Simon-Dach-Straße. Dort lieferten sich alle möglichen asiatischen Restaurants, pseudo-hippen Cafés und alteingesessenen Kneipen einen selbstmörderischen Dumping-Wettbewerb, der in 24stündigen Happy-Hour-Phasen für Touristen kulminierte. Martin ließ die Touri-Ecke rechts liegen und bog hinter dem Boxi links ab, um in 150 Meter später in die Seumestraße einzubiegen.

Ob 96 gegen Lüttich gewinnen würde? Martin sog den Zigaretten-Rauch tief in seine Lungen und dachte abwechselnd an 96 und Marias Schutzbedürfnis. Mit seinem Leben war Martin nicht zufrieden. Zu viel war in den letzten Jahren schiefgelaufen. Maria war sein Hoffnungsschimmer. Nur ein Schimmer. Nur Hoffnung. Fuck, aber er war auf solche Lebenszeichen wie Maria angewiesen. Keine Viertelstunde war seit dem Telefonat mit ihr vergangen, als er den Schwarzen Hahn mit seinem besser bezahlenden Konsumenten passierte und in Marias Hauseingang zum Stehen kam.

Berger war Marias Nachname und daher drückte er den Klingelknopf neben dem entsprechenden Namensschild. Nichts. Martin klingelte nochmals. Wartete. Nichts. Gerade Pinkeln? Musik zu laut? Martin nahm sein Handy und wollte Maria anfunken, als die Haustür geöffnet wurde und sich ein junger Mann freundlich lächelnd herausschob. Na, denn, dachte sich Martin, trat ein und musterte den anderen im Vorbeigehen. Der Typ war höchstens Mitte 20, denselben Kurzhaarschnitt wie Martin, einen hippen Spitzbart ans Kinn geheftet, Ohrring, ein Tattoo ragte aus dem Kragen des T-Shirts hervor und er hatte eine schwarze Sporttasche geschultert. Zuvorkommend hielt er ihm die Tür auf, damit Martin passieren konnte. „Vielen Dank!“ rief Martin und trat ein. „Dafür nich!“ kalauerte der andere und lies ihn durch. Die Tür schloss sich und Martin stieg die Treppen nach oben. Ziel: vierte Etage.

Martin, ganz der ehemalige Bergsteiger, lies es langsam angehen. Maria hatte ihr Handy abgeschaltet. Na, super! „Na, nun mach schon, Mädchen…“ dachte Martin tapfer treppensteigend zwischen zweiter und dritter Etage. „Na gut, dann werden wir wohl zum Amusement der Nachbarn die Tür eintreten müssen, Schätzchen“, keuchte Martin vor sich hin. Doch oben angelangt stand Marias Tür bereits offen. „Berger“ stand auf dem Namensschild. Da war er richtig. Außer Atem, aber doch fit genug für eine launige Begrüßung stand Martin auf der Türschwelle: „Na, Du?!“ dröhnte er im tiefen Bass. „Wo steckt, mein Herzblatt?“ Keine Antwort. Martin trat ein und schloss die Tür. In Küche und Flur war Licht, leise drang Musik aus dem Wohnzimmer, sanft wummerte Motörhead aus Marias sündhaft teuren Bose-Boxen. „Perfekter Empfang, Schätzchen, aber diese Musik muss man etwas lauter hören!“ brüllte Martin gespielt überdreht als er die Tür zum Wohnzimmer aufstieß.

Maria lag auf dem Wohnzimmer-Teppich. Ihr Gesicht war kein Gesicht mehr. Es war blutiger Brei. Ihr Kopf, oder das, was davon übrig war, glich einem unförmigen Etwas. Martin sah auf den weitgehend unversehrten Rumpf seiner Freundin, an dessen Hals nichts mehr als ein schwarz-roter Klumpen hing. Der Mörder musste wie ein Berserker auf ihren Kopf eingedroschen haben. Ihr Schädel war mehrfach geborsten, Hirnmasse und Knochensplitter verteilten sich auf einer riesigen Blutlache, die in den cremefarbenen Teppich gesickert war. Ein blutverschmierter Baseball-Schläger aus Alu, lag neben ihr. Darunter klemmte ein Zettel: „Judensau!“ las Martin.

 

IV

Martin keuchte, hustete, hyperventilierte, übergab sich in Marias Wohnzimmer. Kotzte sich die Seele aus dem Leib. Direkt neben Marias Leiche auf den Teppich. Ließ sich auf das Sofa fallen, wandte den Blick ab, hoch zur Zimmerdecke. Schaute wieder auf Maria, musste sich wieder übergeben, diesmal in eine Topfpflanze neben dem Sofa. „Nein! Verfickte Scheiße! Was passiert hier!? Fuck!!!“ schrie er und krabbelte in die Küche. Martin drehte das Wasser auf, wusch sich das Gesicht und trank einen Schluck, um den bitteren Geschmack von Erbrochenem auszuspucken und hinunterzuspülen. Was tun? Martin setzte sich an den Küchentisch und zündete sich eine Zigarette an.

Nazi-Schweine. Der Typ, der ihm unten die Tür aufgehalten hatte. War er es? Der Täter musste Maria unmittelbar vor Martins Ankunft erschlagen haben. Sie hatten doch eben noch telefoniert… Martin sog den Rauch seiner Zigarette tief ein. Und jetzt? Polizei anrufen. Martin wählte den Notruf. Erzählte kurz, was passiert war, gab seinen Namen an und versprach auf die Polizisten zu warten. Und jetzt? Martin wählte die Nummer seines Chefredakteurs, Tim Schumann. „Hallo Tim! Maria ist tot. In ihrer Wohnung erschlagen. Ich hab sie eben gefunden. Hab bereits die Polizei verständigt.“ Martin schluckte: „Was soll ich tun?“ Kurzes Schweigen am anderen Ende. „Ich schick dir Walter Rosenberg, unseren Anwalt, Junge“, sagte sein Chef ruhig aber bestimmt. „Mach bitte Fotos, auch wenns schwerfällt. Das is ne Riesengeschichte! Ich werde Marias Festplatte in der Redaktion sichern, nicht dass die Polizei sie mitnimmt. Schau, ob Du ihren Laptop findest. Meine Güte! Sie hatte noch eine Menge Material über die NVP und deren Untergrund-Organisation gesammelt, hat sie gesagt. Das darf nicht in falsche Hände gelangen. OK?“ „OK. Ruf den Anwalt bitte gleich an. Tim, ich glaube, alleine schaff ich das nicht.“ „Mach ich. Halt die Ohren steif und komm anschließend gleich in die Redaktion. Bis nachher!“ „Ja, Scheiße… Bis nachher.“

Martin legte auf und schaltete die Foto-Funktion seines Handys an. Sich selbst schaltete er in den professionell distanzierten Journalisten-Modus. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer zu Maria. Er fotografierte ihre Leiche, die Reste ihres Schädels, den Baseball-Schläger mit dem Zettel, jede Ecke des Wohnzimmers bis auf die vollgekotzten. Dann steckte er sein Handy in die Hosentasche und ging zum Schreibtisch. Kein Laptop zu sehen. Mit einem Papiertaschentuch öffnete er die Schubladen, Marias Ledertasche. Kein Laptop. Keine CD-ROM, kein USB-Stick, nichts. Auch nicht im Bücherregal. Martin ging durch den Flur ins Schlafzimmer, schaute unters Bett, in Marias Kleiderschrank. Nichts. Viele Möbel hatte Maria nicht. Eine funktional eingerichtete 2-Zimmer-Altbauwohnung. Viel Zeit blieb nicht mehr, dann würden die Bullen antanzen. Martin ging zurück in die Küche und schaute die Schränke durch. Fehlanzeige. Unter der Spüle ebenfalls. Blieb nur noch das Badezimmer. Im Schränkchen über dem Waschbecken nur Kosmetik-Kram und Arzneimittel. WC-Spülkasten. Hmm… Letzter Versuch: Die Verkleidung der Badewanne. Ein Stück der Kacheln war nur lose mit Magneten befestigt, damit der Klempner bei einem Rohrschaden leicht an den Abfluss kam. Martin nahm die Kachel ab, da klingelte es. „Mist, die Bullen, jetzt aber schnell“, murmelte er vor sich hin. Er griff in den staubigen Hohlraum und tastete ihn so gut wie möglich ab. Es klingelte erneut. Da bekam er ein kleines Plastiktütchen zu fassen. Martin zog es heraus. Darin war ein USB-Stick verpackt. Schnell steckte er das Tütchen in die Innentasche seiner Lederjacke, setzte die Kachel wieder in die Außenwand der Badewanne und rannte zum Türöffner.

 

V

Die Polizei rückte mit einem guten Dutzend Leute an. Während seines Volontariats nach dem Studium war er eine Zeit lang als Polizei-Reporter unterwegs gewesen. Das Vorgehen der Beamten war ihm nicht fremd. Notarzt, uniformierte Polizei und die Beamten des Kriminaldauerdienstes kamen gleichzeitig. Vor dem Haus sicherten Uniformierte mit Streifenwagen und Blaulicht die Umgebung ab, Leute von der Spurensicherung kamen nun ebenfalls die Treppe hoch. Die würden sich dann auch über Martins Kotze hermachen. Viel Spaß… Er ließ den Pulk der Reihe nach zur Wohnungstür hinein, zeigte ihnen Marias Leiche und stellte sich dann dem zuständigen Hauptkommissar vor. „Tach, Schmidt. Ich habe die Polizei verständigt.“ Der Hauptkommissar stellte sich als Hauptkommissar Michael Dietrich vor. Dietrich war etwa einen Meter neunzig groß und auch fast so breit. Halblanges grau meliertes Haar, Vollbart. Mit seinem grauen Parker, der Jeans und den Cowboy-Stiefeln eiferte er zweifelsohne seinem Vorbild Schimanski nach. Und er war wohl aus einer der letzten Schimanski-Episoden entsprungen. Trotz seines vollen Haars, wiesen die Falten an Hals und Gesicht Dietrich als einen Mann Ende der 50er aus. Als Sidekick diente ihm ein kleines rundliches Männlein, Anfang 50, Typ geschlechtslose graue Maus, das sich als Oberkommissar Wolf Meier vorstellte und schon seinen Notizblock bereit hielt. Dietrich fixierte seine Daumen in den vorderen Hosentaschen seiner Jeans. Martin wollte die Augen verdrehen, besann sich dann aber eines Besseren. Dietrich musterte ihn kurz, aber gründlich.

„Nu? Wat is passiert?“ „Ich bin in der Halbzeitpause zu meiner Kollegin und habe sie so gefunden.“ „Wie sinnse denn rinnjekommen?“ „Wir haben gegen 20 Uhr 15 kurz telefoniert. Ich hatte in meiner Kneipe in der Samariterstraße das Hannover-Spiel gesehen. Als ich ankam, machte sie nicht auf. Ein jüngerer Mann ließ mich zur Haustür rein, die Wohnungstür stand offen.“ „Könnse den Mann beschreiben?“ mischte sich der kleine Meier ein. „Ungefähr eins achtzig, Mitte 20, Kurzhaarschnitt, Kinnbart, dunkle Kleidung, schwarze Sporttasche.“ „OK“, sagte Dietrich, „da brauchn wa se fürn Phantombild. In ihrer Kneipe gibt’s Zeugen für ihre Anwesenheit?“ „Klar, die Barfrau.“ „Haben sie hier alles vollgekotzt?“ fragte das Meier. „Äh, ja.“ „Haben sie ne Ahnung was dit mit der ‚Judensau‘ zu bedeuten hat?“ fragte Dietrich. „Ja, Maria und ich arbeiten beim Berliner Tagesanzeiger. Sie hatte heute eine große Reportage über die NVP und deren Terrorzellen im Blatt.“ „Ach Du Scheiße! Nazis und Presse! Is ja zum Kotzen!“ Dietrich blickte eine Sekunde zur Decke, um vom Polizeigott schützenden Segen zu erhalten, dann sah er wieder Martin an: „Tschuldijung. Aber dit riecht ja nach ner Riesenkacke!“

Dietrich gab seinen Leuten Anweisung, die Wohnung nach Recherche-Material zu durchsuchen. „Och det Bücherrejal, Jungs!“ Und zu Martin: „Wir müssn ma an ihren Arbeitsplatz in da Redaktion. Die hat bestimmt jede Menge Hinweise auf ihrm Computa.“ „Da werden sie sich noch etwas gedulden müssen, junger Mann!“ tönte es von der Türschwelle. Walter Rosenberg, der Anwalt des Tagesanzeigers trat ein. Mit seinen 60 Jahren, den gescheitelten weißen Haaren und dem schwarzen Dreiteiler verströmte der Senior eine natürliche Autorität, die er für seine Mandanten vorteilsbringend einzusetzen wusste. „Guten Abend. Dr. Rosenberg, Justiziar des Tagesanzeiger, mein Karte.“ Rosenberg steckte dem verdutzten Dietrich seine Visitenkarte hin. „Das Material von Frau Berger in der Redaktion werden erst wir sorgfältig prüfen. Hier hat der Informantenschutz Vorrang. Selbstverständlich werden wir sie nach sorgfältiger Durchsicht des Materials bei ihrer Arbeit unterstützen, Herr Kriminalkommissar.“ „Hauptkommissar. Hauptkommissar Dietrich.“ „Äh, ja, Herr Hauptkommissar.“ „Ich sach ja, Riesenkacke. Nazis und Presse, meine Jüte!“ „Brauchen Sie Herrn Schmidt noch?“ Dietrich schaute Rosenberg prüfend an. In seinem Kopf klingelten gerade alle Alarm-Glocken: Nur keine zusätzlichen Probleme! „Nee“, sagte er dann gedehnt. „Personalien hammwa.“ „Die Kneipe hat bestätigt, dass er da war“, ergänzte das Meier. Dietrich: „Phantombild bitte morgen früh um neun in der Wedekindstraße. Denn können wa och det Protokoll fertig machen. Juti?“Dietrich fixierte Martin scharf, und das Meier knurrte lautlos wie ein stummer Terrier.

„Herr Schmidt, bitte kommen sie.“ Rosenberg drängte Martin sanft aber bestimmt zur Tür hinaus. Schweigend gingen sie die Treppen hinunter. Die nächtliche Straße flackerte im Blaulicht wie eine Dorf-Disko. Rosenberg führte Martin zu seinem schwarzen Mercedes, der hinter einem Streifenwagen stand. Als sie im Wagen saßen, bot Rosenberg Martin einen Zigarillo an. „Nein, danke, aber ich würde gerne eine Zigarette rauchen.“ „Nur zu, nur zu. Das ist nochmals gutgegangen. Die hätten sie auch in Gewahrsam nehmen können. Dieser Dietrich scheint mehr Angst als Verstand zu haben.“ Rosenberg startete den Benz und fuhr an.

 

VI

Schweigend saßen die beiden im Wagen und rauchten. Rosenberg hatte die Fenster leicht heruntergelassen, damit der Rauch abziehen konnte. Beim gleichzeitigen Gebrauch von Zigarillo und Zigarette hätte auch eine Mercedes-Ventilation ihre Schwierigkeiten gehabt. Vor der Oberbaum-Brücke bogen sie rechts ab und fuhren an der Eastside Galery entlang Richtung Mitte. Der Gelbton der Straßenbeleuchtung tauchte die Straßen in das typisch fahle Nachtlicht Berlins.

Es war nach elf Uhr. Seit Martins Aufbruch aus seiner Fußball-Kneipe waren nicht einmal drei Stunden vergangen. Jetzt saß er in einem Mercedes und ließ sich vom Justiziar des Tagesanzeigers durch die Berliner Nacht kutschieren. Maria war vor drei Stunden noch am Leben. Seine Freundin. Seine Hoffnung. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, dachte Martin. Aber sie stirbt. Aber musste es so bestialisch geschehen? Was war dieser Nazi-Typ für ein Mensch? Ein gewöhnlicher Schläger? Ein Psychopath? Ein gewaltbereiter Fanatiker? Ein Profi-Killer? Alles auf einmal? Er war ihm nicht weiter aufgefallen, als er ihm freundlich die Tür aufgehalten hatte. Spitzbart, kurze Haare, Tattoo, Ohrring, Sporttasche – mäßig hippes Outfit, das in Berlin nicht weiter ungewöhnlich auffiel. Doch was fiel in Berlin schon ungewöhnlich auf? Selbst im Bademantel konnte man hier in den Supermarkt latschen, ohne dass es irgendjemanden interessiert hätte.

Falls der Spitzbart Marias Mörder war, hatte er ihn durch sein Klingeln gestört. Er hatte die Wohnung nicht durchsuchen können. Hatte sich Marias Laptop in die Sporttasche gestopft und war die Treppe hinuntergerannt. Die Tür hatte er vergessen zu schließen. Ein Fehler, sonst hätte Martin wahrscheinlich gedacht, Maria wäre kurz aus dem Haus gegangen oder hätte ihn versetzt, worauf er wieder sauer abgezogen wäre. Marias Leiche hätte man womöglich erst Tage später entdeckt. Doch wahrscheinlich wollte der Typ, dass man Maria schnell entdeckt. Schließlich sollte man doch über den Mord Bescheid wissen und zwar möglichst unmittelbar nach dem Erscheinen von Marias Reportage. Was war das für ein Tattoo, das aus seinem Hemdkragen herausragte? Flammen? Stilisierte Sonnenstrahlen? Oder einfach nur ein bedeutungsloses Tribal? Würde er das Gesicht wieder erkennen? An wen hatte es Martin erinnert? Der hagere Bruder von Lukas Podolski vielleicht? So in etwa. Nein, er kam nicht drauf.

„Wie geht es ihnen, Herr Schmidt?“ fragte Rosenberg, als sie an der Kreuzung vor dem Roten Rathaus halten mussten. „Nicht besonders“, murmelte Martin. „So was Brutales habe ich noch nie gesehen. Und sie… sie war meine Freundin.“ Tränen stiegen in ihm auf und er schluchzte. Rosenberg fuhr an, als die Ampel auf Grün schaltete, und klopfte Martin schweigend auf die Schulter. Sanft rollte der Benz die Leipziger hinunter. Martin rotzte in ein Taschentuch und zündete sich eine weitere Zigarette an. „Warum haben die das getan?“ fragte Martin wieder etwas gefasster, ohne eine Antwort zu erwarten. „Haben Sie Frau Bergers Reportage nicht gelesen?!“ erwiderte Rosenberg. „Darin schildert sie minutiös die Verbindungen zwischen Nationaler Volkspartei und der NS-Front, der terroristischen Untergrundorganisation. Darin steckt mehr Tobak, als in der gesamten Arbeit des Verfassungsschutzes, falls der überhaupt mal was gearbeitet hat. Pah! Verfassungsschutz… das ist kein Geheimdienst, das ist Verschwendung von Steuergeldern! Amateure...“ Auch Rosenberg zündete sich empört über die vermeintlichen Stümper des Verfassungsschutzes einen weiteren Zigarillo an, als sie auf die monströse Raumstation des Potsdamer Platzes zusteuerten. „Mit den Belegen und Aussagen, die Frau Berger in den letzten Wochen und Monaten gesammelt hat, ließe sich problemlos ein Parteien-Verbot für die NVP vor dem Bundesverfassungsgericht erwirken. Damit wäre den Neo-Nazis die finanzielle Grundlage entzogen. Das ist denen offensichtlich einen Mord wert.“

Martin überlegte. Es war ihm peinlich. Er hatte Marias Reportage nicht aufmerksam gelesen, nur kurz überflogen. Im Groben hatte er geglaubt zu wissen, was sie aussagen wollte. Journalisten lasen für gewöhnlich nicht viel Zeitung, außer die eigenen Artikel natürlich. Klar, er wusste von den Morden der NS-Front, den peinlichen Pannen des Verfassungsschutzes. Er wusste auch noch aus Studienzeiten, dass das Bundesverfassungsgericht erst zweimal eine Partei verboten hatte, die KPD 1956 und die nationalsozialistische SRP 1952. In der Sozialistischen Reichspartei hatten sich Alt-Nazis gesammelt, die auch versucht hatten die FDP in Nordrhein-Westfalen zu unterwandern. Seitdem war kein Parteienverbot mehr ausgesprochen worden. Entweder waren die Beweise zu dünn, oder man argumentierte, dass man die Nazis besser beobachten könne, wenn es eine beobachtbare Parteistruktur gebe. Einen organisierten Nazi-Terrorismus hatte man immer ausgeschlossen, bis man nach der Verhaftung einiger Mitglieder der NS-Front erstmals vage Einblicke in deren Organisationsstruktur bekommen hatte. Die Morde, die die NS-Front über Jahre begangen hatte, waren bis dahin von Polizei, Verwaltung und Politik alle als zusammenhangslos betrachtet worden, auch wenn beinahe ausschließlich Ausländer die Opfer gewesen waren. Nazi-Terror in Deutschland? Ausgeschlossen! Es kann nicht sein, was nicht sein darf, war bis dahin die gängige Logik gewesen. Ein verhängnisvoller Irrtum.

„Aber hat man denn die NS-Front mittlerweile nicht auf dem Radar?“ fragte Martin seinen Fahrer. „Das ist sehr schwierig. Die NS-Front scheint ähnlich in Zellen organisiert zu sein wie Al-Quaida. Und scheinbar gibt es genug gewaltbereite Neo-Nazis, die man problemlos mit einem Mord-Auftrag losschicken kann.“ Rosenberg schnippte die Asche seines Zigarillos aus dem offenen Spalt des Autofensters. „Gerade im Osten Deutschlands wimmelt es doch nur so von frustrierten, arbeitslosen jungen Männern, die sich in ihrer Not der Gemeinschaft der Neo-Nazis anschließen. Der Jahrzehnte-lange Materialismus der SED-Kommunisten macht die Leute empfänglich für Spiritualität.“ Martin verstand nicht: „Wie? Spiritualität? Nazis sind doch Ideologen.“ „Ach, junger Mann, mit dem Dritten Reich scheinen sie sich seit der Schulzeit nicht mehr allzu oft beschäftigt zu haben, oder?“ Nein. Hatte Martin nicht. In der neunten Klasse war das Thema Nationalsozialismus mehr oder weniger wegen Krankheit des Geschichtslehrers ausgefallen und in der Kollegstufe hatte er nicht mehr richtig aufgepasst. Da waren ihm Sport, Heavy Metal und Mädchen wichtiger gewesen. Martin hatte Sport und Germanistik studiert. Das NS-Regime war ihm allenfalls prosaisch gefiltert durch die Lektüre der deutschen Nachkriegsliteratur bekannt.

„Also: Was haben denn bitte die Nazis mit Spiritualität zu tun?“ fragte Martin pflichtschuldig den Justiziar. Rosenberg zog genüsslich an seinem Zigarillo. Martin sah, dass er den Rauch inhalierte. Also waren Zigarillos auch keine Methode, sich die Zigaretten abzugewöhnen. Rosenberg blickte kurz auf seinen Beifahrer, um sich zu vergewissern, dass er auch die nötige Aufmerksamkeit bekam, die seinen Ausführungen zukommen sollte. „Die Nationalsozialisten hatten kein logisch-philosophisches Gedankengebäude, keine Ideologie, sondern eine Weltanschauung, wie sie es nannten. Das Rationale, Vernünftige war ihnen verhasst. Ihre Rassenlehre von der Überlegenheit des nordischen Ariertums war völlig unwissenschaftlich und beruhte nur auf Behauptungen. Stellen sie sich vor, wie Hitler und Goebbels getobt haben, als Jesse Owens – ein Schwarzer – bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin allen anderen davonlief. Das hat diese beiden selbsternannten Genetiker in ihren Grundfesten erschüttert. Egal… Außerdem kam der Volksstamm der Arier aus Persien und nicht aus dem nördlichen Raum.“ Rosenberg lachte verächtlich und bog ab ins Reichpietschufer.

„Kurzum, die Germanen-Tümelei hatte zwei konkrete Ziele: Innenpolitisch, die Juden als Sündenbock für wirtschaftliche Misere zu brandmarken, die aus der Weltwirtschaftskrise und dem verlorenen 1. Weltkrieg rührte,; außenpolitisch, um der minderwertig russisch-bolschewistischen Rasse sogenannten Lebensraum abzutrotzen, also die rohstoffreichen Gebiete bis zum Ural.“ Mit einer kurzen Bewegung der linken Hand schnippte Rosenberg wieder seine Asche aus dem Fenster. „Letztendlich waren es Machtgelüste eines Psychopathen namens Hitler. Lesen sie ‘Mein Kampf‘. Hatte Hitler schon 1923 geschrieben. Juden-Vernichtung, Lebensraum im Osten – nahm nur keiner ernst.“ Martin glaubte, sich dunkel an Bruchstücke seines Schulunterrichts zu erinnern: „Und daran glauben die heute immer noch?“ Rosenberg lachte. „Ob sie an die unbefleckte Empfängnis glauben oder an die unbezwingbare arisch-germanische Rasse – lächerlich ist beides. Aber als frustrierter, arbeitsloser Jugendlicher wäre ich lieber unbezwingbar als unbefleckt, oder?“

Hinter dem Lützowplatz steuerte Rosenberg den Benz in die Kurfürstenstraße. Martin wollte sich noch eine Zigarette anzünden, doch die Schachtel war leer. „Zigarillo?“ bot Rosenberg an. „Warum nicht“, willigte Martin ein. Rosenberg reichte ihm eine Schachtel Nobel Petit. Gewöhnliche Zigarillos, keine Edelmarke… Martin nahm sich eine und zündete sie an. Der Rauch war aromatischer und zugleich sanfter als der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Michael Knox
Bildmaterialien: Michael Knox
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5738-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
25% der Erlöse gehen an Aussteigerprojekte.

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