Es war ein verregneter, kalter Herbsttag. Die noch vor wenigen Tagen farbenfroh gewesenen Blätter lagen braun und matschig auf dem Boden; die wenigen Verbliebenen an den kahlen Zweigen der Bäume flatterten im schneidenden Wind.
Trotzdem spielten die meisten Kinder auf dem Pausenhof; sie rannten laut lachend umher oder sprangen in die Pfützen, um zu Hause ihre Mütter zu ärgern. Die Lehrer, die vereinzelt als Pausenaufsicht herumschlenderten, bemühten sich, dem nervenauftreibenden Geschrei nicht zuzuhören. Ganz plötzlich lachte einer der Lehrer laut und gackernd los. Die umstehenden Kinder wichen vorsichtshalber von ihm zurück und schafften so einen Freiraum von etwa drei Metern Durchmesser um den jungen Mann. Zufrieden schlürfte dieser an seinem Automatenkaffee. Nun musste er sich wenigstens dieses „Deine Mama trägt eine Perücke!“, „Aber mein Vater hat gesagt, dass dein Vater gesagt hat, dass er gesagt hat, dass er was getan hat, obwohl er sagt, er war es nicht!“ oder „Bamm!! Du bist tot!“ nicht mehr aus nächster Nähe anhören.
„Du trinkst Kaffee“, ertönte plötzlich eine Stimme auf Kniehöhe des Lehrers. Verwundert sah er nach unten.
Tatsächlich, dort stand ein kleines Mädchen mit flammend roten Haaren und hellen Augen. Sie war nicht unbedingt hübsch; sie war auch nicht besonders nett angezogen, und nichts deutete auf irgendetwas Besonderes hin. Der Lehrer sah das Mädchen an.
Sie starrte zurück. Sie schien zu schielen.
„Zu viel Kaffee ist ungesund“, sagte sie schließlich. „Koch dir Himbeertee mit Obstessig.“ Einen Augenblick lang sah der junge Mann sie verdutzt an, dann schlenderte er kopfschüttelnd davon. Auf einmal hatte er keinen Appetit mehr auf Kaffee.
Nachdenklich sah Ellen Grau dem Lehrer nach. Wieso hatte es diesmal nicht geklappt? Hatte sie nicht genug geschielt?
Ellen war sehr stolz darauf, dass sie schielen konnte. Schließlich konnten das nicht viele achtjährige Mädchen. Und sobald sie das jemandem zeigte, konnte die Person es gar nicht abwarten, irgendwelchen Anweisungen zu folgen. Ellen vermutete, dass sie von ihrem Schielen beeindruckt wurden.
Langsam schlurfte sie weiter und holte ein Himbeerbonbon aus ihrer Hosentasche, das sie so streng ansah, als ob es gerade an ihrem gescheiterten Versuch Schuld wäre. Natürlich hielt es sie nicht davon ab, das Bonbon auszuwickeln und in den Mund zu stecken.
„Guck mal, ich habe ein Blatt gefunden.“ Leonie, ein blondes Mädchen mit einer Zahnlücke, hielt ihr ein braunes, nasses Blatt hin.
„Oh! Ein Blatt! Ein braunes, nasses Blatt, und das mitten im Herbst! Du bist echt ein Glückspilz!“, sagte Ellen und grinste. Dann lief sie weiter.
Ellen hatte nicht viel mit den anderen Mitschülern zu tun.
Sie passten nicht zusammen – für Ellen war es einfach ein Rätsel, wieso die anderen wegen so offensichtlichen Phänomenen wie gefüllte Stiefel am Nikolaustag oder Ostereier zu Ostern so sehr außer Häuschen gerieten.
Ellen wohnte bei ihrer großen Schwester Eske, und die war so kinderfreundlich und naiv, dass es schon auffällig war – deswegen hatte sie schon früh begriffen, Realität von Trug zu unterscheiden.
Und genau in diesem Moment, als die Schulglocke die Kinder und Lehrer wieder zurück ins Schulgebäude rief, durfte Ellen ein unglaubliches Phänomen miterleben.
„Pst, Mädchen!“ Ellen sah sich um, aber es war niemand zu sehen.
Sie zuckte die Schultern und lief weiter.
„Was heißt S-C-H-I-F-F?“ „Ich weiß es!“, rief Leonie und riss den Arm in die Höhe. „Schiff!“ „Schön. Und was heißt S-C-H-I-L-F?“
„Ehm..“ Unsicher sah das Mädchen sich um. Ellen, die neben ihr saß, seufzte und murmelte ihr leise zu: „Schilf.“
„Schilf!!“ „Sehr schön, Leonie! Das gibt eine schöne Note.“
Frau Heidenbauer notierte etwas in ihrem Klassenbuch. Ellen mochte Frau Heidenbauer nicht besonders; sie hatte noch nie jemanden gesehen, der eine Brille mit weißem Rand und kirschroter Lippenstift so schlecht standen. Außerdem spuckte sie beim Reden.
Während Ellen sich weiter langweilte, geschah das zweite unglaubliche Phänomen des Tages, und zwar in ihrer Schultasche: Ihr Pausenbrot verschwand.
Eine Ameise schleppte ein Stück Zucker mit sich. Es war eine große Ameise, die schon einiges in ihrem Leben erlebt hatte; sintflutartige Nieselregen und alleszerstörende Schuhsohlen waren nichts dagegen.
Eifrig folgte sie der Duftspur zurück zum Bau, um das Zuckerstück abzugeben und den anderen Ameisen von der Futterquelle zu berichten. Gerade als sie eine gefährlich wackelige Brücke aus Gras überquerte, landete eine Schuhsohle auf ihr und brachte ihre grüne Welt völlig durcheinander. Verzweifelt versuchte sie, einen Halt in dem herumwirbelnden Chaos zu finden.
Ellen stapfte durch das hohe Gras zum Haus ihrer großen Schwester Eske. Sie lebten alleine in dem kleinen Häuschen am Waldrand. Ihre Eltern waren tot, und Eske war schon alt genug, um sich um Ellen zu kümmern.
„Bin wieder zu Hause!“, rief Ellen im Flur. „Das ist ja wunderbar! Setz dich, ich hab was zu Essen gemacht!“ Für Eske war alles wunderbar. Als Ellen sich an den Tisch setzte, servierte ihre große Schwester ihr eine kühne Menükreation aus Salzkartoffeln, Muschelsuppe und Broccoli. „Wie war es heute in der Schule?“ „Leonie hat ein Blatt gefunden, und Frau Heidenbauer hat sie gelobt“, fasste Ellen die wichtigsten Ereignisse des Tages zusammen. „Und wir haben gelernt, wie man <Dampfmaschine> buchstabiert.“ „Das ist ja wunderbar!“
Eske strahlte, als ob sie gerade den Nobelpreis für chemische Holzherstellung gewonnen hätte.
Ellen aß auf und schnappte sich ihre Schultasche. „Ich mache Hausaufgaben.“ „Nimm dir ein Himbeerbonbon.“
Gehorsam klaubte sie eines der klebrigen, selbstgemachten Bonbons aus einem Marmeladenglas – natürlich war vorher Himbeermarmelade darin gewesen – und lief dann nach oben auf ihr Zimmer.
Dort erinnerte sie sich an ihr ungegessenes Pausenbrot und griff in die Tasche, um es rauszuholen. Doch statt eine knisternde Papiertüte zu ergreifen, fühlten ihre Finger einen kleinen, pelzigen Ball. Ganz kurz quiekte es – und schon hielt Ellen eine kleine, zappelnde Maus in ihrer Hand. „Was macht denn eine Maus in meiner Tasche?“, rief sie etwas erschrocken aus und erschrak noch etwas mehr, als die Maus mit hoher Stimme antwortete: „Ich bin eine Ratte! Und du kannst auch ruhig mich fragen, schließlich ist es auch meine Angelegenheit!“
„Du sprichst?!“ „Natürlich! Nur, weil wir Ratten nicht auf zwei Beinen laufen und Mausefallen konstruieren, heißt es nicht, dass wir komplett verblödet sind!“ „Das meinte ich nicht! Es ist nur.. es überrascht mich, dass ich noch nie was von sprechenden Ratten gehört habe.“ „Kein Wunder. Wir Ratten sind nicht gerade erpicht darauf, mit euch Menschen zu sprechen. Ich habe gerade Mausefallen erwähnt.“ „Oh.“
„Lässt du mich mal runter?“ Die kleine Ratte zappelte. Behutsam stellte Ellen sie auf ihren Schreibtisch, wo sie auf zwei Beinen stehen blieb und ihr zerzaustes Fell ordnete. Als sie zufrieden schien, wandte sie sich wieder an Ellen, die sie mit der Faszination eines Kleinkindes beobachtete. „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Lila Wie–eine–giftige–Frühlingsblume.“ Höflich musterte Ellen sie. „Du bist braun“, stellte sie schließlich fest. „Nein. Ich bin Lila Wie-eine-giftige-Frühlingsblume.“ „Das ist dein Name?“ „Wenn ich es doch sage! Wie heißt du?“ „Ellen Grau.“ „Aha, Grau. Und wie noch?“
Ellen zögerte unsicher. „Ellen.“ „Was ist das denn?“ „Mein Name.“
„Schön, Grau Wie-eine-Ellen.“ „Ellen.“ „Sag ich doch!“
Ellen seufzte. „Was willst du?“ Es war, als ob Lila die ganze Zeit auf diese Frage gewartet hätte. Sie richtete sich auf und streckte gewichtig die Brust raus. „Ich komme im Namen meiner Sippe und habe eine wichtige Nachricht.“ Ellen sah sie neugierig an.
„Wir haben“, sagte Lila feierlich, „eine uralte Nachricht erhalten, die von einem unserer Vorväter stammt. Und jetzt pass auf.“
Ellen schwieg erwartungsvoll. „Die Nachricht lautet: Schau dich um.“ „Schau dich um?“ Lila nickte. „Aha.“
„Schwierig, nicht wahr? Niemand weiß, was das bedeutet.“
„Wieso, ehm, schaut ihr euch nicht um?“
Wenn Mäuse ironisch schauen konnten, dann tat Lila das. „Die Nachricht muss einen anderen Sinn haben. Sonst ergäbe sie keinen Sinn.“ Ellen verzichtete auf den Hinweis, dass die Nachricht alles andere als sinnlos sei. „Nun, das ist eine schöne Nachricht. Und wieso kommst du damit zu mir?“
„Ich habe dich vom Gras beobachtet“, erwiderte Lila. „Du kannst schielen.“ Ellen lächelte geschmeichelt. „Ich weiß.“
„Nun, dann komm. Wir haben heute noch vieles vor.“
„Wie meinst du das?“ Lila fixierte Ellen mit ihren strengen dunklen Augen. „Wir müssen herausfinden, was die Nachricht bedeutet.“
„Wir?“ „Na klar, sonst würde ich ja nicht zu dir kommen!“
„Ich soll dir helfen?“ Lila schien die Augen zu verdrehen. So ganz sicher war Ellen sich da nicht.
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2009
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Widmung:
fuer meine grosse liebe kleine coo. <33