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Mit großer Klappe das Spielfeld betreten, zu Null wieder runter: Ich gehöre auf den Müll.
Es werde noch gespielt, sagen die Greise ringsum, die sich hier Seniorentische decken lassen, soweit das Auge reicht. Eine Halbzeit sei gerade erst beendet.
Grölende Greise, braun vor Sommerfrische. Als wären sie über Jahrhunderte erwachsene Bäume, welche zu fällen halben Mannschaften schwerlich gelingt.
Würde ich finster an der Greisen Seniorentische treten, sie hielten mirs Christenkreuz vor, gefälligst ungestört ihre Grands zu dreschen. Bestenfalls böte man mir Freibier, mich zu entspannen.
"Einen Apfelsaft, bitte!"
Selbst als alle Welt halbstark genug war, nach berauschendem Trunk zu verlangen, blieb ich genussfrei. Was da zigmillionenfach reifte in den Raucherecken, ließ mich reifen für meine Lehre in der fleischverarbeitenden Industrie.
Jawohl, verehrte Leserinnen und Leser, hier schreibt ihnen ein Schlachter! Ein ausgezeichneter dazu. Längst bin ich Meister darin, mit meinen Gesellen Viehtransporter voll emotionaler Drecksarbeit zu entleeren.
Ob Klein- oder Großmaul der Liebe, wir füttern sie alle ab. Versorgen Candlelight Dinners mit Lammfilet, wie Gotteshäuser mit Festtagsbraten.
Aus bereits angedeutetem, aber noch zu beschreibenden Anlass, habe ich Urlaub vom Schlachthaus genommen, endlich jenen Sound hören zu lassen, welcher ausblutendem Leben eigen ist. Lassen Sie sich also verzaubern, verehrte Leserinnen und Leser.
Hier und im Folgenden spare ich mir all jenes wichtige Gehabe, mit dem Literaten gemeinhin Notizbücher eröffnen. Genauso gut könnte ich mich ausbreiten vor Fototapeten, welche belebte Schankräume von Gaststätten herzeigen.
Zur Geschlechtsreife hin, tapezierte ich die Tür meines Kinderzimmers mit Abbildern pralleutriger Weibchen. Obwohl Säugetier geheißen, war ich kaltblütig genug im fortwährenden Versuch, mich der Tür meines Kinderzimmers auf eine Weise anzuvertrauen, dass man an ein fehlgeleitetes Böcklein hätte denken können. Und niemals hörte ich auf, solchermaßen aufreizend motiviertem Tapetenwerk Vergnügen abzugewinnen.
Wo ich nicht mit Tapezierkunst Mutwillen treiben konnte, nahm ich Vorlieb mit von Eingeborenen ausgemalten Götzenbildnissen. Knieten meine Nächsten, kniete auch ich.
Statt aber weiterhin auf solch allgemein verträgliche Weise des eigenen Schoßes zu gedenken, mag ich mir die Sehnsucht nun mit Papier abtupfen. Jenes Stehvermögen des Geschriebenen, gegen das alles Leben treulos wirkt. Blatt für Blatt gedachte Laufkundschaft beanspruchen, verehrte Leserinnen und Leser.
Wobei ein Absehen von aufreizendem Tapetenwerk natürlich für Qualitätsunterschiede sorgt, was Gefühlsbekundungen betrifft: Während ich weiter auf mein erstes Herrengedeck hoffe, muss ich meinen verehrten Leserinnen und Lesern zugestehen, längst und im vollsten Umfange aktiv zu sein. Will man sich also auf ein kurzweiliges Vergnügen aneinander gewöhnen, sollte man nicht überall nach der Dirne fahnden, die für etwas Wohlwollen ihren Busen in Aussicht stellt.
Meine erste Amtshandlung nach der Volljährigkeit war jener rote Vorhang, welcher die Videothek in Gut und Böse teilte. Was mir Schlachtergesellen aber hinter dem Vorhang als „Fleischabteilung“ vor Augen stand, verstörte mich zutiefst.
Bis zum roten Vorhang erschien alles Primäre mir als Hochzeitsgabe Fleisch gewordener Göttinnen. Nun lagen diese Göttinnen breitbeinig vor mir, meine minderjährige Anbetung zu verhöhnen.
Wohl kein Zufall, dass ich bald darauf verloren ging an eine Welt der Philosophen, wo Menschen Recheneinheiten waren, bunt bemalter Nippes vergangener Epochen. Während manch 18-jähriger anfing, seine Befristung zu spüren, enthob ich mich aller Sorgen über Zeit und Raum.
Derart heimisch in einem Reich, das nicht von dieser Welt ist, ließ ich mir leichthin noch Matten stehen, als Föhn- wie Gelfrisuren selbstverständlich waren.
Gel, Farbe und Creme: ich habe damals wenig in den Tod investiert, daher der Tod ebenso wenig in mich.
Hielt ich mich sonst auch abseits jener geföhnten Kadaver, ging es hoch bis zum Zehntausendsten, erhob mein reifendes Geschlecht sich keck zu voller Länge. Dem Volke grüßte es dann. Und wie es wohl jeden besudelt, in jungen Jahren einer unsittlichen Präsentation schuldig geworden zu sein, hat auch mir seit jenen Sündenfällen die Gnade des Vergessens nicht ein Wort abgenommen:
"Meine Erinnerungen", sagen die Leibesfreudigen aller Generationen, "kann mir keiner mehr nehmen." Die Leibesfreudigen zerkleinern das Leben in genießbare Events. "All you can eat." An jeder Ecke lungern die Leibesfreudigen mit ihren Tellern auf einen weiteren Schlag Leben. Unterhalten wollen sie sein, verwöhnt werden. Die Leibesfreudigen schlecken, dippen, glotzen, schmökern, voten, erwählen leibesfreudige Götter. So vertreiben die Leibesfreudigen das ihnen geschenkte Maß an Zeit. Die Leibesfreudigen sind die Könige des Gewesenen. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Von moderner Gesetzbarkeit bin ich beschieden, zwar meine Meinung gerne und frei heraus zu äußern, aber Zuhörer solle ich bitte keine erwarten. Die Prediger auf den, "Erlebnismeilen" genannten, Strichen etwa, wie sie hunderten Einkaufstüten ein Evangelium entgegen stellen. Ja, und da lungern die Prediger dann mit ihrem Evangelium derart im Abseits, dass man ihnen Ketten anlegen möchte, damit sie sich, wenn schon nicht gewürdigt, so doch wenigstens gestraft fühlen.
Alle erleiden wir lieber die Tortur einer Inquisition, behaupte ich, als bis ans Ende unserer Tage hinter Apfelsaft sitzen gelassen zu werden.
Das Schlachtvieh, wie es aus den Transportern taumelte, lärmend vor Angstschweiß: ich fing an, das Schlachtvieh zu beneiden. Jedes Ferkel ist gefälliger anzuschauen als ich, jedes Rindvieh den Frauenzimmern mehr Genuss. Zubereitet mag ich sein, statt zur Asche verdammt. Rote Lippen sollen sich an meinen Überresten sättigen, sollen wieder und wieder mein Fett von ihrer Fülle tupfen.
Surreal wie auf Viehtransporten will ich mich mit Massen an Artgenossen pferchen, will Stampede ihrer Stampede sein. Ganz selbstverständlich soll man den Gewehrkolben nach mir heben, frei heraus zum Ochsenziemer greifen. All dies Gedrüse, Kloake, Abgesondere: Schämen möcht ich mich meiner heiligsten Schriften.
Am meisten bestürzen jedoch soll mich der Wind, wie er am Ende über leere Ladeflächen fegt: Meister, da waren eben noch tausende Klafter Fleisch!
Beinahe möchte man im Winde zurück gebliebene Ohrmarken verehren, die mehrstelligen Nummern darauf sich sorgsam einprägen, nur um nicht in einem fort mit den Schultern zu zucken.

"Bitte zahlen!"
Die Bedienung quittiert meine karge Mimik mit jener Hoffart, welche jungen Vollbusigen eigen ist, die sich in der Gastronomie ihr Studentenleben leisten.
Nun lag mir nie sonderlich daran, der Designhengst zu sein, mit dem Frauen ihre Schrankwände abbezahlen möchten. Rangelassen werden, den Gipfel der Genüsse erklimmen: Körperöffnungen solch Himmelreich zuzugestehen, scheint mir unbillig. Aber wie die Bedienung auf mich herabschaut, das gefällt mir. Ich gebe großzügig Trinkgeld.
All diese gutbürgerlichen Phantasien, die aus Bleiben Drecklöcher machen, bis oben hin voll mit Begehrlichkeiten. Irgendein Knochenjob, vierzig Jahre lang, fürs Häusle, fürs Urlaubsschwein. Beschämend, wofür Menschen sich alles aufsparen. Und am Ende fällt den Herrschaften vor lauter Tristesse selten mehr ein, als beim Boxenstopp die Trulla zu wechseln.
Ihre Liebe ist groß wie ihre Welt, und die ist ziemlich klein: 2,00 x 1,60 Meter im Schnitt. Selten fühlt Gleichgültigkeit sich herzlicher an, als hoch oben im Liebesnest. Zwei Greifvögel beim Balzflug, bevor sie auf uns hinab stürzen. Haben wir Glück, bauen sie ihrem Liebesspiel unser Fleisch ein, füttern und necken sich damit. Liebesnestler fressen nicht, Liebesnestler schlingen nicht. Gemeine, heimtückische Reißzähne sind ihrer Liebe fremd. Liebesnestler picken aus dem Leben das zarteste Fleisch. Liebesnestler sind die herzlichsten Fleischfresser der Welt. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Es hat wieder zu schneien begonnen. In dicken Flocken sinkt der Schnee aus der Dunkelheit hinab auf die Alleen und Wege des Parks, wirbelt um verlassen im Laternenlicht stehende Pavillons, fegt über Treppen und durch Torbögen hinab auf Wiesen, wo Windspiele sich drehen und steinerne Vasen im Schnee versinken.
Raben kreisen über dem Kriegerdenkmal am Hauptportal. Einen Marder sehe ich durch das stählerne Geländer schlüpfen zwischen die Steinblöcke mit den Namen der Gefallenen. Namen, an denen trübes, hartes Eis sich bildet. Lauernd sehe ich den Marder blicken auf die abgeblendeten Scheinwerfer des Taxis, dessen Motor kaum zu erlauschen ist inmitten schneidender Böen.
Als ich ausstieg, glitten Schneekristalle die Scheiben des Taxis hinab, erlaubten nicht einen Blick mehr nach draußen.
Ob er mitkommen solle? beunruhigte der Taxifahrer sich in meiner Phantasie. Tatsächlich schaute er nur bräsig, als ich mir Handschuhe überzog. "Sie warten bitte hier."
Als Kind habe ich die Nächte geliebt. Meine Träume, jene unsagbaren Gesichter des Schlafes. Wie aber jetzt auf menschenleerer Promenade? Ich könnte mir eine Ruhestätte hacken im Eis des Weihers, könnte mich auf eine Bank setzen, einzuschneien bis der Morgen graut: Die Belanglosigkeit, welche gemeinhin als "Freiheit" wahrgenommen wird, übermannt mich. Kein Werkzeug Gottes bin ich, keine Wiedergeburt auf bedeutungsvollem Wege durch den Kreis des Lebens. Nur mein Date mit dem Tod ist mir sicher. Die verehrten Leserinnen und Leser stimmen gewiss mit mir überein, dass es unter solchen Umständen schwer ist, seinen Schritt in eine Richtung zu lenken.
Sandburgen empfinden sich als Kronen der Schöpfung, selbst wenn sie an einer Supermarktkasse erbaut wurden oder irgendwo Häppchen bereithalten. Bis auf die Zinnen sind Sandburgen gestylt. Liebevolle Peelings, harte Arbeit am Idealmaß. Geht der Wind über sie hinweg, ist es den Sandburgen, als könnten sie fliegen. Brennt Sonne auf sie herab, vermuten die Sandburgen sich in ihrer gesündesten Farbe. Und vom Wasser glauben sie bis zum Schluss, dass es sie trägt. Wenn alles Leben längst heimgekehrt ist, finden sich in verschneiten Sandkästen noch Reste einstmals stolzer Burgen. Sandburgen werden oft selbst vom Tod vergessen. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Baumkronen schimmerten weiß im Mondschein. Der Marder flüchtete sich vor mir zwischen welkes Buschwerk. Lauter Gestrüpp, das während seiner Blüte etwas hergemacht haben mochte, nun aber kaum mehr vorstellbar ist. Sterne scheinen mir keine, nur vereinzelte Raben sehe ich, die auf den Wipfeln der Trauerweiden stumm im Wind schwanken.
Abseits der Laternen halte ich mich. Am Weiher entlang, verborgen von Schilf und tiefstehenden Ästen, lausche ich jeder Bewegung zwischen den Bäumen. Nach Tannen riecht es, nach gefrorenem Wasser.
Wie in meiner Erinnerung, steht die Telefonzelle am Rande einer aus Holz gezimmerten Brücke, deren Pfeiler von Ketten gehalten werden.
Freilich ist die Telefonzelle eigentlich keine Telefonzelle mehr, und auch für mein kleines Kranzgeld nicht mehr gedacht. Aber für ein artiges Stück Traumwandeln sollte die Telefonzelle mir dienen können.
Früh reduziert es sich auf Gegebenheiten. Das Kaufhaus. Das Naherholungsgebiet. Der Tempel. Eltern knien, Tanten und Onkel, also knien auch die neu Hineingeborenen. Stolz tragen Kinder Kleidung von Vorfahren auf, werden abgefüllt mit unverbindlichen Liedern, sind rasch gepflückt. Vom Fernsehen, der Nationalmannschaft, dem Krieg. Leben, wie es Millionen passiert.
Dabei weiß jedes Spielzeug von Mikroskop und Fernrohr über die Ebene des Unfassbaren, welche Demut fordert, welche zur Vorsicht mahnt.
Statt sich aber jener Unfassbarkeit anzuvertrauen, werden solchen Sinnen Unsinne entgegen gestellt. Engelmacher etwa gehen auf eine Weise mit dem Nichts um, dass selbst Kinder keine Wauwaus mehr erkennen könnten, würde man die Kinder nicht mit Liebesentzug zum Unsinn erpressen. Aus freier Seele kniet kein Kind je vor dem Nichts. Hingegen Engelmacher, die ein Vermögen an Gebeten investiert haben, für ihre hausgemachten und dermaßen hochgebeteten Engel gar den Griff zum Schwert erwägen, obwohl es den Engelmachern Lebzeit für Lebzeit misslingt, in ihrem Nichts auch nur einen Happen Essen zu fassen.
Hätte ich so von damals bis heute gekniet, ich läge jetzt in einem Segen von einem Ehebett. Neben mir die Angetraute, die selbst schlafend noch an meinem gottgefälligen Sein festhält. Gebenedeit wäre ich mit Kindern, von denen der Erstgeborene bereits kleinere Tempeldienste verrichtet. Glaubensbrüder und -schwestern wüsste ich an meiner Seite, einen Anruf entfernt.
Unzerkleinert hingegen, hat man mich bei Tisch übrig bleiben lassen als zähes, schwer verdauliches Fleisch. Ein Hagestolz, wie man ihn irgendwann aus seiner Bleibe schafft.
Stehend kniete ich Kind, kniend stehe ich Entwachsener nun neben einer Telefonzelle, als wolle ich nach irgendwohin telefonieren, wüsste aber nichts zu wählen. Wenn ich mich weiter im Mittel halten kann, dann allein im Traumwandeln. Zeit also, mich ein wenig heimzuführen aus Schnee und Eis.
Minuten dauert es, bis ich Mutter durch das neonbelichtete Schneegestöbere erkenne. Winken sehe ich Mutter, winken. Vater folgte mit angemessenem Lächeln. Fahl die beiden, abgeliebt. Ein weiteres Mal wird kein noch so angestrengtes Traumwandeln mir meine Eltern mehr freigeben. Freudig will ich den Tisch empfangen, den das Schicksal mir zum letzten Male gedeckt hat.
Mutter trägt Pelzstola über grauem Mantel, Vater hält ein Gesangsbuch von der Art, wie es in Kirchen ausliegt.
Mir fällt auf, dass wir zu Lebzeiten nie eine Anrede gefunden haben, die des an Jahren reicher gewordenen Miteinanders würdig gewesen wäre. Beide blieben sie für mich die Mutter und der Vater, wie man sie in Kinderzimmern empfängt. Als wären es Gesangsbücher, welche allein auf Kirchenbänken wirklich sind. Nur dass Mutter und Vater sich eben die wenigste Zeit mit mir in Kinderzimmern und auf Kirchenbänken wiederfanden. Man speiste an gesetzlichen Feier- und sittlichen Trauertagen miteinander, als klänge gleich das Glöckchen zur Bescherung. Und nun an diesem vom Schnee versiegelten Ort, der weder dem Gesetz noch der Sitte dient. Selbst im Traumwandel zweifle ich, wem hier noch das Glöckchen klingen mag?
Tatsächlich aber ist es im Nahen meiner Eltern mit einem Male, als wären Mutter und Vater mit mir aus, dem Heiligen Abend seine Mitternachtsmesse lesen zu lassen.
"Warum läufst Du so weit weg?" begrüßt mich Mutter.
"In den Pflegeheimen haben sie Kummer genug", antworte ich mit einem Atem, der nach Pfefferminz riecht und nach Apfelsaft. "Da können sie sich nicht obendrein eine Sittenpolizei leisten, mir meinen Rahmen anzumessen."
Mutters Augen schauen leis vor Traurigkeit. Hinter ihr, gegenüber der verschneiten Fülle des Parks, ragen eisig Heime, Stifte, Residenzen aus dem Dunkel - ein Winter, welcher gewiss nicht mehr endet.
"Ich habe aus Zeitungen geschnitten, was man über Dich und die Schlachterei schrieb. Es klingt so, als hättest Du Verständnis für der Menschen Hunger."
Mutter fällt es erkennbar schwer, den Witterungsverhältnissen sachdienlich zu begegnen. Nicht mit Handschuhen hat sie für ihr Wohlbefinden gesorgt, sondern mit Feenschmuck. Mehrere zarte Elfenringe schmücken ihre Hände. Hände, die tapfer der Kälte standhalten.
Wie zur Entschuldigung, hält Vater mir sein Gesangsbuch hin: "Auf Station stimmt man eher ungern ein Lied an. Ich habe früher gerne gesungen, das weißt Du!"
Augenblicke stehe ich über den aufgeblätterten Noten, jenen Überwindern jahrhundertelangen Leidens.
"Und wir wollen im Park einen Platz zum Singen finden?"
Vater schaut, als wäre mit meiner Frage etwas Ungutes über das Wiedersehen gekommen. Man habe keine Zeit zu verlieren, klappt er sein Gesangsbuch zu.
Mutter und Vater eilen voran. Immer wieder zupft Mutter an der Pelzstola, welche ihren Hals schützt. Vorfahren zupfen da, die einst Hut trugen. Und zwar mit jenem Benimm, der es für vornehm hielt, seinen Kopfschmuck beim Essen aufzubehalten.
Als Kind wäre ich närrisch gewesen nach dem Park, versucht Mutter über die Schulter hinweg Stimmung zu machen. Ein Dach über dem Kopf habe dann geklungen wie ein Sack Kartoffeln, den es abzuwerfen gelte.
"Bei den Bänken sind zwei Laternen eingeworfen!" mahnt Vater uns wissentlich Unwissende. Weil es leichter ist, nicht zu wissen, wieder und wieder Wissen einzufordern.
"Ich bin so fürchterlich erschrocken", entschuldigt Mutter sich nun. "Mein Fenster ging zum Park hinaus, Du erinnerst Dich?"
Ich nicke.
"Und wenn ich nachts aufwachte, Schutz im Himmel zu suchen, war das Zimmerchen wie ein Sarg."
Nachts lungerten im Park manchmal Halbstarke zwischen den Bäumen, die ihre Hunde aufeinander losließen. Meine Mutter hat Tiere immer sehr geliebt, muss man wissen.
Ohne eine sittliche Berührung meinerseits abzuwarten, verlassen Mutter und Vater den Weg, stapfen durch knöcheltiefen Schnee über eine Wiese.
"Kommst Du?"
Ich folgte Mutter und Vater in Richtung eines Gehölzes.
Aus Baumstümpfen geschlagene Klettergeräte erkenne ich dort, zu Gerüsten vernagelte Bretter, Schaukeln, die zwischen Bäumen angebracht sind. Ein Spielplatz.
Mutter bleibt stehen neben einem Reifen, der an ein Stahlseil gehängt ist, das sich empor schwingt bis zu einem in den Baum gezimmerten Ausguck.
"Du magst es doch, wenn Schaukeln nachts im Wind klirren!" schaut Mutter mich an.
Eine eng aussehende Jeans ist das Erste, was mir auffällt.
"Auf Männer zugeschnitten", sagt Vater.
Achtlos liegt die Jeans unter einer der Schaukeln. Etwas weiter ein Rucksack, der wirkt, als wäre er aus seiner Weltenbummelei in die Dunkelheit geschleudert worden.
Mutter und Vater halten sich nun hinter mir. Mit gefalteten Händen bleiben sie zurück. Etwas zwischen den Bäumen scheint ihr Herz schlagen zu lassen.
"Geh nur", flüstert Mutter. "Sieh es Dir ein letztes Mal an."
Ohne abzusehen von meinem Bild einer Mutter und eines Vaters, biege ich rutendichtes Geäst zur Seite, wie wenn ich mich mit beherztem Sprung ins Buschwerk schlagen wollte. Erst als die Sicht sich frei anfühlt, vollziehen meine Augen den elterlichen Blickwinkel.
"Am Ende träumte viel und schlecht", gibt Mutter aus dem Off zu bedenken. "Einen Alp überschlafen, ist ein Kampf durch schwarzes Wasser."
Weder Mutter noch Vater können sich mehr abwenden von dem, was dort zwischen den Bäumen verborgen ist. In ihren Gesichtern die Demütigung des Todes.
"Hätte ich vielleicht jemanden vom Pflegepersonal in Kenntnis setzen sollen?"
Einen Abgrund des Ausgeliefert seins, den Mutters Geist noch mit tausend Hättes überwinden will.
"Es gibt kein Gesetz, dass wir alles immer gleich der Nachtschwester erzählen müssen."
"Mit den Jahren schläft man nicht mehr gut durch, das weißt Du wohl mittlerweile." Ja, das weiß ich wohl mittlerweile. "Weiter liegen bleiben ist dann sinnlos, traurig auch."
"Du hast auf die Uhr geschaut, Mutter, wo ich hier mit Euch bin, ob wir schlafen oder wachen?"
"Drei, vier Minuten blätterte ich in Vaters Gesangsbuch, um eine Zeit zu haben. Um halb verließ ich meine gezimmerte Ruhestätte."
"Du bist Vater auf dem Weg begegnet?"
"In Sichtweite der Telefonzelle. Schlaksig wie als junger Mann, kaum den Mantel übergezogen. Quer über die Straße kam Vater gelaufen. Ich glaube nicht, dass er mich eher als nötig bemerkte."
Und dann, als habe ich Mutter unser ganzes Wiedersehen über eine Frage vorenthalten: "Angst empfand ich selbst im zutiefsten Schrecken keine. Solch Herztod ist vom erreichten Milieu des Pflegenotstandes her wahrlich keine üble Karriere."
"Mutter, Vater, Ihr wartet noch ein Weilchen hier?"
"Nur zu!" Fast herausfordernd weist Mutter mir den schmalen Hohlweg: "Dort entlang wirst Du finden, was Deine Mutter und Dein Vater fanden."
Dem Hohlweg folge ich bis auf eine Lichtung. Hier also hatten Mutter und Vater das Gesangsbuch aufschlagen. Flirrend stiebt der Schnee über das blau schimmernde Erdreich. Was auch immer sich an diesem Ort zugetragen haben mochte, man hatte einander in die Augen sehen können.
Als ich mich endlich dem am Boden liegenden zuneige, fühle ich weder Wind noch Kälte. "Deine Pelzstola, Mama", flüstere ich. "Dein Gesangsbuch, Vater."
Mondschein fächert sich über der mit Moos bewachsenen Erhebung, auf der beides abgelegt und unentdeckt geblieben war. Umwachsen von Baumwurzeln, die durch den Boden gewunden sind wie abgestorbene Schlangen.
Meiner Handschuhe entledige ich mich, dann kniee ich auf dem erstarrten Flecken Land, Pelzstola und Gesangsbuch zu streicheln: Tot.
Weiß zerfließt der Mondschein auf den Lettern des Gesangsbuchs. Über dunkle Tannen hinweg blicken die Noten, hinein in einen Himmel ohne Sterne. Pelz klebt entlang der Stola, kalkig aller Anschein und nass vom Schnee. Das vom Tode geformte Antlitz der Stola drückt Erstaunen aus. Als wäre alles zu schnell gegangen, zu schnell selbst für den Schmerz.
"Ruby Glow", flüstere ich. Bis in den Januar hinein blüht die Hexenhasel, deren Blätter glänzen wie Rubine. Den Indianern dient die Witch Hasel zur Wundheilung.
Einige Blätter Hexenhasel nun liegen verteilt über Stola und Gesangsbuch. Ein Zeichen für was auch immer. Unfähig, weiter traumzuwandeln, lasse ich mich mit Pelzstola und Gesangsbuch auf einen Baumstumpf sinken. Und da kauere ich noch, als ich längst wieder im Taxi sitze.

Das Taxi fährt durch lichternde Stätten althergebrachter Zweck- und Schmuckbauten. Arkaden sehe ich, Triumphbögen, kaserniertes Abwohnen, vor allem aber Reklame. Auszuverkaufende Ware, die sich ihre Menschen produziert. Ein Lidstrich bis an die Flanken, hinab zu den Fesseln. Leben, wie es Kleidungsgrößen angepasst ist, die man eher als "Kleinen" normieren sollte.
Kleidungskleinen, welche der Menschen Anteilnahme betreffen, jene Adjuvanzien des Mitgefühls. Selten kommen Menschen umhin, solch Kleidungskleinen ihre Freundschaft anzudienen. Jener Fackelzug knutschender Kleidungskleinen durch die Stadt, deren abgebranntem Regelfall mit Hingabe nachgetrauert wird.
Meine Sterbegeldversicherung deckt den überschaubaren Schaden, welcher durch Inanspruchnahme von Entsorgungsdienstleistern entsteht, die auf Kleidungskleinen spezialisiert sind, denen man eher "Größe" hinterher schimpft: Ein unmodisches, abnormes XXLarges Sein, welches im Sperrmüll noch überzeugt werden will.
Sich Zutritt verschaffenden Amtspersonen habe ich den Bestatter notiert. Dazu aufreizende Prosa, ob die Herrschaften jenseits ihrer Dienstwege meiner Urne vielleicht Geleit geben möchten? Seebestattungen seien einen Samstagvormittag wert, werbe ich. Zumal die Meeresfrische bei mir ergänzt werde durch das Abspielen gängigster Balladen. Obendrein habe ich dem Bestatter Anweisung gegeben, Beileid jeglicher Art abzugelten mit einem kräftigenden Leichenschmaus im ersten Hotel am Platze. Vorzüglicher lässt sich meine Himmelfahrt kaum bewerben.
Sinnen die Herrschaften vom Amt dann auf der Rückfahrt gar darüber nach, was für ein Mensch ich Verwaltungsakt gewesen bin? kann ich des Todes Sorge tragen für die geringstmögliche Inanspruchnahme meines Fleisches wohl als bezahlt verbuchen.

Hätte ich die Stadt je anders genutzt als zum Broterwerb, wäre mir im Taxi vielleicht zum Schreien. Besonders Shoppingmalls machen mich aggressiv, wie den Gottessohn der Folklore hier einst die Stände der Händler in seines Vaters Tempel.
Allerdings habe ich auch kein Volk zu verwalten, bin nicht der Crowdmanager, Millionen abzufüttern und sicher auf den Friedhof zu geleiten.
Realistisch gesehen, bleibt da für jeden nur ein Schlag aus der Gulaschkanone: Sex. Drugs. Rock'n'Roll.
Für die weitaus meisten gibt es da wenig zu meckern. Immerhin dünstet so eine Crowd ja Mengen an Wärme aus. Wer sich allerdings für eisige Höhen begeistert, für Todeszonen, der sollte das, was ihm zum Atmen bleibt, nicht fürs Schreien vergeuden.
Der Taxifahrer schweigt, als wir vor dem Klischee einer Absteige zum Stehen kommen. Vielleicht bereitet er sich auf Zahlungsschwierigkeiten vor, vielleicht auch nicht. Mit den vier Fünfzigern, aufgefächert in Taxifahrers Gesicht gehalten, entscheide ich mich für die Vorzüge unserer Konsumgesellschaft, stundenlanges Miteinander durch zwei Worte beenden zu können: Stimmt so!

Dass selbst in abseitigsten Unterkünften noch Fernseher bereitstehen! Elend produziert Gaffer. Gaffer produzieren Gaffer. Gaffer produzieren Elend.
Es ist eine Tragik des Fernsehwesens, Elend mit ergafften Vorderteilen zurück zu lassen, wo man die Schöpfung für Hinterteile hätte belobigen sollen.
Wie etwa jene Antlitze gerühmter Musen, obendrein noch biographisch umrahmt? Als lade ein Dichterfürst jede Hackfresse in sein Gemach, wenn deren Biographie nur genügend Pfiff hat. Würde man sich dem Führenden eines Menschen nähern, Fernsehen wäre wahrlich das Sehen bisher unerkannter Fernen, kein angepapptes Gaffen.
Brummifahrer steigen mit mir ab. Mehrbettzimmer. Schweiß. Vorkasse. Ich habe das Einzelzimmer am Ende des Ganges. Leichtes Gepäck. Preiswerte Himmelfahrt. Fortwährende Phantasien, wie es wohl ist, aufgefunden zu sein? Mein Notizbuch, in dem alles übertragen steht, an was ich jemals Gefallen fand, führe ich seit Jahren bei mir. Damit Freiheit auch Spontanität gewinnt.
Klein und knapp gehalten das Notizbuch. Hausstandsauflösern sollte man nicht dumm kommen. Arbeitshandschuhe male ich mir aus, Overalls. Ob Hausstandsauflöser handelsübliche Müllsäcke verwenden? Dann könnte jeder seinen Kram eigentlich gleich selbst entsorgen: Urlaubsfilme entwickeln, durchschauen, ab in die Tonne! Wäre mal eine Erfahrung.

Kleiderbügel aus Draht sind ehrliche Zeitgenossen. Auch mit der Funzel an der Decke meines Zimmers schloss ich gleich Freundschaft. Über Absteigen habe ich früher in Romanen gelesen. Nun bringe ich Stunden damit durch, mein Zimmer von allen Seiten zu betrachten. Zimmer sind so viel länger, als die Menschen darin. Erfahren will ich jenen Weltenraum mit der Zimmernummer 16, in den Reisende aller Epochen etwas von ihrem Gepäck hinein trugen. Ebenbilder eines Gottes vielleicht oder Pläne vom Glück.
Ich nun, Jahre, Jahrzehnte später, liege nachts auf dem Bett und füge als Reisender den Reisenden mein Stück Lebensweg hinzu. Unmöglich wohl, auf solch reinkarnierenden Wegen verloren zu gehen.
Während meines Dienstes an der Waffe etwa, genoss ich Kritzeleien auf Spinden oder Betten: "Ich war hier am..." Wehrpflichtige, wie sie Tage herunter zählten, und sich dabei eifrig im Vorausahnen dessen übten, was man zu ihrer Zeit unter Freiheit verstand.
Das Jetzt ist den Platzhaltern ihre Freiheit. Kein Trotzkopf klammert sich inniger an seinen Fetisch, als ein Platzhalter an das Jetzt. Platzhalter sind begeisterte Durchatmer und leidenschaftliche Nipper. Ihre Bleiben sind dekoriert, wie nirgends sonst auf der Welt. Augenblicke gelten den Platzhaltern als Trauben des Lebens, die erlesen und breitgetreten sein wollen. Vom Wesen her sind Platzhalter zutiefst pünktlich, immer auf den besten Rängen, stets angemessen kostümiert. Wer einen Platzhalter kennt, braucht keine Zeitansage mehr. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Frei bin ich ja nun gewesen. Erspart habe ich mir jenen kleinsten Nenner, welcher im Gemeinsinn zur Größe erhoben ist. Investitionen in die Vergänglichkeit des Gemeinen sind meine Sache nie gewesen. Kein Freak bin ich, der sich im Feuchtbiotop der Rotten und der Rudel wohl fühlt. Entsprechend hoch nun meine Zeche.
Niemand sollte sich täuschen lassen, wenn Rudel ausgelassen etwa beim Kartenspiel sitzen. Rudel sind auf der Jagd, immer auf der Jagd. Für Rudel ist das Leben eine Frage der Beute. Und niemandem ist gewiss wie den Rudelern, dass einsame Jäger des Todes sind. Wer den Rudelern also genehm sein will, der mag sie tüchtig bewirten. Keine Suppe, kein Gemüse, Fleisch!
Gewiss, bei vielen Schlachtfesten stand ich dabei mit meinem Apfelsaft, obwohl bereits das Feuer des Schwenkgrills mich beunruhigte. Ich habe Rudeler kauen sehen, nagen, reißen um ihrer Gaudi willen. Wobei vor allem junge und jüngste Gebisse Eindruck hinterließen, wie sie bereits konnten, ja, mehr Biss zeigten, als manch Altvorderer.
Im Angesicht solchen Speichelflusses, nahm ich mich zurück bis an den Fleischerhaken, zu ermessen und zu gewichten.
Der Ledereinband meines Notizbuches fühlt sich an wie der Friede auf Erden. Hunderte eng beschriebene Seiten Maße und Gewichte. Rechenschaftsbericht dessen, was viele jauchzen lässt vor Glück: Ein Mensch ist geboren!
Hier sitzt er nun, dieser Mensch. Als möblierter Herr, inmitten unbeachteter Zahlenkolonnen.
Sollen sie sich nur auf den Boulevard trauen, all jene bejauchzten Niederkünfte, Passanten Geburtstagsfotos anzudienen. Werden sehen, was passiert.
Von Sozialkapitalisten scheidet mich mein Wille zur Wahrheit. Krepieren könnt ich, wenn Leute aufmerksam tun, weil man ihnen gegenüber Aufmerksamkeit bewies. Jener Kuhhandel des einander Freunde schimpfens.
Bin ich aber Hasenherz, mir deswegen ein Rundum-Sorglos-Paket zu schnüren. Hier etwas Kino, da etwas Folklore?
Dieser Galanteriewarenhandel des Glaubens, wo man nur ins Körbchen lässt, was einen anturnt. Und die halbe Welt für wüstgläubig halten! Weder Studienrat noch Kräuterweiblein setzten mich je über heilige Waschungen an zig Ufern in Kenntnis. Eine Verständigkeit falschen Ufers, die gerade bis zum Gartenzaun hinreicht.
Oder ists am Ende bloß der Wein? Seit je als Götterblut empfunden, scheint der Wein dem Gartenzaune Flügel zu machen.
Nie habe ich die Nähe des Weines gesucht. Ich weiß nicht, wie süß Wein schmeckt und wie herb. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, von Herzen seinen Gartenzaun zu verehren. Vielleicht sollte ich mein Notizbuch lassen, Maß und Gewicht den Kaufleuten preisgeben. Vielleicht sollte ich lieber Wein erwerben?
Wein verbindet. Männer mit Frauen. Väter mit Söhnen. Väter mit Vätern. Das Diesseits dem Jenseits. Wein muss eine wundervoller Abgang Erfahrungen sein.
Wann ist es Zeit ist für den Wein? war stets mein Wagnis. Mit Wasser lässt sich leben, Wein hingegen ist Bekenntnis verschütteten Lebens. Für lau gibt es im Weine nichts. Dort am Ende wenigstens seinen Spargroschen retten zu wollen, ist Irrsinn. Dem Weine vertraut sich an, wer kein Leben mehr zu verlieren hat.

Wein ist das angemessene Gesöff zur Kultur des Abgelebten. Wer den Schlund sich wund versprochen hat, lässt ihn mit Wein wieder geschmeidig werden, neuem Publikum neue Liebesversprechen zu unterbreiten. Aus verbrannter Erde Weinberge werden lassen, Reben feuchten Glücks.

Mit Verbranntem hat es folgende Bewandtnis: Asche dringt scharf in die feinen Sinne, Gestank frisst sich durch alles Leben, Rauch vergiftet jenes letzte bisschen Atem. In solchen Katastrophen feiern die Aschkasper Auferstehung. Aschkasper gehen voran, Aschkasper haken unter, Aschkasper stimmen ein Lied an. Was ohnmächtig zur Erde fallen will, halten die Aschkasper aufrecht. Was still sich hineinsteigern möchte, befördern die Aschkasper auf den Rummel. Was verwehen mag, harken die Aschkasper säuberlich in einen Trauerrahmen. Aschkasper johlen mit Dreschflegeln auf Verbranntes ein, als wäre es Kaspers Krokodil. Aschkasper zerren das Leben fort von der Asche, und sehen doch selbst nur Asche: Asche ist ihnen allein Asche, nie, niemals Auferstehung. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Ich stelle mich ans Waschbecken am Ende des Zimmers. Handlungsreisende bilde ich mir ein, Berufsspieler, wie sie im Morgengrauen Katzenwäsche verrichten. Ausscheidungen meines Traumwandels, die zu Kinderzeiten verblüfften und durchaus als Zeugnisse von Begabung angesehen waren. Mit einem Male aber muss ich erneut Mutters und Vaters Seebestattung gedenken. Beide im "engsten Familienkreise". Die Pelzstola. Das Gesangsbuch. Ja, es ist Zeit für den Wein.

An der Rezeption hat niemand aufgemerkt. Jenes nächtliche Kommen und Gehen der Reisenden, ihr Absteigen, ihr Fortbleiben, wer soll sich ernstlich daran stören? Man sperrt auf, wenn Obrigkeit danach verlangt, achtet amtliche Siegel, richtet her: rechtschaffener Mensch zu sein, bedarf es wenig.
"Ich suche einen Ort, wo man Wein trinken kann", gebe ich dem Taxifahrer Weisung.
"Jüngeres Publikum?"
Ein Routinier. Besser hätte ich mir meinen Fährmann ans Ufer des Weins kaum vorstellen können.
"Das Little Nietzsche wird Ihnen gefallen. Studenten. Auswärtige. Gelegenheitsnutten."
Ich gebe dem Taxifahrer fünfzig Euro Trinkgeld für die Überfahrt. Er wirkt kein bisschen verwundert. Viele alleinreisende Herren. Und die Geschichten gleichen sich.

Das Little Nietzsche ist eine jener Gaststätten, die sich selbst als "Club" verehren. Vielleicht, weil Wein umso mehr berauscht, je größer jene Welt draußen ist, die beim Wasser bleibt.
Auf dem obersten Deck eines umgebauten Parkhauses gelegen, erwarte ich vom Little Nietzsche die "harte Tür". Aber nein, man kann den Club so unkompliziert betreten wie eine Irrenanstalt des 19. Jahrhunderts.
Angenehm auch das Personal an der Garderobe, das wirkt, als habe man ihm die Zungen heraus getrennt. Wo man sein letztes bisschen Boulevard abgibt, wünscht man keine Fragen, warum man an Orten wie diesem endet?
Selten mangelt es einem Menschenleben an Taten, fast immer aber an Gründen. Ein Kopf, welcher sich zwei Händen gegenüber sieht. Der Greiffreudigkeit des Menschen wird jener Zauber nachgeredet, hinter dem aller Verstand ausgenüchtert zurück bleiben muss. Hände, wie sie sich königlichem Purpur entgegen recken. Jener seligen Hörigkeit, wo einer denkt und tausende handeln, wo einer lebt und tausende sterben. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Ein Tresen aus gebürstetem Stahl trennt mich noch vom Wein. Atemlos fahnde ich nach voll korrekten Gesten, nach Coolness fahnde ich. Aber nein, als die Reihe an mir ist, beuge ich mich zu der ausgesprochen coolen Herbergsmutter vor wie jemand Schwachsichtiges, dem seine Brille abhanden gekommen ist: "Fünfzig bin ich, keine Freundin habe ich je gehabt, keinen Tropfen Wein je getrunken, obwohl ich seit dreißig Jahren von Mutter weg bin. Abgenabelt, verstehen Sie? Schenken Sie mir bitte ein, den reinsten Wein, den Sie haben."
Wäre natürlich schön, wenn das nun nicht vorüber gegangen wäre wie die seltsamen Laute verendender Tiere. Tatsächlich aber hält ringsum keine Brustwarze inne, mir leis: Hallo! zu sagen. Und die Herbergsmutter siezt mich achtmal, ehe ein trüber roter Tropfen vor mir steht. Leben konnte ich schon nicht, sterben kann ich noch viel weniger.
Mein Weinglas als archimedischer Punkt am Speckgürtel fetten Vergnügens. Seit jeher kommt es mir schlecht, wenn Fleischfresser sich herzen. Im Little Nietzsche nun erlebt man ein volles Maß jenen Getues, das Reißzähne frech zum Lachen missbraucht. Reigen sind es, Stammestänze. Die Philosophen an den Wänden wirken wie Lustknaben gegen die Offensichtlichkeit, dass man das stillgelegte Parkhaus auch in seinem Urzustand hätte anbieten können, so lange nur genügend Buddys sich einfinden, genügend Chicks, genügend Checker. Philosophen gelten hier wenig mehr als eine Schale Erdnüsse.
Ich nippe. Schwergängiger als Wasser, anspruchsvoller im Geschmack. Mit Durst sollte man dem Wein nicht kommen. Wein ist die Perversion des Ochsen, der irgendwann nicht mehr ziehen will, sondern genießen. Da kommt es gelegen, dass man im Little Nietzsche zum Wein Muffins reicht. Ich erwerbe zweimal Blaubeere, und komme mir dabei mehr denn je vor wie ein Ochse.
Zuzulangen ist ein gemeiner Reflex auf den Hunger. Verwegene Geschmäcker fingern gar aus dem Aas, was sie als Liebe empfinden, als Liebe zum Leben. Was kundige Hände einst zu opfern verstanden, wird nun unter Applaus in den Schlund geschoben. Dabei ruhen die Finger mit eingeübter Poesie auf den Messern und auf den Forken. Munter puhlen sie in dem lang erwachsenen, dem reif gewordenen, dem zu Kraft gekommenen Reichtum der Schöpfung. Puhlen mit Händen, welche ihr feistes Äderwerk herzeigen, Hände, die mal unter die Festtafel sinken, mal zum Gebet gefaltet sind, mal sich gebärden - und die dann, in der Todeszelle, mit einem Male völlig still sind: Nach keinem Happen mehr greifen, keinen Finger mehr heben mögen. Beinahe ist es, als wären jene einst so blaublütigen Hände nie gewesen, ja, als stünde die Todeszelle regelmäßig am Beginn eines unbegreiflichen Daseins, das, wenn auch knapp bemessen, am Ende viel schwerer wiegt, als all die reichlich gehaltenen Henkersmahlzeiten banalen Menschseins. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Während ich Blaubeere mampfe, inspiziere ich parfümierte Nacken, gegelte Zotteln, balsamierte Kinnpartien. Auf welche Weise diese Welt des Nickens und Schöntuns und gut stellens wohl im Vorgange des Absamens still stehen mag? Unter röhrenden Genussmenschen liegen, deren Augen, voluminös angeschwollen, die Heimat ihrer baugesparten Höhlen ins Burleske sinken lassen. Ja, das wäre dem Genussmenschen ein schöner Fortgang seiner nächtlichen Ergüssnisse.
Ich frage bei der Herbergsmutter an, ob es im Little Nietzsche Darkrooms gibt. Nein? Dann bitte noch zweimal Blaubeere.
Zur Komik von Typen wie mir gehört es, seinen Sinnen Sinn abzuverlangen: Also tue ich meinen Ohren im Little Nietzsche Gewalt an mit, nun ja, Konversation. Gierig belausche ich Checker, welche auf den Barhockern neben mir posieren, Weinkönigin um Weinkönigin horche ich ab, It-Girl um It-Girl. Epauletten erkenne ich, Hairflips ohne Zahl. Und natürlich höre ich auch etwas. Eingelerntes, sich weltoffen gebendes. Aber keine Rede je verlässt den Rahmen gutbürgerlicher Quizshows. Über Chinchillas geht es her, über Flatrates, über Frittensaucen, über Nahost, über gutes Heilfleisch. Sozialarbeit, die keine Briefkästen braucht, nur Mülleimer.

Vor allem, was nach draußen führt, sind im Little Nietzsche schwere schwarze Vorhänge. Fenster gibt es keine. Trotzdem schleicht sich der Morgen wie eine Drohung zwischen uns Verbliebene. Die Weinköniginnen sind längst heimgeführt, Auswärtige um eine Erfahrung reicher in den Hotels. Selbst das milde Licht der Raucherlounge, dem Kaminfeuer nachempfunden, ist nicht mehr länger mit jenen Tröpfen, die sich den Abend über als Geschäftsleute untermischten. Überall herrscht entsetzlicher Männerüberschuss. Blaustrümpfe, daheim auf zwei Zimmern mit pflegebedürftiger Mutter, dürfen sich nun begehrt fühlen.
Mag sein, dass aus solchem Morgengrauen die Vorstellung eines Totentanzes ins Umgangssprachliche gelangte. Lust bekomme ich auf jene Agonie, welche Ratgeber für Alleinstehende großzügig als "Discofox" umschreiben. Den Wein lasse ich stehen. Fiebrig nun sind meine Wangen allein von der Vorstellung, mich als Sterbender mit Sterbenden zu vereinen im Discofox. Höllen zu Hüpfburgen.
In Fuchsfiguren vom Leben und vom Sterben zum Weltenall wachsen. Trance als höchste Form der Erlösung.
„Herr Doktor, ich bereite mich auf den Tod vor!“ hätte ich meinem letzten Zahnarzt gerne anvertraut, als er lange über kosmetische Verschönerungen meines Zahnbildes nachdachte.
Seit Jahrzehnten nun zwinge ich mir eine Realität auf, von deren Erkenntnis kein Spiegel peinlich berührt sein braucht.
Zuvor bewohnte ich lange die gepflegte Realität des Handelshauses und des Familienkreises. Jene Realität, in der ich aufgewachsen bin. Wo meine Ahnen Handelshäusern vorstanden, den Handelshäusern überall auf der Welt neue Märkte zu eröffnen. Stolz betrat ich diese Handelshäuser als meiner Ahnen Kind. Und wenn es Zeit war, einander „Gute Nacht“ zu wünschen, tapste ich im Schlafanzug ins Wohnzimmer, wo Freitags oft der Familienkreis unseres Gotteshauses Gast war, sich beim Wein über Minister zu beratschlagen oder über Ölkrisen. Geborgen fühlte ich mich, unsterblich.
Ob jene Realität des Handelshauses und des Familienkreises auch nur eine Altenpflegerin berührt, wenn sie mit solch Realisten kleine Abendtoilette macht?
Altenpflegerinnen, Passanten, Unbeteiligte sind mein Prüfsteine, ob jemand lebendig ist oder tot.
Viele sind sittlich ins Menschengeschlecht gefügt wie in ein Uhrwerk, wo nett auch die Räder der Nachbarschaft sich drehen, wenn erstmal eines anfängt mit dem nett sich drehen.
Was man so "Liebe" nennt, ist für mich eher ein mechanischer Prozess, den ich als wenig fordernd empfinde. Wie man jenseits des Menschengeschlechtes keine Worte dafür kennt, warum etwa Kaninchen in ihren Bauten Junge bekommen. Es passiert einfach.
Leben, das passiert, ist in seiner Klarheit der Tod, der passiert.
Sich zu finden, sich zu verlieren, im Totentanze ist es eine Lebensfreude. Das Abklatschen wird zum Herzschlagfinale. Im Totentanz kreist, was man bei Tage von den Bürgersteigen fegt. Nägel, gefeilt, blutig lackiert, haben im Totentanz nichts gemein mit räuberischen Tieren. Und den Wein empfindet dort niemand als ein letztes Abendmahl. Alles greift sich, alles lässt sich. Der menschliche Tatsch. Absätze, die klingen wie Sargnägel. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Mir einen Aufriss suchen... In meinem Alter ist es keine Lust mehr, das Leben nach liebevoll Verpacktem zu filzen. Fort jener Kindskopf, dem es gewiss schien, auf irgendeine Weise beschert zu werden. Empfand ich früher jeden als scheinbar, ist alle Welt heute für mich eine Gelegenheit, mir die Knochen zu zertrümmern.
Seide etwa meide ich, als berge sie Brecheisen, mag Seide noch so vom Weine befleckt sich zeigen. Und von Schurwolle umwickelt ist mir der Griff der Zwillen aus Sitte und Tradition. Allein ins Bleiche gewaschene Baumwolle Bediensteter eröffnet mir Überlebenschancen. Keine Kittelschürze also, die von mir unbehelligt bleibt. Auch im Little Nietzsche.
"Feierabend?" flüchte ich mich hinab.
Das Toilettenfräulein lächelt wie jemand, der mit einem Lächeln, oder mit einem Sturmgewehr, nur gewinnen kann. Nein, sie müsse noch feucht aufwischen. Aber:
"Ende Stoßzeit in Gästebereich dürfen. Für Pause."
Einen Blechnapf Schwarzbrot hat sie vor sich, und einen Arztroman.
"Erfundene Doktoren begeistern wohl mehr als real existierende Trauerklöße", versuche ich mich im Knüpfen guter Unterhaltung.
"Vier Euro Stunde eigenes Schicksal interessant, Herr Trauerkloß."
"Und fünfzig Euro Stunde?"
Sich jemanden kaufen, es klingt bestimmender, als es ist. Umso mehr man sich schämen sollte, desto bewehrter die Worte.
Das Toilettenfräulein schiebt den Schein als Lesezeichen zwischen die Seiten des Arztromanes. Wie Geld im Automaten seine Bestimmung findet, springt das Toilettenfräulein sofort um auf jene Körpersprache bester Freundschaft.
"Nacht für Nacht Klo sauber machen von Trauerklößen. Nicht wollen denken Wirklichkeit. Trauerklöße nur auf Welt, sich erleichtern."
Im Bully eines Subunternehmers sehe ich das Toilettenfräulein kauern, wie er die Kolonne in der Frühe ablädt an Aborten mit dem Charme hunderter Ausnüchterungszellen.
Ich überreiche dem Toilettenfräulein meine Geldbörse. "Tanzen?"
Das Toilettenfräulein braucht Zeit. Misstrauen. Angst. Stolz. Was so hochkommt, wenn Fräuleins mit dem Geld älterer Herren in Berührung gelangen.
Dass ich vor meinem Besuch im Little Nietzsche ein Duschbad genommen habe, scheint am Ende ausschlaggebend. Mit spitzen Fingern entnimmt das Toilettenfräulein meiner Geldbörse einhundert Euro, entnimmt ihr zweihundert Euro.
"Als Kind nicht geträumt, werden gierig Frau aus Roman."
Mir fällt auf, um meine gequälte Gier mehr geweint zu haben, als um anderer Leute Ableben: Erst brachte ich lefzend das Wärmen wollen durch, das Mutter und Vater mir dampfend hinterließen im Kreislauf ihres Blutes, dann trat ich die Mahnungen meiner Ahnen nieder, am Ende wusste ich selbst in jene Gräber kein Grün mehr zu werfen, welche mich etwas angingen.
Stellen ich mir einen Horst vor, einen, wie ihn die Eulen herrichten, ausgeschmückt mit Blättern Literatur und mit papierner Wissenschaft, könnte ich gleich selbst als Eule diesen Horst bebrüten.
An der Vorstellung, fliegen zu können, träumt sich jedes Menschenkind wund. Allein, ich vermochte selbst in Bootcamps gegenseitigen Gut seins und auf Strömen besten Einvernehmens nicht auf meine Schmuckstücke Ewigen Lebens verzichten.
Ein verschwenderisches Bild Daseinsfreude war es mir, Insignien der Unsterblichkeit über mein Haupt zu zuzeln. Und wie ich in meinem Horst gurrte! Ich Krönung! Ich Traum vom Fliegen!
Alldieweil ich das Toilettenfräulein zur Tanzfläche geleite, summe ich jenes Lied, welches alle Gier kurz vorm Verenden aus Bettlers Munde anstimmt: „Oh liebe Nacht, oh weiser Wind, in Eurer Hand zu sein ganz tief, ist wie die Macht, ist wie das Licht, das mich ins Leben rief.“
Das Toilettenfräulein und ich, wir segeln nun mit der Gleichgültigkeit. Auf bis zur Vollständigkeit abwischbaren Flächen. Zwei Augenpaare, wie müde Höhlenwesen in den Knochen getrieben, sind von ferne unsere Zeugen. Am Rande eine Jukebox. Als Mahnung, nicht übrig zu bleiben, bis selbst die Musik kostet.
Lüge sowas. Von Beginn an Lüge. Mit Wasser taufte man mich, Wasser beschwor man mir als erste Liebe, die mich tragen werde, alle Ersoffenen flink aus dem Spielzimmer kehrend. Als wenn das Taufbecken keine Hure wäre wie etwa das Schifferklavier. Bei Kräften, trägt einen alles, lässt alles einen hochleben. Schwäche hingegen duldet selbst das Vieh nicht, das sich treu dem ergibt, der am launigsten es tritt. Morsch geworden, abfällig, muss jeder löhnen. Für die Musik, für die Liebe, jeder. Egal, wie viel "Du" ihm im Leben blühte, wie viel Jens, wie viel Sören, wie viel Thomas. Am Ende ist er Herr Soundso und hat gefälligst Pflegegeld zu berappen.
Warum nicht mit Puppen? fragen Philosophen aller Zeitalter ins Rund. Besser, durch solch stumme Genossen die Einsamkeit erkunden, als jener Wahn, um ein "Du" wissen zu wollen. Wäre auch alle Welt reich, wir würden in unserer Armseligkeit bleiben. Puppen sind das Maß der Liebe. Mehr Nähe ist nicht. Allein mehr Schmerz. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Und dennoch sorgt drohender Entzug von Liebe für mehr Linientreue, für mehr Sittlichkeit, als jede Waffengewalt. Also fördern all jene Musik gewordenen Lügereien, welche ein "Du" antäuschen, unsere Wehrkraft, sind daher mindestens staatstragend.
"Nachtclubs empfinde ich als aufgebrezelte Umerziehungslager!" raune ich dem Toilettenfräulein zu.
"Umziehen?" Ob sie ihren Kittel ablegen solle? begegnet mir das Toilettenfräulein dienstbeflissen.
Das Toilettenfräulein scheint zu begreifen, dass hier niemand Schabernack mit dem Gesinde sucht, sondern dass jemand todernst seinem Wehrdienst am Weib entkommen will. Mit einem Toilettenfräulein zu Sternen, welche allein vom Wind wissen und vom Traumwandel.
Ich gebe der Jukebox Silber. Für einen Oldie, den ich am ersten Abend meines Wehrdienstes hörte, dreißig Jahre her. Von Sunglasses handelt der Oldie, von Stränden und von Liebe sowieso. Angemessener Trauerrahmen, finde ich, um in einen Sonnenaufgang zu tanzen, der mir nicht und nichts mehr gilt - und dem Toilettenfräulein wohl auch nicht mehr.
Das Toilettenfräulein hellt auf, kaum dass erste Takte sonnenbebrillter Liebe durchs Little Nietzsche klingen. Als flammten mit einem Male hundert Kerzen im Rund der Erinnerungen des Toilettenfräuleins.
Das Toilettenfräulein nimmt mich bei der Hand: Komm!
Wir tanzen. Jeder für sich. Abgenagt von Träumen, mühen wir uns durch eine fahle Vergangenheit aus hundert herunter gebrannten Kerzen.
Auf dem Sterbebett, da gibt es einiges zu erinnern. All jene Körperöffnungen, die man genossen, während sich einem das Herz ergoss. Fortgeschenkt und abgeflammt. Hand angelegt, bis das Leben allein wenige Augenblicke noch arm war. Drüber schwadronieren, zärtlich, tönend, zischend, dass wirklich nichts mehr dabei heraus kommt - und dann selbst hinein kommen. Als Stilzchen geradewegs zurück ist in den Mutterleib. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
"Mehr Frieden jetzt?" emsig bemüht das Toilettenfräulein. Als wolle es kurz vor Ladenschluss das Preis-Leistungs-Verhältnis des Little Nietzsche, ja, des Weltenalls in tanzbares Licht rücken.
"Hauptsache bewegen", ich tippe mir gegen die Stirn: "Der Kopf passt sich den Bewegungen an."
Wenn es für mich ein Wunder gab auf Erden, ist es das der Gewöhnung, dass Leben sich allen möglichen Realitäten anpasst. Im Knast "schwul" gemacht zu werden, wäre vielleicht eine Erfahrung gewesen, oder sich vor Hunger über Leichen herzumachen.
"Kopf flexibel, jawohl. Werden nicht gleich alt." Das Toilettenfräulein tut, als hätte es einen langen Bart. "Jahr sauber machen wie fünf nur dreckig machen Leben."
Der letzte Refrain. Vorbei. Morgen wird ein anderer Hagestolz hier stehen, ein anderes Toilettenfräulein. Uns bleibt nur der Kehraus: "Feucht aufwischen jetzt."
Ich biete dem Toilettenfräulein nicht an, vorm Little Nietzsche zu warten, bis es aufgewischt hat. Mit dem Bully eines Subunternehmers wartet auf das Toilettenfräulein mehr, als zwei Menschen einander geben können. Wie Tiere merken wir noch einmal auf, das andere zu horchen, zu riechen, zu erspähen, bevor jedes sich tiefer in seinen Wald Schicksal vertieft.

Werktätige füllen bereits das Straßenbild, das vom Nachtleben hinterlassen wurde. Reste angesoffenen Glücks sind rasch fortgeschafft. In Container. In Eimer. In die Minnas der Obrigkeit.
Ob Reisender, ob Weinkönigin, was seinen Auftritt hatte im Budenzauber hunderter Amüsiermeilen, muss nun Seligkeit um Seligkeit als abgelebt verbuchen. Ein Kontierungsbuch, dessen Summe nie genügt.
Grausam, seinem Körper nicht von außen beim Verrecken zuschauen zu können, sondern gefangen zu sein in dessen lebenslangen Todeskampf.
Ich lasse mich vom Strom der Werktätigen treiben, hinein in Bahnen und Busse, bis letzte Rinnsale zwischen den Backsteinen der Stores versiegen.
Mit dem Blute hat es eine seltsame Bewandtnis. Schon sein schierer Fluss mag manch Väterchen zu Wallung verhelfen. Verzweigt das Blut sich aber, mischt und versippt es sich, so hält Väterchen es dampfend noch in die Höhe: Ein Mensch ist geboren! Jener stiere Blick, der nie weiter reicht, als Väterchens Füße tragen. Dem Blute vertraut sich an, wer dem Blute gegenüber blind ist. Blut krönt des Bullens Würde, weist dem Keiler sein Revier, vertritt eines Hengstes Sache. Welch Kultur aber fällt nieder vor kopulierenden Göttern? Mag Väterchen tanzen um seinen Haufen: Was zur Erde geworfen wie Stein, ist nicht gezeugt. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Während Werktätiges sich erschöpft in der Missionarsstellung, bin ich mit meiner Sehnsucht nach einer Mission stets zu zäh gewesen, einfach so versiegen zu können.
Unvollendet lungere ich inmitten von als wahrhaftig angesehenen Lebensläufen, die aus dem Gröbsten herausbringen, was ihnen zufällt. Jene Stubenreinheit, mit der man getrost sonnenklar werden kann an den Urlaubsstränden der Welt.
Liebe machen geht auch im Polizeistaat. Milchschaum löffeln, nett beisammen sitzen, Grillsaison eröffnen: alles möglich.
Morgens, halb zehn in Deutschland, wenn selbst die Kleinsten auf dem Spielplatz ihr Tagewerk verrichten, bekommt Freiheit vor lauter Freiheit Lust, in staatliche Obhut genommen zu sein: Geschlossene, durchregulierte Menschengärten, mit tüchtigem Eisen vor den Fenstern, von wo aus man bequem nach Freiheit brüllen kann.
Im Verhör erhört sein, sich öffnen, sich ergründet fühlen, jedes Wort protokolliert wissen. Alles wegen eines Tuns, das vielleicht Laune macht. Schwarzleben, jenseits von Geburt und Gott. Kicks, die kein Weinkeller zu berichten weiß.
Während Seelenfänger sich selten ins Seichte verirren, dümpeln Freundeskreiser im Nahebei. Ein Schwärmen und Krebsen ist des Freundeskreisers Sozialkapitalismus. Der Absacker, die Stampe, das Schifferklavier: Hauptsache, es gibt gut was auf die Ohren. Anschließend im Morgengrauen gemeinsam zu kotzen, wird vom Freundeskreiser eher als verbindend empfunden. Seite an Seite, knöcheltief, immer Grund vor Augen. Auf solch Standpunkte kehrt der Freundeskreiser entschieden zurück. Trifft man den Freundeskreiser ausnahmsweise wankend, ist das Leben ihm ausnahmsloser Schwindel. Jahrzehnte seines Sozialkapitalismus mag der Freundeskreiser an fahrendes Volk vergeuden, als wäre alles ein Handeln mit Luft. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Klug erscheinen mir Sympathisanten, welche es gerade so im Mittel halten. Sympathisanten sind jener prälatengrüner Schein auf Radaren, wo unser Weltenall durchwirkt ist von fanatischem Schwarz. Nicht Lustobjekt greiffreudiger Sitten, aber observiert, derweil Massen vor religiösem Schnitzwerk nach einem Hirten kreischen.
Ohne Hirten keine Heimat, ohne Herde kein Weg dorthin. Was mit Steinen hochgezogen, als Versuch eines Zuhauses, ist keine Hundehütte wert, treten nicht Rituale hinzu, Sitten und Tabus. Das Eigenheim schenkt allein dem Hirten Frieden, die Herde aber bedarf des Fremdheimes.
Dem erstbesten Tempel könnte man sich zu Füßen werfen, in zehn, zwanzig Jahren noch, man wäre sogleich eingeboren, getauft, beheimatet. Allein, es langt nicht, sein Fleisch zu Boden gehen zu lassen. Viele Aufrechte erkannte ich, deren Gemüter nirgendwo anders je waren, als im Staub eines Tempels. Hingegen ich mich wundknien könnte, ohne auch nur zu spüren, was man "Anschluss finden" nennt.
Das Milieu um den Hauptbahnhof leuchtet mir ein als letzte Möglichkeit, Fürsorge zu erfahren. Fürsorge, wie man sie Wildem angedeihen lässt, das irre ging in seiner Freiheit. Fürsorge, an deren Ende Zählvieh steht, Nutzvieh oder Schlachtvieh. Möglich, dass Fürsorge beginnt mit Ohrmarken, mit eingebrannten Nummern, dass man anderen erst geheuer wird, wenn man derart katalogisiert ist.
Schlecht stehen meine Chancen gewiss nicht, am Hauptbahnhof auf solche Weise einvernommen zu werden: Security. Kameras. Polizei, die mit bloßem Wink nach Papieren verlangt. Vielleicht sollte ich Zigarettenkippen auflesen. In der Hoffnung, dass Zigarettenkippen von der Security eingezogen werden als Eigentum des Hauptbahnhofes. Mich des Platzes verweisen - und mir von väterlicher Hand Stubenarrest erteilen lassen.
Unentschlossen lächle ich in jede Überwachungskamera, die ich erspähe. Mal winke ich auch hinauf. Aber ehr angedeutet, eher wie ein Kitz, das alle Viere entdeckt. Allgemein ist man wohl ziemlich scheu, was Kameras betrifft, die aufmerksamen Stahlhelmen gleichen.
Vielleicht merkt am anderen Ende dennoch jemand auf von einer Brotzeit, schaut hin, ruft herbei... Wahrscheinlich aber kaut er getrost seine Stulle Teewurst weiter: "Penner."
Mir Spielzeugpistolen verschaffen, auf das zweite Frühstück hinter den Stahlhelmen zielen, ich getraue es mich nicht. Auch zum Stinkefinger fehlt mir der Todesmut. Elender Streichelzoo in mir, wo alles Bitte! muht und Danke! mäht. Zu mehr, als Haltung anzunehmen, bin ich wohl nicht geboren. Ein Stillgestanden! das man im Rahmen der Waidgerechtigkeit zum Abschuss freigibt. Befehltes, welches gewiss niemand hegen will.
Naturgeil sein, ich stelle es mir wunderschön vor. Röhrend aus dem Unterholz brechen, statt Wichsvorlagen in Klarsichthüllen hüten. Allein jener Stolz, mit dem naturgeile Menschen sich am Mittagstisch Kartoffeln nehmen, lässt mich ins Elend sinken.
Ich bin! weiß der naturgeile Mensch, derweil ich bibbere unter meiner Nichtigkeit. Ich liebe! weiß der naturgeile Mensch, während ich mich hasse für jeden Happen Fleisch.
Naturgeile Menschen leben die Welt wie eine Scheibe, auf deren Mitte sie, nun ja, naturgeil sind, während an den Rändern alles fallen muss, weil die Welt eben eine Scheibe ist. Das Leben als Sänfte, welche naturgeile Menschen durch alle Spielarten der Lustbarkeit trägt.
Beziehungen, wenn sie gelingen wollen, überzeugen durch Geringfügigkeit. Etwa zwischen Herrn und Hund. Einer macht den Zwinger, der andere sorgt für Zauber. Pfötchen geben, zur rechten Zeit bellen, mehr ist im Dasein des Zwingers selten notwendig. Dem Zauber obliegt es, daraus ein Maulheldentum zweier Gefährten zu machen, die selbst im Sturme... ja, Zwingers Zauber ist beliebtes, ist erhabenes Gesellschaftsspiel. Wie sollte Nähe anders möglich sein, ohne Leine, ohne Maulkorb, ohne Napf? Aufmerksam sein ist wundervoll einfach, bindet man etwas um den Hals des zur Aufmerksamkeit Bestimmten, das Luft nach Belieben abwürgt oder herschenkt. Jenes knapp angebundene Sein, das Männchen machen lässt, verbindlichstes Vertrauen überhaupt erst ermöglicht.
Wer also Nähe spüren will, Nähe, Nähe, Nähe, der mag ausgeschmückte Obergeschosse meiden und stattdessen neugierig sein auf redlich ausgebauten Keller. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Dagegen ich Wicht, dem das Leben anhängt wie ein Mühlstein. Ziehe mich durch Bahnhöfe mit der Verlegenheit von Abfall, während dem Naturgeilen jedes Reinstecken ein Mausoleum ist.
Nichtigkeiten durch Lümmeltüten begehen, Karneval im Schoße feiern, das bietet der dem Lustwandel gewidmete Teil des Bahnhofes.
Mit jedem Stück Ladenzeile ist mir blümeranter. Stumpfsinn, wie er sich durch Eingeweide wühlt. Fortgänge in andere Leben werden mir so zur Legende auf dem Gebäudeplan.
Wie etwa jene ausgestreckte Hand, rot umrandet, hinter der ein warnender Mund gemalt ist? Angebracht vor zwei Galerien, welche die Höhe über den Gleisen markieren. Kein großer Vogel mehr notwendig, sich rasch im Hochspannenden zu finden, es Gleich- wie Wechselmütigen mit Strom zu besorgen.
Dankbar registriere ich, dass von all der abgespritzten Konsumfreude wenigstens die Spielhalle im Obergeschoss des Bahnhofes mich erregt. Honigfarben abgeklebte Schaufenster, mit schlüpfrigen Harlekinen darauf. Weithin sichtbar hält die Spielhalle Hof, noch dem letzten Flaschensammler seine paar Cent streitig zu machen.
Mir bedeutet die Spielhalle einen Erguss an Erinnerungen. Zurück ins Ferkelglück, als man mich für Groschen Brötchen holen hieß.
Vorbei an einer honigfarbenen Spielhalle führte mein Weg. Fehl am Platze erschien mir Kindskopf der Harlekin. Schwerlich konnte ich den Harlekin Spaß haben sehen mit jenen kittelgeschürzten Omchens nebenan, die mich an sonntäglichem Brot erwerben ließen, was ich von Mutters Zettel vortrug. Ich glaubte zu spüren, dass der Harlekin niemals gutgeheißen wurde in Angelegenheiten, die von Schrot und von Korn handelten.
Viel sonntägliches Brot wurde seither erworben, viel Kittelgeschürztes zu Grabe getragen, der Harlekin meiner Kindertage aber, der grinst immer noch. Als wäre ich eben erst mit ein paar Groschen im Herzen an ihm vorbei.
Neben Abfallbehältnissen, gegenüber der Spielhalle, beziehe ich Posten. Bevor ich vom Harlekin übertrumpft werde, will ich mich einige Herzschläge weit einstimmen, nunmehr jene Bewandtnis zu haben, wie all die Farbenfreude, für die in Kinderzimmern kein Raum mehr ist.
Besonders dem marmeladeroten Spielzeuglaster fühle ich mich anverwandt. Einst fand mein Kinderdasein kaum zur Ruhe, wenn der marmeladenrote Spielzeuglaster nicht an des Kinderdaseins Schlafstätte parkte, so nahe wie irgend möglich. Meine ersten Liebesnächte.
Wohl niemand unter uns, der während seiner Sonntage als Kind unbeeindruckt blieb von den Kulleraugen eines Plüschtieres. Völlig ohne Gehalt die Kulleraugen, waren uns Plüschtiere doch wichtiger als die Welt.
Nun behauptet natürlich jeder, er sei den Plüschtieren entwachsen, jenen Behältnissen kindlicher Sehnsucht. Wahrscheinlich ist es aber so, dass wir uns nur andere Verrichtungsgehilfen gesucht haben. Vom gemeinen Nutz- und Hausvieh könnte hier die Rede gehen, mit welcher Hingabe Hunde, Katzen, Ratten gepäppelt werden. Schauen wir darüberhinaus auf das Beuteschema eines Triebtäters - rote Haare, Füße von Geishas - können wir uns geschwind auch Menschen als den Plüsch unseres Daseins vorstellen. Wie wir keinen Schlaf mehr finden, wenn man unserem Bettchen ein besonders kulleräugiges Exemplar der Gattung Mensch entnimmt. Lustprinzipien, stärker als die Furcht vor dem Tode. Kein Plüsch, kein Leben.
Einer Dichterlaune entsinne ich mich neben den Abfallbehältnissen, dass der Mensch erst Mensch ist, wenn er spielt. Als könne man seinen Lebtag verbringen mit einem Frisbee am Strand.
Lässt man Menschenkindern die Wahl, entscheidet jedes sich für Orte, die ihm "Glück" verheißen und "Liebe".
Da aber jedes Menschenkind einzigartig ist, sind die Orte seines Glücks und seiner Liebe für andere Menschenkinder schwerlich erfahrbar. Und so wundert sich das Menschenkind, an den Orten seines Glücks und seiner Liebe unverstanden und einsam zurück zu bleiben.
Ich erkenne auf unserer Welt nur eine Ebene, wo alle Menschenkinder einander berühren. Die Ebene des Todes.
Nie habe ich jenen wundervollen Klang von Rattenfängern gehabt, Menschenkinder zum Glück zu verführen und zur Liebe. Selbst fast noch ein Kind, wusste ich bereits von Interviews mit Sterbenden zu berichten.
Vielleicht wäre ich verführt worden, hätten Mädchen auf dem Schulhof mit wundervollen Stimmen Begeisterung geheuchelt für mein Glück im Schachverein, für meine Liebe zu den Großmeistern dieses Geistessports. So aber wusste das Kind bereits vom Greis, der auf einem Plunder aus Glück und Liebe zurückbleibt, wertvoll höchstens für ebenso zurück gebliebene Greise aus dem Schachverein.
Hingegen ich auf meiner Ebene des Todes über allem Verblühen thronte. Vom Tode aus gesehen, war mir wenig der Beachtung wert. In meiner Hochhausbutze verspürte ich nie das Verlangen, mich nach Feierabend wie ein Hündchen "auszuführen". Im 6. Stock ruhte ich über die Dächern der Stadt und ließ den Sonnenuntergang meinen Lehrmeister sein.
Ein Wolkenkuckucksheim, eine Heimat im Sternenmeer, ist meine Strafe also nicht. Händchenhaltend mit der Letztendlichkeit, ohne beladen zu sein von Koffern voll Asche.
Aber, da will ich die Leserinnen und Leser nicht belügen, mir graut vor dem Übergange. In Jahrzehnten ist viel Fleisch an mein Herz gewachsen. Konnte ich all das viele Fleisch einst für kulleräugigen Plüsch entbehren, ist es nun zähe Panzerung, selbst gegen die ehrvollsten Gründe einer reinlichen Trennung vom Herzen.
Nun verhält es sich mit meinem Fleische aber wie mit allem Hausvieh, dem tausend Worte nicht halb so viel sind wie eine Hand, die das Stöckchen schwingt. Des Fleisches Wachsamkeit überwinden im Spiele. Als würde ich zum Genickschuss ansetzen bei jemanden, dem gerade beide Arme hochfliegen, ein Tor zu bejubeln.
Entschlossen begebe ich mich daher ins Herz des Harlekins, all das von mir, was schreien könnte vor Furcht, mit dem Honig des Nonsens zu ertränken.

Als ich direkt hinter der Fassade des Harlekins, in dessen Kassenhäuschen, ein kittelgeschürztes Omchen erblicke, bin ich peinlich berührt wie jemand nur sein kann, dem geschätzte zweiundvierzig Jahre etwas Verlogenes vor Augen stand. Als Kind voll Ehrfurcht sonntägliches Brot erworben zu haben von fromm tuenden Puffmüttern, die meine Brötchengroschen wohl ohne Umwege nach nebenan zum Harlekin trugen, es betrifft mich derart, dass die Puffmutter im Kassenhäuschen zusammen zuckt vor meiner Schamesröte.
Und dennoch fühle ich mich verloren, keinen Einkaufszettel meiner Mutter mehr bei mir zu haben. Mag Mutters Einkaufzettel auch zum Spotte des honigfarbenen Harlekins gewesen sein, es war wenigstens keine so einsame Schande wie jetzt.
Kehrt machen will ich, mich der Wahrheit der Puffmütter mit beiden Händen vor den Augen entziehen.
"Wollen Sie die letzte Spielhalle vor Ihrem Tod wirklich versäumen?" flüstert es in meinem Kopf. Eine im Grunde genommen gleichgültige Handreichung des Traumwandels, Pein zu verringern. Dennoch kein Labsal, mich Kind insoweit verloren zu haben, dass es per Sie ist mit meinem Hier und Heute.
Rasch bilde ich mir den Geschlechtsreifenden ein als Lichtbild längst vergangener Urlaube. Kurze Hosen, die sich am Winter nicht stören. Und ich bin gewiss in keiner Hochlage mehr, die Gefährten, welche mein Traumwandel mir zur Seite stellt, als "krank" abzutun. Eher tue ich gut daran, das mir verbliebene bisschen Einbildungskraft zusammen zu kratzen. Anderen ihre Schutzengel, mir meinen Geschlechtsreifenden. Ein total normaler Shake unseres Bewusstseins. Amen.
"Schön, dass Du jetzt bei mir bist", flüstere ich meinem Lichtbild vom Geschlechtsreifenden zu.
Die Puffmutter ist sichtlich bestürzt, als ich - giftrote Wangen, immer wieder beiseite flüsternd - mich ihrer von neuem annehme, nach einem späten Frühstück für zwei Personen zu verlangen.
Brötchen mit Sesam schlemmen wir, Brötchen mit Mohn, dazu Körbchen voll Portionen Nuss-Nougat Creme. Nebenbei füttern wir eine Reihe Daddelautomaten mit jenen Summen, die notwendig sind, uns in puffmütterlicher Ruhe frühstücken zu lassen.
"Kein Spielzimmer hier."
"Mutter und Vater mussten auch fortwährend Geld nachwerfen, sonst hätten wir uns finster mit Tannenzapfen begnügt, mit Kieselsteinen oder mit dem Quälen von Kleinvieh, statt uns bimmelnd zu drehen, und so Mutter wie Vater wohlzugefallen", stellt der Geschlechtsreifende fest.
"Da waren wir die Automaten." An einen Tivoli denke ich, wo stolze Eltern ihrer Brut Geldscheine in den Slip stecken.
"Puffmütter gab es auch, darüber zu wachen, dass Mutter und Vater nicht jene Fürsorge verloren, uns weiter anschaffen gehen zu lassen auf dem Strich für Tagelöhner."
"Geschrien haben wir, jawohl, wenn der marmeladenrote Laster nicht neben unserem Bettchen stand."
"Wollen wir einen neuen kaufen?"
"Das wärs, dass marmeladenrote Laster weiterhin vermögen, uns Schlaf zu schenken!"
"Und schreien können wir kaum mehr."
"Wenn wir dafür wenigstens für zwei Personen essen könnten."
"Im Fraße, ja, da hat der Mund zu tun, beide Hände sind beschäftigt, die Füße still... Stellt man es gescheit an, dämmert unser Kopf im Fraße völlig tatenlos durch die Gänge."
"Gab schon immer mehr Köche als Philosophen."
"Sind wir Köche?"
"Wir sind philosophische Mitesser."
"Wir sind fertig!"
Schon setzt die Puffmutter sich in Bewegung, abzuräumen. Genügend Trinkgeld ist dabei, Bestürzung in wahre Puffmütterlichkeit zu wandeln. Beinahe zärtlich, wie sie die Teller ineinander stellt, sich unserer Krumen annimmt.
Ob je einer Menschenseele gelungen ist, sich derart vollendet zu entfernen vom Tisch des Lebens?
Keinen Kehricht hinterlassen an verrentetem Krümelkrams aus abgelebten Spiegelreflexen und erblindeten Objektiven. Vor lauter Lichtbildern Zurückgebliebenes, geschleppt in verheuchelte Kreise, in denen allein weggestorben werden kann, kleingepflegt auf wahllose Habseligkeiten. Jener Kehricht aus Scharmützeln und Kriegen, der dazu nötigt, den Tisch des Lebens fortwährend neu zu decken.
Wo Besen und Schaufeln für Ordnung sorgen, gilt kein Leben mehr als ein Fiebertraum. Nichts, was sich im Straßenbild walzender Bürsten vom Abfall scheidet.
Regelmäßig verdeutlichen sich unserer Existenz nur Kleckse jener leicht verderblichen "Schnitten", welche den Rahmen menschlichen Nichts füllen. Schnitten, die, sind sie einmal verdorben, gleich üblem Geruch aus unseren Sinnen schwinden.
Schwer erlebbar scheint eine Tugend der Mindesthaltbarkeit, welche alles Sein als marktreif erkennt. Stattdessen jener Alltag, der darum bitten muss, den Sender zu wechseln: man fresse gerade.
Leben gilt nichts, wenn es lauter Rücken sieht. Mögen wir uns auch meisterhaft darauf verstehen, den Rücken Traumgesichter aufzumalen. Führendes Traumgesicht bei Tage ist das Antlitz eines Gottes, der seine Zeit damit durchbringt, unser Tun zu beurteilen. Gegen Abend hin dann das Traumbild eines Jüngsten Gerichts. Hoch in den Wolken, mit Engeln und Teufeln und Lämmern und Löwen: Das versammelte Himmelrund hört uns an, wie gütig wir im Leben etwa mit Strichern umgegangen sind.
Ohne fortwährend Traumgesichter auf anderer Leute Rücken zu malen, würden wir uns selbst in frischester Anrichte als einen Kehricht erkennen, welcher den Tisch des Lebens gewiss nicht schmückt.

Zweifelsohne gehören Spielhallen zu den Hauptgängen menschlichen Seins. Hoffnung verwandelt in Arbeitskraft, verwandelt in Vermögen, verwandelt in Hoffnung. Daddelautomaten wie Opferstöcke, in deren Zentrum Triumvirate aus Harlekinen, Himbeeren, Honigtöpfen sich als Räder des Lebens behaupten, während außer Haus Dreifaltigkeiten mit Knechten, Kartoffeln, Krautstampfern wesentlich weniger herzeigen, was den Weg zur Glückseligkeit betrifft.
Nachempfunden sind Spielhallen dem Taumeln unseres Daseins, seinem Wanken, seinem Irren. Alles bereitet, Menschen zu Händen zu degradieren.
Spielhallen sind durchdrungen vom Zauber verrichteten Lebens: Gewinne aufsummieren, Verluste maßvoll einbeziehen, dass dabei runde Summen herausschauen, mag auch stets ein Herrgott sein Scherflein hinzutun müssen.
Sorgsam geführte Kladden, die von Kindern wissen wie von Liebesnächten, von Reisen, von Karrierehopsern und von Herzsprüngen. Automobile stehen dort im rechten Licht, getrennt nach Typ und nach Kaufdatum, ebenso Heimstätten in Eigenarbeit, sowie Sternstunden des Fußballrunds. Zärtlich mit einem Gummiband umwickelt und neben Daddelautomaten gelegt: Fertig.
"Jedes Erdhörnchen heiligt das Leben mehr!" Um es einmal ins Rund gerufen zu haben, sich gefälligst nicht um seine Scham zu bekümmern und auch keinen Tand im Fleisch zu dulden. Neben dem Geschlechtsreifenden und mir, ist aber allein die Puffmutter vor Ort. Und weder mag ich die Puffmutter eines Intimpiercings bezichtigen, noch unterstelle ich ihr, dass sie ihren Schoß brasilianisch wachsen lässt. Gewiss orientiert nicht jede Puffmutter sich am Erdhörnchen, dennoch fällt auf, wie wenig Hege der puffmütterlichen Lustgrotte zuteil wird. Und nach unserem Trinkgeld eben, ist die Verständigkeit hier wohl eh kaum mehr zu erschüttern.
Stopft Eure Lebtage mit Geld! als klingende Regieanweisung, betont jeden Cut in seiner Vergänglichkeit.
Die Puffmutter entspricht meinem lauthalsen Tun denn auch mit einem Nicken: Ob wir Getränkewünsche hätten? "Wir", die Puffmutter sagt: "Wir." Als wäre das erbetene Frühstück für zwei Beweis genug, und "wir" ihr nun ersichtlich wie geläufig. Eine Hand Trinkgeld langt hin, Irre in Wahrsager zu wandeln. Angeschmiert haben wir uns dem Leben, statt ihm zu entgleiten.
Alles drängt nach Aktion, während man sich in Aktion wähnt. Die Nacht, den Morgen über, immer bewegt. Jahrzehnte ist man an Gaststätten wie dem Little Nietzsche vorbei, hat nüchtern einen Bogen um Spielhallen gezogen. Ohne Bedürfnisse, ja, Notdurften in Erwägung zu ziehen. Dann endlich nimmt man Anlauf, nächtelang, tritt ein, ist entschlossen - und verdämmert wie mit Pestilenz geschlagenes Vieh.
Jenes Muster angeblichen Erlebens, simple Sachverhalte zu komplizieren, um so am Ende als Leistung zu begreifen, was an Zufällen abgekotet im Weg lag. Drei Dates Straight Edge für einen Fick.
"Kennen Sie das auch?" erkunden wir die Puffmutter in ihrem Kabäuschen, "fort rennen zu wollen, von jetzt auf gleich."
Wo wir hindächten? Sie sei eine Puffmutter, brauche das Geld. Nie habe sie ihre Pussy getrimmt, falls man darauf hinauswolle.
Eigenheiten im Wesen der Puffmutter treten vor zum Appell. Wie gewitzte Bengel, welche ihren Lehrkörper karikieren als einen Zoo Nilpferde und Krokodile. Aber der Puffmutter in ihrem Kabäuschen ist nicht mehr nach lustig. Eher scheint sie am Beginn furchtbaren Erwachens zu stehen. Vergleichbar vielleicht, wie wenn man sich unverhofft einem Mob ausgesetzt sieht.
Anstelle etwas offensichtlicher Kabäuschen, lassen sich mit fortschreitender Wissenschaft bestimmt planetenartige Gehege bauen, ohne dass auch nur ein Lebewesen fühlt, auf den Kopf gestellt zu sein. Hingehängt in ein Zirkuszelt Herrschender, frei von Gittern, kann geflohen werden, wie man will, Schwerkraft hält alles stets im Rund. Am Ende ist alles emsig das Weite Suchende wieder an jener Futterstelle, von wo aufgeweckt die Flucht begann. Glubschäugiges Umschauen unter dem Gelächter Herrschender, bevor das Heimgeirrten sich gierig über Näpfe und Tröge beugen, neue Wraps probieren.
Beinahe panisch fahnden der Geschlechtsreifende und ich nun nach einem Hungergefühl. Jenes "wenigstens etwas", das sich befrieden lässt. Frisch abgefrühstückt, wie wir sind, schützt uns in der Spielhalle kein wie auch immer gearteter Hunger vor dem allzeit möglichen Auftrumpfen honigfarbener Harlekins.
Mit einem Male aber grinst der Geschlechtsreifende, als hätte er einen Tunnel erspäht, uns geradewegs ins Überleben zu führen.
"Wohin?"
"Zur Dirne."

Nachmittag ist es, als wir uns an jenem Menschenabfluss des Hauptbahnhofes wiederfinden, von wo aus man auf Hotels zutreibt, auf Absteigen, auf stundenweise mietbare Zimmer. Zu stranden in gelbstichiger Sünde, in weiß gestrichenen Harm.
Obwohl die Spielhalle wenige Schritte hinter dem Geschlechtsreifenden und mir liegt, unser Abschied von der Puffmutter keine fünf Minuten her ist, fühlt das soeben Vergangene sich an, als wäre es nicht abgelebt, sondern dem Erinnern aufgeklebt. Wie wenn unser Innerstes einen Laufzettel herzeigt: Drei Stationen noch bis Himmelfahrt.
Angst, jetzt doch. Wir schauen einander an, ob wir aus den drei Stationen vielleicht dreißig machen können? Geld wäre da, für dreißig Stationen jedenfalls, für dreihundert möglicherweise.
Sich einmieten, preiswert, unseren Entschluss überdenken, abermals und nochmals überdenken, über und über überdenken. Würde uns um unseres Friedens willen nur mehr einfallen, als dem Vieh auf seinen Weiden. Jetzt zur Dirne, das gleicht einer Kapitulation, ist des fetten Bocks finale Mast.
Fleischeslust macht bang, das zu sein, was man ist. Selten ein Stehender, der erschlaffen mag. Kein geiler Keiler geht heim, ohne je gefleht zu haben um Sieg und um Heil. Bloße Idee des Lebens will Geilheit nicht gewesen sein. Geilheit will nicht lesen, noch bevor sie Buchstabieren lernt.
Schwarz vor Erkenntnis sein, blutlos im Drang, ist des Bestehenden Verderben. Formvollendete geil, ohne jede Bedeutung, ist jener sich steigernde Pfeil, Leben zu scheiden vom Tode.
"Soll ich Sie mit Ihrem Eis fotografieren?"
Uns war nicht bewusst, die sahnige Potenz entrückter Globetrotter ins Milieu zu tragen. Eher wollten wir dem Freier so Lebensfreude andichten, Signale leckender Lust. Tatsächlich muss mit Süßspeise vorm Herzen wohl niemand lange Bordstein schleichen.
Ein vielversprechendes Schauspiel käuflicher Liebe, das sich uns da für gemeinsame Lichtbilder andient, mit roten Haaren und kräftigen Flanken ins Bahnhofsmilieu gezeichnet. Wohl auf den Strich genau von jenen stärkenden Pulvern, welche auch im Little Nietzsche gehandelt werden als "Überdosis Leben".
Der Geschlechtsreifende macht nun die Anstalten. Keine Rede mehr davon, unser Menschsein in irgendeiner Weise zu krönen. Jetzt wollen wir auf den Affen. Möglichst so, dass jeder Affe still beiseite steht, welch Treiben da in sein Gehege vorgedrungen ist?
Mögen uns Affenmännchen an Geilheit kaum nachstehen, so mangelt es ihnen jedoch an List und an Heimtücke, einen Schoß nachhaltig zu öffnen.
"Wer mag jetzt noch an Eis denken!"
Der Geschlechtsreifende lässt die Waffel senkrecht aufs Trottoire fallen. Eine nicht unangenehme Atmosphäre der Erkenntnis, wie zerbrechlich jene Schokoladenseite des Lebens ist.
"Wir können uns verloben!" entzückt sich der Geschlechtsreifende. "Wir können Stunden miteinander verbringen, Tage: wie es der Gang Ihrer Geschäfte erlaubt."
Schließlich und endlich sei einem ja soeben jene Gefährtin erschienen, um derentwillen man sich in jeder Kirche des Landes habe scheren lassen.
Die rotbehaarte Dirne wirkt, als sei in ihr etwas angeknipst worden. Auf nicht ungefährlichem Terrain scheinen wir mit Freiersfüßen Sicherheit erworben zu haben. Nachkobern sollte zwischen uns kein Thema sein.
Wo man hingehen könne, den weiteren Verlauf des Tages beratschlagen?
Die Dirne schlägt einen gut einsehbaren Streifen Park vor, mit frühlingsgrün gestrichenen Bänken, auf denen man es gerne ruhig angehen lässt, was gegenseitige Sympathie und Fürsorge betrifft.
Jenes Wohlgefühl unter Viechern, dass es mit Fressen, Auslauf, Toilette getan ist, bleibt einem unter Menschen verwehrt, mag man seiner Sache noch so sicher sein, dass es der Welt zum Glück genügt, täglich ihre vier, fünf Stunden Glotze reingeschüttet zu bekommen.
Auf schwülen Basaren des Gebens und des Nehmens kommen Dirnen als Heilsbringerinnen daher, vom Busen bis zu den Flanken mit Preisschildern ausgezeichnet. Der zeitlos beliebte Griff in den Schritt wird so zum Glücksgriff.
Fünfzig Euro, noch bevor wir auf einer Parkbank in Verhandlungen treten. Als Dankeschön, mit der rotbehaarten Dirne rechte Pfade zu wandeln. Die Lebenskunst, die in mir zur Vollendung drängt, will walten, nicht gefallen. Spräche ich nur ein Wort um der Erregung meines Herzens willen, bliebe ich Laune der Natur.
Auch wenn der Geschlechtsreifende seine dicke Hose einbringt, während die rotbehaarte Dirne allein auf Andeutungen eines Mantels und ihr wollenes Leibchen setzt: wie wir so nett beieinander sitzen auf der Parkbank, uns mal ihrer, mal meiner Geschlechtsmerkmalen zuwenden, es blitzt doch auf, das Wohin der rotbehaarten Dirne: Gerade zwanzig mag sie sein, nicht lang im Milieu. Vielleicht belebt sie eine Kommune von Künstlern, wo jeder auf eigene Weise zum Unterhalt beiträgt. Möglich, dass es mit Freiern höchstens um Herrengedecke geht, um "Höhepunkt" genannte Ergüsse von Langschweinen, während die rotbehaarte Dirne in Gedanken bereits Bühnen großer Clubs besteigt, wo sie, umrahmt von gitarrenschwingenden Zotteln, der Welt völlig neue Lieder singt. Dann wären wir mit unserer dicken Hose nurmehr Abspritzer auf ihrem Lebenslauf. Sudelkrams. Nirgendwo ein anderes Wohin, als das von Sudelkrams.
Und welch Weh unser Woher! Kaum am Busen der rotbehaarten Dirne, reicht unser Woher dem Geschlechtsreifenden einen Brief ins Gemüt. Adressiert mit der Wenigkeit längst Versprochener, fern jeglichen Kontaktes. Eng beschriebene Seiten, keine Geduld mehr im Papier. Zwei Nachträge. Weil der Brief zurück kam ans Woher: "Unbekannt verzogen." Und am Busen einer rotbehaarten Dirne nun mag niemand mehr über Postlaufzeiten schimpfen.
Unter dem Vorwande, als Geschlechtsreifender der Dirne Bindegewebe auf seine Käuflichkeit hin zu begutachten, drücke ich mich in den hintersten Winkel meiner Freiersfüße. Augenblicklich versiegt das Rinnsal Sehnsuchtstropfen. Jener Brief und ich, wir sind für uns im Ungeilen. Und es ist genug, es ist zum Fortgang der Ungeilheit genug. Vielleicht kann meine Ungeilheit auf brieflicher Ebene Jahrtausende überdauern mit der Frage, was in den Papieren unseres Wohers geschrieben steht?
Aber für dieses Mal noch durchdringt der Keiler Geilheit mein Sein: "Du wandelst!"
Mit Macht versuche ich, den Brief in Händen zu behalten, will den Umschlag knüllen, vielleicht drei, vier Worte noch lesen! Aber da ist der Keiler Geilheit bereits erregt zur vollsten Aufrichtigkeit. Jene rinnende Sehnsucht, die so begehrlich macht, und so wenig satt.
Dem Geschlechtsreifenden gefriert beinahe die Hand auf dem Busen der rotbehaarten Dirne: Sind wir nicht einst mit Mutter und Vater jenen Streifen Park entlang, hüpfend vorweg?
Übermannende Bilder und Melodien nötigen uns, die Verhandlung mit der rotbehaarten Nutte weiterhin zu unterbrechen. Wir gestikulieren, uns eines unzeitigen Ergusses erwehren zu müssen. Die rotbehaarte Dirne streift ihr wollenes Leibchen glatt und lässt den Kunden König sein.
Dirne um Dirne wächst Begeisterung für den Tod. Stöhnend zwischen Leere und Fülle zu taumeln, hält auf Dauer kein Freier aus.
Gassenhauer muss der Freier sein, Schlager, will er es im Milieu zu Jahren bringen.
Sein Kinderherz dem Liebesmahle opfern, ist eine beachtliche Gabe. Auf glücklichste Weise nämlich reichen sich an des Kinderherzens Grab Fleischeslust und Futterneid die Hände.
Jede Generation Freier weiß von verscharrten Kinderherzen, betet darum, jene verbliebenen Löcher stopfen zu können, in denen die Furcht nistet.
Leben anderer durchpausen, damit keine Nacht einen je ins Angesicht blickt. Aus dem Sinn verlieren, was Furcht ist. Stupid seiner Erregung frönen, Inhalt und Form des Hosenstalls achten, Bilder strippen.
Der Tod kanalisiert das Leben, lässt auf den Tod Hinströmendes als fortströmende Avantgarde sich wahrnehmen. Denken, Welle um Welle obenauf zu sein als deren Schäume.
Freiheit verlangt nach keinem Niveau. Beinahe bin ich versucht, Hand in Hand mit der Dirne am nächstbesten Kiosk Halt zu machen. Sicher erwartet den Geschlechtsreifenden dort in fünfter oder zehnter Auflage jenes buntgezeichnete Heldenvolk, das einst uns half, Doppelstockbetten als Piratenschiffe und hergeliehene Klappräder als Schlachtrösser wahrzunehmen. Der rotbehaarten Dirne für gutes Geld erläutern, dass ihr wollenes Leibchen sich nicht um eine Idee unterscheidet von dem Pilzkostüm, welches Mutter mir für den Kindergarten nähte.
Wenn die rotbehaarte Dirne dann, nach mehreren überlebten Leben, Kurtaxe zahlt und aus tiefster Seele misstrauisch geworden ist, wie es in den Küche der örtlichen Urlaubsgastronomie wohl ausschauen mag, vielleicht gedenkt sie dann jener beiden Abspritzer, die sie einst zum Kiosk geleiteten, ihr aus Comics von Helden in Strumpfhosen zu rezitieren.
Bewegen "Erwachsene" sich in ihren Träumen himmelwärts, ist es dem Grunde nach stets ein Abwärts. Obwohl sämtliche zu beträumende Konsumvorlagen tatsächlich voluminöser sind, werden sie kleiner immer kleiner als jene zwei, drei Höker am Busbahnhof unserer Kindheit.
Und was können einen die Supermärkte im Hinterland scheren, wenn das Grün vergangener Sommerferien dräut?
Menschen reduzieren auf Hütten und auf Heimwerk: beinahe unmöglich, Mutter und Vater derart niedrig zu hängen. Mag mich die Geringfügigkeit meiner Kindertage bestürzen, stets ist selbst noch das Außenklo mir Verlust. Was anfangs erschien als Hinauswachsen über Erziehungsberechtige, offenbarte sich als emporwucherndes Unkraut.
Mag ein Mensch sämtliche Achttausender besteigen, er kraxelt seinem Kindergarten nicht davon, er wird ihm nur fremd.
Meine Freivorstellungen Kino im Kopf von dem, was mir Kindheit war. Hinwarten auf die Mutter etwa, dass sie mich aus der Vorpauke holen möge. Fern am Horizont winkte Mutter nach der Frucht ihres Leibes, und die Frucht winkte, winkte, winkte zurück. Vater, wie er immergrün mich zu Schachpartien forderte, wenn er von seinem Tage- und Liebeswerk nach Hause gekommen war. Heiligtümern gleich bewahre ich diese Schnitzfiguren meiner Kindheit. Tiefgefroren alles in Festen starrenden Beharrens, verlorene Eiswüsten. Selbst wenn man mir durch Tore in den Dimensionen meinen roten Rodelschlitten zurück reichte, es könnte niemand mehr mir das Glöckchen zur Weihnacht läuten, kein schwarzer Mann ergäbe sich wie selbstverständlich.
Werden unter solch Ergrauen die Herzdamen seltener und seltener, kommt lichten Tunnelträumen eines genahten Todes das Personal abhanden, ist es Zeit, sich am Dienstagabend in die Heilige Messe zu knien. Jenes erhabene Vorspiel vom Endlosband, mit einem Off aussegnender Hände, welche sich abwischenderweise der Antlitze emsiger Büßer annehmen.
Wer nun vermag in solch Messen sein kniendes Kirchenwesen nicht wenigstens als Früchtchen göttlicher Leiber erkennen?
Eine rothaarige Dirne legt also Hand an den Zaun meines Kindergartens. Ein Flittchen Leben, das gegen Geld mir Mutter sein will.
"Sicher wissen Sie verschwiegene Örtlichkeiten, wo wir beide unser Geschäft verrichten können", der Geschlechtsreifende will das endlose Schachern mit der Welt zu einem Ergebnis bringen, zu irgendeinem Ergebnis.
Die rothaarige Dirne sagt ihren Businessplan auf, was möglich ist und zu welchem Preis. Der Geschlechtsreifende nickt erleichtert über ihr schmales Angebot: Als vollendeter Zölibat gen Himmel fahren können, wirkt von einem Affengehege aus wie das letzte bisschen Gesalbtheit vor dem Höllenschlund.
Meine Welt hatte die anstrengende Eigenschaft, stets auf dem Kopf zu stehen. Mag vielen das Leben als Geschenk erscheinen, war es mir schwer möglich, dem Leben kein Geschenk zu sein. Das Leben sollte mich genießen, nicht ich das Leben.
Was aber nun erkannte ich als "das Leben"?
Mit am beeindruckensten wohl die Animierdamen auf der Kinoleinwand, von denen Jünglinge aller Zeitzonen in jene Erregung versetzt werden, welche Heldentaten vorauseilt.
Obwohl die Animierdamen laufend ausgetauscht werden, wirken sie auf der Kinoleinwand wie zeitlose Posen.
Solchen Ausformungen des Lebens wollte ich dienen, nicht den Menschen, welche in diese Formen gegossen sind. Moden machen, die Menschen machen.
Moden verlangen nach Linien, nicht nach Befindlichkeiten. Linien sind die Kraft von morgen, hingegen die Kräftigen von heute morgen nur eine Last von gestern sind.
Lebenslinie wollte ich sein, keine Blutspur.

Dem Kino-Center am Hauptbahnhof entschwebt, frisch aufgeblasen von Trickfilmen, fragte ich Vater einst, was es mit jenem Zweckbau auf sich habe, schräg gegenüber dem Kino-Center, welcher noch zwischen unsäglichen Hotels wirkte wie eine Räuberpistole.
Im Gefolge der rothaarigen Dirne nun betreten wir dies giftig schimmernde Getüm, das nicht allein mir Kind als unfassbar verboten erschien. Und keine noch so rasche Umkehr, hinein in irgendeinen Kinderreim, wird den Geschlechtsreifenden und mich mehr erretten. Ausgeträumt alles.
Kein Kanten Brot mehr, der sich uns als Leib Christi andient, nirgends noch zartes Tuch, welches zu königlicher Hoheit auffordert. Wir sind weiterhin, erkennen aber nichts mehr an. Grabsteine stehen nun uns vor Augen, wo einst des Kindes Liebe ruhte. Jener Anbeginn des Menschen, dem Nichts mit Schmuck zu begegnen, es durch Moden zu überwinden: wir kämen nicht mehr auf dieses Los, selbst wenn wir uns lobotomierten mit intimsten Piercings. Wo Leben mit Fell sich begnügt, wärmt allein jener vielbeachtete Tod durch einen Hauch von Nichts.
Und so verläppern wir Szene um Szene, werden uns auch von der rothaarigen Dirne fragen lassen müssen, was wir eigentlich erwartet haben? Die Sprücheklopfer aus Funk und Fernsehen herabblickend, ob wir all die Versprechen etwa geglaubt hätten? Nicht allein verlassen steht man da, sondern gleich einem Kindskopf. Nie sei man erwachsen geworden!
Mag es seit Jahrtausenden in Gesetzesbüchern anders geschrieben stehen: Schuld trägt nicht, wer verspricht, sondern wer glaubt.
Allzu viele wechseln von der Wiege sogleich aufs Sterbebett, dort über Jahrzehnte gemütlich vor sich hin zu leben. Sehen fern, lesen Romane, hören Liedgut, sorgen für Leergut, vertreiben Zeit. Mit und ohne Bettbeziehung. Bis eines Nachts der Tod über sie kommt, wie einst der erste Beischlaf: "Dann passierte es!"
Ihr Tod passiert vielen Menschen, wie ihnen das Leben passiert. Keine Familienchronik, bei der man groß um Handlung besorgt sein müsste. Selbst zur Weltgeschichte genügt oft die bloße Registrierung dessen, was einer Sippe widerfahren ist.
Der Wind, der durch die Blätter rauscht, ehe er eines nach dem anderen vom Baume nimmt, damit Neues grünen kann.
Solch Ausscheidungen des Lebens begegnen Bildungsbürger mit ihrer Sehnsucht, auf möglichst romantische Weise verwachsen zu sein. Vom Kopfe abwärts, dass man zwar kaum mehr laufen kann, aber dafür gemeinsam fallen muss.
Ohnmacht überkam mich, als ich erstmals Artgenossen sah, die von Geburt an derart Kopf an Kopf verwachsen waren.
Wie viele siamesische Zwillinge beherbergt die Welt? Etwas Logistik vorausgesetzt, könnte man mit siamesischen Zwillingen vielleicht eine Straße bevölkern, vielleicht einen Stadtteil: Seht, so ist er, der Mensch!
Eine Tragik, dass man selbst im Urwald seinen Stadtteil nicht verlässt, mag man auswandern, wie man will. Jedes Leben bleibt Bauwerk eines Sandkastens. Fraglich allein, inwieweit ein Leben mit Naheliegendem verwachsen will?
Zur Beschränktheit verdammt sein, verpflichtet niemanden, beschränkt zu handeln.
Scheel sehe ich den Geschlechtsreifenden an, wie bewusstlos er ist, dass der Tod ihn sehr wohl etwas angeht. Während ich allein die Nähe von Kunstfiguren noch aushalte, Werkstücke schöpferischen Genies mir Gnadenbrot sind, im Angesicht des Tageslichts zumindest Haltung zu bewahren, erregt der Geschlechtsreifende sich an jeder Hasenscharte.
Wo ich Rettungssanitäter erkenne, wie sie nächtens ihre Koffer in den Flur wuchten, im allerkünstlichsten Scheine mit der Reanimation zu beginnen, während schnarrend über die Funke fortwährend neue Einsätze gemeldet werden, schnullert der Geschlechtsreifende an jedem Euter.
Wie soll ihm auch danach sein, hinaus ins Dunkel zu hetzen, wo Regen ist und Frost. Ihm sind die Badezimmerfliesen verkehrsberuhigter Zonen kein bisschen Verenden. Intimsprays mögen ihn dort verstören, gewiss aber nicht meine Intimität eines Kriegers. Fleisch erscheint dem Geschlechtsreifenden in zartester Aura, wie könnte er sich da für eine Missionen begeistern, welche das Allzumenschliche in uns Schweigen heißt.
Geschlechtsreifende fürchten nicht um ihr Leben in Alpträumen von ziegenbärtigen Rentnern, wie sie einen in muffigen Stuben zwingen, für immer Fußball zu glotzen.
Das ist der Lohn eines Lebens voller Geschlechtsreife in Wort und Tat: Man stirbt während wundervoller Träume.
Noch aber bin ich nicht so weit, mich im Schlaf von dem Geschlechtsreifenden scheiden zu lassen. Bettruhe herrscht für mich erst, wenn ich auch dem letzten "Zufall" genanntem Abfall Behältnis gewesen bin.
Mit dem Geschlechtsreifenden füge ich mich also der rothaarigen Dirne hinzu, als geschäftsmäßiger Dreier in einer Vorhölle von Zweckbau Türen abzusteigen. Türen. Türen. Türen.
Unser Fleisch dampft. Durch Treppenhäuser, durch Notausgänge, durch Schießscharten besehen, wird das Getue der Stadt wahnwitziger, immer wahnwitziger. Leben scheint bloß zum Fortwerfen mehr gut. Auf allen Höhen aber herrscht Stacheldraht, sich nicht in reiner Luft um die Entsorgung seines Fleisches zu bekümmern. Mögen wir gefälligst an Orten zerplatzen, deren Boden sich waschen, wienern, wischen lässt.
Wir haben kein oberstes Stockwerk erwartet, keinen mit Teppich ausgelegten Flur, keine weiß gestrichenen Flügeltüren. Sein Schicksal aber hinter Pressholz erfüllt zu sehen, das die Nummer 716 trägt, hat den Charme eines Faustschlags.
Zimmerschlüssel wie im Hotel, wo man genauso gut hätte gegentreten können, um zu öffnen.
Kleiner Abort, gekrönt von einem Bidet. Weiter geht es ohne Umwege zu zwei auf dem Beton liegenden Matratzen. Campingstühle dienen als Ablage.
Unsere Gastgeberin will wissen, ob sie ein Rauschmittelchen zubereiten soll? Gegen geringen Aufpreis aus dem Arbeitsalltag schlüpfen und so. Wir aber schauen begeistert hinaus zum Balkon: Dürfen wir?
Leergut. Ein Aschenbecher. Kein Stacheldraht. Unter uns das Gelichter des Feierabends. Nie ist es leichter, hops zu gehen, als in der Höhe.
"Schön hier!"
Die rothaarige Dirne steht mit laufendem Motor wie ein Taxi, das man warten lässt.
"Gestatten Sie uns noch etwas Zeit." Wir reichen ihr vom Balkon aus unsere Geldbörse: "Stellen Sie bitte das Doppelte von dem in Rechnung, was Sie sonst zu nehmen pflegen."
Klärende Worte, für welchen Service wir uns entschieden haben. Der Geschlechtsreifende gibt sich einen Ruck und wählt das "Happy End": Mit gefüllter Samenblase auf Himmelfahrt zu gehen, wirkt peinlich. Also auf Erden nochmal Pipi machen, bevor höheren Ortes hoffentlich großes Kino beginnt.
Ob man sie dabei nackt sehen wolle? erkundigt sich die rothaarige Dirne. Mit unserer Geldbörse in der Hand wirkt die rothaarige Dirne wie eine Fleisch gewordene Marktwirtschaft.
Wir nicken den Deal ab: Wenn es ihr für diese Jahreszeit nicht zu kalt sei, dürfe sie sich gerne frei machen. Bevor man komme, müsse sie allerdings etwas Aufenthalt einkalkulieren. Man sei ungeübt, entschuldigt sich der Geschlechtsreifende.
Schon nestelt die rothaarige Dirne an Knöpfen und an Bändern. Aus ihrer Routine gebracht wirkt sie, uns zwei Knacker halbwegs entjungfern zu müssen. Verdrossen, dass man sie für eine Dirne hält, die ihre Freier im Zeittakt über einen Berg Wollust treibt. Als würde sie Esel hüten, statt internationalem Publikum untenrum Frieden zu verschaffen. Freudenmädchen ist sie, eigentlich Künstlerin, die für einige Zeit in Jugendsünde macht, um später davon singen zu können. Auf anderen, auf großen Bühnen.
Wie aber nun wir: Unser kleines Welttheater weiterspielen und spielen, bis im Spiegel zwei Muselmänner schwanken? Abgrundtief fremd der Balkon. Stehen einem Affenfelsen vor und philosophieren über Leergut. Furchtbarer kann Zivilisation nicht sein.
Unter uns herrscht Feierabendverkehr. Keine Horde johlender Schulkinder, die sich auf das Trottoir ergießt. Sieht man von den Verliebten ab, überwiegt jene stille Freude, seine Fassung gefunden zu haben. Stumm auch der Geschlechtsreifende. Nahende Finsternis verlangt nach Entscheidung: Zurück ins Warme, eine Dirne nehmen, abwarten - oder der Nacht entgegen.
Ehe wir uns versehen, ruhen beide Hände auf dem schmalen Stück Brüstung, bereit, zuzupacken bei dem mindesten Gedanken, sich hier aufzuschwingen. Falls wir auch nur anbändeln mit etwas, das des Lebens warmer Bruder nicht ist. Wie ja beinahe alles herbei eilt, wenn jemand zu lange auf einem Balkon steht. Und wer sind wir denn, die rothaarige Dirne hier im Gang ihrer Geschäfte zu beunruhigen.
Stets wollten wir selbst uns Richter sein, von eingebildeten Sterbebetten aus fein säuberlich über unsere Handschläge urteilen. Umso ärgerlicher, wenn niedere Gesetzgebungen der Musik und des Ackerbaus das Urteil trübten.
Teenager, wie sie ihre Leben auf Popsongs gründeten, wie später Ackerbauern aus ihnen wurden, welche sich dicke taten mit den Früchten ihres Leibes.
Fortwährend lärmte die Gesellschaft derart zu uns herein. Nahezu unmöglich, so bei unserer eigenen Gesetzgebung zu bleiben.
Wer aber eine Wahl sich herausnimmt zwischen Leben und Tod, muss nimmermehr funktionieren nach den Gesetzen von Musik und Ackerbau.

"Cliquchöre" heißen wir jene kleinsten gemeinsamen Nenner, die unsere Zivilisation beherrschen, seit man allgemein bemüht ist, Fremde "Freunde" zu nennen. Auf Volksfesten werden Cliquchöre zur Recheneinheit, auf Sportveranstaltungen. Überall, wo geschunkelt wird und gejohlt, wo man sich unterhakt, wo gute Laune mitzubringen ist.
Zivilisationen, die frei sind von Worten. Ganz gleich, welch Unmenge an Worten solch Zivilisiertheit auch produzieren mag.
Eine Zivilisiertheit, die gekrönt wird von Cliquchören: Lacht man, lachen auch die Cliquchöre, erhebt man sich, stehen wie selbstverständlich die Cliquchöre.
Im Gegensatz zum gemeinen Zähnezeiger, dem "Rudeler", sind Cliquchöre selten auf Fleisch aus, wenn sie etwa mitgehen in Kinofilme, die ihnen alleine niemals in den Sinn gekommen wären, wenn sie auf Amüsiermeilen stundenlang jene sensiblen Augenblicke erspähen, wo es gilt, seine Lacher zu platzieren, um ordentlich Sympathie abzugreifen. Cliquchöre wollen "einfach nur leben". Sie streben danach, den Tod gemeinschaftlich zu erfahren. Gerne auch vorzeitig, wenn händchenhaltend. Im Vergnügungspark. Im Hochamt. Im Widerstand. Im Kriegsdienst. Im Terror. Je nachdem, wo ihre "Homies" sich gerade befinden.
Cliquchöre sind die Blaskörper des Lebens. Nicht Stein, nicht Feuer, nicht Flut bringt Cliquchöre zum Klingen. Cliquchöre wollen nur Luft, Cliquchöre können nur Luft.
Der Geschlechtsreifende und ich, entschlossen wenden wir uns vom Balkone aus der rothaarigen Dirne zu, unserem "Happy End". Wir machen Front mit dem geilen Lächeln solventer Kunden, welche in Stimmung gekommen sind.
Gerade noch sehen wir, wie die rothaarige Dirne weitere Fünfziger in eine Tasche ihres Leibchens stopft. Daran herrscht natürlich kein Mangel, an Fünfzigern und an Taschen.
Rasch wirft die rothaarige Dirne ihr Leibchen auf einen der Campingstühle. Nackt ist sie nun, bloß wie der Abgrund draußen vor dem Balkon. Unter einigem Buhei mögen Kindsköpfe nun jene Bocksprünge wagen, welche ihre Gemüter dem Roman oder dem Volksmund entliehen haben. Hingegen wir vor Geilheit keinen Blick verlieren mögen an die rothaarige Dirne. Uns brünstig sehen, liebestoll und verkatert seinen Mann zu stehen, entspricht unserer Erkenntnis von Friedhöfen. Wie ein Baby an den Busen gehoben sein, grabschen nach jenem Orkus, aus dem man uns einst presste: nichts kommt dem Leben schlechter, als zögernde Lenden. Der Geschlechtsreifende beeilt sich denn auch, Meldung zu machen über jenen beklagenswerten Zustand unserer Lüste. Gar einen Todesfall im engsten Familienkreis führt er ins Feld. Nurmehr Krächzen, wo wir auf den Ruf der Natur hätten antworten sollen mit: "Hier!"
Keine Liebe mit uns zu machen. Wo alle Welt romantisch daherkommt, sind der Geschlechtsreifende und ich vor ein Scharfgericht gestellt, gegen das selbst der Teufel wirkt, als wandle er auf Freiersfüßen. Zu gering die Körperöffnungen am Ende allen Werbens, wenn man vor Coolness verbrannt ist, jeden Kuss neu verhandelt hat, ob er vielleicht doch dem einer Kuh gleicht?
Würden Menschen tun, was sie reden, unsere Städte sähen anders aus. Wir brauchen uns nur eine halbe Umdrehung von der rothaarigen Dirne abwenden, um auf Fresstempel zu blicken, auf Konsumstätten, auf einen Schweinkram an Amüsement: Alle sind mit Worten dem Himmelreich nahe, tatsächlich aber rennen sie in den Baumarkt, ihre Fassaden zu polieren. Singen höher, immer höher, während sie tiefer und tiefer sinken.
Nie ist das Leben mit all seinen rothaarigen Dirnen mir Feierabendvergnügen gewesen. Als Geschlechtsreifender war ich einst besessen davon, hinter all den wuselnden Straßenbildern reine Linien zu erkennen. Etwas, das nicht Kleckserei, nicht Angeschmiere, nicht leere Kritzelei ist. Jene ausgemalte Gedankenlosigkeit, welche mich schon zu Freitodphantasien hinriss, wenn die Straßenbilder noch im Entstehen waren.
Wohltat war es mir daher, mich als Schlachtergeselle in Kühlhäuser zurück zu ziehen, mit Blut mein ganz eigenes Bild zu malen.
Wäre ich stattdessen Lehrer geworden oder Geistlicher, längst wäre ich zur Hölle gefahren. So aber errettete mich inmitten tausender Schweinehälften jene Ungewissheit, dem Leben im Zwielicht eines Kühlhauses vielleicht Unrecht zu tun, nur aufgrund bedauerlicher Einzelfälle von Fleischfresserei zu urteilen. Gleich einem Stürzenden griff ich nach jeder Hand, welche schlichte Gedankenlosigkeit umdeutete in schweigende Weisheit, und so Bademeister formte zu Zen-Meistern.
Die rothaarige Dirne, sie hat genug gehört. Was soll sie Geschäfte machen mit einem Typen, der - Kimme und Korn, immer nach vorn - sein Gewehr nicht in Anschlag bringt, der nie fertig wird. Zu brasilianisch gewachst ist sie, um einer Milieustudie beizuwohnen vom Freier, der reden will. Keine gitarrenschwingenden Zottel, kein Publikum nirgends für Lieder über sozialarbeitende Huren.
Bis hierhin! die rothaarige Dirne verwahrt sich gegen den Geschlechtsreifenden und mich, indem sie gestenreich ihres Leibchens gedenkt, hergezeigte Blöße rasch wieder zu verkleiden: Sie sei bereit, der Angelegenheit per Hand zu einigem Schwung zu verhelfen. Das ginge aufs Haus, wäre im Preis inbegriffen. Falls wir uns aber hier über ihr Hirn ergießen wollten, können wir uns geschwind mit unseren Fünfzigern vom Acker machen. Entweder zur Türe oder zum Balkon hinaus. Sie macht eine Bewegung, mit der man Vieh verscheucht. Und wuchtig trifft uns Hurenehre: Als Vettel noch wird sie nicht bedürftig sein, wird stockschwingend fortprügeln, was an ihr Windelhöschen sich verirrt. Unser Existieren, mag es auch Kathedralen frönen, fromm und fastend, bleibt für die rothaarige Dirne auf immer etwas, das nach einer Katzenwäsche vergangen ist, spurenlos verendet im Bidet.
In keinster Hinsicht Kapitalist sind wir gewesen. Niemand Bankrottes, der zur Dirne geht für letzte Fontänen Glück. Wir wissen nicht, was dem Vater seine Kinder sind, was dem Freunde sein Freund. Wir konnten unserem Leben wenig abgewinnen. Fremd daher jener Schmerz, alles verloren zu haben, welcher Männer animieren mag, Dirnen freie Hand zu lassen.
Als ewig Geschlechtsreifender stehen wir zwischen Matratze und Campingstuhl, zwölf, dreizehn Sommer jung. Kaum je selbst sind wir unserem Sonntagsstaat an den Reißverschluss, warum nun blau lackierte Nägel ins Frischfleisch treiben?
Mit niedergeschlagenen Lidern bringt der Geschlechtsreifende sein Bedauern zum Ausdruck, dass unser dreier Geschäftsbeziehung nachhaltig gestört worden sei. Tatsächlich war es ein Fehlverhalten, die rothaarige Dirne nicht sogleich als Abführmittel körpereigener Sekrete nutzen zu wollen. Stattdessen habe man versucht, kleinliche Seelenhygiene mit ihr zu treiben. Letztendlich brauche ja jeder Gott seine Visage. Und das Lächeln einer Dirne, das nachsichtige, anerkennende, wohlwollende Lächeln einer Dirne reicht leicht hin, hunderte Zwiesprachen mit Gott nicht vom Fleisch fallen zu lassen. So durch den Hurenlohn gleichzeitig auch Ablass zu empfangen, dieser Versuchung war der Geschlechtsreifende erlegen, ja.
Wie aber der Geschlechtsreifende so dermaßen auf Gott kommt, reißt die rothaarige Dirne ihr Leibchen vom Stuhl. Als gelte es, rasch in einen Kampfanzug zu kommen. Ganz Lebensmaschine ist sie nun, Motor eiserner Verrichtung. Auf dem Rummel zwischen Getrieben von Karussellfiguren zu klemmen, so muss es sich anfühlen.
Bei Regen würden wir Kirchen behelligen, sonst wären wir auf Huren aus! Lauthals bezweifelt die rothaarige Dirne den Wert unseres Daseins. Im Bahnhofsmilieu, wie allgemein.
Der Geschlechtsreifende gesteht zu, nimmt auf sich. Tatsächlich siezt die rothaarige Dirne uns nun auf eine Weise, mit welcher gemeinhin das Unwesen von Schaben und anderem Geziefer beklagt wird.
Peinlich missglückt ist unsere Geschäftsbeziehung. Ich bringe denn auch meine Hoffnung zum Ausdruck, die Appartements rings um unsere klärenden Worte mögen unbelegt sein.
"Raus jetzt!"
Wenn man im Bahnhofsmilieu des Raumes verwiesen sei, das wissen wir wohl aus Ratgebern, solle man sofort gehen. Sofort!
Der Geschlechtsreifende und ich, wir kehren uns schleunigst zur Tür hinaus. Ohne Schlusswort, obwohl es noch manches anzumerken gab. Aber, wie es mit Lebensmaschinen eben ist, mögen wir auch hundert Mal "Du" zu ihnen sagen: ohne Schraubschlüssel findet man keinen Dreh hinein ins Getriebe. Drei Notausgänge später noch verfluchen wir uns, mit Blümchen vorstellig geworden zu sein, wo nach der Natur der Dinge reinste Manneskraft verlangt wird.
Gepäck haben wir uns aufgeladen, wo wir einfach hätten lernen müssen, in Bewegungen zu bleiben, keinesfalls den Schritt zu verschleppen. Pusselige Philosophen sind wir gewesen, welche die Sünden der Welt schultern, während alle Welt weiter exerziert, wie vor tausend Jahren, immer weiter. Jenes Formaltraining, das man dem Vieh in großen Schlachtereien angedeihen lässt, wo achtgegeben wird, dass kein versehentlicher Halm Stroh die Herde in ihrem Gang irritiert.
Nie wollte ich dumpf mein Schlachtwerk verrichten. Herrschte während meiner Gesellenzeit Hochbetrieb, und lag etwa der Hit eines Sommers in der Luft, mühte ich mich darum, das Messer auf die flirrende Art eines Dirigenten zu führen. Erfreuen konnte ich mich an jedem Filet, welches ich so der Schöpfung mit gewitztem Schnitt abgewann.
Blut als ein Ebenmaß, den Menschen zu faszinieren. Sich in seinem Verderben als Teil eines großen Absterbens erfahren. Etwa beim Tanz, inmitten all seines Trachtens und Uniformierens. Im Exerzitientum derart aufzugehen, dass ein namenloses Holzkreuz auf dem Soldatenfriedhof Ziel allen Wollens wird. Tanz- und Schlachtfeste als frivoles Wegtreten ins Glied.
Während ihrer Exerzitien sparen Menschen bemerkenswerte Summen Leben an, welche artgerecht verscheuert werden wollen. Beim Begräbnis noch spürt man, welch Ehre es manchem gewesen ist, für ein kleines Vermögen Leben etwa im Gebirge verunfallt zu sein.
Alle schwärmen für "Todeszonen" hoch auf den Achttausendern, niemand schert sich um das Erlebnis, auf einer Bahnhofstoilette zu verenden. Keiner will mit Pennern biwakieren, die Nacht über im Schnee gebettet liegen, und schauen, was passiert.
Man meidet das letzte bisschen Fallschirmseide eines Obdachlosen, als hätte blau gefrorenes Fleisch am Boden einer Gletscherspalte mehr Charme.
Nirgends wird gespart auf das Abenteuer des Nahebei.
Pimpfe erleben, die Flatrate saufen wie die Großen, statt sich zu bekümmert um das Geflimmere im Kino. Warum Totenmessen für Königinnen der Herzen feiern, wenn einem massive Eiche zeitiger das Sterbeglöckchen läutet?
Der Geschlechtsreifende und ich, barmend noch von jener Letztmaligkeit einer rothaarigen Dirne, entdecken wir uns auf der Straße wieder. Abend ist es geworden. Freier eilen heim, mit Frau und Kind das Brot zu teilen, Cliquen finden sich zum Kinobesuch, Personenkraftwagen beehren und empfangen. Überall sitzt man beim Bier, schlendert, genießt. Der Geschlechtsreifende schweigt. Beinahe bedrohlich nun das Schaufenster eines Sexshops. Bleiben die schließenden Kaufhäuser, bleiben die Vororte.
Wir kommen überein, nicht zu wissen, wo wir hinwollen. Natürlich wissen wir es. Aber wir wollen nicht hin, wo wir hinwollen. Mögliche Umwege jedoch werden weniger, immer weniger. Zwei, vielleicht noch drei.
Schulterzuckend tröpfeln wir mit letzten Rinnsalen in ein Königshaus des Konsums. Wehende Fahnen. Marmor. Erquikende Musik. Als "Marken" bezeichnete Wappenpracht, gereicht von behandschuhten Zofen.
Gebenedeite aller Epochen stehen uns vor Augen. In welch Duft, welch Schmuck, welch Garderobe sie Himmelfahrt hielten.
Wir erkundigen uns nach einem Smoking, begehren Auskunft über das Angebot an Galauniformen.
Oberste Etage.
Der Fahrstuhl Richtung Herrenausstattung glänzt mit Panoramablick weit über Rat- und Gotteshäuser hinweg. Aus den Lautsprechern schnulzen Sänger, übermannt zu sein von so viel Himmel. Beinahe retten müssen wir uns vor Sehnsucht, wahrhaft eines Königs Eigentum zu sein, jener Wollust, uns niederzuwerfen. Stillgestanden und zu Befehl, statt Beute freier Liebe. Rittersleute, wie sie im Tode noch ihren Herren grüßen, ohne des Schoßes zu gedenken, dessen Wärme ihnen Dasein schenkte.
Den Teppich der Herrenausstattung empfinden wir als Referenz in Sachen Flauschigkeit. Wahrscheinlich könnte man im Flausch verrecken, ohne durch unzweckmäßige Geräusche den Geschäftsgang zu stören. Jenes rauschende Schleifen toter Leiber, das Kinder vor Neugier in die Hände klatschen lässt.
Einige kostbare Stoffe hängen hoch wie manch vermutete Traube am Baum des Lebens, allein durch entsprechende Gerätschaft in Kundenhand zu bringen. Und wenig deutet darauf hin, dass oft nach entsprechender Gerätschaft gegriffen wird.
Mögen auch Sklaven ihnen das Spukschälchen reichen und Huren ihre Betten wärmen, selten verabsäumen es Wohlstandsbürger, dem nachzusteigen, was sie als ihren Gefühlshaushalt empfinden. "Ins Feinstoffliche gehen."
Fleischfresser höchster Diskussionskulturen. Studiert, promoviert, schriftgelehrt bis zum Abwinken. Würden Herr und Frau Doktor die Heiligkeit ihres Gefühlshaushaltes dem Gesinde erläutern, es könnte ihnen gewiss niemand folgen. Erst den Herrn Doktor mit herunter gelassener Hose verstünde man, wie er sich austauscht bei einem Frauenzimmer, das, jung und frisch eingerichtet, unmöglich die Frau Doktor sein kann.
Feinstofflichkeiten zählen zu den vornehmsten aller Ausscheidungen. Ein Odem, der Lippen heiligt, welche vom Weine benetzt sind, welche lächeln im Nachgeschmack von Wild mit Preiselbeeren.
Leicht verpuffen Wohlstandsbürger im Feinstofflichen. Auf Bütten empordichten lässt der Feinstoffler sich dann. Hinauf zu jenen Putten, welche Friedhöfen den letzten Pfiff verleihen. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Der Herrenausstatter wirkt, als habe er eben einige Häppchen Lachstatar genossen, und sich rasch den Mund getupft. Im Entgegenkommen zieht er Samthandschuhe über, nun schon deutlich gefasster.
"Bitte?" begrüßt er uns. Als wäre zum Lachsbuffet ein Höhenkranker auf seinem Gipfel der Herrenausstattung angelangt.
"Wir wollen uns festlich machen zur Himmelfahrt", buckeln wir.
Der Herrenausstatter scheint belustigt über das "wir", hält doch gerade ein alleinstehender Herr kleineren Formats um seine Dienste an. Und Himmelfahrt findet sich in des Herrenausstatters ledernem Kalender erst nächstes Jahr wieder, kleingedruckt, abwegig.
Aber richtig, als seien ihm drollige Gedankengänge bewusst geworden, mit jedem Herrlein steht ja eine Sippe Herrlein vor Gericht, was Geschmack betrifft, jene Ausgesuchtheit des Empfindens. Auch das mit der Himmelfahrt scheint dem Herrenausstatter rasch einzuleuchten, als er sich herablässt, uns zu mustern. Ein scheuchendes Zucken mit den Fingern nur: Fertig!
Noch nicht ganz auf dem Posten, längst reif zu sein für das Fallbeil zwischenmenschlichen Urteilens, missverstehen wir die Geste des Herrenausstatters. Vor allem der Geschlechtsreifende ließ sich eben im Fahrstuhl ja bespiegeln, als würden Morgen die Sommerferien anbrechen.
Entsprechend hoffnungsfroh manövriert der Geschlechtsreifende uns in ihm glücklich erscheinende Position, möge man uns nun eines Stoffes und Schnittes für würdig halten. Immerhin begibt sich hier jemand auf Himmelfahrt, dem von Seiten des Lehrkörpers außergewöhnliche Wissbegier bescheinigt ist, dem überhaupt manches Darüberstehen zu Ohren gelangte.
Nun erlebt der Herrenausstatter auf seiner Höhe viel Gebein, und ein samthändiger Hinauswurf ins Flachland ist regelmäßig an Verausgabungen gebunden, wie sie vom Feinsinn gemieden werden.
Ohne viel Aufhebens scheint der Herrenausstatter sich in Tonlagen zu gefallen, welche etwas von Schlangen haben, die im verbotenen Garten mancher Mythologie Dienst tun.
Wir alle wissen von Irrsinnigen, wie sie wahnhaft sich in Beziehung setzen zu einem Leben, das sich nicht im Geringsten um ihren Irrsinn bekümmert. Jene Spanner, deren Fernrohre unbescholtenen Sternenbildern mal einen Altar abgewinnen, mal ihrem Gemüt den großen Bären aufbinden. Als würde man Wissenschaft treiben mit einem Pin-up. Von der Wand heiraten, was nie auch nur ahnen wird, welch Gesellen sich da am Papier festmachen: Zirkelzunder und Füllfedertum. Ein Kartenwerkeln, welches Blinden zur Wahrheit gereicht, Kindsköpfe nach Buntstiften verlangen lässt.
Wenn Einfalt das ist, was im Leben am längsten klebt, haften solch Papierwichser und Sternenstauber ihrer Gesinnung an, bis sie unter hundert Schaufeln schwarzer Erde von ihnen abfault.
"Lustbarkeit verlangt stets nach Lustbarkeit..." der Herrenausstatter rückt unsere Schultern zurecht, probiert grob an uns jene Haltung, die man gerade nennt "...will man sich zum Ende hin nicht mit Asche pudern." Der Herrenausstatter seufzt wie über einen üblen Geruch.
Rasch scheint er nun Ordnung schaffen zu wollen auf seiner Höhe. Er lustwandelt durch den Showroom, streicht mal hier mal dort über glänzendes Tuch, ehe er ins Off der Kulissen greift. Stoff kommt zum Vorschein, spröder Stoff. Ein aschgrauer Zweireiher.
Hier muss sich jemand irren, wir begehen Himmelfahrt! Ereifern will ich mich, der Geschlechtsreifende aber steht still. Bekommt er doch für die Schule stets Kleidung aufzutragen. Warum auch sollte der Geschlechtsreifende jenes Alte fürchten, welches zwischen den Kulissen hingeknüllt liegt? Er verlangt nach keinem modischen Beweis seiner Gegenwart, nach keinem Pfiff. Aschgraue Notdurft kleidet ihn wie geckenhaftes Weiß.
Schon sehen wir uns im Zweireiher stehen, vor einem mannshohen Spiegel, der alle Eitelkeiten des Showrooms auf sich zieht. Übel tragen wir an dem Stoff. Rauh, fast harmvoll. Nichts, was verlockt zum Ausschweifen. Dennoch drehen wir uns wie zum Feste, froh, dem Belieben unserer Freizeitkleidung entstiegen zu sein.
Erfahrungen eigenen Wohlbefindens wirken häufig so drollig wie Raubtiere als Babys. Sparsam dreht sich abwärts, was uns einander umbringen lässt. Wie Männer etwa in der Reinheit der Ehe beginnen, über Jahre hinweg ihrem Wohlbefinden nachsteigen bis hin zur Geliebten, mit welcher sie dann in der Reinheit der Ehe ihr Kinderspiel von neuem beginnen.
Erfahrungen eigenen Wohlbefindens machen, ist die Leidenschaft allzu vieler Menschen. Als wäre das Leben eine Wichsvorlage, als hätte es irgendwo eine Taste: "New Game". So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Mit Abstand schaut der Herrenausstatter auf unser Betragen. Jene zackige Art von Zufriedenheit, wie man sie bei Warten findet, wenn alles regelgerecht in Marsch gesetzt ist.
Der Herrenausstatter bestimmt uns, die Arme zu heben. Tanzschritte sollen wir nachvollziehen, als habe man eben das Siegestor erzielt, gehen, stehen, abhocken. Am Ende klopft der Herrenausstatter uns auf beide Schultern: Passt!
Wir probieren es mit Mienen voller Dankbarkeit. Der Herrenausstatter aber lässt sich auf keine Duselei ein: Statt mit dem erhofften Smoking, habe er uns mit rauhem Zweireiher gewartet, weil wir selbst in königlichem Purpur elend wirken würden. Schwarze Galle seien wir, der man mit grau noch Ehre antäte. Das bitteschön mögen wir zur Kenntnis nehmen.
Dem Geschlechtsreifenden, der sich eben frisch vor den Sommerferien wähnte, entgleisen sämtliche Gesichtszüge. Was den Herrenausstatter übrigens nicht weiter verwundert: Es sei eine Ausgeburt des Wohlstandes, alles stehen lassen zu können, damit sich ja niemand überhebe. Gleich wäre es, welchem Gott man opfere, wenn genug für alle da ist. Widerwärtig nur, dass den so gezogenen Wohlstandsgören wenig mehr in ihren Blödsinn komme, als ein Himmelreich voll Milch und voller Honig.
Während der Geschlechtsreifende beiseite steht, reißen mich meine neuen Kleidern hin: Hohelieder von milchgewaschener Haut und von Hönigdöschen betreffend, sei ich längst angelangt bei jenem Entsetzen, das unerhört begehrten Frauenzimmern eigen ist: Was man von ihnen wolle? Sie seien, bitteschön, ganz normale Frauen.
Dem Herrenausstatter aber scheint solch redlich entleerte Samenblase wenig zu bedeuten. Meine Himmelfahrt, mein fortwährendes Gequatsche mit mir selbst, so gebärdet Nutzvieh sich nicht.
"Ich bin ein Mensch!" schon ist es mir abgegangen, und tatsächlich presst der Herrenausstatter sich sein parfümiertes Taschentuch unter die Nase. Minuten lässt er mich so stehen in meinem Menschsein. Die Stille der Herrenausstattung, wie jeder Knopf noch zwischen lauter Gebeinen wiedergefunden sein wird. Beinahe fürchte ich, das aschgraue Tuch, das mich so munter verführt hat zum Menschsein, ist aus eingeebneten Gräbern gewonnen.
Angemessen für jemanden, dem Totenmessen stets Maß genug waren. Kein Kinder- wie Baumpflanzer bin ich gewesen, mag einem der Erzeuger und Vater auch leichter fallen, als der Hüter namenloser Gräber.
Joppe über, frei heraus nach Kindern spähen: so wisperte es mir während mancher Bettruhe. Umnachtet von Gebein, dem mein Ruhen Traumhaftes erwachsen ließ: Kinderseelen, hochspannend, wahnsinnig im Wesen, mit nicht dem geringsten Sinn für Sportsfreundschaften, für Ball-, Reit- und Wasserspiele. Keine Schmalfilme, welche das Leben behelligen mit Allerweltlichem vom ersten Male und vom Werben um Automobile.
Seit dem Wunder der unbefleckten Empfängnis, seit wir rund um den Globus an jungfräuliche Geburten glauben, braucht niemand mehr Gören, die nur kreativ sind, was das Hineinschmuggeln von Genussmitteln anbelangt.
Wenn Hohepriestern ein Himmelreich offensteht, warum vermögenden Vätern nicht die ganze Welt? so wisperte es mir während mancher Bettruhe. Unsere Glaubens-, unsere Bekenntnisfreiheit, sie hätte es mir ermöglicht, gleich einem Heiligen Geist Vaterschaft anzunehmen von jedem Kinde, das ich mir wünschte. Gleichgültig, welch ein Erzeuger sich in weltlichen Urkunden dicke tun mochte.
Wäre die Kindesmutter in wütenden Unglauben gefallen, hätte ich ihr meine Vaterschaft offenbart, ja, dann wäre ich eben ein um seines Bekenntnisses willen Verfolgter.
Sicher aber hätte ich mir jenen Respekt verdient, den Hohepriester erfahren, wenn sie predigen von der routinemäßigen Fleischwerdung ihrer Götter. So wisperte es mir während mancher Bettruhe.
"Bezahlen!" kommt dem Geschlechtsreifenden und mir von weither zu Ohren. "Kein Mensch denkt ans Bezahlen."
Der Herrenausstatter hat sich hinter eine Kasse begeben. Aus anderer Zeitrechnung wirkt die Kasse. Mit Elfenbein geziert, Schnitzwerk, das Mythologien verherrlicht: in Schatzkammern Gefangene oder unter Gold Begrabene. Jenseits mehrerer

vollelektronischer Registrierkassen, findet der Herrenausstatter sich so bereit für den Zahlvorgang.
Tatsächlich ist alles Geld gestopft in die Taschen unserer abgelegten Buchse, zurückgeblieben im Gewirr von Verkleiden.
"Es ist ein ausgelaufenes Modell", der Herrenausstatter klingt nachlässig. Kundschaft mag ihm untergekommen sein, welche mit hängender Zunge ihren Geschäftsgang neu bekleidet wissen wollte.
Körpersäfte sind abwaschbar, sind wegwaschbar, hat Kundschaft sich ergossen, ist sie fertig geworden, zur Erde gefallen von ihres Stammes Wollust.
"Es ist ein ausgegrabenes Modell." Wie Federstrich sein Lächeln, als wir begreifen. Die Augen des Herrenausstatters tiefblau, bevor Land war und Leben.
Dem Geschlechtsreifenden übersteigt jener Grusel, mit dem Jungs in Kriechkeller robben. Ohne Taschenlampen, ganz Tier vor Angst.
"Sie wünschten, auf Himmelfahrt zu gehen", dient der Herrenausstatter.
Getragen als Auslaufmodell, wirkt das Leben wahrhaftig wie etwas, das sich ablegen lässt, ja, das abgelegt sein will. Allein unser Blick in den Spiegel war ein Fehlverhalten. Tatsächlich gibt es über die gesamte Etage des Herrenausstatters nur jenen Spiegel, welcher uns im Auslaufmodell noch zur Eitelkeit nötigte. Hingegen wir inmitten der nackten Wände der Verkleiden leichthin unser Erspartes zurück ließen.
Der Herrenausstatter hebt denn auch seine Hände, uns einst so Leistungswillige herabzuregeln: Natürlich trage man Auslaufmodelle mit leeren Taschen. Bezahlen verstehe sich nicht allzeit auf das Geben. Mit einem Klingeln, als wäre Gott an den Tresen zitiert, öffnet sich des Herrenausstatters Kasse: Bezahlen bedeute auch, zu nehmen.

Der Herrenausstatter befiehlt unseren Händen Zierliches an. Seine Gabe ist umwickelt mit einem Geldschein, mit einem welken abgegriffenen Bildnis königlicher Hoheit. Umso herrschaftlicher, umso lichter die Tablette darin, licht wie ein Abendmahl.
Beim Anblick solcher Weihe überkommt es dem Geschlechtsreifenden, sich irgendwo Fenster zu eröffnen, sein Gemüt in die Ferne zu halten.
Absitzen! Fünferreihen! Marschmarsch! Ihrem Fernsehsofa derart zu entfliehen, danach sehnen sich Mengen von Sofakartoffeln. Ein Tod fürs Vaterland als unerhörte Karriere. Führer werden begrüßt wie groß geratene Stampfer, welche die vom Fernsehen weichen Kartoffeln zu jenem Einheitsbrei malmen, der sich hinunter schlingen lässt vom Leben: Im Orkus, statt einfach nur daneben. Gesegnet wirken Kartoffeln, drückt man sie in Uniform, gekrönt, wenn Marktschreier die Kartoffeln hinaus zum Stadttor geleiten.
Hinter den Kartoffeln kalt werdendes Sofaglück, das von ihnen abfällt wie Pelle. Voraus, am donnernden Horizont, der Tod als letztes großes Abdampfen des Kartoffelseins. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
"Meine Empfehlung für Herrschaften, welche unter dem Talar keine Familienplanung treiben."
Vom Liebesmahl als Vater sich zu erheben, der Geschlechtsreifende blickte stets ratlos drein bei diesem Gedanken. Kopuliert werden muss! weder dem Geschlechtsreifenden noch mir ist ein Stück Vieh geläufig, das anders dem Leben zu Umsatz verhilft. Wie aber weiter mit denen, die Kraft ihrer Leibesfreude nicht bestehen können, wo Drängendes blass zur Erde verbracht wird? Derart abgetrieben, spricht wenig gegen einen letzten Stoß hinaus aufs Meer. Im Wind, in Tagen und Nächten, dem Himmel entgegen.
"Sind wir damit rasch auf offener See?"
"Keine Minute", versichert der Herrenausstatter.
Plötzlich wird mir bang in dem Auslaufmodell. Der Stoff fühlt sich an wie etwas, für das Geschlechtsreifende noch in zweifelhafter Erde graben, das Erwachsene aber entsetzt von sich weisen. Was mir eben noch Horizont war, ist zum Abbruch nun geworden, voll Unkraut und Zurückgeblieben sein...
Minuten suchen meine Augen die Herrenausstattung ab nach dem Geschlechtsreifenden: Heimgelaufen vielleicht. Auf jenen Wiesen meines Hirns, an deren Ende das Elternhaus steht: Papa bei klassischer Musik, Mama mit spätem Abendbrot.
Kindertage, wie sie sich abwaschen lassen. Im hellblauen Bademantel, weißgestreift, duftend vor Schaum. Noch wäre ich rechtzeitig für die Trickfilme des Vorabendprogramms.
Meine Faust ballt sich um das Licht, das, in Tablettenmaß gebannt, mir leis seine Dienste zusichert. Mag es Geschlechtsreifendem zur Erbauung dienen, lockt das Licht mich allein als Erfüllungsgehilfe, Horizonte bersten zu lassen.
Mit Andacht schauen der Herrenausstatter und ich auf meine Faust, ehe das Licht versinkt im Futteral des Auslaufmodelles. Hinter ein letztes Aufleben befohlen, bis zum Sendeschluss Müdigkeit mit Macht hinzutritt, um rasch für bestes Einvernehmen zu sorgen.
Das Licht, es ist nun alles, was ich noch "am Mann" habe.
"Sehen Sie!" unter der ausholenden Geste des Herrenausstatters wirkt alles Leben, als würde es frisch aufgebügelt warten, erübrigt zu werden von der Mode und ihrer Zeit.
"An die Stange gehängt, Ämter zu bekleiden." Bloß könne niemand sich seinem Triebe verbunden fühlen, missfallen müsse alles Bloße der steten Lese der Schöpfung. Er, der Herrenausstatter, wache über Sitz und Form im Königreich Gottes.
Mag mir auch nicht unbedingt eingehen, warum der Herrenausstatter sich derart befördert weiß, für den Stolz des Flaneurs ist es immerhin Jahre zu spät. Aber nun heißt es Stellung beziehen. Eingraben muss ich mich mit den letztbesten Parolen, mit den letztbesten Wahnvorstellungen.
Schabt auf verlassenen Plätzen Laub über den Asphalt, dauert es nicht lange, bis Abfall sich ins welke Spiel mischt. Tüten, leer und fortgeworfen, tun sich hervor. Wie das Nichts der Tüten Innerstes bläht, sie aufwirbelt, zwei, drei Stockwerke Zweckbau hoch, ehe die Tüten verstummen vor lauter Sinken.
Leere reißt zu Tänzen hin, Leere sitzt allzeit zu Gericht, Leere ist haltlos an jedem Ort. Niemand wird der Leere je habhaft. Leere als Ersatzreligion, auf deren Zinnen Leere sich lieber verfolgt fühlt bis in den Wahn hinein, als abzufallen aus leerer Höhe. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Als habe jemand einen Ausguss eröffnet, rinnt das Blut mir aus den Fäusten. Peinlich jetzt, ja beschämend, Jahre, Jahrzehnte meine Taschen wieder und wieder kontrolliert zu haben, ob sich darin alles vollzählig befindet. Ein Dasein als Sparschwein, hingegeben nun für eine Portion Licht. Es fühlt sich gut an.
Hungern müssen, ins Erdreich mich schanzen, alles, was Leben anleitet wie ein Tritt in die Fresse. Ich freue mich, Knochen zu fühlen, hart zu sein, sehnig, verwitterter Pfahl Stacheldraht. Das Auslaufmodell, es kleidet mein Wesen. Zum ersten Male fühle ich mich im Gewinne dessen, was uns alle Waschungen der Welt versagen. Mag sein, man entsorgt mich so an der Autobahn. Aber wie denn sonst? Es kann der Mensch nicht glücklicher sein, als im Winde. Eine Wiese wird man mir lassen, eine Anhöhe, ein Stück vom Himmel.
Der Herrenausstatter steuert still drei Mäntel zur Auswahl bei. Damit Nachtfrost mir am Ende nicht die Seele verdirbt. Man will ja niemand sein, dem Mut allein im Badeurlaub überkommt.
Neuware, Stoff alltäglicher Witterungsumstände. Beinahe entschuldigend blickt der Herrenausstatter, kein Auslaufmodell bieten zu können, sondern nur kleinlich Produziertes, von dem der Boulevard sich große Abende erhofft. Wollne Bauten, Kokonen gleich, welche Spinnen in ihrem Netz hüten. Umsponnener Fraß.
Ich wähle knochenbleiches Weiß.
"Leichter kann ein Totenhemd nicht sein", lächeln wir. Jene Mentalität von Bunkern, in denen man halb die Fahne hisst, halb geborgen sich wissen möchte. Suchtrupps, Hubschrauber, ich weiß ummantelt auf weitem Felde. Dabei schickt niemand mehr auch nur seinen Hund nach mir.
Auf dem Friedhof endlich beweinen Trockenbluter, was sie lebendig nie haben wollten. Denkverhältnisse, so beengt, dass kein zusätzliches Bett hinein passt. Am Wohlstand erkrankt, im Herzen Sparstrumpf, gerinnt Trockenblutern das Leben, bis es über ihnen zusammen wächst. Besenreine Fläche, wo Trockenbluter über Generationen zähes Tagewerk verrichteten. Als wäre die Welt reicher geworden durch solch ein Weniger, als wäre Tod dem Leben auch Heilung. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Reisefertig stehe ich vor dem Herrenausstatter. Es bleibt nicht mehr viel. Hinter den Fenstern ist Nacht. Keine Nacht, die herrscht, wartet, ruft, lockt. Eine Nacht, der gleich ist, was sie Menschenkindern bedeuten mag. Kriegen wir während ihrer Schicht unsere Angelegenheiten nicht geregelt, verbleiben wir eben dem Tag. Ohne Bestandsmeldung, was alles im Dunkel geboren und was gestorben. Fenster sind dabei selten mehr, als trübe Spiegel unseres Daseins: Der Herrenausstatter wie ein Homunculus, ich dagegen gleiche abgebrannter Milch, dumpf und verdorben. Jetzt gilt es, Worte zu finden.
"Ich schaff das!" sage ich.
Der Herrenausstatter blickt mir mit einem Male scheel als Gläubiger entgegen: "Gewiss!" vertraut er auf den Zins seines Tuns.
Ja, danach wollte ich fragen, nach dem Zins. Auslaufmodelle sind so leicht wohl kaum zu bergen.
"Ich pflege ein Poesiealbum Zeitungsartikel. Vermischtes vom Tage. Und berichten wird man doch wohl?"
Die Befähigung, aus Lauten mich zum Wort zu formen, macht kurz Pause. Selten erschien mir etwas sinnhafter, als solch Poesiealbum.
"Eine Liebhaberei mit Tradition in den Reihen meiner Ahnen", freut sich der Herrenausstatter. "Mein Großvater diente dem Leben bereits als Herrenausstatter. Früh sein Empfinden für den Frieden ausgesuchten Stoffes. Hasardeure aller Couleur blieben ihm die teuersten Kunden."
Der Herrenausstatter richtet zum letzten Male meinen Mantel. "Und so auch mir."
Dem letzten menschlichen Vorposten Sterbewohl wünschen, mein Ich erzittert. Außerstande, all die vergangenen Herrlichkeiten meines Wahnwitzes weiterhin mit Traumwandel zu unterhalten. Beinahe wähne ich mich in der Herrenausstattung auf einem leis sinkenden Schiff. Hier angeheizter Wohlstand, dort finstere See um den Gefrierpunkt. Nur dass hier gar nichts, absolut gar nichts sinkt. Ich sinke, ich allein.

Der Herrenausstatter hat sich zurückgezogen. In sein Rettungsboot aus Tradition und Poesie. Plünnen bleiben mir zum Adieu. Eine Etage mit auf Puppen gezogenen Plünnen. Elend wenig, wenn alles Begehren sich in den Feierabend verabschiedet.
Den nächsten Morgen bilde ich mir ein. All die Latte macchiatos, stramm im Glied geschlürft. Das Leben, wie es nach Milchhörnchen schmeckt. Ergüsse des Wollens über jener Dürre des Seins, welche mir entgegen stieren inmitten nächtlicher Herrenausstattung. Schon dimmt Notbeleuchtung auf, tunkt alles in das Rot glimmender Asche. Wie wenn unter mir Geröll urzeitlicher Behausungen knirscht. Geburt stelle ich mir in diesem Lichte vor, Schlaf, Tod.
Ganz früher, da war ich mal vergessen und eingeschlossen. Als es noch einen Vater gab. Hingegen heute keine Stimmung mehr aufkommen mag. Welche Nummer sollte ich auch wählen von dem Wandtelefon neben den Kassen? Und hinten der Notausgang bequem ins Freie. Das letzte Gebäude vor Himmelfahrt. Ich will in die Spielwarenabteilung!
Lassen wir unsere Augenblicke einfach los. Kein Kennen mehr, sondern ein Ersuchen. Soweit Licht uns führen mag. Wie viel Schöpfung fasst eines Sinnes Rand, wie weit dringt die Nacht?
Alles, was war, was Form gewesen ist, muss vollzogen worden sein, musste Dasein werden, lange bevor der Morgen es erblickte. Im Nebel nun mögen Wesenheiten aufziehen, die dem Warum entzogen sind. Augen, Münder, tausend Hände bilden sich uns ein. Kein Irren, vielmehr jenes Urahnen, welch Wassern wir einst entkrochen, welch Fließen unsere Gnade war. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Die Vitrinen der Spielwarenabteilung präsentieren nichts, wie es einmal war. Als Kind, da herrschte Tag. Wir stromerten durch die Warenhäuser, dampften vor Sonne, hatten weder hier noch dort etwas zu erledigen. Alles verweilte in Sehnsucht. Niemands Wunsch ward erfüllt auf entsetzlich banale Weise: Viele Sommerferien noch blieben wir davon befreit, Lotterbetten mit Liebe anreichern zu müssen.
Den Brettspielen wende ich mich zu. Pappminiaturen, welche das Kind einst fernhielten von der Ödnis ihrer als "lebendig" bezeichneten Vorbilder: Häuser kaufen. Mietzins kassieren. Mehr Häuser kaufen. Mehr Mietzins kassieren. Eher würfelte ich so Stunden allein mit mir, als bei den Erwachsenen, unter Tischgerede von Hauskauf und Mietzins, Futtertröge voll Sahne leerzulöffeln.
Löffeln. Mampfen. Fressen. Als Kind bereits ahnte ich, welch Sein eher Wiederkäuern zukommt, und welch Sein zumindest den Irrwitz wahrt.
Kostbar mag erscheinen, was niemand im Leben je verstehen wird. Jenes Heiter bis Wolkige der Liebe, das sich am Horizont aufbauscht, das tausend Booten in die Segel fährt. Jener Kurs ins Ungefähre, er scheint uns klar wie selten etwas auf den sieben Meeren.
Wir wollen Nichtsein. Trunken möchten wir über die Weiten hinweg stürmen. Als Freibeuter, als fliegender Holländer. Trennen, was bindet. Zauber sein und Fingerzeig.
Aber: wessen Beutel füllen solch zappelnde Piraten, wessen Mund berauben sie nicht? Bestürzt stehen Kinder an vogelfreien Lotterbetten, still ihre Fahnen vor Papas Weinbrand und Mamas Papageienlook. Der Vater geht mit Engeln um, Mutti übern Gartenzaun mit einem "Seelengefährten". Wo Kinder schon kaum mehr Blutsbrüder sein wollen, schließen Eltern Bund um Bund.
Wer wissen will, was in diesem Irgendwas von Welt Bleiben heißt, der soll mit Kindern ziehen. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Ich nestle ein Schachspiel aus der Folie, baue es auf vor mehreren Rollen Geschenkpapier. Spuren hinterlassen! lächle ich und schiebe die weiße Dame nach b3. Nun steht sie, meine Gewinnvariante der Indischen Verteidigung von Großmeister Grünfeld. Mein Zeichen Leben, für die Kassiererinnen morgen wohl nur eine Irritation ihrer Arbeitsabläufe.
Selbst habe ich den Lebensweg über aber auch nie nach neuen Schuhen verlangt. Im Auslaufmodell eines Anzugs mochte ich mich feiern, jedoch auf meine Schuhe ließ ich kein Wort kommen. Vielleicht wäre der Geschlechtsreifende nicht heim, vielleicht wäre der Herrenausstatter nicht fort in sein Rettungsboot aus Poesie, hätte ich beiden mehr zugemutet als abgegriffenes Schuhwerk.
Schon offenbart die Spielwarenabteilung mir ein Heldenkostüm. Für Kinder ab sechs Jahren. Und sogleich schnipple ich mir das rot gefärbte und mit Spinnennetz verzierte Stück Strumpfhose zu zwei langen Socken...
Bis zum Letzten werde ich keine Fassade hinaufschauen können, ohne auf ihrer Zinne Spider-Man wahrzunehmen. Ins Ferne mich schwingend, ewig neuen Horizonten entgegen: derart belüftet, wären das Leben und ich uns wohl einig geworden. Als Spinnentier verhandeln um etwas Gekreuche. Ja, vielleicht schiebe ich mir nun abschließend Käfer in den Mund, diesen letztendlichen Handel zu besiegeln.
...kaum ist solchermaßen das Schuhwerk mit neuen Socken geschnürt, fühle ich jenes Kinderglück einer Geheimidentität. Derart auf Heldensocken nehme ich mir meine letzten Meter Leben vor, wenn die Zeit gekommen ist.
Noch aber will ich mich verschwenden im Schein der aschfahlen Spielwarenabteilung, will Heiligabend sein und Mitternachtsmesse.
Erdfarben mögen wir überleben, spätestens unter dem Himmelszelt aber setzt selbst längst erwachsenes Menschengeschick aus. All unsere Wohllaute, konnten sie je sein ohne ein Türkis, ohne ein

Bordeaux? Liebend gerne pinseln wir Holz an, Beton und Stahl: Die Bleibe als Lebensereignis.
Welch Glaubenwollen hat uns derart zu Schönfärbern werden lassen, dass alles Unfassbare sogleich zum menschlichen Antlitz verhunzt wird? Was verzärtelt ist, bereichert nicht. Herausgeputzt, um zu sterben. Auslegeware, wo man auf Holz gebaut und auf Wasser, höhlt den fabelhaftesten Instinkt. Stubenphilosophen, Küchenmeister, die vom Feuer nichts wissen. In den Baumarkt, wer sich selbst berauben will. Verleben, was andere bewohnen. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Einen Indianerhäuptling setze ich auf den Verkaufstresen, eine Puppe "Schleckermäulchen". Beiden bin ich Rechenschaft schuldig über meiner Schulzeit. Jene Freitage, als wir in der Letzten Religion hatten bei Herrn Pusch. Wie er sanft uns predigte von Menschen, denen das Wasser bis zum Hals stehe, und was es mit dem "Bezahlen" auf sich habe. Derweil wir scharrten auf sein: "Schönes Wochenende!"
"Herr Pusch!" rufe ich in die Leere der Spielwarenabteilung. "Sie sind bestimmt längst hinüber, sind Sie nicht?"
Ich warte. Kleinlaut warte ich vor dem Lehrerzimmer des Pavillons der Klassen 5a und 5b. Alles dunkel.
"Die Wochenenden liegen hinter mir, Herr Pusch... ich bin bereit", flüstere ich, "ich bin bereit."
Wie wenig man die Leute kennt. Es kam vor, dass durchs Schlüsselloch gespäht wurde, was Herr Pusch alleine in dem kleinen Lehrerzimmer treiben mochte? Vielleicht fügt es sich vortrefflich,

wenn stets Phantasien aus jenen Räumen treten, die in unserem Dasein verblieben sind.
"Mein Gesicht gefällt Dir also?" will Herr Pusch wissen.
Selbst habe er seine Schulzeit erlitten, störte Herr Pusch eines Freitags unser Kalkulieren, wie lange es noch war bis zum Wochenende. Nicht wenige etwa schworen darauf, fortwährend bis 60 zu zählen. Die gerieten durch Herrn Pusch natürlich aus dem Takt. Immerhin war es ja auch lange her, dass Herr Pusch einen Klassenlehrer hatte, dem Herrn Puschs Gesicht nicht gefiel.
"Gefällt Dir mein Gesicht?" will Herr Pusch wissen.
"Wie einem so manches gefällt, nachts, allein."
"Man kann seinen Phantasien fernbleiben."
"Sehe ich aus wie einer, der sich das leisten kann?" Zum Beweis zerre ich meine geschnippelten Heldensocken unter den Hosenbeinen vor.
Herr Pusch nimmt Begradigungen vor an dem Kassengestell auf seiner Nase. "Immerhin leistest Du Dir viele Worte."
Wenn die Welt ist wie Beton, was bleibt dann mehr, als wenigstens mit seinem Blute für ein paar Schmierereien zu sorgen? Bestimmt keine Zeugnisse inneren Reichtums, was regelmäßig von den Grenzen der Welt geschrubbt wird.
"Nun habe ich mir Sie behalten, Herr Pusch."
"Seltsam, welch Lämmlein gegen Abend ins Hampeln geraten."
"Wahrlich die, aus denen kein Bock erwachsen ist."
"Warum nicht weiter still zurück sitzen? Es fehlt den Lämmern alles zum Bocksgesang."
"Haben Sie je einen Hinterbänkler zu Boden verbracht?"
"Nein."
"Und so muss ich dürres Stück Fleisch mich dem Schlachtblock eben aufdrängen."
Herr Pusch nickt: "Damit wenigstens Dein Fell vielleicht zu etwas gut ist."
"Niemand bin ich, der am Boden mit Teppichläufern sich eine gute Nacht wünschen will."
"Und ich Christenkind soll Deinem Schlachtblock nun Flair verschaffen?"
"Sie habe ich mir behalten, Herr Pusch."
Staunend verharren wir vor meinem Traumwandel, der Herr Pusch und ich, in welch rascher Weise Lämmer wie Christenkinder durch Traumwandeln dem Unterrichtsgespräch entfremdet sind. Schwer auszudenken, würden wir einander wahrhaft begreifen, dies irrsinnige Gebräu fremder Leute Kindereien und Hohelieder ins Hirn geschüttet bekommen. Allein Unverstand vermag uns zu retten vor solch Senkgruben Leben.
Nähe lässt sich am besten spüren, wenn niemand in der Nähe ist. Fern jeder Nähe, werden wir Nähe. Wobei wir das Bedürfnis, aneinander rumzumachen, nicht mit Nähe verwechseln sollten: Was der Schoß gebiert, bleibt fern ein Leben lang.
Seltsam zwar, dass viele sich jenem Nichts opfern, das "Gott" genannt wird, derweil man dem Nächsten nur Nächster ist, wenn "Gott" es will. Aber es entspricht dem Gleichstrom des Subjekts. Nur befriedet sein kann, was dem Selbst entflossen. Nah ist das Selbst allein sich selbst, "ich, Gott". Jenes Himmelreich, nach dem wir uns sehnen, ist Träumen ohne Maß. In Grabkammern, hinter tausend Siegeln, bewahrtes "ich, Gott". Allein in seinem Finstern, mit Gold und mit Edelsteinen. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Also schicke ich Herrn Pusch in mir nach Edelsteinen suchen. Schmückendes hinauf zu schaffen, welches meiner Himmelfahrt entschieden mehr Würde verleiht.
Viel Zeit bleibt nicht. Kaum auszudenken, wenn gleich die Nacht über mich kommt mit eisigen Böen, derweil sie in den Schlafstädten Häppchen mümmeln vor dem Fernseher, Haustiere herzen, vielleicht alle Jubeljahr den Bestatter rufen. So natürlich vollzieht es sich, wie bei den Tieren des Waldes, während ich hier in einem notbeleuchteten Kaufhaus abhänge, und gewiss anderes zu erwarten habe, als neue Staffeln alter Serien.
Eine Wahl, noch habe ich sie. Ich könnte mir in der Herrenausstattung mein Geld wiederholen, unten bei der Unterhaltungselektronik einige Boxen Filme mitgehen lassen, heimfahren inmitten von Pärchen, die es sich den Abend über haben gutgehen lassen. Der Umschlag auf dem Wohnzimmertischchen wäre schnell zerrissen. Stecker vom Fernseher wieder rein, etwas Staub vom Herd, schon stünde ich bereit, auf vierundvierzig Quadratmetern weiterhin Leben zu verrichten. Zwanzig, dreißig, vielleicht vierzig, fünfzig Jahre. Und selbst dann wird das Radio dudeln, als habe es eben erst den Sendebetrieb aufgenommen.
Zehn Radios könnte ich erwerben, jedes auf anderer Frequenz vierundvierzig Quadratmeter Leben bespielen lassen: es bliebe still wie nachts auf viertausendvierhundert Quadratmetern Warenhaus. Geräusche sind kein Leben, Bewegungen keine Handlung. Wird auf viertausendvierhundert Quadratmetern Milchschaum gelöffelt, ist das gegenüber Puppen Marke "Schleckermäulchen" nur ein Mehr an umgesetzten Fetten. Da erscheint jede Tat als Butze, die es trocken zu wohnen gilt.
Wären wir allein unsere Tat, wären wir nicht mehr als Sensen in der Unendlichkeit wogenden Korns. Ein Schnittern nur, ein Trennen. Sekundesein an Sekundesein. Wie aber glänzt der Schnitt, wenn die Sense längst gesunken? Jenes ahnungsvolle Schmieden reinster Bewegung. Das Auf, das Ab, der Schwung mittendrin. Aufschwung. Ab. Zwei Worte, welche die Werke von Generationen wahren. Auserwählt jene zum Mensch gefügten Silben, die ihrem Tun ihr Tun nachsprechen, bis Bewegung sich erhebt: Was vorher bloß aneinander gereiht, krönt sich nun zur Handlung. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volk.
Hingegen niemand dem Wind, dem Meer, den versammelten Naturgewalten nachsagen kann, einem Vergnügen zu dienen. Selbst Vieh, welches ja, der Sage nach, nur beschränkt Einsicht hat ins Leben, ergibt sich still seiner Weide, statt röhrend alle Viere leiern zu lassen. Und welch höhere Pflicht erwächst aus dem Leben, als die des Todes?
Im Fleisch bin ich dem Drugstore nahe, verbannt von immergrünen Wiesen. Gewächs bin ich, das nach Wasser giert und befruchtet sein will, das Stein behaust und in hundert Nächten sein Maß verliert. Eher gibt meine Natur mir auf, als Stumpf zu vegetieren, als gerupft dem Wind mich darzubieten. Keine Herbstwiese bin ich, die nach ihrer Stunde verlangt.
Doch barme ich lieber Ewigkeiten, statt gegebenes Handwerk zu vollziehen. Sekunden nur, die der Führung bedürfen. Elende Auswüchse, welche beschnitten sein wollen. Was ist fromm daran, was unserer Schöpfung gefällig, sich auf hundert Jahre ins Kraut schießen zu lassen? Als wären Windelhöschen der Menschheit Festbekleidung.
Gleich einem Zündholz streiche ich die Regale der Spielwarenabteilung entlang. Wie ein Christbaum will ich entflammen, herunter brennen will ich. Zusammengefegt liegen, in ein Behältnis getan sein.
Hätte ich mich je aufs Feinstoffliche besonnen, wäre nun wohl Ahnung in mir, welch Zeitgenossen mich unter Tage beehren, wenn mein friedlich Beisammensein tiefer und tiefer sinkt ins Erdenreich.
Menschenmaß sein, Zahl ohne Namen. Mietzins, vom Leben abgebucht. Wozu fügen, was nur ein Auf und Ab verträgt? Hinunter auf den Quadratmeter bröckelt der Gedanke. Aufstampfen, gerade heraus sich wenden, und doch nur Lärm machen. Nicht Tat, sondern Ruhestörung.
In Winkeln leis sich vorwärtsziehen. Unten bleiben. Bleib unten. Damit Du Luft erlangst im Pulverrauch Deiner Zeit. Vergrabe, wo andere sich emportun. Was ihnen Moder, ist Dir Blüte. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Die erste Flugreise als Kind. Angst hatte ich, festgenommen zu werden wegen zweier Stücken Plastik, die, hellgrün und blau gefärbt, einer Pistole und einem Messerchen nachempfunden waren. Aber nirgends leuchtete Alarm, niemand erkannte in mir mehr als ein Kind, das Angst hat um sein Spielzeug.
Für bedeutungslos befunden und nach sonstwo durchgewunken zu werden, im Beginnen meines Lebens hat mich das nicht verstört. Alle Anteilnahme fahren lassen, immergrün mit mir selber spielen, wohl wissend, dass schon irgendwo eine Mutter sein wird. Wie wäre man sonst zum Sitzen gekommen, wo man gerade Steine mehrt, Sand anhäuft, sich sein Hüttchen baut.
Spätnachmittags am Zaun seines Kindergartens stehen, ausschauen nach der Mutti.
Die allermeisten warten bis weit in die Dunkelheit, bis ihnen das Bewusstsein schwindet. Und kurz bevor sie zu Boden sinken, scheint am Horizont tatsächlich jemand nach ihnen zu verlangen. Diese Seligen.
Früh machte ich mich davon. Fort von all den Wippen, Schaukeln, Gerüsten, an welche amtlich überprüfte Gärtnerinnen uns gewöhnen sollten. Lächelnd zeigten sich die Gärtnerinnen, wann immer wir 's Bällchen oder Stöckchen holten. Mütter versprachen sie, Mütter, die stolz sein würden auf uns.
Bevor die Gärtnerinnen mich aber regelgerecht abtöpfen konnten, lief ich längst durch die Straßen. Zuerst freundlich angesehen als verirrtes Kind, dann kritischer, bis man nach der Obrigkeit zu flüstern begann.
Meine Freiheit, das war, als wenn alles keinen Namen mit sich trug. Wo ringsum Sittenpolizei Streife ging, Begriffsstutzigen den Weg zu weisen, fand ich für mich nirgends ein Ort im Weltbild. Keines der rosig gemalten Kinder, kein Halbstarker, dessen Schritt man sonderlich ausschmücken mochte, kein Familienoberhaupt, das bei Tisch stolz von den Kartoffeln nimmt. Nirgends ward ein anderer Zusammenhang, als jener, der mir gegeben war, mir allein. Straße für Straße musste ich mir so erschließen. Vom Milchmann bis zum Laternenumzug. Tausende Seiten Bildung leimte ich über einen Abgrund Unverstand. Auf welche Weise Genussmittel Unschuld zur Matratze wandeln, wie prall Samenblasen werden können: Ich wusste alles, und begriff nichts.
Seltsam, so für eine Weile von den Sternen hinab gefallen zu sein. Hätte ich versucht, mein Fleisch mit Liebe vor dem Verderben zu retten, fände ich mich jetzt wohl anderswo wieder, als in der Spielwarenabteilung eines notbeleuchteten Kaufhauses. Vielleicht mit kaltem Schweiß im Dunkel eines von grünen Lämpchen notbeleuchteten Reihenhauses? Vielleicht am Ausschank des Nachtlebens, Haare gefärbt, Zähne gebleicht? Alles wegen etwas Funkenschlag in einem Rund, das weder Himmel ist noch Erde.
Ich drücke den mit einer Note beklebten Bauch eines Stoffesels: "Ich bin so fröhlich!" tönt der Esel. "Ich bin so fröhlich!"

In der Seitenstraße, am Notausgang des Kaufhauses, treffe ich Herrn Pusch wieder. Er wirkt in seinem Parka wie auf Klassenreise, bereit zur Nachtwanderung. Er wirkt nicht, als habe er während seines Weges durch mein Wesen Edelsteine gefunden. Dagegen wohl Haufen banaler Sündhaftigkeit. Rollkommandos des Alltags, Totschläger, mit denen schwerlich Himmelfahrt zu machen ist. Es wird mich also noch einiges an Bewusstlosigkeit kosten, endlich den Abflug machen zu können. Fest halte ich meinen Stoffesel im Arm, will sonst kein Ding der Welt mehr besitzen.
Bullen, die nicht mehr ziehen mögen, sondern genießen, sind ein Witz ihrer Natur. Als wenn wir Muskeln hätten zum Flanieren. Wir müssen uns schon einspannen, wollen wir Frieden finden.
Wobei besonders jener kleinste gemeinsame Nenner des Hungers anziehend wirkt. Von der Hand in den Mund als kürzester Weg, ganze Völker zu befrieden. Herzen, die früh Feierabend machen können. Bullen, welche Muselmännern aufhelfen, statt Fettwänste in die Knie zu zwingen. Solch ein Jöchlein kann der Friede nicht sein.
Weder Dornen noch Dürre, Irrsinn ist das Maß, das es zu ertragen gilt. Fressende Sattheit, ersaufendes Glück, armseliger Götzendienst. Hunger ist seit Anbeginn eine Herausforderung des Lebens, wie aber lässt sich der Fleisch gewordene Tod unterjochen? So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Herr Pusch regt einen kleinen Rundgang an, bevor wir die Stadt hinter uns lassen, die Jahrzehnte mir Kulisse war. Und siehe, ich fühle mich verwandelt. Kein Gezetere mehr in mir um jeden Meter Weg, wie entsetzlich es doch sei, ohne Not sich der Himmelfahrt anzuvertrauen. Als hätte die Welt ringsum Kehraus gemacht, was den Sommer meiner Generation betrifft. Jene jahrhundertealte Flaniermeile zwischen Kaufhaus und Hauptbahnhof, sie empfängt mich ohne jede Teilnahme. Mit Herrn Pusch stehe ich dort auf Trottoir wie auf Frost. Als müsste ich mit dem Eispickel ran, Erinnerungen vielleicht ein Stück weit freizulegen unter Schichten des Vergessens.
"Mein Wesen ist mir gefroren", sage ich zu Herrn Pusch.
Aber der Seelenhirte lächelt natürlich wie einer lächeln kann, der längst nicht mehr zappelt am Haken mit Namen Eitelkeit. Als zum

Traume gewandelter Mensch ruft Herr Pusch gewiss nie mehr nach dem Richter.
Getrieben von der Eiseskälte im Gemüt des Abgewiesenen, mühe ich mich, die Flaniermeile mit meinem Leben zu verbinden, wie sie sich einst jung mir zeigte. Jene Zeit, wo zwei, drei Stationen Bahn schon reichten, mich am anderen Ende der Welt aussteigen zu lassen.
"Hallo Papa!" flüstere ich, als endlich mein Vater vortritt, auf der Flaniermeile nach meiner Mutter zu telefonieren. Um einen Schachcomputer ging es, ob ich sämtliche Ersparnisse dafür geben durfte?
Ich durfte. Doch kaum ist das schachspielende Blechäffchen in der Erinnerung wieder mein, ist Nacht, wo Papa eben noch stand.
Gerade so glückt es mir darauf, am anderen Ende der Flaniermeile die 10b eines längst vergangenen Schuljahrgangs zu sammeln. Ich etwas abseits, während man sich ein letztes Mal zum Klassenausflug bereitfand. Neben mir das Mädchen, das bereits zur Himmelfahrt sich einfand, als wir alle noch im Rausch unseres Jugendwahns dämmerten.
Wie verhält es sich mit Leben, das außerhalb jeder Wahrnehmung vollzogen wird? Ein Zerschmettern auf immergrünen Weiden, als würden selbst Blumen, selbst Singvögel sich abwenden.
Dem können wir nur Wahn entgegen setzen. Wahn, der ausstaffiert sein will. Kulissen, finanziert aus Sozialkapital. „Freunde“, die wir ihren Anteil nehmen lassen an unserem Sein. Ob wir nun Waffeleisen gekauft haben oder nach China gereist sind, alles ein Mau Mau mit Gefühl: Erklären wir Waffeleisen zum Trumpf, zeigen Freunde unbedingtes Interesse an Waffeleisen. Präsentieren wir China, präsentieren Freunde unbedingtes Interesse an China.
Wahn bedingungsloser Freundschaft spült das Leben weich. So können wir uns Blumen überziehen und Singvögel beherzigen. Keine Halden blindwütigen Erfahrens sind wir mehr, sondern umsorgte Quellen reinen Erlebens. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Nun leben Flaniermeilen vom Dämmerzustande der Flaneure. Und mir unschön Erwachten wird rasch deutlich, mit Recht nach einer Tür hinaus aus dem Erwachen zu verlangen, hinein in eine Dämmerung, wo sich hoffentlich Eingang in den Wahnwitz finden lässt. Glimmende Bierlaunen, schwelende Weine, feuerrote Alkopops - all diese Brandbeschleuniger, die zündeln, bis mein Hirn fixe Ideen abfackelt, sind mir aber selbst jetzt noch fremd.
"Zeit für das Abendmahl", lächelt Herr Pusch.
Mir kommt eine Pinte in den Sinn, aus der ich als Kind Litaneien hörte: "Heiliger Wirt, befreie mich von meiner Alten!" Die Weisen des Akkordeons, denen mein Vater einst Wohlwollen entgegen brachte. Der "Puppenspieler", vielleicht zwanzig Minuten Fußweg.
"Am kürzesten ist es vorbei am Gotteshaus", rät Herr Pusch. Auf eine Sehenswürdigkeit christlichen Sonntagsstaates deutet er, in Stadtführern wohlerwähnt. Wobei man vielleicht auch schreiben sollte, dass der Ausguck im Turm zugedrahtet ist. Gäbe es eine Rubrik "Himmelfahrt", wäre dort kein Stern fällig.
Mochte modernes Glaubenschaffen mit manchem Lichtbild Gottes meine Sinne erfreuen, wahrhaft inne hielten mich allein Linien und Schwünge der Symbolkunst.
Licht lässt allzu vieles ins Leben, was nicht der Logik des Lebens entspricht. Erst Symbole schärfen den Sinn für die Bedeutung eines jeden Seins.
Im Lichte ihres Empfindens werden Menschen durchgereicht vom Tage in die Nacht, von der Nacht in den Tag. Empfinden kennt kein Halten, nur stetiges Vergehen.
Symbole hingegen schaffen Formen. Formen empfinden nach, was dem Licht längst verloren ist. Formen sind Gestalten, Gestalten sind Leben. Reines, dem Allzumenschlichen abgewonnenes Leben. Leben heißt: Symbolisieren.
Erinnerungen sind Kirchen. Kein Gedenken ohne Weihe. Niemand will leben, was wie Schotter den Berg hinab rauscht. Nachts im Steinbruch wollen wir Allmacht spüren. Lieber launig verworfen sein, als mit den Jahreszeiten verwittern.
Nacht ist es, wirklich Nacht, als ich mit Herrn Pusch vor dem Gotteshaus aufkreuze. Beinahe gewalttätig erhebt das Mauerwerk sich in die Luft. Ewigkeit thront hier, welche alles Aufbegehren mit sanfter Hand zermalmt.
Keck steht Herr Pusch im Abglanz sengenden Scheinwerferlichtes, das dem Kirchturm weithin Geltung verleiht. Vor einem abseitigen Tor steht Herr Pusch. Der Knauf des Tores verziert mit christlicher Tierwelt.
"Wir nehmen den Weg der Särge", sagt er.
Mich inspirierte zeitlebens das Symbol Christi vom Sämann. Beim Mittagstisch des Schlachthofes tat ich es mit jener Neugier kund, mit der ich zum Frühstück als Kind Apfelkerne in die Erde drückte. Wobei natürlich Hoffnung keimte, aus meiner Saat möge Symbolisches erwachsen, wie es in tausend Jahren nicht totzutrampeln ist.
Symbolisieren bedeutete mir nachhaltigste Aggression. Kein Clown war ich, der Menschen unter Einsatz von Schlachtfleisch urbar machen wollte. Eines Sämannes Symbol kann nur sein, wenn dagegen das Flüchtige des Irdischen sich seinem Unsinn ergibt.
Sämänner, wie ich sie verstand, wussten für sich weder Beginn noch Ende. Sämänner taten im Ist ihrer Saat. Erwartungen an jenes Gesande, das sich Erdenreich nennt, sind eines Sämannes Angelegenheit zu keiner Zeit.

Im Kirchenschiff hunderte Lichter. Herzblutig eingefärbt durch Zutun ihrer Behältnisse. Kirchenbänke, derart aufgereiht, als wären sie die eigentlich Andächtigen, und das sonntägliche Leben auf ihnen nur schwüler Hauch. Umstände, wie sie Macht über mich gewinnen. Keineswegs zärtlich beäugt das Kirchenrund meine Himmelfahrt. Ich habe mich noch tüchtig zu neigen, will ich Frieden finden.
Herr Pusch ist nun ganz Besitzer eines biblischen Gutes. Stolz auf seine Saat, schreitet Herr Pusch Kandelaber ab, nickt hier einem Flämmchen zu, genießt dort einen Wohlgeruch: Was uns im Leben an Liebe nicht glückt, im Traume vermögen wir es. Wahrscheinlich, weil sich langwierige An- und Abfahrten erübrigen, die gerade unter der Woche vieles streichen von unserem Plan vom Glück. Tatsächlich wechselte ich mit Herrn Pusch nie ein persönliches Wort, mir ist auch nicht in Erinnerung, mich an seinem Unterricht sonderlich beteiligt zu haben. Nun im Traume aber ziehen wir um die Häuser, der Herr Pusch und ich.

Gotteshäusler gibt es, die gehen mit der Wahrheit um, als habe man über Jesus Christus nicht gespottet, ihn weder gegeißelt noch gekreuzigt, sondern zum König von Jerusalem erhoben. Ihnen ist nach Bergpredigten, während der Karfreitag ihnen höchstens Anlass ist, sich kulinarisch zurück zu halten.
Verlassen sein - vom Gottvater, von den Gefährten, von allen anderen sowieso - das ist wohl jener Frieden, nach dem des Menschen Herz, bar jedes Gedankens, dem Traume zugetan, sich sehnt: Verworfen im Schmerz, preisgegeben dem Verderben, verzweifelt genug, sich seiner allerletzten Herausforderung zu ergeben.
Der Kreuzweg Christi ward ein Vorausgehen, das Leibesopfer dem Menschen Blutspur.
Wäre der Kreuzweg ein für alle Mal gegangen, wäre des Menschen Dasein gehaltlos wie jenes von Knallbonbons, bloßes Herumgelärme.
Jesus Christus nahm dem Menschen weder sein Kreuz ab, noch starb er für ihn am Kreuz. Will ein Mensch Frieden finden, müssen er Jesus Christus auf dem Kreuzwege nachfolgen.
"Warum so still?" verlangt Herr Pusch zu wissen.
"Weil Sie, außerhalb meines Traumgewandels, wahrscheinlich nicht einmal mehr Knochen sind."
Herr Pusch lässt sich in erster Reihe nieder. Seine Augen ruhen auf dem Altar. Ein Steinbehau, wie süßer die Glocken nicht klingen. Herr Pusch breitet die Arme aus. Herr Pusch lacht. Herr Pusch winkt mich an sein Herz. Für einen Augenblick ist es, als würde Leere auf mich niederstürzen. Kalt ist es geworden im Kirchenschiff. Beinahe bin ich versucht, meinen Atem vor Augen sehen zu wollen. Das wäre jedoch selbst mir etwas viel Traumwandel. Die Welt wird Morgen von neuem einen sonnigen Tag erleben. Aufmerksame Beobachter mögen mehr Spuren Eis registrieren, aber glitzernd in der Sonne. Ich lasse mich neben Herrn Pusch fallen, bald achtundvierzig Stunden ohne Schlaf.
Gott schenkt dem Menschen Wasser, auf dass der Mensch in des Wassers Lichte nach des Menschen Antlitz frage. Sein flüchtig Aufglänzen, sein Verfließen ins Ferne.
Wasser reinigt den Menschen von der Furcht um sein Selbst.
Hingegen des Menschen eitles Handwerk ihn narrt mit Spiegeln, mit schmeichelndem Schein künstlichen Lichts. Fleisch, wie es mehr und mehr verdirbt, mag der Mensch es noch so lebhaft ausmalen und -leuchten.
Im Spiegel steht ein Mensch dem Leben fern, glaubt er auch, es genau zu erkennen. Seinen Tod schaut der Mensch im Spiegel an, nicht den Geist, der lebendig macht.
Weinen müsste man nun können, trauern. Etwas, das loslöst von der Schwerkraft ausgelebter Gotteshäuslichkeit. Stattdessen mümmeln mich Zerrbilder an in Gestalt des Geschlechtsreifenden und des Herrn Pusch. Schwülstige Sehnsucht, zurück gehalten zu werden, errettet zu sein. Kein Mensch, der sich unter dem Himmelreich mehr vorstellen kann, als die Heimeligkeit gesteigerter Normalität: Endlos Freibier mit dem Besten, was Blutsverwandtschaft und Freundeskult je hergaben.
"Das Fegefeuer ist vielleicht, uns selbst nie die Welt zu

bedeuten", dabei streicht Herr Pusch sich leichthin über den Brustkorb.
Erkennbar im Reinen ist Herr Pusch damit, ins Leben gezwungener Teil meines Gefühlshaushaltes zu sein.
"Gott weiß, in was für Schmelztiegel wir uns begeben, um in ein Du gegossen zu sein." Leise höre ich mich, von ferne. Die Kirchenbank unter meinen Händen verliert ihr Sein im Traumwandel
Der Mensch kann nicht spähen wie ein Adler, nicht wittern wie ein Wolf, nicht horchen wie ein Luchs. Er kann nur beschreiben, was ist. Ohne sinnliche Anschauung, mit den wenigen Farben, die ihm gegeben sind.
Entsprechend kindlich bildet des Menschen Herz ab, was in Wirklichkeit die Schöpfung krönt.
Warum soll ein Mensch allein Ausformung dürren Fleisches sein?
Eines Menschen Geist ist die Energie, die Blitze durchs Himmelsrund schleudert, eines Menschen Wort der Schall, aus dem der Donner ist, eines Menschen Liebe das Garn, aus dem Träume sind.
Wie ein Mensch in Erinnerungen lebt, gedenkt die Schöpfung seiner. Jene Weite menschlichen Erlebens, die eines Nachts heimfließt ins Universum.
Wie sehen Erinnerungen aus, wie sind Erinnerungen beschaffen? Plötzlich erinnern Menschen, was sie längst vergessen glaubten. Möglich, dass keinem Menschen je ein Stück Geist entfallen ist. Was wäre der Mensch nun frei von einem Bewusstsein, das in die Irre führt?
Vielleicht finden die Erinnerungen von Mutter und Vater jenseits der Sterne die meinigen, weil wir auf eine Weise gemeinsam schwingen. Dann sind wir uns so nahe, wie niemals im Leben. Dann sind wir wieder vereint am Strand von Hohwacht. Für immer.
"Ein gutes Zeichen", kommentiert Herr Pusch.
Auch mir schlägt das Herz, auf welche ungestüme Weise der Traumwandel nach mir greift. Als würde aus meinen Untiefen empor stoben, was mich letztendlich einzieht.
"Todesfunken", murmele ich, "der Todesfunken!"
Ein Funken nur, was Jahrzehnte aufstampfte und allem Fleische abverlangt.
Meine Hand drückt den Stoffesel. "Ich bin so fröhlich", schnarrt es durchs Kirchenrund, "ich bin so fröhlich!"
Mit einer Verneigung zieht der Traumwandel sich zurück, bleibt aber am Rande, seine Pflicht zu tun, wenn es soweit ist.
Mein Leben lang, fünfzig Jahre, habe ich mich Morgen für Morgen auf-, bereit- und eingefunden zum Dasein, tausende Male erwachte ich noch aus der kleinsten Dämmerung mit dem Marschbefehl, geträumt zu haben. Nun nehme ich mich ein letztes Mal in Betrieb.
Dutzende Kirchenbänke ließ ich hinter mir. Kirchenbänke, auf denen ich kniete, hoffte, leis meinem Handeln Wert zubilligte. Dabei stets die Gebetsmühlen anderer im Ohr, stets weit genug abgedrängt, weder auf dem Altar ein Christkindlein zu entdecken, noch es nicht zu entdecken. Immer blieb genug Herrlichkeit, die als verborgen anzuerkennen war. Herrlichkeit, nach der ich spähen konnte:

Allmacht kann es nach menschlichem Ermessen nicht geben, weil keine Verbindung herzustellen ist zwischen dem in die Zukunft sehen können einerseits und dem treffen freier Entscheidungen andererseits. Angenommen, der Menschen Schöpferwesen sieht in seiner Zukunft, dass es Morgen ruhen wird. Am Morgen endlich MUSS der Menschen Schöpferwesen dann aber auch ruhen, da es ansonsten in die Zukunft nicht schauen kann.
Solch philosophisches Zerstörungswerk ging mir Geschlechtsreifenden leicht vom Munde, war ich doch unsterblich in meiner Reife. Was also weiter anfangen mit einem "Lieben Gott", einem Himmelreich?
Derart erwachsen auf den Höhen allen Reifens empfand ich mich, dass ich auf bucklige Vaterunser verzichten konnte. Aus der Bibel brauchte ich mir kein Schicksal borgen, ich hatte eines. Dem „Lieben Gott“ fühlte ich mich so über, wie manche Gotteshäusler den Tiergöttern der Naturvölker. Ewiges Leben im Gefolge einer nie enden wollenden Geschlechtsreife, für die Sterne ruhig Pinselkleckse bleiben konnten: Höhepunkten noch über den Sternen fühlte ich mich verbunden. Geschlechtsreife, welche nicht nachfragen braucht in ihrer Gnade voll Selbstverständlichkeit. Natürlich erwachsene Heiligtümer der Erregung, wo Normalsterbliche Kirchen bitter nötig hatten.
Gleich einem Rowdy fiel ich über handgeschnitzte Altäre her. Altäre, deren mühevolle Errichtung für sich schon ein Gnadenbrot im Dienste des Herrn bedeutete. Mit den Füßen suchte ich dort Wahrheit zu schaffen. Holz blieb Holz, und Holz musste krachen. Liebevolle Lichter, für mich als Erben entzündet, blies ich fort. In meiner Wahrheit erkannte ich meine Stärke. Meine Wahrheit, das waren Trümmer.
Friedensangebote gab es genug, aber ich wählte das Kriegshandwerk. Ein Kreuzritter, dem noch das argloseste Beisammensein Schlachtfeld war. Und kein Zurück mehr, kein Zurück. Der Himmel schweigt, um mich herum Zerstörung. Ich wollte Fleisch zu Asche brennen. Jetzt brennt es. Meins.

"Was kann ich für Dich tun?" Herr Pusch wendet sich seinem Glaubensgeschäft zu, seiner Kernkompetenz. Der Geistliche, der einen zur Himmelfahrt holt, hier ist er nun. Als würden sich Schlüssel im Schloss meiner Zellentür drehen. Wobei ich mir bereits zu viel Ehre gönne, Herr Pusch ist ja allein im Zellentrakt meines Kopfes.
Ohne Willen zum Wahnwitz, ließe das Leben mich sitzen auf wackeligen Kirchenbänken, wie wenn ich das vergessene Blatt eines Gemeindebriefes wäre: "Wir trauern um..." fünf, zehn, zwanzig Namen.
Streng genommen bedeutet selbst das zu viel Ehre. Keine Gemeinde, welcher mein Name nicht längst aus der Kartei gefallen ist. Also bin ich ein vergessener Name auf einer vergessenen Seite eines vergessenen Gemeindebriefes.
Wenn ich aber zur Ruhe finden will, sollte ich mich vielleicht mit etwas Dankbarkeit betten, dass der Herr Pusch in meinem Traumwandel nicht biologisch abbaubar ist, niemand, dem man in einem fort Brot zuteilen müsste.
Welch trauriges Gespann wären wir, wenn auch Herr Pusch barmend durchs Dunkel trotten würde, einen Stoffesel unterm Arm. So hingegen bleibt die Würde von Gesellen, die nicht austreten müssen.
Trickfiguren kommen mir in den Sinn, wie sie über den Rand einer Klippe eilen, wie sie eilen und eilen, ohne weiter Boden unter den Füßen zu haben, ehe ihre Augen sich derart weiten, dass jedes Kind lachen muss. Weil es kein Schrecken ist, sondern ein Verwundern, derart leicht ins Himmlische geraten zu sein. Selbst der tatsächliche Übergang, das rasante Abfallen allen Fleisches, mag bestimmt werden von jenem sich Wundern: Kurios. Kurios.
"Ich möchte mit Ihnen auf die Höhe meiner Welt spazieren", wünsche mir von Herrn Pusch.
Wild sein, das stolz noch sich hören lässt, wenn um es herum längst jenes Lauern herrscht, welches den Odem dessen, was vom Leben abgeschieden, als alleiniges Regen auf weitem Felde erscheinen lässt.
Mir das Gemüt waschen, darum geht es nun. Reinheit ist Erlösung. Wie ich der Welt auch begegnet bin, stets zeigte sie mir eine Nase. Wollte ich die Welt berauben, wollte ich die Welt schänden, schaute die Welt, als hätte ich eine Heilige Messe gestürmt. Nahte ich in Soutane, tanzte die Welt bocksbeinig Reigen um Reigen. Wahrscheinlich muss ich froh sein, dass die Welt mich nicht verwarf, sondern am Rande fiepen ließ.
"Wir könnten von der Liebe reden", Herr Pusch blickt zu Boden.
Natürlich weiß Herr Pusch, dass kein Frauenzimmer mehr in meinem Kopfknast ist, nicht mal eine Liebeszelle.
Wenn ich den Geschlechtsreifenden endlich zur Himmelfahrt abhole, vielleicht hält er das erste Stück Weg ein Mädchen bei der Hand. So aber sind sämtliche mir verbliebene Bildnisse dessen, was gemeinhin "Liebe" sich nennen lassen muss, längst zerstoben, kaum dass ich einen Namen ahne.
Ohnehin werde ich mich an kein Weibsbild entsinnen, das nicht am Tropf eines Gottes hing. Mochte er bloße Sage sein oder gar mit Handynummer schmeicheln: der Kontext blieb stets Schwärmerei, gelehrtes Ammenwesen. Allein meinen Mund hätte ich halten brauchen, um als stattlich geratener Schmusekater vorm Traualtar Leben um Leben versprochen zu bekommen. Tatsächlich blickt nun jedes Haustier hinab auf mein mickriges Ende, welches nur mit Wahn sich leidlich ausstaffieren lässt.
Ich blicke empor zu den Abbildern der Heiligen. Kerzenschein, in welchem Herr Pusch mir keine Hilfe sein wird. Was im Traumwandel auch zu einem spricht, seltsamerweise ist es nie gebildeter als der solchermaßen Angesprochene. Jedes Mosaik, das Namen verlangt und Zahlen, jeder lieblich gezeichnete Rauschebart im Kirchenrund, alles reduziert meinen Herrn Pusch sogleich zur Jämmerlichkeit eines Kopfknastes.
Vorm Altar mit solch lichten Gesellen Abendmahl zu feiern, lohnt so wenig wie ein Herrengedeck an der erstbesten Tränke. Im Stall zwischen Futterkrippen geboren liegen, ist weniger armselig, als ledergebundene Schwurbeln weismachen mögen.
Die Wege ebnen sich. Zwar vermag ich noch, den Gotteshäusler vom Affen zu scheiden, doch die Urzeit dämmert mir, als alles Wasser war und Luft. Dem lebenslangen Wunsch, oben zu schwimmen, bleibt kaum mehr Zeit, vergessen zu sein. Wer ringt weiter mit Naturgewalten, wenn er hinter sämtlichen Horizonten den Ozean weiß?
Klarheit, die allein durch Gestrample nach Leben trübe wird. Kein Mensch je kleidete sich mit Stoff, aus dem das Leben ist. Allesamt drückten Verderben an ihr Herz.
Herr Pusch wendet sich zum Gehen. Lang genug habe ich mich geweigert, ihm fromme Lieder zu singen. Selbst das Personal meines Kopfknastes mag also nicht länger dulden, dass ich an keinem Gitter vorbei kann, ohne dagegen zu wüten.
Hätte ich nur meinen Beinen ihren Lauf gelassen! Der geringste Freigang noch hätte gelangt für ein Leben. Kein Tier, das irgendwann danach verlangt, unter Palmen Gassi zu gehen. Mein Viereck Dasein. Meter für Meter Beton, an dem ich mich aufrecht erhalten oder zur Nacht beruhigen kann.
"Warten Sie!" flehe ich. "Lobpreisen will ich mit Ihnen!"
Bereit bin ich für jeden Eid, im Angesicht meiner Himmelfahrt nicht als Abfall der eigenen Sittenpolizei dazuliegen. Verurteilt, vom nächsten Regen ausgewaschen zu sein. Dem Moder überlassen, mit einem Bühnenbild gewesener Moral, über das ich jahrzehntelang alle Welt in Kenntnis setzte. Einem Bühnenbild, das kein von mir ersponnenes Strichmännchen mehr bespielen mag.
Wenn man krakeelt hat, lange vergeblich krakeelt, auf welche Weise nimmt man Platz, seine Füße fortan still zu halten?
Ich breite die Arme nicht aus, Herrn Pusch einige wenige Stunden für einen neuen Bund zu gewinnen. Ich ziehe unter der Kirchenbank das nächstbeste Gesangsbuch vor und falle mit flammendem Lobpreis über das Kirchenschiff her. Beinahe brülle ich unter dem Anblick, wie Herr Pusch die Maske des Scharfrichters überzieht.
Stelle ich mir einen Scharfrichter vor, dann auf jene leise Weise, mit der Herr Pusch hinter mich rückt, bis er mir im Genick sitzt: "Besser?"
Tatsächlich streicht die Befürchtung, sogleich von einem Draht um den Hals nach hinten gerissen zu werden, meinen Gefühlshaushalt angenehm zusammen. Wie Kinder sich darauf einschwören, was unter ihren Betten lauern mag oder im Wandschrank.
Furcht ist vielleicht meine letzte Zuflucht, mich zurück in die Hochhausbutze zu kehren. Auf der Matratze kauern vor dem Untier Finsternis. Ich spüre, wie die Verwaltung meines Kopfknastes den unbedingten Erhalt des Mauerwerkes fordert. Selbst wenn mich niemand zwingen kann, während solch versifftem Nachtlager auch nur einen Bissen Leben zu begehren. Nur ich und der Hunger, ich stelle es mir wundervoll vor. Stattdessen nun die Kür einer Himmelfahrt, wo ich in Jahrzehnten meiner Pflicht schon keinen Beifall abgewinnen konnte. Tatsächlich hofft der Herrenausstatter wohl vergebens auf eine Randnotiz in der Tagespresse.
Dann wird er nicht mehr viel Licht zu verteilen haben, vermute ich.
Selbst Hand an meine Gurgel legen, während ich im Traume einen Scharfrichter seines Amtes walten lasse, es bleibt mir unmöglich. Zum Beweis drücke ich erneut den Stoffesel: "Ich bin so fröhlich..."
Tatsächlich überkommt Herrn Pusch zu keinem Zeitpunkt die Mordlust des Verhöhnten. Wie auch, wenn selbst seine Liegefrist auf einem der Gottesäcker dieser Welt längst verstrichen ist. All unser Gebärden will stets ins Verhältnis gesetzt sein zu dem Häufchen Urnenschmutz, das bleibt.
Ich lasse Herrn Pusch seufzen unter der Maske des Scharfrichters, sinke in mich zusammen. Keine Furcht mehr. Weder vor Hunger noch Himmelfahrt. Man könnte mich in die Garotte drehen wie einen vergessenen Sack Getreide. Abermals drücke ich den Stoffesel an meine Brust, als ich darüber erschrecke, mich mit beiden Händen auszusäen.
„Hier?“ Kann etwas mehr auf Stein fallen, als auf diesem Stück Leben, das alle Welt als geweiht empfindet?
Durch die Zeit getrottet sein in dem Bewusstsein, alle Welt auf dem Kopf zu erfahren. Als hätte ich das Flötenspiel eines Affen begreifen wollen.
In jedem Straßenbild ist so vieles nebeneinander, was sich schwerlich in Zusammenhang denken lässt. Mit dem Herzen fällt es leichter. Und warum sollte Leben etwas zur Hand nehmen, darauf nur Töne von sich zu geben?
Heiligkeit muss in den Affen gefahren sein! beschließt das Herz und wandelt zufrieden seiner Wege.
Wäre anderes um mich herum, als Gespenster, vielleicht könnte ich unmöglich gen Himmel fahren. In Urzeiten von Pest und Kriegskunst musste das Erdenreich sich auch um seine Karteileichen sorgen. Jedem Wandervogel bot es ein "Du" an. Hingegen nun auf alles, was zu schwer wird, Dutzende Fledderer stieren.

Könnten wir Licht anders brechen, es in Urtiefen geleiten, ließe ich mich im Strom kleinster Teilchen vielleicht als Geschwulst ausmachen, das mittels seines Vorhandenseins Harmonien stört. Nicht empfindlich, beileibe nicht, aber doch so, dass auch ungeschulte aber nachdenkliche Augen zum Skalpell schielen.
"Mein stier gewordener Hagestolz, das hier ist nimmermehr ein Ort für Dich."
Sicher bin ich, die Hand von Herrn Pusch wahrhaftig auf meiner Schulter zu spüren: "Jetzt steigen wir in den Wein. Ohne Trunk ist noch keine Himmelfahrt je geworden."
Mehrmals drehe ich mich um, dem Kirchenrund Frieden abzugewinnen. Als gäbe es noch etwas, das ich mir in die Taschen stopfen könnte. Jedoch bleibt alles Kunsthandwerk, Taufbecken wie Beichtstuhl verschließen sich meinem letzten Hoffen auf Gleichgesinnte. Möge ich in Freiheit verderben, wie jemand nur verderben kann, der aus einem Käfig gezerrt und in den bodenlosen Sternenhimmel geworfen ist.
Wenn ich schlafe, wenn ich träume, lebe ich dann weniger, als wenn ich wache? Seit Jahren denke ich nach über die Möglichkeiten unseres Daseins. Schneeflocken etwa sind mit dem Mikroskop besehen mehr, als unser Auge jemals wahrnehmen wird. Keine Realität, hinter der sich nicht noch eine Realität verbirgt. Was im freien Fall zu sein scheint, ist so in Wirklichkeit sanft behütet.
Weder unsere Augen vermögen uns zu segnen, noch unsere Ohren, noch die Hand, die wir spüren. Für unsere Sinne gibt es einen Anfang und ein Ende, gibt es Wege und Wände. Das Leben an sich aber kennt keine Grenzen. Mag es sich auch wandeln, es endet niemals.
Jeder von uns nun bringt diese Unendlichkeit auf seine Weise zum Schwingen. Wie wenn wir mit dem Finger stilles Wasser berühren. Das ist es, was bleibt. Für immer.
Keine Bürgerlichkeit mehr vor dem Kirchentor. Abfallbehältnisse treten ins Straßenbild, Schmierereien ist zu Licht verholfen, Uneinsehbares lockt den Notdürftigen. Herr Pusch steht wie an einer Schultafel, ist ganz der Lehrmeister, mein verloschenes Sein als erwartetes Endergebnis zu notieren.
Die Nacht ist mir Verwandtschaft. Festlich in Schwarz, mahnt mich ihre Kühle, im Folgenden meinen Mann zu stehen. Und ich habe verdammte Sehnsucht. All jene Weihen, Erprobungen, Reifezeugnisse, mit denen mir bedeutet wurde, mein Leben so und so weit abgelatscht zu haben, sie sind mir stets nur Denkzettel gewesen, wie unterworfen ich bin. Nun jedoch das Versprechen, erhoben zu sein von den Toten. Keinen Augenblick mehr zerschlagen liegen vor Fassaden, die so natürlich in alle Himmel ragen, als wäre mein Blut nur ein übles Gebräu, sie zu besudeln.

Jene Stunde zwischen Tag und Nacht, wenn die Welt gemalt scheint. Fort bin ich, nicht daheim. Hinter Fenstern kein Licht, in das ich gehen muss. Wann bin ich bereit für die Nacht? Was mein Leib mir zu empfangen gebietet, kann ich schlecht wollen. Für den Preis des Himmels reicht mein Herz nicht hin.
Gelehrt wurde ich, in Federn zu denken. Dabei sinkt sogleich alles Flattern, wenn ich meinen Mund zum Schnabel zwinge. Nicht Kraft
ist es, nicht Erkenntnis, nicht Liebe. Es ist die Leichtigkeit. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volk.

Herr Pusch zieht mich zurück zum Hauptbahnhof. Niemand will jetzt mehr unnötige Wege in wie auch immer geartete Erinnerungen. Stein habe ich für mein Leben genug beseelt.
Auch die Gastronomie des Bahnhofsviertels wird mir solch Sehnsuchtstropfen einschenken können, nach denen Allerweltsgewese das gesamte Uhrwerk der Schöpfung hindurch verlangt. Bei wessen Tränke ich hinabgestürzt, wer über meiner Wiege sich neigte, es soll mir eine Weinglut wert sein. Wecke ich den Geschlechtsreifenden zur letzten Frühstunde, wird er, im Traume noch, für Heimat nehmen, was mir billig scheint.
Herr Pusch deutet auf einen "Bierbrunnen" gegenüber vom Hauptbahnhof. Beide wollen wir im "Bierbrunnen" den Anschluss Richtung Himmelfahrt vor Augen behalten, ansonsten wir vielleicht, ohne Anschluss, als Brandschatzen anerkennen, was die neugewonnenen Onkels aus dem "Bierbrunnen" uns verheißen.
Onkels sind keine schwache Währung im Leben. Leichthin nahm mein Kinderherz damals Onkels für anverwandt. Ein Vermögen, das lediglich andere Wege findet, wenn bald genug Bullenklöten die Rechtsprechung übernehmen im Gefühlshaushalt. Der Bierbrunnen mag daher auch als Taufbrunnen sich eignen, gilt es doch, dem Herzen
erneut ein Kindermaß beizubringen, es zu versöhnen mit den Begrenzungen des Gottesackers.

Was Vater und Mutter nicht vermögen, der Schamesröte unseres Blutes glückt es, Leben derart anzuherrschen, dass im Innersten es sich verkriecht.
Dasein ist Mode, Mode ist Dasein. Jener stolze Teint des Beliebt seins.
Solch Sein aber muss in tausend Accessoires zerspringen, versucht es den Grund des Bewusstseins. Vor den Tieren des Waldes mag es stolzieren, unter freiem Himmel. Wo aber Schamesröte vom Wind getröstet ist, wo sie ruhen kann in tiefen Augen, muss Mode in Lumpen vergehen. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Es ist keine leichte Geburt, die Herr Pusch und ich im Bierbrunnen durchleben. Der Schankraum leuchtet ein, als wäre alles seit Trinkergenerationen an seinem Platze. Neues wird nur erduldet, wenn altes die Theke hinabgefault ist. Und nun wir zwei von der Laufkundschaft!
Schlitzaugen blicken uns entgegen. Keine Faust, welche nicht fester hält am Humpen. Als ginge gleich etwas ab mit Gebrüll. Vielleicht eine Himmelfahrt, ganz nach dem Gemüt des Herrenausstatters.
Am Ausschank wird ein Seidel für uns vorgeholt. Auf die Art, als wolle man zwei Trinkhalme hinzutun.
"Herrschaften, was darf es sein?" dröhnt der Wirt.
"Ein Bier, bitte."
Mein Blut schwillt zum Strom. Kein Geld, keine Papiere, und in den Seidel schüttet das erste Bier meines Lebens. Als die Schaumkrone knistert, empört knistert, was für ein Abschaum nach ihr verlangt, ist es, wie wenn in meinem Schlund entsetzliche Schwüle ausbricht. Beinahe stürze ich hinunter, was mir bitter schmeckt, bitterer denn je. Noch eins!
Bereits der dritte Seidel, auf solch Weise ins Tiefe verbracht, scheint den Schlitzaugen und ihren Fäusten eine viehische Leistung, die Respekt abnötigt. Was trinkendes Nutzvieh, sind saufende Menschen.
Kein Gefühl kann großartig sein, ohne ein Ausdenken, welches das Gefühl im vollen Bewusstsein krönt. Kein Herz wird in Urwäldern Brand entfachen, wenn ihm obenrum niemand flüstert, was dieser Hauch bedeutet und jener Laut. So mag das Blööcken des Viehs einem mehr Leben verheißen, als des Dichters Laute.
Dem Herzen folgen heißt, trommelnden Affen folgen.
Ein erster aufmunternder Ruf, welcher meinem Stehvermögen am Seidel gilt. Wie durch den Urwald hallt plötzlich das Lautgebenmüssen. Baritons und Mezzosoprane, kehlig, heiser, versoffen. Vielleicht erleichtert man sich nun an mir Laufkundschaft, dass der Bundesbürger insgesamt des Trunkes bedarf, nur eben nicht solch Entschlusskraft aufbringe wie die Herrschaften im Bierbrunnen.
Ich wende mich dem Schankraum in seiner Tiefe zu, stürze vor aller Augen meinen Seidel um: "Kein Trinkrand!"
Ich lasse nachschenken, hebe das Glas: "Wer sich solch güldener Schöpfung versagt, ist ein Versager!"
Hemmungslos prostet man mir zu. Als hätte die Welt draußen soeben einen Pakt geschlossen mit dem Bierbrunnen. Hinter seinem Humpen mag eben niemand glauben, allein gesellschaftsfähig zu sein für selbsternannte Himmelfahrer, von denen keiner weiß, ob nicht ein gefällig bemalter Höllenschlund zur Zuflucht ihnen geworden ist.
Herr Pusch hält sich jenseits des Gedröhnes. Ich merke, wie reizbar die Ausgeburten meines Kopfknastes sind gegen Menschen, gegen jenes fortdauernde Beschnuppere und orale Rumgemache. Beinahe möchte ich Herrn Pusch zur Beruhigung ein parfümiertes Taschentuch reichen.
Fest schaue ich Herrn Pusch in die Augen. Herr Pusch hält den Blick: Die Armseligkeit ausgedachten Lebens, die sich keine Umstände mehr macht, vor meinem Bewusstsein zurück zu weichen. Ein Augenblick, in dem mir die Lippen zittern, wie es so weit kommen konnte? Schlimmer, dass es für JEDEN so weit kommt.
Meine Himmelfahrt hier, ich könnte sie mir leicht sparen. Buletten erwerben, Dosenbier, mich vorm Fernseher parken, nichts weiter. Die Sonne aufgehen und untergehen lassen, irgendwer wird mich schon holen.
"Heimholen!" nickt Herr Pusch.
Ein erneuter Versuch meines Kopfknastes, Hausrecht geltend zu machen. Doch in mir ist nichts mehr mit Haus, nichts mehr mit Recht. Buchstabieren mag ich beide Worte wohl noch können, aber einen Sinn erschließt mir keines von beiden mehr.
"Kann man hier Lokalrunden geben?" heuchle ich Begeisterung für den Augenblick.
Der Wirt durchschauts sofort. Ein Geschäftsmann, der nüchtern den Unterhaltungswert elender Kreaturen wie mir aufrechnet gegen Honorarforderungen professioneller Entertainer und den Kistenpreis von Bier im Einkauf. Der Wirt nickt.
"Freibier!" krächze ich. Dabei versuche ich, lustvoll in meinen leeren Taschen zu graben. Allerdings zweifle ich langsam, dass wegen meiner Himmelfahrt auch nur ein Polizist sein zweites Frühstück unterbricht.
Erneut brüllt und krächzt es im Urwald. Beinahe geht man mit jedem Humpen um, als wäre das letzte Bier Generationen her.
Spendiert, schmecken Biere wohl wie jene Freileben, um deren Willen Jungvolk Joysticks bearbeitet. Freileben droben auf dem Dach Gottes, welche selbst den Wirt feucht werden lassen ums Augenrund.
Doch bevor ich solcherart mit einem leibhaftigen Wirtsmann Körpersäfte tauschen darf, steht mir das Bier bevor. Immerhin will ich meine Zeche nicht umsonst prellen dürfen. Obendrein mir als Himmelfahrer nun wirklich alle Tiere des Urwalds zum Gebrauch stehen: Aufschnappen. Nachäffen. Tröten. Jenes Gewese, früh vollendet, das einzig in den Tod sich zurückzieht, wo immer es von Übermacht betroffen wird.
Mein Blick schwimmt in dem mit Bier geschwängerten Schankraum. Alles glänzt vor einem Stolz, wie ihn einzig der Tod verleiht. Mag ich mich hunderte Male bekreuzigen, nie werde ich so natürlich, so selbstverständlich fallen wie ein Humpen.
"Mögt Ihr alle gen Himmel fahren!" schlägt Herr Pusch vor als Saufspruch.
Nie, niemals war ich besoffen, würgte während meines Militärdienstes ein einziges Bier herunter, nippte dann und wann Schaumweinchen. Und nun hier, mit fast vier Seideln. Möchte schlafen, seit zwei Nächten keinen Schlaf.
Wie aber würde ich erwachen, es wäre eine Katastrophe, dies Erwachen! Wahrscheinlich käme ich gar nicht erst in den Schlaf, müsste tun, als ob, die Augen dichthalten, dichthalten, dichthalten, während man im Schankraum johlt über mich Opfertier, mich mit Fusel überschüttet, mich in Brand setzt...
Aber nein, dafür ist der Wirt Geschäftsmann genug: Dem Urwald auf solche Weise Leine zu lassen, das rechnet sich nicht.
Er würde die Horde sich wundschreien lassen, ja, dann aber nach den Klempnern in den weißen Kitteln telefonieren.
Von Amts wegen, mit dem Siegel der Obrigkeit, würde man mir die Lider aufdrücken, würde sich vielleicht empören, im Mindesten aber heftig werden, was denn nun sei?
Als Laufkundschaft bin ich erlaubt, darf mich gerne ins Bier begeben, bis mir der Boden schwindet, fürs nur so Daliegen aber hat unsere Zivilisation nicht genügend Trottoir, nicht genügend Schankraum übrig.
Dem Torkelnden, dem Saufkumpan ist jede Bühne bereitet. Noch ein Licht setzt man ihm auf, behauptet, er würde sich köstlich amüsieren. Als müsse der Erdenball so in einem fort bewegt werden, damit solch aufgesetzte Lichter nicht verlöschen.
Ließe jeder seinen Arsch zu Boden sinken, wie es ihm dünkt, es käme zu einem Gestolpere, gegen das Saufkumpaneien als Muster an Zielstrebigkeit durchgehen. Nirgends ein Humpen, ein Schoppen oder ein Seidel, der ernsthaft mit dem Aufhören sich befasst. Eher gießt man das Zeugs während erzwungener Schlafpausen noch im Traumwandel hinter die Binde.
Lasterhaftigkeit als Schmiere menschlichen Seins. Halt gewinnen in völliger Haltlosigkeit. Keinem Wesen ist es mehr gegeben, sich völlig dahinfahren zu lassen, als dem Menschen. Wobei bereits die Kleinigkeit, sich gehen zu lassen, für mehr Umsatz sorgt als eine Schlafmütze wie ich.
Ich stemme mich von meinem Stück blankgewienertem Tresen in die Höhe. Es funktioniert. Und so ein Boden, der sich anfühlt wie jene blauen Matten damals im Sportunterricht, sollte dem Himmelfahrenden keine Last sein. Obendrein wirkt das Freibier unterstützend: Aufmunternde Rufe, aber auch Hände, welche mich anleiten. Als wäre ich trunkener König dieser Lokalität. Wann immer besonders herzhaft für mein Fortkommen gesorgt wird, ist Szenenapplaus vom Wirt zu hören.
"Sehen Sie!" murmle ich in die Richtung, wo ich Herrn Pusch vermute. "Gehen natürlich mehr zur Taufe zum Bierbrunnen, während niemandem im Gotteshaus aufgeholfen wird, jedenfalls nicht so."
Allgemeines Gelächter über eine Laufkundschaft, die keine Stunde nach Hinzutritt bereits laut denkt und vom Christkind lallt.
Ruckartig hebe ich beide Arme. Blödsinn eigentlich, Blödsinn alles. "Soll ich Euch von meinem Leben erzählen?" kiekse ich hinein in einen Mob, welcher des Mob seins rasch müde geworden ist.
Allgemein drängt man heim an den Humpen, zurück zur Saufordnung. Ich lehne verbracht neben der Türe des Bierbrunnens, einer schweren, gusseisernen Türe, öffne den Mund, schließe ihn wieder, öffne ihn, schließe ihn, finde nirgends in mir mehr ein Wort. Als würde das Leben jedem seinen Vorrat Worte eröffnen, und meiner ist nun aus.
Ganz nah spüre ich den Herrn Pusch. Mein Ende aller Worte scheint ihm geläufig zu sein. Als wäre Herr Pusch eine Vorstellung in den Lüften, die sich jedem Himmelfahrer formt, wenn es an der Zeit ist.
Herr Pusch nickt zur Fensterfront des Bierbrunnens hinaus. Von Ferne erkenne ich den Geschlechtsreifenden, wie er vorm Hauptbahnhof auf und ab geht, wetterfest gekleidet, marschbereit. Es ist soweit.

Schon steht der Wirt neben mir, während rückwärtig im Brunnen das Bier fließt, als hätte ich niemals mit beiden Händen hineingelangt. Ich mache eine halbe Geste in jene Richtung, wo man bei Erwachsenen Geld vermutet, auch die Gesten gehen mir nun aus, doch der Wirt scheint ein besseres Geschäft darin zu erkennen, wenn ich meine Zeche schuldig bleibe. Vielleicht glaubt der Wirt, so seinem Schatz im Himmel das Doppelte hinzufügen zu können. Mit jenem Männerlächeln, das im Film sterbenden Kameraden gilt, öffnet der Wirt mir die Tür hinaus, diese schwere gusseiserne Tür hinaus.
"Finden Sie Frieden!" sagt er.


Irre gehen wir im Licht, wenn das Leben aufstampft vor Musik. Eilen in einem Weltenraum dahin, der geschlossenen Auges noch blendet. Mögen wir auch beben unter aller Erkenntnis, uns selbst belangen wir nicht.
Wie anders fällt es, ausgebreiteten Armes Stück um Stück Weg zu tasten, wo Gäule schier durchgehen mögen. Weder im Dickicht noch auf der Ebene will uns etwas lodernd eingehen. Jahrmillionen Sterne bei uns, sanft zu verlieren, fest im Trost. Geschlagen mit Licht, krönt die Nacht Wanderer auf dem Grunde ihres Wesens. Traum sein von Ewigkeit zu Ewigkeit. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Es gab eine Zeit, eigentlich umfasst diese Zeit mein ganzes Leben, da drängte ich gleich einem Sinkenden hinaus, wann immer ich durch üble Fügung hinein geriet in Tränken und Brunnen voller Alk. Vor der schweren gusseisernen Tür aber, vor dieser allerletzten, schwersten, gusseisernsten Tür, sind weite Bezirke meines Seins mutwillig genug, zurück zu stürzen in den Brunnen, sich am Ausschank irgendwie dingfest zu machen.
Nehme ich mich richtig wahr, liegt eine Hand bereits auf dem Türgriff. Ein Türgriff, der mir, trotz seines burschikosen Designs, mehr verspricht als alles, was mir je glückte. Ich muss nur nach Hilfe rufen, nur rufen muss ich!
Aus dem Dunkel heraus, legt die Hand von Herrn Pusch sich auf meine und macht, dass plötzlich keinen Sinn mehr ergibt, was eben noch von weither "Hilfe!" genannt ward. Wer solch Begrifflichkeit mir wohl einst ins Herz säte? Meine Mutter vielleicht, bevor ich allein mich zum ersten Male auf den Schulweg begab.
Auch Herr Pusch nimmt mich nun bei der Hand. Jene sanfte Gewalt, wie sie jeder Schulweg fordert. Eigentlich möchte man ja weiterspielen, eigentlich weiter über Wiesen laufen, sich ins Gras fallen lassen, von Helden träumen, träumen, selbst Held zu sein.
Nun hinter Herrn Pusch und mir ein Bierbrunnen, vor uns das Bahnhofsmilieu. Schon hat der Geschlechtsreifende uns entdeckt, winkt, warum wir nicht eilen?
Merkbar ungeduldig, der Geschlechtsreifende. Alles bereit zur Himmelfahrt, nur ich kann mich kaum trennen von all dem Spielkram. Als hätte je ein Bierbrunnen mir gefehlt zur Seligkeit.
Der Geschlechtsreifende mahnt zur Eile. Ebenbild vieler Kindheiten ist er gewesen, ist es noch, wird es sein. Wahrscheinlich stand der Geschlechtsreifende bereits vor Jahrhunderten Himmelfahrern bei, als ein Hoch auf jene Tage, in welchen das Leben sich den Himmelfahrern freundlich zeigte.

Stunden schlagen einem, in denen das Leben sich anfühlt wie Stroh. Alles wühlt, schabt, buddelt. Schönheit, die zum Saustall hinaus stinkt. Schwer fällt es, seine Hand zu heben gegen solch Gegrunze. Eher möchte man vorzeitig in Verwesung geraten, als länger auf Misthaufen Dienst zu schieben. Wie kann jemand erlangen, was nirgends grünt?
Vollends das Licht der eigenen Augen sein, derart entrückt vom Schein des Brachlandes, wie allein Ohnmacht es vermag. Was lebt, lässt sich nicht bezeichnen, was bezeichnet ist, lebt nicht. Gewesenes im Augenlicht pflücken. Mehr bleibt unmöglich, liegt man auf Stroh geboren. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.
Der Geschlechtsreifende als ein Beistand, wie ihn zur Stunde Himmelfahrer auf allen Bahnsteigen unseres Erdenwesens herbei sehnen mögen. Es ist daher wohl nicht richtig, dass der Geschlechtsreifende hinter dem Horizont weilte, bei meinen Eltern, während ich vom Bierbrunnen soff. Sicher hat er zu keinem Zeitpunkt Bekanntschaft gemacht mit meinen Eltern.
Eher scheint der Geschlechtsreifende Leerläufe in den jeweiligen Himmelfahrten zu nutzen, bei anderen Himmelfahrern vorbei zu schauen, ob es ordentlich voran geht mit dem Himmelfahren, oder ob, bei zaghafteren Gemütern, messerscharfer Verstand herausschneiden muss, wie verwest ihr Diesseits ist.
Ein Geschäft mit Stoßzeiten. Es graut bereits der Morgen. Und kein Himmelfahrer steht gerne als Depp inmitten öffnender Ladenzeilen, sich einen Kaffee zu bestellen, als wäre man auf dem Außenklo der Welt zu lange spielen gewesen.
Oft ging ich diesen Weg durch den Hauptbahnhof: treppab, eine Unterführung, treppauf. Die ersten Male mit Schulranzen, dann mit Aktenkoffern zu neunundvierzigneunzig, nie ohne etwas in der Hand. Nun lasse ich meine Arme baumeln, als wären sie mir eben erst geschenkt, und es dauert mich, hier nie eine Besonderheit ins Auge gefasst zu haben, von der ich mich nun verabschieden könnte.
Der Geschlechtsreifende und Herr Pusch eskortieren mich schweigend. Man ist wohl einer Meinung, mir genug geboten zu haben.
Alle Etappen meines Seins über gab es wohlmeinende Angebote, natürlich, das ganze Leben ist Angebot, ist Vorschlag, ist zwanglosestes Beisammensein. Man kann sich vordrängeln im allgemeinen Kommen und Gehen, man kann herumlungern, glotzen, kann
mit Händen in den Taschen stehen. Immer ist da jemand, der lächelt: "Warum nicht?"
Manchmal, ganz manchmal auch jemand, der im Vorbeischieben der Massen sagt: "Bleib!"
Es ändert nichts.
Herr Pusch und der Geschlechtsreifende, beide tun sie verkehrt in ihrem Anspruch, mir Möglichkeit gewesen zu sein und Chance. Gerade auch, weil sie selbst Gespenster sind. Aber sowas von Gespenst ist wohl niemand, nicht Jemanden jemand sein zu wollen.
Im Kopfknast hat sich die Direktion längst davongemacht. Alle Zellentüren offen, alle Tore hinaus ins Dunkel. Nur vereinzelte Schreckensbilder irren noch auf den Gängen. Nichts, womit man ein Bewusstsein in die Flucht schlagen könnte. Wobei, natürlich, der Todestrakt ausgenommen ist von jeder Direktion.
Mein Todestrakt wird sich mir bald eröffnen, der ist allein für mich.
Am Gleis haben wir Aufenthalt. Die Stimmung eines ersten Schultages liegt in der Luft. Wo früher meine Eltern waren, geleiten mich nun Kopfgeburten zu neuen Einsichten.
Einiges an berechtigter als auch an unberechtigter Erziehungsarbeit, welche gleich gen Himmel fährt. Freilich, die letzte große Investition des Gemeinwohls in mich liegt Jahrzehnte zurück: Von Amts wegen bin ich längst keine Keimzelle der Gesellschaft mehr. Eher dauere ich fort als ein abhanden gekommenes Stück Dasein, dessen kümmerlicher Rest Lebensfunktion zwar noch auf Posten ist, wie eine tickendes Uhrwerk im Unterholz, aber sich im Ganzen reduziert auf seine Entsorgung.
Ich hetze meinen Kopfknast ab nach Empfindungen, die mir als junger Mann einst gegeben waren, wenn ich Aufenthalt hatte an Gleisen. Der Militärdienst, natürlich. Dienstschlüsse, welche nur der Drill verheißt. Bogen sein und Pfeil, jene wohlige Spannung, eines Morgens mit Schuss hinaus zu fliegen in etwas, vor dem Menschenkinder ihre Mütze vom Kopf reißen: "Das Leben!" schreien.
Seitdem ist mir kein Aufenthalt, kein Gleis, kein Flug mehr untergekommen, von dem ich mir "Das Leben!" versprochen hätte. Alles blieb Frist, alles Ablauf, alles Verblühen. Dabei war mein Tagewerk weder frei von giggelnden Schülern noch von flirrenden Novizen. Ordnungsgemäß zeigte jedes Stück Weltbild seine Fülle her. Und ich erkannte mich in meinem Hinwelken als das Laub auf dem Trottoir dieser Blüte. Laub, welches selbst die kecksten Sprösslinge sacht zur Vorsicht anhalten würde.
In letzter Instanz aber sehe ich, dass Leben auch anders kann, als mit Laub vor der Haustür. Leben verlangt nicht danach, Elend fortzukehren, es würdigt bestenfalls den Tod. Bersten muss ich, zerschmettern, damit Jungspunde meinen Überrest ehren: "Oho!"
Der Geschlechtsreifende und Herr Pusch schauen pikiert. Mein Pillchen Licht im Futteral wirkt nicht, als könnte es jemanden bewegen, sexuelle Handlungen kurzfristig zu unterbrechen oder auch nur einer Raucherpause fernzubleiben.
Die Fäuste möchte ich ballen. Werktags, frühmorgens, auf einem Bahnsteig, nach achtundvierzig Stunden ohne Schlaf. Und leer ist der Bahnsteig. Nur ich, meine Kopfgeburten und meine gedachten Fäuste. Bis in die Zehenspitzen geht mir, was ich jemals über Realitäten in Erfahrung brachte. Fernöstliche Lehre wie plattdeutsche Folklore. Und mit jeder Vorratskammer Erkenntnis wird der leere Bahnsteig leerer, Stein steiniger, Tunnel schwärzer.

Erblickt man den Planeten Erde, wie launig er beschaffen ist, bleibt Glück selbst für allergemeinste Gemüter unerreichbar.
Manche brauchen Abschnittsgefährten, in "Seasons" zerkleinerte Kintöppe, Zähl- und Nutzvieh, ehe sie grau sich an Orten dreinfinden, welche ihrer frühesten Kinderstube so unähnlich nicht sind. Nur dass dort keine Mutti nach dem Rechten schaut, was aber ein Fortschritt kaum ist.
Mit dem Menschen verhält es sich wie mit Blechspielzeugs: Aufgezogen, wird es zur Unmöglichkeit, selbst in der Luft die Beinchen stillzuhalten. So lange das Pump- und Schlagwerk abläuft, kann Verkehr aller Art auf uns zählen.
Wer will auch schätzen, was es für eine Mark fünfzig im Blumenhandel gibt? Solch Gezier wird unser Wesen wohl nicht sein. Linksabbieger sind wir und nach dem Rechten Schauende, statt Guck-in-die-Lufts der Natur.
Wer schert sich um den Himmel, um dieses nach oben offene Reich. Wir bleiben beim Blech. So sprach der Geschlechtsreifende zum Volke.

Der Geschlechtsreifende macht Miene, dass speziell gegen Sonnenaufgang hin Stoßzeit sei, weil viele Durchnächtigte ungern noch einmal der Sonne ins Angesicht zu sehen wünschen. Überhaupt gäbe es würdigere Himmelfahrer. Und an Herrn Pusch soll es gewiss nicht liegen. Man könnte von jetzt auf gleich an der Bahnsteigkante Hände schütteln, jeder seinen Geschäftsgang wieder aufnehmen. Ich habe noch Urlaub, ein Schlüssel liegt beim Hausmeister. Einige kleinere Wege, dann würde ich meine Butze wohl runterwohnen, als sei ich nie fort, nie hier gewesen.
Wer mag bestreiten, wie unanständig jener Mutwille ist, den ich hier treibe mit der mir zugestandenen Frist in Fleisch und Erden?
Dafür hat bestimmt niemand einst Mobiles über meine Wiege gehängt, niemand Stützräder an mein Fahrrad montiert. Leben darf, wie es will, stets hat es als Geschenk zu gelten. Selbst, wenn es grausam sich zu erkennen gibt, wenn es mit dem Tode droht, jahrelang.
Geschlechtsreifende sehen im Leben den putzigen Verehrer, der ihnen Wegesränder schmückt, ihnen Liebeshaine pflanzt, der ihren Ohren musiziert und ihnen zartes Fleisch zum Gaumen führt. Mir hingegen hat das Leben sich endlich als ein blutrünstiger Aasfresser gezeigt. Kein Tag, an dem das Leben nicht zwei Tische neben mir lauert, jeden meiner Bissen fixiert, ob ich -jetzt!- daran verende.
Natürlich, nun stehen Herr Pusch und der Geschlechtsreifende mir bei, was denn so schlimm sei am Leben?
Da wird dann freilich ein unschuldiger Bahnsteig hergezeigt, mit Werbung, dass ja wohl jeder selbst verantwortlich sei. Aufforderungen, gefälligst einen Stern zu gebären, statt hier zu jammern, statt jedermann in Anspruch zu nehmen mit wilden Verdächtigungen und mit Gespinsten.
Dabei wissen wir beide, das Leben und ich, dass das Leben bereits im Dunkel meiner Butze lauert, mich zu fesseln, mich zu knebeln, mich in einer Kiste mit dem Namen "Tod" jede nur erdenkliche Furchten leiden zu lassen.
Ich entschuldige mich gegenüber dem Geschlechtsreifenden wie gegenüber Herrn Pusch, indem ich das Aufzählen von Kindereien beginne, was damals im Angesicht der Gärtnerinnen gegreint wurde, während alles um einen herum nur vom Frieden wusste.
Ratlosigkeit bei den Gärtnern meines Kopfknastes nutzend, greife ich hurtig nach dem Herrn Pusch, ehe ich mich dem Geschlechtsreifenden zutraulich zeige. Beide fasse ich sie bei ihren Händen, das Eisenbahnspiel hier nicht zu beenden, nicht das Licht auf dem Bahnsteig zu löschen, mich nicht alleine zu lassen mit dem Leben bunt und schreierisch beklebten Steins, mit lauter Erscheinungen zivilen Seins, die angeblich für Ebenbilder eines Gottes stehen.
Der Geschlechtsreifende atmet durch, Herr Pusch tut es ihm gleich: bis zum Morgen harre man bei mir aus, danach sei ich auf mich gestellt. Dabei macht Herr Pusch mit der Hand, als ließe er einen Vogel frei.
Ich schaue vorbei an Herrn Pusch, hinein ins Dunkel des Tunnels: Du freier Vogel, Du, wir warten hier alle auf Dich! giert das Dunkel nach mir.
Wer weiß es denn, ob man nicht tatsächlich bleibt, wo man sein Ende sich bestimmt und urkundlich gefunden hat? Auf Bahngleisen, am Rande eines Tunnels, weder Arm noch Bein, sondern helles, klares Auge, welches einen sehen macht, wie der Bahnsteig sich erfüllt unter den Massen Werktätiger. Werktätige, die mal lang, mal kurz tragen, mal lachen, mal nicht, während man selbst verworfen ist von jeder Jahreszeit, allein auf Abriss hoffen darf, auf Zertrümmerung. Die Steine im Gleisbett als Seelen einstiger Himmelfahrer, welche vorm Tode sich zierten, und nun im Gleisbett Unterwelten davon entfernt sind, Wunden zu erleiden.
So viel Spuk in den Köpfen, dass alles nur entsetzlicher wird, wenn man nicht tut, wie einem geboten. Kein Gedanke daran, auf ewig eine Geriatrie zu durchgeistern oder einen Seniorenstift, dem Leben Linoleum zu sein oder Auslegeware. Einem Geheißenen führen alle Richtungen nach oben.

Die Bahn kommt, rumpelt, blitzt, pfeift mir zwischen meine Furcht. Handeln können, im Vorwärts sein: wahrscheinlich scheidet so die Masse sich von traumwandelnden Scharfrednern. Massenweise seinen Leib aus dem Bette stemmen, ein Duschbad nehmen, Essen fassen: Mag solch Entschiedenheit in ihrer Summe auch Null ergeben, dem Scharfrednern wird so übers Maul gefahren, kaum dass er sich anschickt, Werktätige zum Schneid zu verlocken. Als gäbe man jedem Scharfredner drei, vier Tüten Eiscreme zur Hand, ob man schräg über die Straße einem Nonsens Ehre erweisen wolle?
Noch dem klingendsten Scharfredner mit Tüteneis und Nonsens seinen Schneid abzustumpfen, darin zeigt der Werktag Größe.
Tatsächlich merkte ich mir als Schüler Nummern von Bahnwaggons, "9955" etwa, und zweigte so dem Scharfsinn manch Gedanken ab, was das Wiederkehren bestimmter Waggons an bestimmten Tagen zu bedeuten habe?
Freitags in den 9955 steigen, hatte etwas von Auserwählt sein. Da
blieb die Scharfrede dann stumm auf dem Bahnsteig zurück, mit ihrer Kiste "Tod" vor anderer Leute Ohren zu poltern.

Auch der Bahnwagon, in dem ich und meine Kopfgeburten nun Platz nehmen, ist mit einer Nummer versehen. Aber die darunter gedruckte Bitte, jene Nummer zu benennen, falls mal etwas sein sollte, verhindert hier den Zauber zwischen Mensch und Nummer.
Bestimmt wollen wir uns fühlen von Nummern, erkannt, auserwählt - nicht mit einem zusätzlichen Mittel versehen, Obrigkeiten Meldung zu machen.
Derart übel kommt mir die Nummer des Bahnwagons, dass ich sie beinahe als Schild an meinem großen Zeh empfinde, wie im Leichenschauhaus ein Assi sie in den Papierkram trägt.
Ruhend, befreit vom Blute: mir gelingt auch nach schlaflosesten Nächten keine rechte Vorfreude auf dies Fort- und Vergangen sein.
Stets ist es meinem Wesen ein Vergnügen gewesen, in leeren Waggons zu reisen. Nirgends Verlangen nach dem Rudel. Auch jetzt genügen Artgenossen mir als eine Zierde meiner Vorstellungen vom kommenden Sonnenaufgang: Erst der zufällige Passant, möglicherweise ein Herr mit Hund, hoffentlich eine Joggerin, jung, mit Musik im Ohr. Dann Schutzpolizei, dann Gesundheitswesen. Absperrband. Kaum wage ich mir junge Leute einzubilden, die vielleicht von meinem derart geborgenen Leib begeistert werden, es sich eine Lehre sein zu lassen: "So kann es enden!" werte ich schon als Erfolg.
Wäre der Erdball Zeit meines Daseins leer gewesen und wüst, ich hätte von Träumen neuen Lebens leben können. Bedeutungslose Tatsächlichkeit, statt tatsächliche Bedeutungslosigkeit.
Natürlich, wüsste ich mich in meiner Hochhausbutze behütet, auf achtsame Weise bevölkert, vielleicht könnte ich entschieden länger ausharren: Nicht des Lebens einzige Geisel zu sein, wie tröstlich. Wir Geiseln würden uns etwas vorbeten, würden uns etwas vorhoffen. Einfach, weil das Leben dann in meiner Hochhausbutze mehr Auswahl hätte, wen es in die Kiste "Tod" zerrt.
Tragende Wände meines Kopfknastes machen sich davon, Mauer um Mauer fällt. Wobei es eher so ist, dass all das in Jahrzehnten fest gefügte mir leis entschwebt. Als lösche mein Denkapparat sich aus, neuen, vielleicht reinkarnierten Nutzern zu dienen.
Ein letztes Mal ist das Bewusstsein nun angetreten. Dabei drängt sich entschieden vor, was mir Kindheit war. Wie ich einst durch Nächte mich spann. In letzten Zugverbindungen, die doch meine ersten waren.
In den ersten letzten Zügen durfte es kleingeistig zugehen, für mich Kind wuchsen Spieleabende zu Weltereignissen. Vor höchsten Gerichten wie in Fegefeuern hätte ich würfeln können. War die Reihe nicht an mir, stand das Leben still.
Ob zukünftige Besitzer meines Denkapparates sich vielleicht im Halbschlaf oder im Suff wundern über Reste solchen Empfindens? Einmal zum Bild gefügt, erkenne ich wenig, was runderneuerbar wäre. Der Markt an Eindrücken ist zu gering, um keine Dankbarkeit zu empfinden für das, was man im Dachstübchen bereits vorfindet, mag es auch auf seltsamsten Wegen dorthin gelangt sein.
Ein Hütchenspieler des Mittelalters, vielleicht verlor er sich einst in mir, vielleicht langten meine Hände nach dem, was seine nicht zu Ende führten.
Kein herausragender Spielkamerad bin ich den Jahrmärkten gewesen. Man tat wohl recht daran, mich als Letzten aufs Feld zu wählen, wann immer ein Ball vorgeholt wurde.
Wobei ich mir selbst am übelsten mitspielte, mich einerseits zu berauschen an den Horizonten fröhlichen Hin und Hers - zum kommenden Meister mancher Ballsportart ernannte ich mich - andererseits aber weder zu Tritt noch Wurf fähig zu sein.
Als wenn eines Menschenkindes Verstand derart verirrt ist, fortan sich berufen zu fühlen wie das Gebiss eines Haies oder wie das Auge eines Falken.
Bald drei Jahrzehnte lauerte solch Getier im Hintergrund meines Verstandes. Kein Kindskopf hält sein Dahinsterben aus, glaube ich, ohne der Menschen Tagewerk wie Budenzauber zu erfahren, wo man mal von dieser, mal von jener Attraktion eingezogen wird.
Fortwährend berief ich mich, ließ im Geiste Türen fliegen, mir katzbuckelnde Ehr erweisen, und stand doch nur daneben, derweil jedes Gör das Schicksal als Schießbude nahm, dagegen an zu bolzen. Füße ohne Willen. Willen ohne Füße.
Auf Füßen mag ein Mensch wohl wund werden, mag wohl Blasen schlagen und vor Pein ganz stille stehen, doch kann er den Gang seiner Geschäfte stets im Erdenreich neu aufnehmen.
Wie dagegen mit eines Menschen Willen, der von keinem Triebe weiß,
sich an mancherlei irdische Frucht zu wühlen? Auf Himmelswegen ist nicht gut schanzen.
"Last Train Home", der Titel einer Musik, von welcher ich mich seit Jugendzeiten rühren lasse. Solche Töne anzuschlagen, tut mir
vielleicht besser, als bis aufs letzte die Leere ringsum ins Vertrauen zu ziehen. Wer summt, irrt nicht.
Ein Hadern und ein Plappern, wenn ich es richtig bedenke. Weil der Weg zum Fallbeil selten absehbar ist. Leben, wie es sich umgekehrt zur Aussicht verhält. All die Horizonte, von denen ich mich ins Gras verbringen ließ, den Tag mit Traumwandeln durchzubringen. Und selbst wenn weithin hundert Fallbeile zu besichtigen gewesen wären, ich hätte keinem geglaubt: So gerade kann dem Kindskopf der Weg gar nicht sein, ein Fallbeil auf sich zu beziehen.
Wann fing es an, dass ich selbst in Messerchen für frische Früchte den Tötungsmechanismus gewahrte? Noch dem harmlosesten Gedeck an meines Schöpfers Tafel gewann ich grausame Wendungen ab. Unerhörte Rasereien, reichlich Absonderungen, rasches Sinken. Meine Blumen wussten von keiner Jahreszeit mehr. Binnen eines Flügelschlages konnten sie verdorben und gänzlich dahin sein. Das Erdreich hörte auf, mir Blüte zu verheißen. Fortan schlang es hinab, was mir Morgen war.
Ich summe vor mich hin, während aus dem Lautsprecher eine freundliche Stimmkonserve mein Leben Bahnstation für Bahnstation mehr als Gepäckstück erscheinen lässt, als ein sperriges Frachtgut. Etwas, das in seinem Abteil mal ins eine, mal ins andere Eck sich stapelt, während es gleichgültig Richtung Endstation bugsiert wird. Ein summender Karton Vergangenheit.
Es ist schwer, seine letzte Zugverbindung ins Gewicht fallen zu lassen. Ich lege meine Hand aufs Herz, Kostbarkeit zu spüren, Süße. So leis dieser Schlag, so unentwegt. Als würde man aus der
Tiefe Zeichen geben, endlich dem Lichte beigebracht zu werden. Und ich drumherum ein Keller, eine Senke verkohlter Ereignishaftigkeit. Hysterie das alles, dies ausdauernde, dies verfluchte Unterwegs sein. Um mein Herz hätte ich herum stehen sollen, statt meine Vorstellungen von der Welt zu begaffen. Als wenn auch nur in einer Fremdheit etwas die Stunde schlägt, das mich erretten könnte.
Blut lecken wollen, immer wieder, als wüsste niemand in uns von diesem Safte. Befrieden, was friedlich zur Welt gekommen. Aufs Fressen hätte ich mich besinnen sollen. Stundenlang Rauch auf Feuerstellen treiben, rohe Stücke feinwürzen. Mut zur Beute hätte ich fassen müssen, ja. Im Munde strömt es mir zusammen und im Schritt, als Vögel mir kommen, Chicks, wie Reißzähne sich ihrer bemächtigen, in sie dringen, wieder und wieder. "I wanna be your Chick", deklamiere ich: "I wanna be your Chick!"

Entschieden verlange ich nach dem Geschlechtsreifenden, der schon dabei war, sich am Rande meines Kopfknastes zu verflüchtigen. Wild komme ich Herrn Pusch, gefälligst mit seiner himmlischen Baggage innezuhalten, bis ich alles Fleisch auf große Fahrt geschickt habe. Noch sind meine Hände zu mehr gut, als über der Brust gefaltet zu liegen.
Da gucken beide. Man wäre doch beim Freudenmädchen vorstellig geworden. Herr Pusch heißt mich rausspähen, als wir in den nächsten Bahnhof einfahren: Er ist ebenso leer, wie sein Milieu geschlossen. Der Bierbrunnen, das Little Nietzsche - die Indizien gegen ein Tier in mir sind erdrückend. Mich auf allen Vieren zu verlieren, es wird mir niemals glücken. Was überwunden, lässt sich höchstenfalls präpariert in den Keller stellen. Das Äffchen etwa, das im Kindergarten ein anderes Junges vom Gerüst schubste. Will ich bis ans Ende meiner Tage schräg gegenüber der Waschküche Rituale treiben wegen längst erloschenem Getier? Es ist doch alles ein fortwährendes Gackern um Vergangenheit, unter unseren Händen hinweg gestorbenes Irresein. Auf einem Friedhof zur Besinnung kommen, aber wenig Lust haben, sich dazuzulegen, wenn man schon mal dort ist.
In gedeckten Farben durch seine Zeit auf Erden huschen. Wer nach mehr verlangt als einem Aschgrau, wird knapp beschieden, was er eigentlich wolle? Bestimmt fände ich an der Bahnstrecke einen Marktplatz oder einen Anger, von wo aus ich den beginnenden Morgen anbrüllen könnte.
"Dann brüll doch", seufzt der Geschlechtsreifende, der seinem Schichtende entgegen sieht. Selbst meine Kopfgeburten wirken nun wie Geiseln eines Durchgeknallten. Weil gegen nichts im Leben wirklich etwas vorzubringen ist. Wahrscheinlich komme ich nachher sowas von im Licht der aufgehenden Sonne zum liegen, dass jeder versucht ist, mich anonymst und so weit als möglich am Rande zu verbuddeln.
Ich schaue Herrn Pusch an. Herr Pusch schaut zurück wie jemand, der Hunger schiebt. Vielleicht sollte ich meine Begleiter mit Stullen versorgen, bevor wir zum Finale schreiten. Ein früher Leichenschmaus.
Nun kommt es mir doch, mein Grinsen von vor Ewigkeiten. Dies Grinsen süffiger Jugend, welches dem Scharfredner begegnet, wie er sich nach getaner Tirade über Fleischbällchen hermacht und über Kanapees, wie alles in ein leibliches Wohl mündet, welches an das Sein von Pfeffersäcken erinnert.
Ich Geschlechtsreifender grinste über Widersprechende, ich grinste über Einvernehmliche. Wenig, was mir nicht zur Witzfigur taugte.
Für eine kurze Weile nun ist es zurückgekehrt, jenes Grinsen. Ich betrachte es sorgfältig im Spiegelbild der Scheibe, die mein leeres Abteil trennt von den anderen leeren Abteilen des Bahnwagons. Ein illuminiertes Werk Muskulatur, welches ich früher oft entspannen musste, damit ich in den Schlaf fand. Würde man mich der Totenmaske für wert befinden, man könnte noch Generationen später ahnen, was das war, mein Grinsen, welch fiedelndes Ereignis Leben.
"Kiwittsmoor", klingt es freundlich aus dem Lautsprecher. Das Grinsen ist weg. Der Todestrakt.
"Geh gerade!" tut Herr Pusch mir einen Gefallen, als wir uns zum Ausstieg begeben. "Brust raus!" Jene Kommandos Wissender, welche dem selbstvergessenen Kinde erste Stöße zueignen, es selbst zum Stoße zu befähigen. Erziehungsberechtigte schätzen junge Wölfe, denen man von gedeckten Familientafeln aus Fleisch zukommen lassen kann, ihre Zähne daran zu erproben. Das Blut mit dem Blute mengen,
auch dem frühen Tag sein Maß an Verderben bedeuten - anders lässt sich der Todestrakt kaum bestehen.
Zischend wie eine Höllenpforte entleert sich die Bahn. Beinahe angewidert wirkt die Bahn, befördert zu haben, was kein Zuhause mehr aufnehmen will.
Gleichmütig dagegen der Bahnsteig. So vieles blutet dort aus, so vieles fährt auf Nimmerwiedersehen dahin: Von den Mengen an Ausläufen, welche wir Zweibeiner der Welt abgewonnen, ja, abgetrotzt haben, sind Bahnsteige mir mit die liebsten gewesen. Hallenden Schuhs patrouillierte ich dort im Geiste eines erwachsenden Lebens, bedachte Zeitfragen, stellte meine Jahre denen der Artgenossen gegenüber, errechnete Chancen... Bahnsteige schienen mir als Gewandhäuser vor dem Höchsten.
Ohne Geld zu sein, Bahnsteige verzeihen uns das. Auch mit nur ein paar Pfennigen Taschengeld im Schulranzen fühlte ich mich noch bestens bedient. Ist einem aber das Leben ausgegangen, werden selbst Müllbehältnisse frech. Mutwillig stehen sie da, ob man lieber gleich hineinsteigen wolle? Keine Bank, welche sich nicht sträubt gegen mein Bedürfnis nach Schlaf und nach Frieden. Allein das Grün, das aus dem Stein gewachsen ist, scheint mir Gefährte sein zu wollen. Beinahe möchte ich mich zudecken mit tausenderlei Gewächs, welches so den Weg ins Sternenrund fand.
"Erde wirst Du noch genug!" betont der Geschlechtsreifende das Tatsächliche meiner Himmelfahrt.
Der Geschlechtsreifende hat keinen Bock mehr: Jeder Anwandlung auf unseren Wegen begegnete ich mit der Aufforderung an den Geschlechtsreifenden, mir mein Grinsen zu gewähren. Einmal war er so freundlich, nun jedoch hebe ich von Neuem ab, wieder Kind sein zu wollen.
"Du hast mich genug beliehen!" stellt der Geschlechtsreifende klar. "Komm zu einem Ende." Herr Pusch und der sich rötende Morgen schweigen zustimmend. Keine Kreditlinie mehr in was für einen Rausch auch immer. Zahltag.
Bleich geht es die Treppen hinunter, anzukommen am Ende aller Träume. Beschlossen sein und verkündet, man kann es sich kaum vorstellen, weil immer noch etwas geht, schlägt, weht. Aber meine Begleiter lassen mich nun nicht mehr aus ihrer Mitte. Behutsam werde ich abgeführt, belassen in meinem Willen. Soll er doch laufen, ja, soll er doch abhauen! Frei bin ich wie ein Dreijähriges. Brüllend, stolpernd, mit ausgestreckten Ärmchen kann ich mich davon machen. Nur wohin, wohin?
Die Uhr auf dem Vorplatz steht finster in ihrem Recht: Gleich wird sie dem Morgen seine vierten Stunde bedeuten. Keine zwei Stunden mehr, schätze ich. Keine zwei Stunden.
Jegliches Streben ist mir verflogen. Als käme etwas Aufgezogenes zum Stillstande. Der Geschlechtsreifende könnte mich zehnmal überflügeln, hielte er sein Ausschreiten nicht mühsam in den Grenzen meines Wesens. Jenes langsam machen, welches mir Kinde so geläufig war. Nun bin ich es, der kaum mehr reinlich zwischen Diesseits und Jenseits scheiden kann, mal hier zögert, mal dort, insgesamt allein ins Irre gehen kann. Wobei ich so helle bin, so licht, so klar, dass es ein Entsetzen ist.
Gerne würde ich, verjüngt, himmelblaue Shirts tragen, mit sonnigen Löwen drauf, verblendet sein von hunderterlei Spielerei.
Wohl ginge mir die Kraft noch, das Naherholungsgebiet des Kiwittsmoores zu durcheilen, doch leuchten alle Laternen mir zum Scheine. Wo meine Füße gemeinhin, weiterhin und immer noch Boden spüren, voll des Schotters, des Sandes, des Gefleuches, weiß mein Geist nur vom Nichts. Mit den Füßen abstimmen, ja, es ist ein Ding der Kinder.
Stehen bleibe ich, die Füße von Herrn Pusch zu beäugen. Und das war mir bereits als Kind so, dass die Füße grausam abfielen von den Ornaten und den Talaren. Als hätten Furien dort Unterschlupf gefunden, listige kleine Stapfen, die unter ihrer angezogenen Würde Purzelbäume schlagen mochten.
Herr Pusch verwahrt sich, fasst an seine Brust, dorthin, wo das Herz schlägt, redet auf mich ein... Ruhig stehe ich, gefasst wie seit Tagen nicht mehr. Fern wird mir Herr Pusch, immer ferner. Mit einem Male stehe ich allein, stehe allein im Rauschen der Blätter.
Das Frieren, das jeder Einsamkeit eigen ist, überkommt mich in Maßen. Ein sonniger Wintertag wird es werden. Ohne mich. Und es ist okay.
Als wäre ich getrennt worden von der Erde, als gewänne ich sanft an Höhe. Hinauf zu steigen in den Frieden einer verlorenen Sprache. Kein Begriff lässt sich dafür finden, was jenseits der Wolken ist, kein Ort, den es zu erfüllen gilt.
Vom Wind bin ich nun geborgen, als wäre ich sein eben heimgekehrter Erstgeborener. Nichts, was die Erde mir zur Liebe anbefahl, vermochte je mich derart zu befrieden: Ein sonniger Wintertag wird es werden. Ohne mich. Und es ist okay.
Ich fühle mich Lächeln. Ich lächle, lächle, wie ich immer geträumt habe, zu lächeln. Ich, der ich eben noch Sehnsucht empfand nach dem entsetzlichen Grinsen meiner Jugend. Kein Teufel, welcher mir mehr Gott war, als dieses Grinsen. Und nun lächle ich, lächle.
Meine Haare, meine Arme, alles ist mit dem Wind. Ein letztes Mal könnte ich hier im Park am Kiwittsmoor den Wegen meiner Kindheit nachtrauern, vergangenen Fortschritten gedenken. Ich tue es nicht. Quer wandle ich über die Wiesen, will neu sein, weder alt noch jung, neu. Beinahe weine ich vor Bereitschaft, vergessen zu sein, beinahe winke ich den Vögeln. Doch es ist kein Raum mehr vor lauter Wandeln. Satzweise denke ich, satzweise vergesse ich.
Da ist auch schon die Landstraße, das Krankenhaus, in dem ich Menschenkind geboren ward.
Keine Stunde mehr, lächle ich.
Nein, selbst vor dieser Kaserne des Gebärens, die sich Krankenhaus nennt, mag ich nicht verweilen. Mein geschlechtsreifendes Grinsen hatte Vielfältigem etwas hinzuzufügen, was so einfältig in der Welt war, wie das Vielfältige. Mein Lächeln hingegen kann vorüber an der Welt, will vorüber: Ein Menschenleben, dessen Friede das Vorübergehen ist.

Am See vorüber der Pfad hinein ins Gewerbegebiet. Verlassene Betriebshöfe begeistern mich. Diese Ruhe nach aller Geschäftigkeit. Überhaupt, wenn Stille sich das Leben zurück erobert. Gerne will ich Platz nehmen gegenüber von Lieferwagen und Arbeitsgerät, will nach Fahnen spähen, will Mauern in Augenschein nehmen. Aber, ach, manch Kabäuschen, manch Arbeitseinheit ward bereits unter Licht gesetzt. Und Menschen mag ich gewiss keine mehr sehen.

Mit beginnender Morgenröte öffnet sich der Horizont. Leise Bilder von Ackerbau nun. Allzu sehr habe ich mich vergessen, um weiterhin jener Früchte zu gedenken, die ich hier einst pflückte. Als das Leben mehr Acker war und ich mehr Bauer. Nun will ich nicht nur nicht mehr, ich bin auch nicht mehr.
Mag mir das Licht des Tages noch aufgehen, ich werde weiter keinen Sinn darin erkennen, außer, dass beschienen ist, was sich mir verdunkelt hat.
Am Segelflieger aber hält mein Bewusstsein fest als ein notwendiges Gefährt hinüber. Besonders an jenen harten Flügeln, deren Freundschaft mit dem Winde damals im Werkunterricht außerhalb meines Höhensinnes blieb. Wie es sich mir auch jetzt nicht vollends erschließt, auf welche Weise es gen Himmel gehen soll. Doch als ich Schwung nahm an jenem Freitag vor fast vierzig Jahren, als ich losließ, stieg mein Segelflieger umstandslos in Richtung der Wolken.

Vor mir, die Landstraße entlang, neigt sich alles dem Wind, welcher beinahe zum Sturm ausgewachsen ist. Freie Sicht auf den Berg nun. Fahrräder langen in meiner Erinnerung an, knatternde Mofas. Wie wir Schüler mit unseren Segelfliegern einst den Berg uns aneigneten, wie wir im Kräftezehren des Sturmes noch lachten: Dies verlassene Stück Leben soll nun der Himmelfahrt Erfüllung sein. Ein Hügel aufgeschütteten Erdreiches, fern jeder Menschenseele. "Berg" ist das vom Unkraut bewilderte Land allein auf meines Irrsinns Kartengeschmier.

Je näher ich komme, desto abweisender erhebt sich der Berg im Jenseits einander kreuzender Landstraßen. Beinahe Feind scheint der Berg dem Kinde nun, das einst mit rotem Schlitten des Berges Rücken zu erobern gedachte. Lange, bevor es mit Segelflieger anradelte, sich auf dem Berg obendrein noch die Lüfte einzubilden.
Mich als solch phantasierendes Geschmeiß einer Himmelfahrt zu verweigern, weil noch etwas Frist hingewest sein will, es erscheint mir absurd. Erkannt ist nun, dass vor meiner Bretterbude Persönlichkeit kein Licht je verborgen war, dessen Abwesenheit Götter nutzten, mit mir Verstecken zu spielen, sondern schlichte Finsternis sich entleerte.

Ich schlage mich hinein ins Grün, stolpere durch ein gewesenes Tor, das, blau gestrichen und seiner Angeln enthoben, im Graben liegt. Auf die wehrhafte Spitze des rechten Torpfostens ist eine Bierdose gespießt.
Wenn solch eiserne Zeitgenossen schon derart verworfen sind vom Leben, mit welchem Recht erhebt sich auch nur eines von uns Menschenkindern? Deutlicher kann wohl niemandem bedeutet werden, es endlich gut sein zu lassen.

Bergauf kraxeln, trotzdem, verdammt nochmal in der Höhe vorübergehen wollen. Kein Gedanke an einen Fuß des Behagens, dass
alles ja irgendwie bestehen muss. Grund gewinnen, selbst auf allerletzten Metern misslingt es.

Luft gefressen, eine lange Weile des Daseins nur Luft gefressen. Es hat ja mit dem Winde nun allein noch die Bewandtnis, am schonendsten jenes Fleckens Boden Größe 46 verlustig zu gehen, den man bestenfalls bestanden. Dass niemand sich dabei verrecken möge, im Oberstübchen unserer Sinne anzulangen, sondern dass es derart Strebsame hoffentlich - bautz! - von den Füßen holt, friedlich zerschlagen im Grase zu enden als lächelndes Aas.

Eine Steigung noch, beinahe auf allen Vieren, dann bin ich an mein Ende gelangt. Selbstbestimmt mein Ende, und doch derart beliebig, dass es kindisch wirkt: Während alle Welt sich für den hereinbrechenden Werktag rüstet, hampelt da einer auf einem Haufen Erdreich herum. Untersagt fühle ich mich, zu sehe ich, von keiner Landstraße aus einsehbar zu sein. Standen Schlitten und Segelflieger unter väterlicher wie staatlicher Obhut, eilt nun allein jene Scham hinzu, an Geheiligtem sich zu vergehen. Im Vergehen vorübergehen.
Noch könnte ich unbemerkt mich zurück stehlen. Nahebei ein Busbahnhof, ohne Aufsehen in meiner Arbeitseinheit anzulangen, "hier!" zu rufen.
Doch als ich vor zwei Tagen um mein Leben kalkulierte, kalkulierte ich klug: Beinahe nach vornüber möcht ich fallen im Trane zweier Nächte ohne Schlaf. Wahrscheinlich sind kaum mehr genug Botenstoffe in mir, mich von einer Bettruhe mit Raubtieren fernzuhalten.
Rasch verwüstet das Land unter fliehenden Augen, drängt ringsum zum Eyland zusammen, an jedem Ufer schunkelnd abgegrenzt durch kaum mehr deutbares Bewegen. Der Wind nur heißt mich bleiben in seiner Frische, heißt mich Folge leisten.

Zu Boden gehe ich. Kein sanftes Sinken, jedoch klingt das Rascheln des Gestrüpps nach einem herzlichen Willkommen, knirschen Steine mir zum Feste. Rücklings entfällt mein Bild der Welt, Himmel Ahoi in alle Richtungen. Gesalbt bin ich vom Winde und Erstgeboren.
Als ich das Pillchen Licht in meiner Hand spüre, wie es sacht zum Schlunde sich drängt, schreckt das Herz ein letztes Mal hoch, treulich Alarm zu schlagen. Es ist ein Schlagen in einem leeren Hause.
An den Lippen nun das Licht. Ungeküsste Lippen, welche rasch sich der Verheißung ergeben. Zögern auch die Zähne, so ist meine Zunge allzu willig in ihrer Jahrzehnte währenden Vergeblichkeit. Hinab fällt das Licht, dem Finstern entgegen.
Durch und durch geht mir das in mich hinein fallende Licht. Überall ist nun Licht. Unbeschreiblich zieht die Morgenröte herauf. Kaum meine ich einen Ton Farbe benennen zu können, erklingt satt ein neuer. Nuancen, welche allein für sich Anfang sein können und Ende.
"Wunderschön..." höre ich mich flüstern. Dann stehen die Lungenflügel still. Einfach so, nach fünfzig Jahren. Gerade noch reicht es hin für den Gedanken, wie ich aufgefunden sein will: Füße zusammen, Hände an die Hosennaht, entschieden Richtung Himmel zeigend.
Ich schließe meine Augen. Ich lächle.

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Tag der Veröffentlichung: 07.06.2011

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