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Um dich herum ist es still, halbwegs zumindest. Das einzige Geräusch was zu dir durchdringt ist das monotone Ticken des Weckers auf dem vermüllten Schreibtisch. Tick-Tack… Es ist die mechanische Regelmäßigkeit die dich zermürbt. Zeit wird ein zähflüssiges Medium, wenn man zuviel davon hat und trotzdem rennt sie dir mit jeder Sekunde davon. Der Straßenlärm, kläffende Hunde, schreiende Kinder, Hupkonzerte türkischer Hochzeitsprozessionen, all das ist längst zur Kulisse geworden. Ausgeblendet ohne weiteren Einfluss auf deinen Gemütszustand. Es ist Dienstag oder Montag. Der Tag unterscheidet sich bisher nicht großartig von Gestern und Morgen kann auch nicht mehr so weit entfernt sein, also spielt eine genauere Terminierung eigentlich keine Rolle. Man bringt den Tag rum, legt sich hin, schläft irgendwann ein, wacht zehn oder zwölf Stunden später auf und steht auf oder lässt es einfach bleiben. Das Einzige was hier noch kontinuierlich rollt außer den Uhrzeigern auf dem Ziffernblatt sind die Stepenhexen auf der brachliegenden Ebene hinter deiner Stirn. Zwischen Staub hustenden Synapsen bahnen sie sich ihren Weg durch die Einöde Gehirn. Down Under, kreativer Stillstand, nichts geht mehr. Du vegetierst in deiner Wohnung herum und ertappst dich gerade dabei, wie du seit gefühlten zwei Stunden den gerahmten Warhol-Posterdruck an deiner Wand in Grund und Boden starrst. Das Leben als Suppendose. Während die Einen Tag für Tag stupide auslöffeln was ihnen vorgesetzt wird, machen Andere ein Millionengeschäft daraus. Reine Glückssache oder alles nur eine Frage des prisengenauen Salzens? Einem guten Gaumen sollte doch Zeit gewährt werden um sich zu entwickeln, es ist schließlich noch kein Gourmetbaby vom Himmel gefallen. Aber heutzutage läuft nichts mehr ohne Erfahrung, am liebsten langjährig und auch dann oft nur mit Vitamin B. Woher das alles nehmen? Wahrscheinlich muss man schon direkt hineingeboren werden oder das Glück haben die eine Chance zu nutzen, die einem alle paar Jahre begegnet. Wenn man nur nicht ständig überzeugt davon wäre, mit dem nächsten Löffel ein Haar im Mund zu spüren würde die ganze Sache auch schon etwas leichter aussehen. Stattdessen sitzt man rum und investiert seine Energie erfolgreich in Nichtstun, was aus psychischer Sicht anstrengender sein kann, als so manche Lohnarbeit.
Schlechte Laune geht anders, soviel ist dir mittlerweile klar geworden. Das hier riecht nach schwerer Depression und das Biest sitzt dir seit Wochen im Nacken. Genauer gesagt seit nun schon fast sechs Monaten. Woher du das so genau weißt? Die Zusage auf das nächste halbe Jahr Hartz4, oder im Fachjargon der Bescheid über die Bewilligung von Leistungen des Lebensunterhalts nach dem zweiten Gesetzbuch lag vor ein paar Tagen in deinem Briefkasten. Dabei sah es gar nicht mal so schlecht für dich aus. Direkt nach der Ausbildung ein bezahltes Praktikum in einer der größten Adressen weit und breit und das hoffnungsvolle Wort Übernahmechance als omnipräsente Leuchtreklame an jeder Straßenecke. Nach scheinbar aussichtsloser Gratwanderung von einer schlammigen Pfütze zur nächsten endlich ein Brunnen in Sicht aber das Schicksal meint es nicht gut mit dem Kind und lässt es hinein plumpsen. So entpuppte sich die geglaubte Oase am Ende doch als Fata Morgana und jetzt stehst du wieder am Anfang. Dein Fallmanager rät dir bei jedem eurer alle paar Monate stattfindenden Termine den Kopf nicht zu voreilig in den Sand zu stecken und weiter Bewerbungen zu schreiben, bekommt es aber auch nicht ansatzweise gemanagt, deinem emotionalen Fall sein rasantes Tempo zu nehmen. Arbeitsvermittlung und seelischer Beistand bleiben dann doch zwei verschiedene Baustellen.

Stundenlang die Rundungen und Kurven einer noch dazu zweidimensionalen Dosensuppe zu studieren macht hungrig. Unmotiviert schlurfst du zum Kühlschrank, öffnest die Tür und wirst von einem Schwall auf 7°C temperierte Leere angegähnt. Aus dem hinteren Drittel des unteren Faches streckt dir eine brotähnliche Substanz ihre blaugrauen Haare entgegen, ansonsten ist nichts weiter zu holen als zwei Flaschen Pils, ein Glas mittelscharfer Senf und die Halbfettmagarine deiner Exfreundin, ein letztes Relikt aus vergangenen Zeiten. Nicht unbedingt besseren Zeiten, auch damals lief nicht alles so rund wie es hätte sein sollen. Im Gegenteil, die Trennung tat dir nach einiger Zeit sogar gut und gab dir neuen Antrieb, doch der Akku ist längst wieder leer und wirklich getan hat sich nichts. Vollkommen entnervt lässt du die Kühlschranktür ins brüchige Dichtungsgummi fallen, wirfst dir eine alte Kapuzenjacke über und verlässt zum ersten Mal die Wohnung seit zum letzten Mal nichts mehr zu essen in der Küche auffindbar war.
Erst unten auf der Straße merkst du, dass es den halben Tag geregnet haben muss. Auf dem Bürgersteig laufen die Passanten Slalom zwischen Wasserflächen, in denen sich die Lichter der Stadt spiegeln, hinter den Autos auf der Fahrbahn bilden sich gischtartige Wirbel. Du verharrst eine Weile orientierungslos am Hauseingang, fast paralysiert durch die Flut von Eindrücken die plötzlich auf dich einhageln. Es ist nicht sehr windig aber du spürst die Luftfeuchtigkeit deutlich auf der Haut und ziehst dir die Kapuze tief ins Gesicht, bevor du mit wackeligen Schritten das leuchtende Supermarktschild an der nächsten Straßenecke ansteuerst. Die frische Luft lässt deinen Verstand bruchstückhaft wieder zu sich kommen und bringt in Verbindung mit dem stärker werdenden Knurren in der Magengegend und der näher kommenden Erlösung eine unerwartete Assoziationskette in Gang. Hunger bedeutet Nahrung bedeutet Supermarkt bedeutet Geld. Du bleibst abrupt stehen, wirfst innerlich um Gnade winselnd einen Blick in dein Portemonnaie und atmest erleichtert auf, als deine tastenden Finger im Kleingeldfach auf Widerstand stoßen. Vier Euro plus eine gute Handvoll Centmünzen, das sollte fürs Erste genügen. Noch einmal zurückgehen und das Vermögen über die Wochen angesammelter Pfandflaschen einzupacken hätte dich momentan gänzlich überfordert.
Obwohl es vermutlich gerade erst aufgehört hat zu regnen, sind erstaunlich viele Menschen unterwegs. Ein paar Kinder in grellbunten Regenjacken springen in einer großen Pfütze herum und ernten bitterböse Blicke von der alten Frau, die mit ihrem einkaufstaschenbehängten Gehwagen kurzzeitig in die Schusslinie gerät, hier und da zerren Hundebesitzer erfolglos an den Leinen ihrer Vierbeiner, die voll und ganz darin vertieft sind, nach dem Regenguss ihr Revier neu zu markieren. Mit jedem Schritt Richtung Ziel dringt mehr von der Außenwelt zu dir durch und obwohl du es dir noch nicht so recht eingestehen willst, scheinst du nach und nach innerlich ein wenig aufzublühen. Vielleicht solltest du einfach öfter aus der Wohnung rauskommen.
Auf der Einfahrt zum Parkplatz des Supermarktes überholt dich ein Polizeiwagen und hält direkt vor dem Eingang. Haben sie jemanden beim Klauen erwischt, wahrscheinlich wieder ein paar Jugendliche, die billig an Alkohol kommen wollten. Zwei Polizeibeamte steigen aus dem Auto und verschwinden durch die gläserne Schiebetür in den Markt und du denkst dir nichts weiter dabei und schlenderst nun schon recht gelassen an den Reihen der geparkten Familienkutschen vorbei und beobachtest währenddessen Väter beim Einräumen der Einkäufe in den Kofferraum, Söhne die ihnen dabei quengelt an den Hosenbeinen zerren und Mütter die mit dem Handy am Ohr verstohlene Blicke auf die Armbanduhr werfen. Vor dem Eingang angekommen stehst du gerade im innerlichen Zwist zwischen Nudeln mit Tomatensoße und irgendwelchem schnell aufzuwärmendem Tiefkühlzeugs, als sich die Schiebetür vor dir auftut und die beiden Ordnungshüter mit ihrem frischen Fang heraustreten. Vor dir steht ein Mann in den Mittvierzigern, in abgerissenen Klamotten, das verfilzt vollbärtige Gesicht zerfurcht von tiefen Falten, die Haut eine ungleichmäßige Mischung aus Sonnenbräune und Schmutz. Vermutlich ein Obdachloser, schießt es dir durch den Kopf, und gerade so einen armen Tropf kriegen sie wegen Ladendiebstahls dran. Während einer der Polizisten ihn unsanft an dir vorbei Richtung Fahrzeug schubst, streifen sich für einen winzigen Augenblick eure Blicke und du siehst etwas in diesen trüben Augen, was du nicht erwartet hättest. Tief in ihnen flackert etwas auf und es kommt dir vor wie eine Botschaft. Ich habe lange genug in diesem System überstanden, als dass ihr mich jetzt noch kleinkriegen würdet. Dir ist plötzlich mulmig zumute und am liebsten würdest du dem Mann in irgendeiner Form zu Hilfe kommen aber allein der Versuch würde sicher nur in Ärger für dich selbst enden, deshalb gehst du weiter ohne zu murren. im Eingang drehst du dich noch einmal um und durch die mit Sonderangeboten tapezierte Glasscheibe der sich schließenden Schiebetür erkennst du die leicht ramponierten Rundungen einer Suppendose, die der Mann immer noch mit knorrigen Händen umklammert hält.

Du entscheidest dich für die Nudeln und Fertigsoße aus dem Glas und obwohl die Kassenschlange sich bis ins Unendliche zu ziehen scheint, bist du dank einer schnell herbeieilenden zweiten Kassiererin und einem mehr abwertend als freundlich klingenden „Gehen sie mal ruhig vor, junger Mann“ schnell wieder draußen auf dem Parkplatz. Keine Spur mehr von der Ordnungsmacht und dem Obdachlosen, trotzdem gerätst du auf dem Rückweg ins Grübeln über die Szene von gerade eben. Dem Blick dieses Mannes schien etwas inne zu wohnen, was dir seit langem abhanden gekommen ist. So etwas wie Trotz, nur in einem positiveren Sinne. Die Gabe weiterzumachen, obwohl schon lang kein Land mehr in Sicht ist. Wie du so darüber nachdenkst und dein Schicksal mit dem des Mannes vergleichst, kommst du dir plötzlich erbärmlich vor. Ein Dach über dem Kopf, regelmäßig Geld auf dem Konto, auch wenn Stütze auf Dauer nicht unbedingt Reichtum verspricht, einen intakten Freundeskreis, der auch trotzdem noch vorhanden ist, obwohl du dir in letzter Zeit nicht unbedingt ein Bein für die Leute ausgerissen hast. Und du verkriechst dich in deiner emotionalen Zwangsjacke, machst dicht und ertrinkst bei der erstbesten Dürreperiode deines fünfundzwanzigjährigen Lebens in Selbstmitleid. Was hast du schon für Probleme? Du hast keinen Job aber im Gegensatz zu Tausenden deiner Altersgenossen hast du immerhin eine abgeschlossene Ausbildung, wo andere nicht einmal einen verdammten Schulabschluss in der Tasche haben. Kein Grund zu resignieren also. Außerdem lässt sich die Zukunft nicht voraussehen und genauso, wie du jederzeit vom Bus überfahren werden könntest, könnte auch ein Jobangebot hinter der nächsten Ecke auf dich warten. Vielleicht hat der Typ beim Amt ja doch Recht und du solltest einfach den Kopf wieder aus dem Sand ziehen und wieder ein bisschen optimistischer an die ganze Sache herangehen. So dermaßen über dein eigenes Verhalten in Rage, siehst du den grellroten Fleck nur noch aus dem Augenwinkel auf dich zukommen und als du zurück zuckst ist es zu spät.

Pudelnass stehst du am Rand einer Pfütze, vor dir sucht die Kindermeute, halb lachend, halb in Panik erwischt zu werden, fluchtartig das Weite. Naja, immerhin nicht vom Bus überfahren und mir gehört wohl wirklich mal der Kopf gewaschen, denkst du dir, fängst aus heiterem Himmel laut an zu lachen und gehst bei rot über die freie Straße, weil hier ohnehin keine Buslinie hält. Die Zukunft ist ein unbeschriebenes Blatt.

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Tag der Veröffentlichung: 20.05.2009

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