Cover

Die U-Bahn rumpelt gemütlich vor sich hin und ich gucke gedankenverloren aus dem Fenster, während meine Augen unbewusst im Sekundentakt an schemenhaften silbernen Flecken kleben bleiben, die draußen in der Halbfinsternis des Tunnels am Triebwagen vorbei jagen. Wir erreichen den Aufgang vor Sankt Katharinenbrunnen und gleißendes Sonnenlicht flutet die Waggons, so dass ich mir abrupt den Schirm meines Caps tiefer in die Stirn ziehe und die Augen zusammenkneifen muss, um nicht zu erblinden. Es ist Frühling, Freitag, Wochenende. Die Welt ist wieder mein Freund. Der Zug fährt in die nächste Station ein, Kreisel Süd, und ich betrachte zu den treibenden Bässen aus dem Kopfhörer, wie sich die homogene Masse gesichtsloser Feierabendverkehrspendler langsam durch die Tür auf den Bahnsteig schiebt. Wie immer quetschen ein paar Kids sich gegen den Strom ins Abteil, anstatt zu warten. Ich amüsiere mich innerlich darüber, als der freie Platz mir gegenüber plötzlich in Beschlag genommen wird. Blonde Dreads wallen durchs Sonnenlicht, ein Paar tiefgrüne Augen blicken mich unvermittelt an und im Moment des Wiedererkennens blitzt ein Lächeln über ihre Lippen. Ich nehme die Kopfhörer ab und will gerade etwas sagen aber sie kommt mir zuvor. „Hey! Mister Anyone, wenn ich mich recht erinner´...“ Für den Bruchteil einer Sekunde rutscht mir meine kleine Welt aus den schweißnassen Händen und droht auf dem Abteilboden zwischen den Schuhen der anderen Fahrgäste in tausend kleine Scherben zu zerbersten. „Ähh, kannst mich sonst auch gern Marc nennen.“ Scheiße, du Vollidiot. Da hatte definitiv jemand ein paar Cocktails zuviel. Wir quatschen ein bisschen und es kristallisiert sich heraus, dass ich ihr auf der Party letzten Samstag in recht komatösem Zustand meine Handynummer eingespeichert habe. Da sie es mit Humor zu nehmen scheint und alles in allem einen recht sympathischen Eindruck macht, war die Aktion, obgleich der nicht zu leugnenden Verpeiltheit, vielleicht gar nicht mal so daneben. „Okay, ich muss hier raus“, ich gebe mir Mühe neutral zu klingen, „Kannst dich ja mal melden, wenn irgendwo was los ist.“ Beim Aufstehen verpasst sie mir eine flüchtige Umarmung und lächelt mir noch einmal durch die zerkratze Scheibe zu, während der Zug langsam anfährt und sich dann aus der Station schiebt.


Es kommt noch zu einem kurzen Blickkontakt bevor der Zug ihn aus ihrem Blickfeld zieht und die Gesichter auf dem Bahnsteig sich zu Flecken verlieren, die am Fenster vorbei ziehen und schließlich den immergleichen Fassaden der Großstadt Platz machen. Was macht er wohl heute Abend? Sie muss ein wenig über sich selbst grinsen, als sie sich bei diesem Gedanken ertappt. Krankenschwester, frisch aus der Ausbildung, auf dem Weg zur Spätschicht, erwischt ein Rudel Schmetterlinge in ihrem Bauch, das immer noch die selben Manöver fliegt, wie bei der ersten großen Liebe vor zehn Jahren. Was Gefühle angeht wird man wohl nie richtig erwachsen. Aber im Augenblick kommt ihr ein wenig naive Schwärmerei auch ganz gelegen, hat sie die Ablenkung doch mehr als nötig. Man wächst zusammen auf, verbringt die Kindheit miteinander, teilt so viele Gedanken, Träume, Augenblicke. Über Jahre entsteht eine so unglaublich tiefe Verbundenheit, dass man es sich nicht träumen lassen würde, dass dieser Knoten sich auch nur lockern könnte. Und dann wechselt man die Schule, telefoniert noch jeden Tag, lernt neue Menschen kennen, trifft sich weiter dreimal die Woche, bekommt ein schlechtes Gewissen und realisiert, dass man sich längst auseinander gelebt hat. Und dann, nach Jahren des Vergessens, plötzlich aus dem Nichts ein Lebenszeichen. Nein, nicht einmal das. Nur ein Gerücht… Sie hatte sich während der Ausbildung mit dem Thema auseinandergesetzt, es aber nie näher als nötig an sich heran gelassen. Warum auch? An einem Sommerabend auf dem Balkon mit der Mitbewohnerin Gras rauchen macht noch keinen Suchtkranken. Aber hier ging es um etwas anderes, was sie, auf sich selbst bezogen, jederzeit mit einem lapidaren „Kann mir nicht passieren.“ abgewiegelt hätte. Sie stellt sich einen dunklen, verwahrlosten Raum vor, Essensreste stapeln sich auf verkrusteten Tellern, ein Fernseher flimmert tonlos vor sich hin, um das Bett herum liegen dreckige Klamotten und Unterwäsche verstreut auf dem Fußboden. Ein abgewetzter Teppich gemustert von Brandlöchern, neben dem Aschenbecher zerknüllte Taschentücher und ein paar umgefallene Flaschen mit schimmelndem Inhalt. Und auf dem Bett ihre einstmals beste Freundin mit einer Nadel im Arm. Mechanisch schiebt sie sich an teilnahmslosen Menschen zur Tür durch, als die Tonbandstimme ihre Station ansagt. Als sie aus dem Zug tritt wird sie von der warmen etwas zu dicken Luft der sommerlichen Stadt umhüllt und versucht den Gedanken von sich abzuschütteln. Nimm deine Arbeit nicht mit nachhause aber lass dein Privatleben ebenso vor der Stationstür liegen.


„Hey Alter, wo warst du denn so lange?“ Ein Blick auf die Uhr zwischen den Postern und angepinnten Fotos an der Wand sagt mir, dass ich gut eine Stunde zu spät dran bin. Boris, a.k.a BeBob, sitzt in seinem reichlich mitgenommenen Ledersessel aus dem Diakonie-Laden um die Ecke. Vor ihm auf dem Tisch liegen ein paar Skizzen, auf dem Boden stehen zwei Kartons mit Dosen in diversen Blautönen, Neongrün, Schwarz und Weiß. „Mir ist noch was dazwischen gekommen aber wird ein lockeres Ding heute. Vollmondnacht und das Wetter ist grandios, da kannst im T-Shirt malen gehen.“ Ich lasse mich ihm gegenüber auf das Sofa fallen. „Ja, Mann!“, sein breites Grinsen macht mich etwas lockerer und ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Er fragt nicht weiter nach wo ich war und das ist mir auch verdammt lieb so. Ich erzähle ihm von meiner Begegnung in der U-Bahn und er kann sich das Lachen nicht verkneifen, als er nach dem Namen der Glücklichen fragt, ich aber keine Antwort darauf weiß. Er lässt aber auch durchblicken, dass es ihn für mich freut und meint ich solle mal dran bleiben. Wir gucken noch eine Weile sinnlosen Kram im Fernsehen und rauchen, bis es langsam Zeit wird. Als wir die Rucksäcke packen kommt das kribbelnde Gefühl von Nervosität die Wirbelsäule hinauf gekrochen und setzt sich bis in die Fingerspitzen fest. Beim Kontrollieren der Taschen merke ich, dass mein Handy nicht da ist. Scheisse, aber jetzt ist es auch zu spät. Ich versuche den Gedanken an vorhin zu verdrängen und mache mich mit Boris auf den Weg zur U-Bahnstation, von wo aus uns die Linie3 zu unserem Ziel bringt.


Obwohl die Nacht anbricht, ist es wärmer als erwartet. Sie tritt durch die Schiebetür auf den Vorplatz der Klinik nach draußen und geht über den menschenleeren Parkplatz. Nur noch vereinzelt stehen Autos in den Parklücken, in den Gebüschen zirpen Grillen, der Mond scheint hell heute Nacht. Um Zeit zu sparen nimmt sie die Abkürzung durch den Park und zieht am Eingang zu der spärlich beleuchteten Grünanlage ihr Handy aus der Handtasche. Während sie dem schmalen Weg durch die stille Anlage folgt und der Sand unter ihren Schuhen knirscht, drückt sie in unregelmäßigen Abständen auf dem Tastenfeld herum, um das Display am Leuchten zu halten. Soweit sie sich erinnern kann, war sie in ihrer Kindheit nie sonderlich ängstlich aber seit Kurzem kommt sie sich selbst in manchen Situationen regelrecht paranoid vor. Wie sie so allein durch die Dunkelheit wandert kommen ihr die Bilder wieder in den Kopf. Pillen, Koks, Heroin, Prostitution, der komplette Absturz, das volle Programm. Wie kam es soweit? Selbstzweifel und Vorwürfe machen sich in ihr breit. Sie erreicht den Ausgang am Ende des Weges und überquert die Straße. Die Ampelanlagen blinken rhythmisch als Warnsignal für nächtliche Autofahrer die nicht kommen. Sie erreicht die Fußgängerbrücke, die über die Gleisanlagen führt und will gerade ihr Handy wieder in der Handtasche verstauen, als ihr Lösungsmittelgeruch in die Nase weht und Geräusche vom Gleis die Böschung herauf kommen. Noch beim Aufblicken dann raschelndes Gestrüpp und rollende Steine. Panik schießt durch ihren Körper. Sie will sich umdrehen und weglaufen, doch plötzlich ist dort nur noch ein Stoß und Straßenbelag unter ihrer Wange. „Oh fuck, tut mir leid!“, hört sie eine fremde Stimme dumpf von irgendwoher zu sich durchdringen, dann Rennen begleitet von metallischem Rasseln. Als sie sich wieder aufrappelt sieht sie unten im Gleisbett die Lichtkegel von mehreren Taschenlampen hektisch durch die Nacht zucken. Sie entdeckt ihr Handy auf dem Boden, das Display leuchtet schwach neongrün. Sie bückt sich, greift danach und läuft so schnell sie kann über die Brücke Richtung U-Bahnstation.


Einen Tag später treffe ich sie wieder in der U-Bahn. Zugegeben, es ist nicht unbedingt der Zufall der uns zusammenführt aber das spielt ja auch keine Rolle. Die Sonne ist wieder am Strahlen und mir geht es blendend. Zwar war nicht sehr viel Schlaf für mich drin, dafür liegt in dem Rucksack zwischen meinen Beinen die Digitalkamera mit den Fotos von letzter Nacht. Linie3, Südstadt-Hornschneidergasse, perfekte Bilder, bei schönem Wetter direkt im Bahnhof erwischt. Farbe auf Stahl, BeBob und AnyOne. Der Zug rollt, das einzig Wahre. Wir unterhalten uns, blödeln herum, lachen. Meine Laune ist auf dem absoluten Hochpunkt und ich denke darüber nach, sie bei der nächsten Gelegenheit zu irgendetwas einzuladen. Eis essen oder in irgendeinem kleinen Cafe etwas trinken gehen, das Übliche halt. Sie erzählt mir gerade davon, dass sie gestern einen ziemlich krassen Heimweg hatte, als ihr Handy klingelt und sie sich entschuldigt und nach ihrer Handtasche greift. Ich schaue aus dem Fenster und beobachte die Stadt, wie sie an uns vorbei zieht. Graffitis rauschen an uns vorbei und ich erkenne die meisten Namen im Flug. Für die Einen mögen es Schmierereien sein, für mich bilden sie die Seele der Stadt. Als ich wieder zu ihr blicke, merke ich, wie sie mich verwirrt anstarrt. „Du rufst mich grad an…“ Mit einem Mal kommt es mir so vor, als hätte einer der entnervten Feierabendpendler in einem Anflug von unkontrollierbarer Tobsucht die Notbremse gezogen. Schlagartig verlangsamt sich die Welt vor dem Fenster, die Graffitis verschwimmen zu schemenhaften, surrealen Gebilden, die Stimmen um mich herum verschmelzen mit dem Rumpeln des Waggons zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, mein Blickfeld verengt sich zu einem Tunnel und ich sehe nur noch ihre Hand. Sehe nur noch ihr Handy auf dessen neongrünen Display in rhythmischem Blinken immer wieder der Name Anyone auftaucht. Sehe ihren Daumen, der sich in Zeitlupe über den Knopf mit dem kleinen grünen Hörer schiebt. Der Zug steht still, die Menschen um uns herum sind erstarrt zu Salzsäulen. Die Stadt steht still. Es gibt nur noch mich und sie und die leise Stimme die wie von einem Tonband aus dem Nichts kommt und zwischen uns im Raum hängen bleibt. „Anna, bist du das? Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr… ich hab Probleme, weißt du…“ Und ich blicke Anna in ihre tiefgrünen Augen und dort ist nichts mehr so wie es sein sollte und ich will irgendetwas sagen aber mein Gehirn befindet sich im Leerlauf und plötzlich befindet sich alles in freiem Fall und meine kleine Welt kollidiert mit dem Abteilboden, wo sie sich in winzigen Scherben zwischen den Schuhen der Fahrgäste verteilt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /