Hauptkommissar Stilz, „Rumpelstilzchen“ nannten sie ihn in der Mordabteilung, kam, klein und etwas beleibt, wie er nun mal war mit seinen knappen sechzig, beschwingten Schrittes und bei bester Laune ins Polizeipräsidium zum Dienst. Er kam von seiner Ärztin, und der jährliche Gesundheits-Check war wider Erwarten gut ausgefallen. Die Andeutung einer Zuckerkrankheit, die sich vor einem Jahr ergeben hatte und derentwegen er eine Diät einzuhalten ermahnt worden war, eine Diät, die auch Scotch ausschloss, also mehr als lästig war, war fast ganz wieder weggegangen. Blieb noch ein mäßiger Bluthochdruck, den er erfolgreich mit einer morgendlichen Tablette dämpfte, und die allerdings mitunter sehr lästige Übersäuerung des Magens, gegen die er viel frische Milchgetränke und mitunter ebenfalls Tabletten zu sich nahm oder aber ein doppeltkohlensaures Natronpulver wie zu Großmutters Zeiten, denn das half noch am besten. Wenn er Sodbrennen hatte, war es freilich besser, man kam nicht in seine Nähe und wartete lieber ab, dass Milch, Tabletten oder Pulver oder auch alle drei zusammen, wenn es besonders schlimm war, ihre gleichsinnige Wirkung taten.
Dieser Tag aber hatte gut begonnen, und Stilz dankte laut für die an ihn gerichteten Grüße. Er betrat sein Büro und griff in das untere Fach seines Schreibtisches, das er seiner Sekretärin als „privatest“ benannt hatte und von dem doch alle in seiner Abteilung den Inhalt kannten und wussten, dass er nur selten benutzt wurde. Zur Feier dieses Tages schenkte Stilz sich nun einen 25 Jahre gereiften Maccallan ins Glas und trank ihn, längere Zeit nachschmeckend, pur und in kleinen Schlucken. Wenig später überkam ihn dann die Reue, denn er hatte auf nüchternen Magen getrunken, und das bekam ihm selten, da kriegte er fast jedes Mal Sodbrennen von der übelsten Sorte, und so löste er mal wieder stöhnend und leise vor sich hinfluchend ein Natronpülverchen auf, als es an seine Tür klopfte. Mit barscher Stimme rief er „Herein!“
Stilz war ein erfahrener Kriminalist, aber was er jetzt erleben musste, so etwas war ihm noch nicht passiert in seiner langen Laufbahn, und das ausgerechnet, wo er kurz vor seiner Pensionierung stand. Nacheinander kamen da eine Frau und ein Mann, Ehepartner die beiden, erregt bis zum äußersten, zu ihm, hatten sich partout nicht abweisen lassen und waren -so kurz aufeinander folgend, dass sie sich beinahe begegnet wären- glücklicherweise nur beinahe, herausgeplatzt mit sich komplett ergänzenden Geschichten, die in beiden Fällen auf eine wechselseitige Anschuldigung gegen den jeweils anderen wegen `Körperverletzung mit beabsichtigter Todesfolge´ hinausliefen.
Die Frau war eine noch nicht alte, attraktive, nun, früher hätte man das ohne Zögern und Krähenfüßchen gesagt: `Dame´, der Mann ein frischgebackener Kunstprofessor mit schon schütterem Haar und Altersflecken, aber ebenfalls von gepflegtem Äußeren, zu dem eine gewisse gestylte Nachlässigkeit gehörte. Er habe sie brutal vergewaltigt, hatte sie ausgeführt, vergewaltigt in der Ehe, oft und eben: brutal. Beim letzten Mal aber doppelt gewalttätig, weil er wusste, dass sie sich wehren würde, diesmal, weil wiederum sie nun wusste, dass er wisse, dass sie wisse, dass er HIV verseucht sei, das könne sie beweisen, die Tests lägen vor. „Umbringen will er mich damit!“, hatte sie bitter und hysterisch hingeschleudert, „der gehört doch hinter Gitter! Schon längst!“
Der Mann wiederum, er war der zweite in der Reihenfolge ihres Auftretens, war völlig außer Kontrolle gewesen, hatte gezittert und gestottert, er könne beweisen, dass seine Frau ihn mit Aids infiziert habe, „eiskalt und präzise berechnet. Und ich hatte gedacht, unser zweiter Frühling hätte angefangen“, schloss er seinen Bericht, der von sexuellen Pikanterien strotzte, und Tränen rannen ihm über die Wangen. „Ich hab´ ein Video, da können Sie sehn, wie sie das gemacht hat. Eiskalt“, schluchzte er, „sperren Sie die weg. Die ist gemeingefährlich.“
Stilz musste zugeben, dass, wenn es denn so stimmte, wie die beiden das erzählt hatten, und es lag auf der Hand, dass es stimmte, die Geschichten passten nahtlos aneinander, dass da zwei kriminelle Höchstenergien aufeinander geprallt waren. Der rächende Blitz aber, den dieser Zusammenprall gezeugt hatte, hatte offenbar beide getroffen.
Karla und der Mann mit dem Vornamen Charles, den seine Bekannten gerne den `flotten Charlie´ nannten, denn er war nicht mehr ganz jung, aber trotzdem noch emsig auf Frauenjagd, hatten sich bei einem Buchverlag kennen gelernt. Sie war dort Korrektorin, und er war Grafiker, ein anerkannter Schriftspezialist, der auch viel von Musik verstand, gut Klavier spielte und eine neue Druckschrift erfunden hatte.
Als sie einander wahrnahmen, war Karla seit fünf Jahren verheiratet. Charles war das schon die dreifache Zeit; er war um einiges älter als Karla und hatte einen schon halbwüchsigen Sohn. Beide, Charles und Karla, waren ihrer bisherigen Ehen überdrüssig, und als die Zeit kam, ließen sie sich scheiden, erkannten ihre gleichsinnige Interessenlage und mieteten eine gemeinsame Wohnung. Irgendwann heirateten sie. Natürlich waren sie modern und hielten die Ehe für ein antiquiertes Institut und den außerehelichen Beischlaf für das Normale, aber sie waren beide auch irgendwie penibel und auf Ordnung bedacht.
Was sie nicht mochten, waren Störungen. Und als Karla schwanger wurde, war das eine solche. Vor allem war es für Karla der Gedanke an das Aufblähen ihres bisher makellosen Leibes und dessen wahrscheinliches faltiges Zusammenfallen mit unbestimmter erotischer Folge nach der Geburt. Und dann das Stillen. Sie fürchtete um ihre sexuelle Attraktivität, aber auch Charlie war unsicher hinsichtlich der diesbezüglichen, fürderhin womöglich verringerten Herausforderung, die von dem jetzt noch sinnlichen Leibe ohne Zweifel ausgehen würde, falls er denn nicht die alten Maße und glatten Oberflächen zurückgewönne. Stärker noch beunruhigte ihn allerdings die Bedrohung seiner kreativen Ruhe, die mit einem Baby verbunden sein würde. Er war eben nicht mehr der Jüngste.
Es obsiegte der Wunsch nach biologischer Dauer im Nachfahren, und bei Charlie kam hinzu, dass ihm der leibhafte Ausdruck seiner Virilität in Karlas sich wölbendem schwangeren Bauch durchaus auch schmeichelte.
Sie wandten sich somit dem Kinde, einer Tochter, zu, und Henriette heischte Zuwendung weit über das normale Maß hinaus, indem sie sich frühzeitig als eine Begabung zu erkennen gab und die Bewunderung Vieler auf sich zog.
Eigentlich hätten nun für die beiden, Karla und Charlie, die erfolgreiche Elternschaft und die beruflichen Positionen hinlängliche Bedingungen erfüllten Lebens sein müssen, wenn nicht Charlie ein Erotomane gewesen wäre und Karla sich ihm nicht seit dem Trauma der hohen Schwangerschaft zu verweigern getrachtet hätte. Natürlich wusste Karla, dass sexuelle Lust und Schwangerwerden technisch trennbar sind, aber sie nahm es Charles übel, dass er das in romantischer Laune nicht gewollt hatte, nur weil er doch Künstler war und sein wollteund die Schwangerschaft als äußerlich präsentablen Erweis seiner nicht mehr ganz jungen Männlichkeit nahm und sie, Karla, somit rücksichtslos allen Folgen allein ausgesetzt hatte. Deshalb wollte sie das Bett mit ihm fürderhin nicht mehr teilen, denn sie hatte glasklar erkannt, was er war, letztlich war er, Henriette hin, Henriette her: ein alternder Egomane.
Er warb um sie. Indes Henriette entwöhnt wurde, brachte er Blumen nach Hause, zarte Freesien zuerst, dann verlangenden Flieder, zudringliche Rosen schließlich. Lustlos öffnete sie ihm ihren Schoß. Er wiederum kompensierte spürbares Versagen durch immer raffiniertere Einfälle erotischer Stimulation, die er dem Studium pornographischer Zeitschriften entnahm. Karla war zunächst stimuliert, dann verärgert, bald schon widerwillig.
Eines Tages war sie so weit und erklärte ihm, dass sie ihn als Vater der gemeinsamen Tochter schätze, aber mehr auch nicht. Da sei nichts mehr, er möge das bitte akzeptieren. Da war Henriette fünf. Es vergingen weitere Jahre, in denen sie nebeneinander lebten, und Karla konnte keinen vernünftigen Grund für eine Trennung von Charles erkennen, der ein gutes Einkommen hatte, vor allem durch die Tantiemen, die die Benutzer seiner Schrift abzuführen hatten. So gab sie ihm frei, sein schier unstillbares körperliches Verlangen außer der Ehe zu befriedigen, und schützte ihrerseits Migränen vor. Charles allerdings kam immer mehr zu der Meinung, die Lust des freien Spiels nicht wirklich genießen zu können, weil sie zu erreichen mit fortschreitendem Alter finanziell immer aufwändiger wurde. Er war ein eher sparsamer Mensch, erzogen von einer calvinistischen Mutter, und die Geldausgabe für käuflichen Sex ging ihm wider die wirtschaftliche Natur und nahm ihm die Freude daran. Hinzu kam, dass der Reiz des Verbotenen und Heimlichen fehlte, der ihm ehedem, als er noch jünger war und seine Verehrerinnen unter der weiblichen Studentenschaft zahlreich waren, zusätzliche Lust verschafft hatte. Er versuchte, Karla für erotische Abenteuer in einschlägigen Clubs zu gewinnen und, als sie das ablehnte, für assistierende Teilnahme an heimischen Spielen mit eingekauften Liebesdienerinnen, aber sie wollte auch das nicht. Vielmehr ging sie nun ebenfalls und ausgiebig und manchmal sogar demonstrativ fremd. Es wurde eine immer verfahrenere Situation. Hätte Karla ihm Worte der Eifersucht entgegen- (S.12) geschleudert, wenigstens aber einen simplen Ehestreit inszeniert, wäre das Problem einfach zu lösen gewesen, denn das hätte Charles zu Widerspruch und Übertretung, und sogar Verschwendung, und somit zu finanziell gerechtfertigter höherer Lust provoziert. Aber er war Karla egal geworden, und das war der Grund dafür, dass er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3101-1
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