Überdrüssig seines Lebens wandelte Zucker durch die Stadt. Er wollte heute keinem etwas böses, sondern nur abschalten und die Zeit genießen, die er Spike nicht zu Diensten stehen musste. Zucker gehörte der Sippe von Spike an und war eines der ältesten Sippenmitglieder und stand Spike so näher als viele Andere. Doch in letzter Zeit hatte er nichts mehr von seinem Vorgesetzten und bestem Freund gehört. Dieser hatte sich nämlich nach der Hochzeit mit Emma aus dem Staub gemacht. Die beiden wollten „abschalten“ und ein bisschen ihr Leben genießen. Was sie mit abschalten meinten, war selbst Zucker bewusst. Sie würden sicher nicht im Hotel sitzen, Däumchen drehen und Schach spielen.
Für einem Moment wollte Zucker wieder atmen können, nur um einmal dieses schmerzliche Gefühl zu empfinden, welches man im Herzen hat, wenn einem etwas fehlt. Ja, ihm fehlte etwas. Jemand zum Reden, jemand zum Lieben ... einfach ein Jemand, der immer da war, wenn Zucker sich allein fühlte. So jemanden hatte er schon lange nicht mehr. Einmal war er verliebt gewesen, aber das war schon viele Jahre her. Er konnte sich schon kaum noch daran erinnern. Weder daran wie sie hieß, noch daran wann genau das mit ihr gewesen war. Schulterzuckend schlenderte er weiter. In Gedanken immer bei dem warmen Gefühl einer Umarmung und wie schön es sich anfühlte, wenn man eine Frau fest in die Arme schließen konnte. Selbst als Mann fühlte man sich dann geborgen und wollte das Gefühl am Liebsten nicht mehr vergehen lassen. Langsam schien sich auch das Wetter Zuckers Laune an zu passen. Wolken zogen auf. Verwirrt schaute er in den Himmel, aber im Endeffekt war es ihm doch irgendwie egal. Egal ob es regnete, schneite oder die Sonne ... für Zucker schien war es eh jeden Tag dasselbe Gefühl der Einsamkeit.
Er schob die Hände in seine Hosentaschen und lief die nächste Seitengasse entlang. Dunkelheit umgab ihn. Hier fühlte er sich wohl. Für einen Moment vergaß er seinen Lebensüberdruss und drängte sich an eine Mauer, um sich einfach nach unten sacken zu lassen. Dann zog er die Knie an die Brust und legte seine Arme hinter seinen Kopf.
Spike ging es im Gegensatz zu ihm gut. Endlich hatte er gefunden, was er schon lange gesucht hatte. Spike konnte sich einen glücklichen Ehemann nennen. Zucker merkte so etwas wie Eifersucht aufblitzen, aber er ignorierte das Gefühl gleich wieder. Schließlich gönnte er seinem besten Freund und Vorgesetztem ja auch sein Glück. Spike musste ja auch lange für das kämpfen, was er besaß. Vielleicht muss ich nur die Zeit abwarten, munkelte Zucker tonlos und schloss die Augen.
Mist, dachte sich Claire, als sie die Verfolgung aufnahm. Diese Schweine hatten wirklich das ganze Geld eingesteckt. Sie verdrehte die Augen.
Konnte die Welt nicht einfach mal gerecht sein? Warum mussten die Menschen immer so viel Chaos anrichten? Wozu gab es Gesetze, wenn sich eh keiner daran hielt? Claire schnaufte. Dann nahm sie die Beine in die Hand. Sie musste diese Typen einfach erwischen. Claire ignorierte, dass der Wind ihr ins Gesicht schlug und dass ihr die Augen tränten. Dafür, dass mir wegen euch die Wimperntusche verläuft, gehört ihr schon eingesperrt, funkelte sie böse in Gedanken und rannte weiter. Dann rannten Claires Zielpersonen in die nächste Gasse.
„Man“, rief sie laut und nahm eine scharfe Linkskurve. Sie rannte weiter gerade aus, bis sie über zwei Beine stolperte. Sie prallte voller Wucht auf dem Boden auf.
„Autsch“, war das Erste, was ihren Mund verließ. Dann schaute sie an sich runter. Ihre Hose war zerrissen und aus einer klaffenden Wunde an ihrem Knie lief Blut. Es brannte höllisch und sie sah, dass Schmutz in ihre Wunde gelangt war. Wenn sie auf der Polizeistation angekommen war, musste sie sich erstmal die Wunde auswaschen.
„Mist“, murmelte Claire gereizt und wollte aufspringen um die Verfolgung der Zielpersonen wieder aufzunehmen. Doch als sie stand, hielt sie ein fester Griff davon ab weiterzulaufen.
„Hey“, schnauzte sie den Typen an, „Lass mich los, ich muss meinen Job erledigen.“ Doch der Typ blickte sie weiter durch dringlich an.
„Das Einzige, was du jetzt machen musst, ist dich zum Arzt zu bewegen.“, antwortete er und trat aus dem Licht.
Zucker wollte nicht, dass die fremde Frau über seine Beine stolperte, aber verhindern konnte er es auch nicht. Er war nicht darauf gefasst gewesen, dass überhaupt jemand um die Ecke gerannt kam. Er war eingenickt und plötzlich rannten diese Typen an ihm vorbei. Erschrocken öffnete er die Augen und dann rannte auch schon diese Frau an ihm vorbei und stolperte einfach über seine Beine. Er ließ den Blick über sie schweifen.
Sie war hübsch und hatte einen eisernen Willen. Sie wollte diese Typen schnappen. Ihr braunes, gewelltes Haar klebte verschwitzt an ihrer Stirn. Ihre braunen Augen schauten erschrocken auf ihr Knie. Es war aufgerissen, eine große klaffende Wunde. Er musste ihr helfen. Er musste einfach ihre Wunde mit seinem Blut verschließen. Sonst würde es mindestens zwei Wochen dauern, bis ihr Knie wieder normal war und sie wäre in ihrer Lauffähigkeit eindeutig eingeschränkt.
„Lass mich jetzt gehen“, schimpfte die Frau und verdrehte ihre Augen. Zucker schaute sie durch dringlich an, „Nein. Du kommst jetzt erstmal mit.“ Dann legte er ihr den Arm um die Hüfte, spannte seine Muskeln an und drückte sich vom Boden ab. Ein großer Sprung ließ ihn zischend in die Luft steigen.
In Claire breitete sich Unbehagen aus. Sie wusste nicht was gerade passierte. War er gerade mit ihr bis über die Häuser gesprungen? Flog er gerade mit ihr über die Dächer der Innenstadt? Ihr Atem setzte aus und ihr Herz raste. Sie hatte das Gefühl sterben zu müssen. Sie sog die Luft zwischen ihren Zähnen ein. Was hatte dieser Typ nur mit ihr vor? Sie wusste es nicht. Ehrlich gesagt wollte sie das auch nicht genau wissen. Sie wollte bloß nicht sterben. Das war das Einzige, was ihr im Moment gerade wichtig war.
Aber was war, wenn er genau das vorhatte, sie in den Tod zu reißen? Richtig vorstellen konnte sie sich das zwar nicht, aber irgendwie schien ihr der Gedanke wieder und wieder zu kommen. Der Typ war doch kein Mensch, oder doch? Menschen konnten nicht so mir nichts dir nichts fliegen. Aber gab es überhaupt Übernatürliches auf der Welt? Bis jetzt wusste Claire zumindest nichts davon.
Nach zwanzig Minuten landete Zucker mit der Frau auf einem Feld unter einem Apfelbaum. Hier saß er immer, wenn er allein sein wollte und seine Ruhe brauchte. Noch nie hatte er irgendwen mit hier her gebracht. Er setzte die Frau ab und sie schaute ihn verwirrt und ängstlich an.
„Was bist du“, fragte sie fassungslos und strich Zucker ungläubig über die Wange, „Du bist kein Mensch.“
Zucker zuckte bei ihrer Berührung zusammen. Er würde ihr, nachdem er ihr Knie geheilt hatte, wohl das Gedächtnis löschen müssen. Sie würde ihren Freundinnen sonst sicher erzählen, dass sie ein Fabelwesen getroffen hatte und diese würden sie dann auslachen. Zum Glück glaubten nicht viele Menschen an Übernatürliches. Zucker hockte sich hin und begutachtete das Knie der Frau. Er riss ihr die Hose einen Spalt weiter auf, so dass ihr Knie frei lag.
„Was tust du“, fragte sie und schien am ganzen Körper zu zittern. Zucker schaute nach oben, „Halt still. Es wird dir nicht weh tun.“
Dann riss er sich an einem seiner Fänge die Handfläche auf und wartete, dass sein Blut aus der Wunde strömte. Der Frau entfuhr ein hoher Schrei.
„Alles ist in Ordnung“, wollte Zucker sie beruhigen.
Als der Typ Claire seine Hand auf die Wunde legte, fing es unter seiner Hand an zu kribbeln. Scharf sog sie die Luft ein. Was passierte da gerade an ihrem Knie? Das ist doch alles nur ein schlechter Traum, dachte sie und wünschte sich, dass sie aufwacht. Als der Kerl seine Hand wieder von ihrem Knie nahm, war Claires Wunder verschlossen, „Wie?“
Verwirrt drehte sie ihr Bein hin und her und schaute ihm entsetzt ins Gesicht. Dann fasste sie sich langsam wieder. Er ist alles nur kein Mensch, murmelte sie im Unterbewusstsein. Aber was war er, wenn er kein Mensch war? Es gab doch keine anderen intelligenten Wesen, die genau so aussahen wie Menschen, auf der Erde, oder doch?
„Ich bin Claire“, murmelte sie irgendwann, als das Wesen sie stumm musterte. Er stand einfach da, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Nicht mal zwinkern tat er. Für Claire war das alles gruselig.
„Und jetzt will ich wissen, wer und was du bist“, entschlossen
verschränkte Claire die Arme vor der Brust. Sie wusste nicht einmal wo genau sie war. Das ist doch verrückt, verhext und alles nicht real, schimpfte sie tonlos. „Zucker, Vampir“, stellte sich der Fremde vor, „Aber in ein paar Minuten wirst du dich an nichts mehr erinnern können.“
Zucker versuchte das letzte Mal Claire mit seinem Strahleblick zu blenden und ihr die Worte „Du wolltest dich hier nur umsehen, dann rufst du dir ein Taxi, fährst nach Hause und schläfst. Du bist sehr müde. Ich bin nie da gewesen“ einzuflössen.
Doch jedes Mal, wenn er es probierte, fing Claire schallend zu lachen an. Sein Blick dabei und wie er die Stimme verstellte war für sie einfach zu köstlich. Es wollte einfach nicht funktionieren.
„Mist“, fluchte er schließlich und ließ sich erschöpft auf den Boden sinken. Claire setzte sich neben ihn, „Funktioniert wohl nicht so wie du das willst?“
Er nickte nur geschafft. Es war anstrengend Menschen zu blenden. Das
wusste er schon vorher, aber dass es so anstrengend war, wenn man es mehrere Male hintereinander tat und es nicht funktionierte, dass wusste er nicht. Dann fuhr er sich mit der rechten Hand durch sein blondes Haar und seufzte, „Ich werde dich wohl ein bisschen bei mir behalten müssen. Wir müssen warten, bis mein Blut aus deinen Blutbahnen verschwunden ist. Eher kann ich dich nicht gehen lassen. Die Gefahr, dass du jemanden über meine Rasse erzählst ist einfach zu groß.“
Claire schnaufte. Sie fühlte sich ziemlich überrumpelt, „Ich habe einen ernst zu nehmenden Job, Freunde und Familie ... Ich kann jetzt nicht einfach so aus der Öffentlichkeit verschwinden! Das geht nicht Zucker. Außerdem würde mir doch sicher eh keiner glauben, wenn ich erzähle, dass ich in der Gewalt eines Vampires war. Die erklären mich doch höchstens alle für bescheuert.“
Zucker lächelte, „Ich werde in die Wege leiten, dass dich keiner vermisst. Wir zwei machen uns ein paar schöne Tage in meiner Villa. Ich kann auch ein ganz netter Kerl sein, Claire. Wirklich. Mach dir da mal keine Sorgen.“
Dann schnappte er Claire und hob mit ihr erneut in die Lüfte ab. Toll, dachte sie sich, als sie die ersten Meter geflogen waren, verschleppt von einem Vampir.
Claire versuchte sich gar nicht zu wehren, sondern verschränkte einfach die Arme vor dem Körper, als Zucker mit gewaltiger Geschwindigkeit durch die Luft sauste.
„Angeber“, murmelte sie leise. Allerdings konnte Zucker das noch hören und lachte abschätzend. Claire schüttelte den Kopf und versuchte sich darauf zu konzentrieren möglichst kalt zu wirken und ja nicht überwältigt von der Fähigkeit des Fliegens. Sie wollte schließlich selbst schon immer mal ein Flugzeug lenken, doch dann verschlug es sie durch ihren strengen Vater zur Polizei. Es war sicher nicht von Anfang an ihr Traumjob gewesen, aber sie hat gelernt ihren Beruf zu lieben ... mit allen Tücken.
Allerdings war sie nicht darauf gefasst gewesen von einem Vampir verschleppt zu werden und ihre Pistole würde ihn sicherlich auch nicht abschrecken, da sie ihm höchstens ein kleines Einschussloch verpassen würde, was nach wenigen Sekunden die Kugel wieder rausdrückte und sich verschloss.
„Wo fliegst du hin“, presste Claire fragend durch die Zähne. Es war schwer zu reden, wenn der Wind einem die Wangen nach hinten sog. Es war wie, wenn man Achterbahn fuhr und ganz vorne saß, oder wenn man im Auto bei voller Fahrt das Gesicht aus dem Fenster streckte.
„Nach Kanada. Da gehört mir ein ziemlich schönes Anwesen“, plapperte Zucker ohne Probleme. Claire schnaubte. Er war echt gut darin, sie zu provozieren. Er musste nur etwas besser hinbekommen als sie und schon war ihr Ehrgeiz angestachelt.
„Schön. Kanada klingt gut. Ich war noch nie in Kanada“, dieses Mal fiel es Claire leichter die Zähne auseinander zu bekommen. Selbstzufrieden grinste sie und Zucker musste schon wieder lachen.
Als Zucker Claire absetzte, reckte diese sich erstmal und schaute sich um, „Schön, hier.“
Zucker lächelte, „Schön, dass es dir gefällt.“ Das Haus schien schon etwas älter zu sein, aber Zucker hatte es ziemlich gut aufpolieren lassen. Der cremefarbende Gelbton des Hauses wirkte unter dem Sonnenlicht wahnsinnig beruhigend. Zwei große Trauerweiden schmückten das Gartentor. Große Fenster und eine verzierte Tür ließen darauf tippen, dass Zucker eine Menge Geld haben musste. Aus dem Schornstein quoll ein bisschen Rauch. Erst jetzt merkte Claire, dass es hier ein kälter war, als zu Hause und fing an zu zittern.
„Komm, du erkältest dich sonst“, grummelte Zucker in einem Ton, den Claire nicht zuordnen konnte.
Sie lächelte, „Du hörst dich an, wie meine Mutter.“
Dann lief sie auf den Eingang der Villa zu und verschränkte die Arme vor der Brust, damit sie nicht anfing mit den Zähnen zu klappern.
Zucker öffnete die Tür und Bryan stand gleich neben ihm. Er war derjenige, der sich um die Villa kümmerte, wenn Zucker sich in einem anderen seiner Domizile niederließ.
„Hallo Zucker“, lächelte Bryan freundlich und Zucker nickte ihm zu. "Gibt es was Neues?", Zucker zog Claire neben sich, diese schnaubte.
„Ja“, Bryan winkte mit den Armen, "“Aber kommen Sie doch erstmal rein.“
„Gut, dann treffen wir uns gleich im Wohnraum.“, entgegnete Zucker, „Und Bryan, koch Claire doch bitte einen Früchtetee. Der Dame ist kalt.“ Bryan nickte und verschwand leichtfüßig.
„Ich zeige dir dein Zimmer“, Zucker schob Claire zur Treppe, „Nun geh schon rauf, Liebes, oder soll ich dich tragen?“
„Nein“, Claire war verwirrt, dass Zucker so förmlich mit Bryan geredet hatte, sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie viele Seiten dieser Mann hatte. Es machte ihn irgendwie interessant, aber irgendwie schreckte es Claire auch ab. Sie lief als erstes die Treppe hoch und drehte sich immer wieder um, um zu sehen, ob Zucker auch noch hinter ihr lief.
„Links“, meinte er und Claire lief nach links.
„Das Haus ist wahnsinnig groß“, staunte sie, als sie sah, wie viele Türen es auf dem Flur gab. „Ja, deshalb ist es ja auch mein Haus“, lachte Zucker, „Ich liebe es, wenn Häuser viele Zimmer haben.“
„Ach so.“, murmelte Claire. Zucker lief jetzt neben ihr, während sie die Türen zählte, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 ... die achte Tür öffnete er.
„Eingetreten“, Zucker machte eine einladende Handbewegung und Claire betrat den Raum. „Wunderschön.“, murmelte sie, drehte sich im Kreis und konnte gar nicht glauben wo sie hier gelandet war.
Das Zimmer, in welchem Claire sich die nächsten Tage entspannen sollte, war perfekt für sie eingerichtet. Ihr erster Blick fiel auf das große Himmelbett, welches von dem Licht aus dem großen Fenster bestrahlt wurde. Perfekt in Szene gesetzt, dachte Claire. Als nächstes traf ihr Blick auf einen großen, altmodischen Kleiderschrank, der vom Boden bis zu Decke reichte. Er war hölzern und hatte verschnörkelte Griffe. Eine Kommode im selben Stil bat Platz für alle Sachen, die nicht in den Schrank passten. Neben ihr stand ein kleiner Holztisch, welcher vor einem Sofa stand.
„Das ist unmöglich alles wahr“, flüsterte Claire und setzte sich auf das Sofa.
„Ich lass dir deine Klamotten einfliegen. Du musst mir nur deine Adresse geben und sagen, was du alles haben möchtest“, Zucker stand im Türrahmen und beobachtete Claires staunenden Blick.
„Ehm, okay“, sie stand wieder auf und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, „Bring mir Zettel und Stift und ich schreibe dir alles auf.“
Zucker nickte und verließ den Raum. Jetzt stand Claire allein in einem fremden Haus, in einem fremden Zimmer. Sie wusste nicht was sie machen sollte und blieb einfach stehen und schaute sich um. Das ist doch alles nur ein total verrückter Traum, dachte sie und rieb sich die Stirn. Dann klopfte sie mit den Händen gegen ihre Oberschenkel.
Na gut, sprach sie in sich, du musst dich erst an das alles gewöhnen, aber bald bist du auch wieder zu Hause und lebst dein normales Leben weiter ... dann kannst du dich an all das gar nicht mehr erinnern. Mach dich nicht so verrückt. Claire atmete tief ein und wieder aus und lief wieder zu dem Sofa. Sie setzte sich und schloss die Augen. Alles wird gut.
Zucker suchte nach Zettel und Stift und machte sich dann wieder auf den Weg zu Claire.
„Claire“, er lugte durch die Tür. Sie saß mit geschlossenen Augen auf der Couch und summte vor sich her. Für Zucker war es ein komischer Anblick und er musste sich ein Lachen verkneifen. „Ehm, ja“, sie öffnete die Augen. „Hier sind Zettel und Stift. Ich bin erstmal ihm Wohnraum. Schreib alles auf und komm dann einfach runter“, er legte das Zeug auf den Holztisch, lächelte Claire noch mal gutmütig zu und schloss die Tür.
Ein, „Zucker“ vernahm er noch, doch er hatte es eilig. Er musste wissen, was Neues passiert war und vergaß ganz, dass Claire sich in der Villa gar nicht auskannte. Er rannte schnell die Treppe runter. Bryan wartete schon auf ihn.
„Wollen Sie sich erstmal einen Drink genehmigen, bevor wir reden. Sie hatten sicher eine anstrengende Reise. Die neuen Menschen sind schön wie nie und sie sind alle bereit gekostet zu werden. Ich selbst habe schon einmal probiert. Vorzüglich“, Bryan setzte sich auf die große Couch vor dem Kamin und Zucker tat es ihm gleich und winkte sein Angebot ab, „Später, Bryan. Jetzt erstmal die Neuigkeiten und ab jetzt duze mich gefälligst, du Spinner.“
„Gestaltenwandler und Ghule haben sich es in deinem Gebiet bequem gemacht. Sie sind zwar nicht auf Streit aus, aber sie scheinen hier mit Köpfen zu dealen“, erzählte Bryan, während er die Arme vor seinem Körper verschränkte und sich aufrecht hinsetzte. Sein ernster Blick verriet Zucker, dass es Bryan überhaupt nicht gefiel, was hier in letzter Zeit so passiert war. Zucker hörte Bryan aufmerksam zu, „Denkst du, dass von ihnen Gefahr aus geht? Sind sie erfahren?“
Bryan schüttelte stark den Kopf, „Sie sind eigentlich alle noch ziemlich jung. Es ist irritierend, Zucker. Wir haben sie auch schon beschattet, aber bis jetzt waren sie friedlich, bis auf ihre krummen Geschäfte natürlich.“ Zucker nickte gelassen. Ihn schien es nicht weiter zu stören.
„Wir werden sie im Auge behalten. Sollten sie was Falsches machen, dann bringen wir sie um“, meinte er entschlossen und setzte sich gemütlicher hin. So lange er hier war, würde so oder so niemanden etwas passieren.
Er war ein Meistervampir und wenn die Körperfresser wirklich noch so jung waren, dann wäre es ein Klacks für Zucker sie zur Strecke zu bringen. Er müsste nur ein Mal mit Vampirkraft an ihren Köpfen ziehen und sie wären tot. Bryan nickte, „Dann werde ich mal schnell den anderen Bescheid geben.“
Zucker lächelte ihm zu. Bryan war schon immer sein treuster Anhänger. Er würde einfach alles für Zucker machen ... sogar sterben. Bryan erhob sich und eilte aus der Stube. Zucker saß allein da. Er dachte nach und seine Stirn verengte sich. Aber irgendwas muss doch im Busch sein, sprach er in sich, Da kann einfach irgendetwas nicht stimmen, warum dealen junge Ghule mit Köpfen? Das ergibt keinen Sinn. Sollte er sich vielleicht doch Sorgen machen?
Claire suchte einen Weg zum Wohnraum. Wo lang, wo lang, wo lang? Zucker hatte ihr ja nicht gesagt, wie sie sich im Haus zu Recht finden sollte. Sie entschied sich die Treppe nach unten zu gehen, aber dann wusste sie auch nicht weiter. Das ist hier wie in einem Labyrinth, meckerte sie innerlich, als sich das Gefühl der Hilflosigkeit einschlich. Normalerweise wusste sie immer, was zutun war, aber im Moment fühlte Claire sich etwas verloren. Sie drehte sich im Kreis, links oder rechts? Sie wollte auch nicht einfach drauf los laufen, wer wusste schon, was sich hinter den ganzen Türen verbarg. Am Ende würde sie zu tief in Zuckers Privatsphäre eindringen und er wäre stinksauer auf sie. Das wollte Claire dann lieber auch vermeiden. Schließlich mochte sie Zucker ja auch irgendwie. Er machte ihr auch keine Angst, obwohl er eine Märchengestalt war. Bryan rannte ihr entgegen.
Er hatte einen ernsten Gesichtsausdruck und schielte sie von der Seite an, „Einfach den Gang nach hinten und dann in das letzte Zimmer auf der linken Seite“, rief er ihr ohne Aufforderung zu, als er sah, wie verloren sie aussah und rannte an ihr vorbei.
„D- Danke“, rief Claire noch, doch Bryan schien das gar nicht mehr aufzunehmen. Er hatte es eindeutig eilig und war ein ziemlich beschäftigter Mann. Claire befolgte Bryans Rat und schlich den Weg entlang in den Wohnraum. Ihre Blicke schweiften immer von links nach rechts. An den Wänden hingen nämlich wundervolle Bilder von unbekannten Künstlern. Sie zeigten die Natur von ihrer schönsten Seite. Sonnenuntergänge, wunderschöne große Bäume, tiefe Täler mit hohen Bergen, Blumen und klare Himmel. Als Claire an der letzten Tür links angekommen war, atmete sie tief durch. Was würde sie wohl in diesem Raum erwarten?
Behutsam öffnete sie die Tür und schaute sich erst einmal um. Wieder schaute sie in einen großen Raum. Dieses Haus ist wie wenn man ein Geschenk auspackt, man weiß einfach nie, was einen erwartet, dachte sich Claire.
Zucker schmunzelte, als er Claires große Augen sah, „So faszinierend ist es nun wieder auf nicht.“
Claire schüttelte den Kopf, „Träumer. Guck dich doch mal hier um. Das ist alles einfach wunderschön. Wie kannst du dir das alles überhaupt leisten?“ Claire verstand einfach nicht, wie sich so wundervoll einrichten konnte, und es dann als selbstverständlich betrachtete.
„Ich bin schon ein paar Jährchen auf der Welt, Liebes. Da baut man sich einfach so was auf.“, antwortete Zucker gelassen, wie immer, auf Claires Frage, „Setz dich doch zu mir.“
Claire tat, wie Zucker es wollte und setzte sich auf die dunkele Ledercouch. Immer noch schaute sie sich um, es war für sie einfach unbeschreiblich. Sie fühlte sich wie in einem Museum. Die ganzen alten Möbel, kombiniert mit den neuesten Trends.
„Hast du alles aufgeschrieben“, unterbrach Zucker ihr Staunen mit einer Frage.
„Ähm“, Claire versuchte sich wieder zu fassen, „Ja, habe ich. Hier.“
Sie übergab Zucker die Liste, mit den wichtigsten Dingen, die sie bei sich zu Hause liegen hatte. Zucker nickte ihr zu, „Ich werde Bryan später sagen, dass er jemanden los schicken soll, um dein Zeug zu holen.“
„Okay“, lächelte Claire und setzte sich etwas gemütlicher hin.
„Was denkst du gerade“, fragte Zucker, während Claire Löcher in die Luft starrte.
„Das ist nicht wichtig“, murmelte Claire, doch Zucker beunruhigte es. Er hatte es, während er mit Claire auf der Couch saß, mehrere Male versucht, doch er konnte einfach nicht in ihre Gedanken eindringen. Er konnte das sonst bei jedem Menschen, Vampir, Halbvampir und Ghul, doch bei Claire fühlte er nur Leere, wenn er es versuchte. Es irritierte ihn. Sie wusste schließlich die ganze Zeit nicht, dass er es konnte, doch sie stellte trotzdem irgendwie eine Barriere auf.
„Bitte, Claire, du musst es mir sagen“, bettelte Zucker ungeduldig, während er sich ein letztes Mal versuchte anzustrengen und herauszufinden, was in Claires Kopf vorgeht. Doch wieder fand er nicht die ersehnten Gedanken, sondern eine leere Wolke zog durch seinen Kopf.
„Wieso willst du es wissen“, fragte Claire, während sie immer skeptischer schaute. Ein leichtes, aber trotzdem ernstes Grinsen, hielt Einzug auf Zuckers Gesicht, „Eigentlich kann ich Gedanken lesen.“
Claires Gesicht veränderte sich, „Du kannst was? Ich dachte du bist ein Vampir und kein Superheld.“
Zucker musste lachen, „Vampir, Superheld, ist doch alles dasselbe.“ Er zwinkerte ihr zu und sie schaute gespielt eingeschnappt.
„Und wieso funktioniert es bei mir nicht“, fragte Claire interessiert. Zucker zuckte mit den Schultern, „Ich weiß es nicht, aber wenn du mir sagst, was in dir vorgeht, dann wäre ich schon zufrieden.“
„Okay“, murmelte Claire, „Ich denke mir, dass du mir mehr von deinem Haus zeigen solltest und dann denke ich noch, dass ich gerne wüsste, wo das Badezimmer ist. Ich bin Mensch und ich habe auch noch menschliche Grundbedürfnisse.“
Nachdem Claire auf Toilette gewesen war, schlenderten Zucker und sie durch den großen Hintergarten. Claire staunte natürlich mal wieder nicht schlecht, doch sie ließ es sich dieses Mal nicht anmerken. Sie dachte, dass es Zucker vielleicht nerven würde, wenn sie die ganze Zeit so begeistert ist. Also hatte sie einen interessierten, aber trotzdem gefassten Gesichtsausdruck aufgelegt. Zucker musste schmunzeln, er konnte riechen, dass Claire immer noch so angetan von ihrer Umgebung war. Das war nun mal der Nachteil einer Vampirnase. Man konnte jede Emotion an ihrem ganz eigenen Geruch erkennen. Natürlich rochen die Emotionen für jeden Vampir anders. Schließlich gab es auch welche, die die Angst als den süßen Duft von Erdbeeren und Himbeeren wahrnahmen. Für andere war es wieder der Geruch von Verliebtheit, der so duftete.
„Warum schmunzelst du“, fragte Claire, als sie bemerkte, wie Zucker vor sich hin strahlte.
„Du bist immer noch total hin und weg“, Zucker schaute Claire direkt in die Augen. Diese staunte, „Ich dachte, du kannst meine Gedanken nicht lesen?!“
„Es sind auch nicht deine Gedanken, Süße ... sondern dein Geruch.“, raunte Zucker Claire leise zu. Claire schüttelte den Kopf, „Was könnt ihr Vampire denn noch alles? Das ist ja schrecklich mit dir unterwegs zu sein. Da fühlt man sich immer so ... kontrolliert.“
Jetzt mussten sie beide lachen.
Zucker zeigte Claire gerade, wie sein Whirlpool funktionierte, als ihm Bryan dazwischen funkte, „Zucker, es gibt Probleme.“
Zuckers Stirn verengte sich, „Was ist los?“
Es beunruhigte ihn, wie Bryan ihn anschaute. Sein Blick war total gefasst, aber trotzdem verängstigt.
„Die Ghule“, schluckte Bryan, „Sie ... Sie wollen Claire...“, er schluckte wieder und holte tief Luft. Es fiel ihm eindeutig schwer, das letzte Wort über die Lippen zu bringen. Jetzt wurde auch Claire aufmerksam. Es ging um sie. Was waren Ghule und was wollten sie mit ihr machen? Es stand ein großes Fragezeichen auf ihrer Stirn. Zucker legte ihr den Arm um die Schulter, er wusste welches Wort nun folgen würde und es würde ihm mit Sicherheit nicht gefallen. Außerdem hieß es, dass Claire und er das Domizil wechseln mussten. Bryan holte noch einmal tief Luft, „ ... töten.“
„Aber, aber ... wieso“, krächzte Claire, die gar nicht wusste, wie um sie geschah. Was hatte sie denn gemacht, dass man sie töten wollte?
„Du, du wolltest sie fangen, als die Bank ausgeraubt wurde. Das waren keine Menschen, Claire. Das waren Ghule, Körperfresser.“
Sie schluckte. Sie ist also Untoten hinterher gerannt, als sie ihren Job machen wollte. „Aber ...“, sie wollte etwas einwerfen, doch Zucker unterbrach sie, „Nein, Claire. Das ist nicht der passende Zeitpunkt um Fragen zu stellen. Pack deine Sachen zusammen, die du brauchst. Wir müssen verreisen.“
Claire staunte, „Aber wir sind doch gerade erst hier angekommen.“
„So läuft das, Claire. Wir müssen von hier verschwinden, zumindest für die nächsten Tage.“, Zucker schob Claire zum Hauseingang.
Sie dreht sich zu ihm, „Wieso, Zucker? Was habe ich denn getan?“
Er schüttelte den Kopf, „Ich weiß es nicht. Ich werde Bryan fragen. Jetzt los, pack deine Sachen.“
Claire schnappte sich eine Tasche und warf die nötigsten Sachen in sie hinein. „So hatte ich mir meinen weiteren Lebensweg nicht vorgestellt“, fluchte sie und stellte die Tasche an den Rand. Dann schnappte sie sich einen Beutel und befüllte ihn ebenfalls mit Sachen, die sie unbedingt brauchte. Danach schleppte sie das Zeug auf den Gang.
„Zucker“, rief sie, „Ich bin fertig.“ Ihr Tonfall war genervt und ängstlich. Was hatte sie getan, dass die Ghule sie töten wollten? Die Welt der Untoten gefiel ihr überhaupt nicht. Sie wollte, dass Zucker endlich ihre Gedanken löschen und sie normal weiter leben konnte. Das war ihr alles zu stressig. Das merkte auch Zucker. Ihre arme Menschenseele litt unter den neuen Eindrücken, so neugierig sie auch war.
„Ich bin auf dem Weg, Liebling“, er lief entspannt auf sie zu und nahm sie in den Arm, „Mach dir nicht so einen Kopf. Es wird alles gut. Ich bin Meistervampir und so ein paar junge Ghule können mir gar nichts anhaben. Bei mir bist du sicher.“
Claire erwiderte Zuckers Umarmung und drückte ihn an sich, „Ich habe Angst, Zucker. Wieso müssen wir denn gehen, wenn du so stark bist?“
„Weil wir erstmal einen Plan brauchen. Ich muss meinen Sippenführer informieren und du sollst ein ruhiges Plätzchen haben. Ich erkläre dir das alles, wenn wir von hier weg sind“, Zucker streichelte Claire über das Haar und sie seufzte.
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An die Menschen, die mich immer unterstützen.