Seit gut zwei Jahren lebte Charlotte nun wieder in ihrer kleinen Heimatstadt am Mittelrhein. Nach zwei gescheiterten Ehen und einigen Beziehungen, die nie allzu lange dauerten, hatte sie die Nase gestrichen voll von Männern. Oft fragte sie sich, wieso es mit der Familie nicht geklappt hatte, die sie sich so sehr gewünscht hatte. Sie hatte doch alles getan, um ihre Männer glücklich zu machen. Auf die Idee, dass sie ihre Partner mit ihrer Liebe erdrückte, wäre sie nie gekommen.
"Männer wollen FREI sein." , so hatte es ihre Freundin gesagt, als Charlotte wieder einmal heulend bei ihr klingelte.
"Aber die vielen glücklichen Paare und Familien, die ich immer auf den Straßen sehe! Was ist mit denen? Wollen die auch alle FREI sein?" , motzte Charlotte und setzte ein beleidigtes Gesicht auf. "Oft halten sich Paare beim Spazierengehen an den Händen." Charlotte brach erneut in Tränen des Selbstmitleids aus. "Meine Partner wollten nie meine Hand halten, wenn wir in der Öffentlichkeit zusammen waren." , beklagte sie sich.
Ihre Freundin reichte ihr eine Packung Taschentücher und wiederholte ihre Vorwürfe: "Du bist viel zu Besitz ergreifend. Mach´ dich mal locker und lerne, einige Zeit allein zu leben. Such´ dir ein Hobby, das dir Spaß macht und lerne neue Menschen kennen, die dich auf andere Gedanken bringen. Und vor allem darfst du nicht in jedem halbwegs gutaussehenden Mann einen potentiellen Partner für dich sehen. Das spüren die Männer und nehmen Reißaus."
" Welches Hobby kann man denn während der Pandemie noch ausführen? Mannschaftssport ist nicht erlaubt und Sport alleine ist langweilig." Charlotte hatte sich die Tränen abgewischt, ihre Nase geputzt und war bereit, den Vorschlag ihrer Freundin anzunehmen. Sie überlegte fieberhaft, wie sie ihre Freizeit in Zukunft gestalten könnte.
In der Zwischenzeit war ihre Freundin aufgestanden und kramte in einer Schublade, wo sie nach kurzem Suchen ein halbfertiges Bild fand. Sie zeigte es Charlotte.
"Wie wär´s hiermit?" , fragte sie.
"Wie wird das gemacht und was sind das für Steine, die auf dem Bild glitzern?"
Geduldig klärte die Freundin Charlotte über das Hobby "Diamond Painting" auf. Millimeter große "Diamant"-Steinchen mussten auf einen vorgedruckten Canvas aufgeklebt werden. Nachdem ihre Freundin ihr Bild halb fertig gestellt hatte, hatte sie die Lust an diesem Hobby verloren. Nun bot sie es Charlotte zum reduzierten Preis an.
"Na gut; ich probier´s mit "Diamond Painting" . Kann ja nicht so schwer sein, Steine aufzukleben." Sie nahm den Canvas und das Zubehör, zahlte ihrer Freundin den geforderten Preis und verabschiedete sich.
Vielleicht kann ich ja mit diesem langweiligen Hobby zur Ruhe kommen, dachte sie sich. Auf jeden Fall hätte sie nach der Fertigstellung ein prächtiges Bild für ihre kahle Wohnzimmerwand.
Jeden Morgen nahm Charlotte nun auf ihrem gemütlichen Sessel am Fenster Platz und klebte Steinchen um Steinchen auf die vorgedruckten Stellen im Canvas. Ab und zu unterbrach sie ihre Arbeit und schaute aus dem Fenster. Unten auf dem Platz waren Bauleute dabei, die Straße zu erneuern. Im Minutentakt kamen Lastwagen mit Pflasterstein-Paletten, die mit Gabelstaplern abtransportiert wurden. Mit der Zeit fiel Charlotte einer der Bauarbeiter besonders ins Auge. Er war groß gewachsen, mit weißem Haar und schwarzem T-Shirt mit auffälligem Aufdruck auf dem Rücken. Charlotte konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden, wenn sie ihn sah und in den Nächten träumte sie von ihm.
Wenn es Tag wurde, behielt ihr Verstand die Oberhand. Zu viele Enttäuschungen mit Männern hatte es in der Vergangenheit gegeben, als dass sie irgendwem noch vertrauen könnte. Sie freute sich, wenn sie ihn sah, begrüßte ihn auch, aber hielt sich ansonsten zurück. Er machte auch keine Anstalten, sie näher kennenlernen zu wollen. Sie schob sein Desinteresse auf ihr vorgerücktes Alter. Ja, sie musste etwa 15 Jahre älter sein als er; - mindestens.
So verging der Sommer und eines Tages waren die Bauleute mit ihrer Arbeit fertig und verschwanden.
Charlotte versank in Traurigkeit und Depressionen, denn nun würde sie ihren Schwarm nie mehr wiedersehen.
Sie verkroch sich in ihr Bett und zog die Decke über den Kopf. Nur sporadisch erinnerte sie sich daran, dass sie etwas essen sollte und wenn sie etwas zu sich nahm, griff sie meistens zu Junk-Food. Ihr Körper rächte sich für die schlechte Behandlung und sie wurde krank. Nun hatte sie auch keine Kraft mehr für den wöchentlichen Einkauf und auch der Haushalt blieb weitgehend sich selbst überlassen. Sie erledigte nur noch das Notwendigste und versank in einer Traumwelt, in der Hass, Neid, Gier und Lügen keinen Platz hatten.
So vergingen die Tage, bis sie eines Morgens eine Nachricht ihrer Bank im E-Mail-Postfach erhielt, die sie darauf vorbereiten sollte, dass in den nächsten Tagen eine Konto-Pfändung erfolgen würde. Das Finanzamt wollte mehrere hundert Euro von ihr; plus Nebengebühren und Gerichtskosten. Diese Nachricht holte Charlotte schlagartig in die Wirklichkeit zurück.
Finanzamt? - WAS in aller Welt hatte sie noch mit dem Finanzamt am Hut? Sie war doch schon längst in Rente und auch schon zwei Mal umgezogen, seit sie als Werbetexterin selbstständig gewesen war. Das Gewerbe hatte sie schon vor Jahren aufgegeben.
Panisch setzte sie sich mit ihrer Bank und der Steuerbehörde in Verbindung und versuchte zu erklären, dass die Forderung unrechtmäßig war. Doch vorerst musste sie den geforderten Betrag bezahlen, während das Finanzamt versprach, ihren Fall zu prüfen. Am Ende bekam Charlotte Recht und der gezahlte Betrag wurde ihr zurück erstattet.
Puuh, nochmal Glück gehabt!
Allerdings steckte ihr dieser Schock noch lange in den Knochen.
Es folgte eine relativ ruhige Zeit; wenn man von den Wetterkapriolen einmal absah. Nach einem viel zu nassen Sommer kündigte sich der Herbst an und die Bundesregierung blies zum Angriff auf Bürger, die nicht gewillt waren, sich gegen Corona impfen zu lassen. Diese aufmüpfigen Leute sollten von nun an nirgendwo mehr Einlass finden; es sei denn, sie würden sich jedes Mal für teures Geld auf Corona testen lassen.
Charlotte hatte gute Gründe, auf die experimentelle Impfung zu verzichten. Testen lassen wollte sie sich allerdings auch nicht und so rearrangierte sie ihr Einkaufsverhalten und ließ sich fortan alles liefern, was sie zum Leben brauchte. Nur noch selten ging sie vor die Tür und wenn, dann zog sie es vor, keinen Menschen begegnen zu müssen.
Es war ein einsames und eintöniges Leben, aber immer noch besser, als sich anzustecken und auf Gedeih und Verderb dem Gesundheitspersonal ausgeliefert zu sein.
Tagsüber wurstelte sie im Haushalt und frönte ihren Hobbies und während sie nachts wach lag, schaute sie in den Himmel und hörte Radio.
Es wurde Herbst. Die Blätter flatterten im Wind; genau an Charlottes Fenster vorbei, bevor sie zu Boden fielen.
Charlotte lag im Bett und beobachtete das Spiel, das der Wind mit den herabfallenden Blättern trieb. Sie liebte die Natur und früher war sie oft draußen gewesen. Jetzt fiel ihr das Laufen schwer und ohne Rollator war sie aufgeschmissen. Schon vor langer Zeit, als sie noch laufen konnte, hatte ihr Sohn ihr zu Verstehen gegeben, dass sie es besser hätte, wenn sie tot wäre. Dann müsste sie wenigstens nicht mehr leiden.
Charlotte hatte sich damals gefragt, woher er die Frechheit nahm, so etwas zu sagen, denn sie litt nicht unter ihrer angeborenen Behinderung, wohl aber über die Arroganz und Abwertung ihrer Person durch ihre Mitmenschen. Diesen Satz von ihrem Sohn hatte sie ihm nie verziehen und die Beziehung zu ihm war schon seit vielen Jahren abgebrochen. Sie wusste nicht mal, wo er war.
Während sie im Dunkeln lag und über ihr vergangenes Leben sinnierte, hörte sie, wie jemand ans Fenster klopfte. Sie schaute hoch und erschrak, als sie einen großen, schwarzen Schatten erblickte, der von Außen durchs Fenster schien.
Ihr erster Impuls war, sich die Decke über´n Kopf zu ziehen. Aber dann besann sie sich und beschloss, dass Angriff die beste Verteidigung war. Sich selbst Mut zuredend, stand sie auf und ging zum Fenster. Den Mann, den sie dort stehen sah, erkannte sie sofort. Es war der Bauarbeiter, dem sie ihr Herz geschenkt hatte.
"Frankieee!" , rief sie erfreut.
Doch der Mann antwortete nicht.
Irritiert schaute sie sich den Mann genauer an. Grauer Zopf, graue Augen, schwarzes Shirt und schwarze Hose. - Kein Zweifel möglich; es war der Bauarbeiter.
Unten auf dem Platz sah sie Frankies Kollegen; die beiden Baggerfahrer, die immer mit ihm zusammen gearbeitet hatten.
"Frankie?" - Charlotte blickte den Bauarbeiter fragend an.
"Ich bin nicht Frankie."
"Wer bist du dann?" - Charlotte fühlte eine eisige Kälte in sich aufsteigen.
"Ich bin der Tod. - Deine Zeit ist um."
Charlotte wollte vor Schreck in Ohnmacht fallen, aber sie zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben und die Situation zu begreifen. Sterben wollte sie noch nicht, obwohl sie sehr gut wusste, wie krank sie war. Also beschloss sie, mit dem Tod zu verhandeln.
"Komm´ doch morgen wieder", sagte sie, zu dem Tod gewandt. Ich muss mich noch vorbereiten."
"Du kommst jetzt mit!" , befahl der Tod.
Charlotte verlegte sich auf´s Bitten.
"Bitteeee, ich muss noch duschen und mir frische Kleidung anziehen."
"Kein Problem", sagte der Tod, "ich kann dir beim Duschen helfen. Lass´ mich rein!"
"Fass´ mich bloß nicht an!", fauchte Charlotte.
"Morgen werde ich bereit sein und mit dir gehen."
"OK, einen Tag kann ich noch warten. Ich komme morgen wieder. Mach´ dich bereit!"
Mit diesen Worten drehte sich der Tod um und verschwand in der Dunkelheit. Seine beiden Gesellen, die auf dem Platz gewartet hatten, gingen mit ihm.
Nachdem sie mit dem Tod einen kleinen Zeitaufschub ausgehandelt hatte, zeigte Charlotte hektische Aktivität.
Sie fuhr ihren Laptop hoch, um nach einer Flucht-Route zu suchen.
Vietnam faszinierte sie, weil sie schon viele Videos über das Land und die Menschen dort gesehen hatte.
Sie versuchte, eine See-Route zu finden, da sie unter Flugangst litt. Die gab es wohl, aber es gab keine Angebote mehr, auf einem der Frachtschiffe mitzufahren. Hundert Euro pro Tag für eine langsame Route hätte sie sich ohnehin nicht leisten können. Außerdem war sie nicht seefest.
Es blieb also nur der Landweg; entweder durch Russland, oder durch die durch Krieg und Unruhen gebeutelten Länder in Nahost. Aber die Transsibirische Eisenahn fuhr bis auf Weiteres nicht, wie deren Webseite verkündete und die Route durch die Türkei , Iran und Pakistan verursachte ihr Bauchschmerzen; wobei sie Afghanistan komplett umfahren müsste.
Nein, diese Strecke kam nicht in Frage.
Sie schaltete den Laptop aus und ging Duschen. Nachdem sie fertig war, packte sie eine Reisetasche mit Kleidung zum Wechseln und den nötigsten Dokumenten, nahm aus einer kleinen Schatulle die Silbermünzen, die sie als Notgeld angelegt hatte und nähte sie in ihre Unterwäsche ein.
Dann setzte sie sich hin und überlegte, wie sie verschwinden konnte, ohne Spuren zu hinterlassen.
DIE BAHN!
Sie musste mit der Bahn fahren und oft genug umsteigen. So würde sie ihre Spuren verwischen und der Tod würde sie so schnell nicht finden.
Sie beschloss, nach Frankfurt zu fahren; auf Umwegen natürlich und sich dort so lange im Flughafen-Gebäude aufhalten, bis sie ihre Flugangst überwunden hatte und einen Flug nach Hanoi ergattern konnte. Das Flughafen-Gebäude war riesig und unter den vielen Menschen dort.würde sie nicht weiter auffallen.
Aber wovon sollte sie leben, während sie im Flughafen auf einen Flug wartete? - Niemand würde einer alten Frau mit Rollator eine Arbeit geben. Mutlosigkeit erfasste sie und sie dachte, ob es nicht besser wäre, dem Tod zu folgen. Irgendwann würde er sie sowieso kriegen. Warum nicht heute, dann hätte sie es wenigstens hinter sich.
Wie in Trance griff sie ins Regal, wo die Teigschüssel stand, holte sie hervor, mischte Haferflocken, Mehl, Hefe, Salz und Wasser und begann, Brotteig zu kneten. Und während der Teig ruhte, fuhr sie erneut ihren Laptop hoch und suchte eine geeignete Bahnverbindung nach Frankfurt.
In den zwei Stunden, die ihr noch bis zur Abfahrt des Zuges blieben, buk sie Fladenbrote in der Pfanne. Einen Teil der Brote aß sie zum Frühstück und trank Milchtee dazu. Den Rest der Fladenbrote packte sie ein und verstaute sie in ihrer Reisetasche. Sie sollten ihr als Wegzehrung dienen.
Sie spülte noch ihr Geschirr ab, machte das Bett, steckte Bankkarte und Wohnungsschlüssel ein, verstaute die Reisetasche auf ihrem Rollator und machte sich fertig für eine Reise, von der sie nicht wusste, wie sie enden würde.
Aber sie hatte ihre Zuversicht wieder gewonnen und war froh, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein.
Als sie im Zug saß, setzte der klare Verstand wieder ein.
Warum war sie so überstürzt aufgebrochen?
War es nicht möglich, dass der Mann am Fenster doch Frankie gewesen war, der sich einen Halloween-Scherz mit ihr erlaubt hatte? - Nach kurzem Überlegen verwarf sie diesen Gedanken wieder. Frankie war ihr immer mit Respekt begegnet. Sie hatte ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Aus welchem Grund sollte er jetzt plötzlich bei ihr auftauchen? - Nein, Frankie konnte das nicht gewesen sein.
Vermutlich war ihr die lange Isolation wegen Covid-19 auf´s Gehirn geschlagen und hatte ihr etwas vorgegaukelt, was nicht da war.
Egal, - jetzt saß sie im Zug nach Frankfurt und ihre Abenteuerlust war neu erwacht.
Isolation war gefährlich und machte krank. Das wusste sie nun.
Es gab kein Zurück mehr.
Am Hauptbahnhof in Frankfurt stieg Charlotte aus dem Zug.
Draußen nahm sie ihre Maske ab, die sie seit Stunden getragen hatte und atmete tief durch. Sie spürte ein vertrautes
Kratzen im Hals, dass immer dann auftrat, wenn sie die Mund-Nasenbedeckung tragen musste. Kurzerhand steuerte sie den nächsten Kiosk an und bestellte einen Kaffee. Sie musste das Kratzen loswerden, bevor es sich festsetzte.
"Wie komme ich denn zum Flughafen?" , fragte Charlotte den
Kiosk-Besitzer, der gerade frisch gelieferte Zeitschriften in die Regale einsortierte.
"Da sind Sie hier falsch" , antwortete er, "Sie hätten an der Haltestelle "Flughafen" aussteigen müssen."
Das war mal wieder typisch Charlotte! Nicht mal die richtige Haltestelle erwischen konnte sie.
"Was mache ich denn jetzt?" , dachte sie laut.
" Wenn Sie noch eine Stunde Zeit haben, könnte ich Sie hinbringen" , bot der Kiosk-Besitzer ihr an, "in einer Stunde übernimmt mein Sohn den Laden; dann hätte ich Zeit" , fügte er erklärend hinzu.
"Danke, nicht nötig", erklärte Charlotte schnell, "ich nehme den nächsten Zug zur Haltestelle Flughafen."
Sie stand auf und ging zurück zum Bahnhof, stieg in den richtigen Zug ein und an der richtigen Haltestelle aus.
Sie brauchte einige Zeit, um sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden.
Als sie die Schlagzeilen in den Zeitungen überflog, die besagten, dass es mehr Corona-Fälle gab als jemals zuvor, wusste Charlotte, dass sie zügig handeln musste und sich keine Ängste vor dem Fliegen erlauben konnte. Sie musste weg, bevor es erneut zum Lockdown kam.
Nach einigem Suchen fand sie den Schalter der "Emirates" Fluggesellschaft und fragte nach einem Last-Minute-Flight nach Hanoi.
"Nein, leider nicht" , antwortete die Angestellte, "aber wenn Sie möchten, frage ich mal bei den anderen Airlines nach, die heute noch nach Hanoi fliegen, ob noch ein Platz für Sie frei ist."
"Ja, gerne, - ich warte." - Charlotte hoffte inständig, dass die Angestellte mit ihrer Suche Erfolg hatte, denn sonst würde sie hier am Flughafen die Nacht verbringen müssen. Diese Aussicht fand sie nicht gerade verlockend. Sie sah die Angestellte telefonieren und wartete ungeduldig auf ihre Rückkehr.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie zurück, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.
"Sie haben Glück!" , sagte sie. "Heute Abend geht noch ein Flug nach Hanoi." Sie gab Charlotte den Zettel mit den Infos, die sie notiert hatte und erklärte ihr, wo sie sich melden müsste, um den Flug zu ergattern. Charlotte nahm den Zettel, bedankte sich und eilte in die angezeigte Richtung. Sie buchte den Flug, beglich den Flugpreis, gab ihre Reisetasche am Gepäckschalter ab und machte sich auf den Weg, um etwas zu essen. Im Flughafen gab es unzählige Schnellrestaurants und Stände, die Kaffee und Sandwiches anboten. An einem Stand gab es asiatische Nudelsuppe mit Gemüse und Hühnerfleisch. Charlotte bestellte sich eine Portion, ließ sich an einem der Tische nieder und aß mit Genuss. Nach dem Essen verweilte sie noch etwas und beobachte die Leute, die an ihr vorbeigingen, oder sich an einem der Nachbartische niederließen. Von dem Stimmengewirr, das zu ihr herüberklang, verstand sie nichts. Angestrengt lauschte sie, ob sie bei Menschen um sich herum den Klang von Vietnamesisch entdecken könnte. Da sie vietnamesische Ferseh-Serien auf YouTube liebte, die sie mit englischen Untertiteln verfolgte, war ihr der Klang der vietnamischen Sprache vertraut. Ein paar vietnamesische Worte hatte sie sogar gelernt. "Ja" und "Nein" waren ihr vertraut, Auch die Worte für Bitte und Danke kannte sie. Sie konnte sich auf Vietnamesisch entschuldigen, wenn sie einen Fehler gemacht hatte und, JA, fluchen konnte sie auch. Charlotte war immer gut darin gewesen, neue Sprachen zu lernen, auch wenn es jetzt im Alter länger dauerte als früher, weil ihr Kurzzeit-Gedächtnis sie öfter im Stich ließ und neue Worte viele Wiederholungen brauchten, bis sie im Langzeit-Gedächtnis gespeichert waren.
Beim Einchecken in den Flieger fiel Charlotte die junge Frau auf, die sich vor ihr in der Reihe befand. Sie reagierte nur langsam und widerwillig auf die Aufforderung, ihre Papiere vorzuzeigen. Es schien so, als ob sie diese Reise gar nicht antreten wollte. Als sie im Flugzeug in Charlottes Sichtweite saß, bemerkte sie, dass sie leise weinte. Charlotte versuchte, die Frau zu ignorieren, indem sie sich sagte, dass sie der Kummer der jungen Frau nichts anginge und legte sich schlafen. Sie war gerade etwas eingenickt, als die junge Frau, die vorhin geweint hatte, sie anstupste und sich dafür entschuldigte, dass sie Charlotte stören musste, um zur Toilette zu gelangen. - Charlotte bemerkte bei dieser Gelegenheit, dass sie schwanger war. Sie bot der jungen Frau an, die Sitze zu tauschen, da sie vorhersehbar die Toilette noch öfter in dieser Nacht würde aufsuchen müssen. Babies drückten nun mal auf die Blase; das wusste Charlotte noch aus ihren eigenen Schwangerschafts-Zeiten.
Die Nacht verlief ruhig, doch am Morgen, als das Frühstück serviert wurde, wurde der jungen Schwangeren übel. Sie übergab sich in hohem Bogen und schneller, als sie die Spucktüte aus der Sitz-Tasche herausfischen und entfalten konnte. Sofort war eine Flugbegleiterin zur Stelle, die sie beruhigte und das Missgeschick beseitigte. Nachdem die Flugbegleiterin weg war, fing die junge Frau wieder an zu weinen. Diesmal ignorierte Charlotte sie nicht. Sie setzte sich zu ihr auf den freien Nebensitz, obwohl Abstand-halten vorgeschrieben war und redete beruhigend auf sie ein. Durch geschickt gestellte Fragen erfuhr sie das Dilemma der jungen Frau; sie war unverheiratet schwanger geworden und ihre Familie hatte sie deswegen zurück in ihre Heimat geschickt, wo sie bei Verwandten unterkommen sollte. Ihr Name war Dieu.
Charlotte wusste, dass unverheiratete Schwangere in Asien eine minimale Überlebenschance hatten, falls sich niemand um sie kümmerte. Sie beschloss, nach der Ankunft in Hanoi so lange zu warten, bis sie sicher war dass Dieu von jemandem abgeholt wurde.
Der Flieger war in Hanoi gelandet. Charlotte und Dieu warteten neben dem Gepäckband auf die Ankunft ihrer Gepäckstücke.
Scheinbar nebenbei fragte Charlotte, ob da draußen irgend jemand auf Dieu wartete. Dieu sagte, dass vielleicht ihre Großeltern sie abholen würden. Genau wusste sie es nicht.
Charlotte erklärte, dass sie mit ihr warten würde, bis jemand käme, um sie abzuholen. Dieu war einverstanden.
Eine geschlagene Stunden standen sie in der Lobby herum, aber niemand kam, um Dieu abzuholen. Charlotte sah ihre geheimen Befürchtungen bestätigt. Es würde niemand kommen. Inzwischen waren die beiden Frauen schon dem Sicherheitspersonal aufgefallen, denn sie näherten sich und fragten, ob sie weiterhelfen könnten.
Dieu sprach fließend vietnamesisch und erklärte die Situation.
Die Sicherheitsleute nahmen sie mit. Charlotte folgte ihnen.
In einem winzigen Büro deuteten die Sicherheitsleute an, dass sie dort warten sollten, während der Eine telefonierte. Charlotte verstand nichts von dem, was da geredet wurde, aber Dieu schaute besorgt drein.
"Die wollen uns nach Deutschland zurückschicken." , sagte sie.
Charlotte wollte auch nicht so schnell nach Deutschland zurück. Deshalb wandte sie sich jetzt an den Beamten:
"Do you speak English?"
Der Beamte verneinte, versichterte aber, dass er einen Kollegen holte, der Englisch sprach. Er verschwand nach draußen und kam nach kurzer Zeit mit einem Mann zurück.
"I can speak English, Madam" , sagte der Hinzugekommene, "how can I help you?"
Charlotte erläuterte ihm die Sachlage und erklärte, dass Dieu ihr Schützling sei, die außer der deutschen auch die vietnamesische Staatsbürgerschaft hätte und deshalb nicht abgeschoben werden könne. Sie selbst sei als Touristin ins Land gekommen und hätte das Recht, 15 Tage zu bleiben, um sich das schöne Land anzusehen. Dieu würde sie auf ihrer Reise begleiten und nach Ablauf der Zeit würde man weitersehen. Charlotte ließ durchblicken, dass sie sich in Vietnam niederlassen wollte, um einen Import-Export-Handel zu gründen.
Der Englisch-Sprechende gewann den Eindruck, dass es sich bei Charlotte um eine resolute Frau handelte, die genau wusste, was sie wollte. Sein Blick fiel auf den schicken, roten Rollator der Frau. "Wollen sie diese Gehhilfen importieren?"
"Warum nicht?" , antwortete Charlotte.
"Besorgen Sie mir so einen für meinen Vater, ja?" - Hier ist meine Telefonnummer und meine Adresse.
So schnell konnte sich das Blatt wenden!
Charlotte war erst seit ein paar Stunden im Land und hatte ihren ersten Auftrag.
Von Zurückschicken nach Deutschland war keine Rede mehr.
Die Beamten wünschten guten Aufenthalt und verabschiedeten sich.
Charlotte und Dieu konnten das Flughafen-Gebiet verlassen und hingehen, wo sie wollten.
Da Dieus Großeltern nicht am Flughafen erschienen waren, um sie in Empfang zu nehmen, beschlossen die beiden Frauen, den Bus in Dieus Herkunftsort zu nehmen. Es war eine Fahrt von knapp einer Stunde und als sie schließlich vor dem Haus der Großeltern standen, fanden sie es verschlossen vor. Hier lebte offenbar niemand mehr.
Auf der Dorfstraße hielten sie Leute an und fragten, wo die Großeltern abgeblieben seien und erhielten die Antwort, dass sie beide kurz hintereinander an Corona verstorben waren. Sie sollten zum Dorfvorstand gehen. Dort würden sie die Einzelheiten erfahren. Also machten sie sich auf den Weg zum Dorfvorstand. Sie mussten im Vorraum Platz nehmen und eine halbe Stunde warten. Schließlich rief der Dorfvorstand sie in sein Büro und überschüttete sie gleich mit Vorwürfen.
Warum war niemand aus der Familie von Dieu vor Ort, als die Großeltern starben?
Wie konnte man so herzlos sein und die Familienpflichten vernachlässigen, um Geld und immer mehr Geld zu machen?
Dann bemerkte er, dass Dieu schwanger war und fragte gleich nach dem Vater des Kindes.
Dieu wollte vor Scham im Boden versinken und antwortete nicht. Charlotte hatte von dem ganze Gespräch nichts verstanden, aber wohl bemerkt, dass der Dorfvorstand ihnen nicht wohl gesonnen war.
Nachdem er sich in Rage geredet und keine Antwort bekommen hatte, nahm er einen Schlüssel aus einer Schublade und warf ihn quer über den Bürotisch.
Das Haus der Großeltern könnten sie nutzen, aber auf die Hilfe der Dorfbewohner sollten sie nicht hoffen, so der Dorfvorstand. Schließlich hätten sie ja auch die Großeltern elendig verrecken lassen.
Auf dem Weg zurück zu dem Haus, in dem sie nun leben würden, hielt Dieu die ganze Zeit ihren Kopf gesenkt. Sie schämte sich, nichts von dem grausamen Schicksal ihrer Großeltern gewusst zu haben und auch keinen Vater für ihr Kind präsentieren zu können und so Schande über das ganze Dorf zu bringen.
Im Haus fanden sie alles vor, was man zum Leben brauchte. Das große Bett nahm fast den gesamten Raum ein. In einer Ecke stand ein Gaskocher und eine hohe Pfanne. Gleich daneben ein Wasserkocher auf einem wackeligen Tisch. Stühle gab es keine. Man setzte sich zum Essen einfach auf das Bett.
Im Garten hinter dem Haus war alles verwildert. Hier würde man in den nächsten Tagen und Wochen eine Menge Arbeit haben. Aber wenigstens würden sie genug zu essen haben und darüber waren beide Frauen heilfroh. Dieu hatte von ihren Eltern nur ein Taschengeld für die Reise mitbekommen und auch Charlotte hatte keine Reichtümer. Die kostenfreie Unterkunft und der Garten kamen ihr sehr gelegen. Dafür half sie Dieu gerne bei ihrem neuen Start ins Leben. Sie wusste, dass Dieu ohne sie in Gefahr war, in falsche Hände zu geraten. Das würde sie auf jeden Fall verhindern.
Charlotte wusste aber auch, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung als Touristin in zwei Wochen ablaufen würde, wenn sie sich nicht um eine Verlängerung kümmerte. Und ein Antrag auf Verlängerung müsste sehr gut begründet werden. In schlaflosen Nächten zerbrach sie sich den Kopf. Nach einer Woche des Grübelns kam Charlotte die zündende Idee.....
Nachdem Charlotte ihren Plan ausgetüftelt hatte, erläuterte sie ihn Dieu eines Morgens, während sie beim Frühstück saßen. Es gab Instant Nudeln mit Gemüse aus dem Garten; wie immer.
Der Garten war auch das Gesprächsthema an diesem Morgen. Wohin mit den ganzen üppigen Pflanzenteilen, die bei der Gemüseernte anfielen? - Gut; einen Teil davon konnte man zerkleinern und als Dünger unter graben, aber nicht alles.
Charlotte hatte beschlossen, die Blätter zum Trocknen aufzuhängen.
Auch Plastiktüten vom Einkauf hatte sie gesammelt.
Nun war sie auf der Suche nach Bambus und erklärte Dieu, dass sie vorhatte, mit diesen Materialien stabile Behälter zu flechten, die Kartons und Füllmaterial als Verpackungen ersetzen sollten. Die Behälter müssten leicht sein , aber so stabil, dass sie mehrfach einsetzbar waren. Das würde zur Klimaschonung beitragen; denn so müssten weniger Bäume abgeholzt werden und auch die Plastiktüten würden nicht mehr im Meer landen.
Charlotte konnte sich gut vorstellen, dass es für das fertige Produkt genug Interessenten gäbe, um das ganze Dorf mit Arbeit zu versorgen.
Dieu war Feuer und Flamme und gemeinsam sammelten sie das Laub aus dem Garten und hingen es zum Trocknen auf und schnitten die Plastiktüten in schmale Streifen, die sie, zusammen mit dem Laub zu Körben verflochten und mit Silikon wasserdicht machten. Es waren hübsche Körbe. Sie stellten sie vor dem Haus zum Verkauf auf. Sie gingen weg wie warme Semmeln.
Nun kamen die Dorfbewohner und lieferten ihren Müll bei den beiden Frauen ab, denn die bezahlten etwas für alte Plastiktüten, Laub und ausrangierte Textilien, anstatt für die Müllentsorgung blechen zu müssen.
Dann kam der Tag, an dem Charlotte zur Immigrationsbehörde zitiert wurde, um über ihren Antrag zu entscheiden. Sie nahm Dieu mit zu diesem Termin, damit sie als Übersetzerin fungierte.
Im Wartezimmer ging Charlotte im Geiste nochmal durch, was sie sagen wollte, wenn sie an der Reihe war.
Das Geld auf ihrem Konto hatte sie kaum angerührt und es wurde immer mehr, da die Rentenzahlungen weiterhin pünktlich eingingen. Natürlich würde der Beamte ihre Kontoauszüge sehen wollen. Sie hatte sie dabei. Aber das würde vermutlich nicht ausreichen. Eigentlich wollte sie nichts über ihre Recycling-Pläne verraten, weil sie wusste, dass dann die Gefahr bestand, dass die Behörden diesen Plan selbst aufgriffen und Charlotte auswiesen.
Allerdings musste sie feststellen, nachdem sie ins Büro gerufen worden war, dass die Behörden ihre Pläne längst kannten. Der Dorfälteste hatte sie verraten. Charlotte wurde blass. War das das Ende ihres Aufenthaltes in Vietnam? Sie hatte von diesem schönen Land noch nicht viel gesehen und es gab doch noch so viel zu entdecken!
Nun meldete sich Dieu zu Wort. Charlotte verstand nur "ME" , das vietnamesische Wort für Mutter; sonst nichts. Es wurde ein längerer Schlagabtausch zwischen dem Beamten und Dieu und am Ende wandte sich der Beamte an Charlotte:
"Ihre Tochter hat sie gerettet."
Sie verließen das Immigragions-Gebäude mit dem begehrten Aufenthalts-Titel.
"Was hast du zu dem Beamten gesagt?" , wollte Charltte wissen, als sie auf der Straße standen und auf ein Taxi warteten.
"Ich habe gesagt, dass du meine Adoptivmutter bist und du bei der Betreuung deines Enkelsohnes gebraucht wirst, wenn er zur Welt kommt, damit ich arbeiten kann."
"Das war ein genialer Plan, den du da ausgetüftelt hast" , sagte Charlotte, "ich bin so stolz auf dich. Lass´ uns zur Feier des Tages irgendwo zu Mittag essen."
Das Taxi kam und Dieu fragte den Taxifahrer nach einem guten Restaurant. Dort solle er sie absetzen. Sie fuhren inmitten eines endlosen Stromes von Motorrädern; von denen viele als Moto-Taxi unterwegs waren und ein bis zwei Leute auf dem Beifahrersitz transportierten. Die Moto-Taxis waren preiswert und beliebt.
Vor einem eleganten Gebäude hielt der Taxifahrer an und erklärte, dass es hier das beste Essen von Hanoi gebe. Charlotte bezahlte die Fahrt und zusammen mit Dieu, die sich mit ihrem wachsenen Umfang mühsam aus dem Auto bugsiert hatte, gingen die beiden Frauen in das Gebäude hinein. Drinnen sah es gemütlich aus, - und teuer.
Charlotte ließ ihren Blick über das Restaurant schweifen ,.... und stutzte.
"Lass´ uns woanders hingehen" , sagte sie. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und sie klammerte sich an Dieu.
"Was ist los? Gefällt es dir etwa nicht?" , Dieu konnte sich keinen Reim auf Charlottes ungewöhnliches Verhalten machen. Sie sah einen Mann mit einem grauen Zopf aufstehen und auf sie zukommen.
Charlotte geriet in Panik. "Schnell, raus hier!" Sie stupste Dieu hart in die Seite und rannte zum Ausgang. Dort kippte sie um...
Charlotte wachte in ihrem Zimmer auf und blickte sich verwundert um. Sie war sich sicher, dass sie vorhin im Restaurant den Tod gesehen hatte, der ihr auf die Spur gekommen war und sie holen wollte.
"Was redest du da für einen Unsinn?"
Dieu schüttelte den Kopf. Hatte ihre Adoptivmutter öfter solche Ausfälle? Sie machte sich Sorgen und schlug vor, Charlotte ins Krankenhaus zu bringen, damit ein paar Tests durchgeführt wurden. Aber Charlotte weigerte sich und bekräftigte, dass alles in bester Ordnung sei.
In der Küche hörte Charlotte jemanden mit Geschirr klappern. Komisch; es waren doch nur sie und Dieu im Haus, wunderte sie sich.
Als er schließlich mit einer Schüssel Nudelsuppe in der Tür stand, wich Charlotte instinktiv zurück.
"Was ist?" , fragte der Grauhaarige und in seinen grauen Augen blitzte der Schalk.
"Erkennst du mich nicht mehr? - Ich bin´s, Frankie! Bin auf Urlaub hier.
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2021
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