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London, Teil 1

Nach einer langen Fahrt über Nacht mit Zug und Fähre am frühen Morgen in London angekommen, suchte sich Anne in der Nähe des Victoria-Stations ein Bed&Breakfast-Zimmer. Aber so einfach war das nicht! Alles war schon ausgebucht oder zu teuer. Anne musste also weiter entfernt suchen. Ihre Reisetasche wurde während des Fußmarsches durch die Stadt immer schwerer. Sie war hungrig und müde. Unterwegs kam sie an einem billigen Restaurant vorbei und bestellte sich etwas zu Essen, von dem sie nicht wusste, was es war. Die Kellnerin brachte ihr einen Teller mit Steak&Kidney Pie mit Erbsen und Kartoffeln. Sie probierte etwas von der Pie und schluckte das eklige Zeug brav hinunter. Die Erbsen und Kartoffeln waren nicht gewürzt und so aß sie nur soviel davon, dass ihr knurrender Magen Ruhe gab.

 

Während sie die Rechnung für das Essen beglich, fragte sie die Kellnerin nach Bed&Breakfast-Tipps. Die Kellnerin wusste, wo Anne suchen sollte und zeichnete auf einem Blatt Papier auf, wo sie sich befand und wo sie suchen sollte. Anne bedankte sich und ließ ihr ein Trinkgeld da. 

 

Frisch gestärkt und mit neuem Mut ging die Suche nach einer Unterkunft weiter. Die Kellnerin hatte nicht gelogen, denn in der kleinen Nebenstraße, wohin sie Anne dirigiert hatte, gab es noch genug freie Unterkünfte, die auch preislich ok waren. In der ganzen Straße reihte sich ein B&B an das andere. Anne klingelte an einer Tür. Ein Mann kam heraus und Anne fragte ihn, ob er ein Zimmer für sie hätte.  - "Sicher! - Tritt' ein, Schätzchen." - Der Mann hatte sie "Schätzchen" genannt, ein Wort, mit dem sie NOCH NIE bedacht worden war. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte und in ihrem Hirn ratterte es. Sie hatte Angst, dass sie in diesem Haus sexuell missbraucht werden würde, während sie schlief, erfand eine Ausrede und machte, dass sie weg kam. 

 

Sie klingelte an anderen Häusern, aber jedes Mal lief es ähnlich ab. Die Hotelbesitzer nannten sie "Liebling" oder "Liebes" oder "Schätzchen". Sie wusste nicht, dass dies nur eine Floskel war, ohne jede Bedeutung. Als ihr schließlich in einem Haus eine Frau öffnete, ging sie rein, bezahlte ihr Zimmer für eine Woche im Voraus, fiel ins Bett und schlief sofort ein.

 

Als Anne am nächsten Morgen erwachte, war das Frühstück längst vorbei. Die Besitzerin des kleinen Hauses hatte sich schon Sorgen gemacht, da Anne ihren mehrmaligen Weckruf überhört hatte. Sie war sichtlich erleichtert, als sie Anne die Treppe herunterkommen sah. 

 

"Guten Morgen, Liebes", begrüßte sie die Hotelbesitzerin und lächelte Anne freundlich an.  "ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil du auf meinen Aufruf zum Frühstück nicht geantwortet hast. Was möchtest du trinken, Tee oder Kaffee?" - "Kaffee bitte", antwortete Anne. - Setz' dich dort in den Frühstückraum" , sagte die Hotelbesitzerin, die Frühstückszeit ist zwar schon vorüber, aber ich bringe dir noch etwas zu Essen" - "Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank!" - Anne mühte sich mit ihrem Schulenglisch ab, aber sie fand, dass bisher alles gut gelaufen wäre. 

 

Sie setzte sich in den Frühstücksraum und las einige der Prospekte über London, die sie sich von einem Prospektstand im Foyer herausgesucht hatte. Als die Hotelbesitzerin mit ihrem Frühstück erschien, studierte sie gerade die Linien der U-Bahn. Die Hotelbesitzerin, eine junge Frau mit langen, roten Locken, setzte sich zu Anne an den Tisch und durch geschicktes Fragen erfuhr sie nach und nach Anne's Geschichte. Sie hatte schon beim Einchecken geahnt, dass Anne keine Touristin war und in Schwierigkeiten steckte. Nun fand sie ihren Verdacht bestätigt und beschloss, die junge Deutsche unter ihre Fittiche zu nehmen. Eines war klar; Anne brauchte Arbeit und das schnell!

 

Eines Abends, es war schon stockdunkel, kam Anne von einem Erkundungstrip durch die Stadt zurück und passierte gerade ein großes Kino, das auf der anderen Straßenseite lag. Gerade als sie auf der Höhe des Kinos ging, hörte sie einen lauten Knall und die Glasscheiben des Kinos gegenüber wurden aus ihrer Fassung geschleudert und fielen auf die Straße. Instinktiv nahm Anne die Beine in die Hand und rannte. Außer Atem erreichte sie ihre Unterkunft und schaltete in ihrem Zimmer das Radio ein. Sie hörte noch, wie der Radiosprecher meldete, es sei im Stadtteil Chelsea eine Bombe der IRA explodiert. Und aus eben diesem Stadtteil kam Anne gerade her...

 

Als Anne in der folgenden Woche ihre Hotelzimmerrechnung erneut bezahlen wollte, machte ihr die Hotelbesitzerin den Vorschlag, bei ihr zu arbeiten,  zwar nur vier Stunden am Tag, aber ihr Zimmer, das sie im Dachgeschoss bewohnte, wäre damit bezahlt. Anne konnte ihr Glück kaum fassen und sagte natürlich zu. Von nun an betätigte sie sich vormittags als Frühstücksköchin und als Zimmermädchen und suchte sich nachmittags einen weiteren Job, um ihre Mahlzeiten zu finanzieren und auch sonst alles, was sie zum Leben benötigte.

 

Sie brauchte nicht lange zu suchen, denn als die Chelsea Road entlang spazierte, entdeckte sie an einem Sainsbury's Lebensmittel-Markt ein Schild: "Personal zur Warenauffüllung gesucht." Anne ging rein in den Laden, stellte sich vor und wurde genommen. - BINGO! - Zur Feier des Tages ging Anne in eine Wimpy-Bar in der Nähe und bestellte sich eine Riesen-Mahlzeit, bestehend aus Spiegeleiern, Würstchen, gebackenen Bohnen und Pommes frites. Der indische Manager, der die Wimpy-Bar leitete, wunderte sich über den riesigen Appetit der zierlichen Anne. Aber er wusste ja auch nicht, dass Anne bis dahin nur von dem gelebt hatte, was sie als Frühstück in ihrer Unterkunft bekommen hatte, um ihre Reisekasse zu schonen.

 

Von nun an aß sie jeden Tag in der Wimpy-Bar, denn das Essen war gut und preiswert und der gutaussehende, glutäugige Manager hatte es ihr angetan. Die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit; der Manager fand an der jungen Blondine Gefallen und freute sich immer, wenn sie kam.

 

Zwei Monate lang arbeitete sie morgens im B&B und nachmittags bei Sainsbury's, bis sie eines Tages im Laden umkippte. Im Krankenhaus wachte Anne wieder auf. Sie hatte einen Schwächeanfall gehabt, was weiter nicht schlimm war. Aber die Ärzte, die sie gründlich untersucht hatten, stellten ihr nun Fragen, die sie nicht beantworten konnte; etwa, wo sie ihre Wirbelsäulenverletzung her hätte und was mit ihrem Bewegungsapparat nicht stimmte. Als sie auch noch nach der Telefonnummer ihrer Eltern in Deutschland fragten, fand Anne, dass es höchste Zeit wäre, das Krankenhaus unauffällig zu verlassen. Und da sie im Krankenhaus  ihre Anschrift im B&B angegeben hatte, fand sie es besser, wenn sie auch von dort zeitnah  verschwand. Probleme mit ihren Eltern konnte sie überhaupt nicht gebrauchen!

 

Also fuhr sie mit der U-Bahn schnurstracks zu dem Stadtteil, in dem sie lebte und ging von dort aus gleich zur Wimpy-Bar. Der Manager dort hatte sie schon vermisst und fragte, wo sie die letzten zwei Tage abgeblieben war. Anne erzählte es ihm. Sie berichtete ihm auch von den Schwierigkeiten mit ihren Eltern, was er als Familienmensch gar nicht gut fand. Allerdings wusste er auch, dass Europäer in dieser Beziehung anders waren als Asiaten und bot Anne an, bei ihm zu wohnen, bis sich eine andere Lösung für Anne ergab. Nach Dienstschluss ging sie mit dem Manager mit und am nächsten Tag holten sie Anne's Gepäck aus ihrer bisherigen Unterkunft. 

 

Ein neuer Lebensabschnitt begann....

London, Teil 2

 

"Übrigens heiße ich Mithu", stellte sich der Inder mit seinem Vornamen vor. Anne sagte ihm ihren Namen. Auf dem Weg zu Mithu's Zuhause erklärte er, dass außer ihm noch seine ältere Schwester mit ihrem Mann dort leben würden. Er selbst sei noch nicht verheiratet und studiere an den Vormittagen an der Technischen Hochschule für Ingenieure. Den Management-Job in der Wimpy-Bar hätte er, um sein Studium zu finanzieren.  Er könne ihr keinen Luxus bieten, sagte Mithu, aber genug Platz zum Schlafen gäbe es und zu Essen wäre auch genug da.

 

Wie es sich herausstellte, befand sich seine Wohnung in Clapham Junction und als er die Haustür aufschloss und Anne eintrat, fühlte sie sich in eine ganz andere Kultur versetzt; eine Kultur, die sie nicht kannte. Staunend blickte sie sich um. Da hingen bunte Saris im Flur und das Tapetenmuster an der Wand zeigte farbenprächtige Mosaike. 

 

Mithu führte Anne ins Wohnzimmer und sagte, sie solle Platz nehmen, während er in der Küche etwas zu Essen warm machte. Anne schaute sich im Zimmer nach einer Sitzgelegenheit um. Aber da war nichts! - Nur ein Teppich lag auf dem Boden, ansonsten war das Zimmer gähnend leer. Nur ein paar asiatische Poster hingen an der Wand und ein Kalender, dessen Zeitrechnung ihr ganz und gar fremd war. Die Jahreszahl auf dem Kalender betrug Vierzehnhundert-und-noch-was.

 

Als Mithu mit der Essensschüssel und einer Plastikplane in der Hand wiederkam, stand Anne immer noch da. - "Warum nimmst du nicht Platz?" , fragte Mithu verwundert. - "WO denn?" , gab Anne zurück. Mithu setzte sich auf den Boden, schlug die Beine im Schneidersitz untereinander und bedeutete Anne, das Gleiche zu tun. Schwerfällig ließ sich Anne auf dem Teppich nieder und versuchte, ihre Beine untereinander zu schlagen, während Mithu die mitgebrachte Plastikplane auf dem Teppich ausbreitete und die Essensschüssel in die Mitte stellte. Seine Schwester kam herein und brachte noch einen Teller mit Brotfladen, die sie eben erst frisch gebacken hatte und die noch warm waren und herrlich dufteten. 

 

Anne sah zu, wie ihre indischen Gastgeber kleine Stücke von ihrem Fladenbrot abrissen, damit einen Happen Essen aus der Schüssel fischten, die Brotstücke aufrollten und in den Mund steckten. Mithu sagte, Anne sollte es auch versuchen. Sie riss also ein kleines Stück von ihrem Brot ab, tauchte es in die Schüssel, um einen Happen Essen herauszuholen, doch auf dem Weg zu ihrem Mund fiel das Essen heraus und landete auf der Plastikplane. Mithu stand auf und holte ihr einen kleinen Löffel aus der Küche, mit dem sie das Essen von der Schüssel auf das Brot geben und dann in den Mund stecken sollte. Warum sie unbedingt das Brot mit dem Reis mitessen sollte, wurde ihr klar, als sie den Happen in den Mund steckte. Das Essen war höllisch scharf! - Anne schnappte angesichts der Schärfe nach Luft. Ihre Nase lief unaufhörlich und ihre Augen tränten. Aber ihre Gastgeber hatten ihren Spaß und lachten sich kaputt. Verzweifelt suchte sie ein Taschentuch. Als die Schärfe in ihrem Mund nachgelassen hatte, verkündete Anne, dass sie das nicht essen könne. Mithu antwortete lapidar, dass sie sich entweder daran gewöhnen, oder verhungern würde.  Verhungern wollte Anne nicht; also gewöhnte sie sich Schritt für Schritt an indisches Essen. 

 

Nachdem sie gegessen hatten, wurde die Schüssel abgetragen und die Plastikplane gesäubert und zusammengefaltet. Mithu holte Decken, damit Anne im Wohnzimmer schlafen konnte. Mithu wünschte "Gute Nacht" und Anne machte es sich auf dem Boden bequem. Sie hatte eine unruhige Nacht, wälzte sich auf dem harten Boden von einer Seite auf die andere und schlief gegen Morgen endlich ein.

 

Als sie aufwachte, war Mithu längst in der Schule. Nur seine Schwester war da.  Anne könne sich in der Küche Tee kochen und sich etwas zu Essen machen, sagte sie. Die Küche war winzig und unaufgeräumt. Anne suchte sich in dem Durcheinander eine Tasse, fand auch die Teebeutel, den Zucker und die Milch und setzte den Wasserkessel auf. In einem Plastikbeutel fand sie Toastbrotschnitten und im Kühlschrank stand noch etwas Curry vom Vortag. Sie nahm sich etwas von dem Curry, erhitzte es auf dem Gasherd und aß es mit dem Toastbrot. Das Ganze spülte sie mit Tee hinunter.  Nachmittags ging sie zur Arbeit bei Sainsbury's und als sie am Abend zurückkam, hatte Mithu's Schwester frisches Essen gekocht, das alsbald im Wohnzimmer serviert wurde. Diesmal gab es Lammcurry, gut gewürzt, aber lange nicht so scharf wie am Vortag. Offensichtlich hatte man auf seinen europäischen Gast Rücksicht genommen.

 

Etwa vier Wochen verbrachte Anne bei der indischen Familie und lernte dabei viel Neues kennen. Sonntags gingen sie alle zusammen ins Kino und schauten den neuesten indischen Film, der gewöhnlich vier Stunden dauerte und viele Musiktitel enthielt, die auch auf der Straße gesungen wurden. Der Aufbau der indischen Filme war immer gleich.  Da war ein Liebespaar; meist kam sie aus einer reichen Familie, während er nichts hatte und sich eine Heirat mit der Dame seines Herzens abschminken konnte. Dann gab es da noch einen Bösewicht, der Unruhe ins Geschehen brachte und Eltern, die für ihre Tochter einen reichen Mann suchten, den sie nicht liebte. Nach allerlei Verwirrungen gab es dann am Schluss entweder ein Happy-End, oder beide starben gemeinsam. Die Filme waren einfach gestrickt und konnte man auch dann verstehen, wenn man kein Wort von dem verstand, was  gesprochen wurde. Sie lernte, dass indische Frauen zu Hause blieben, mit keinem fremden Mann redeten und auch Männern nicht die Hand zur Begrüßung geben durften. Ehen wurden ausschließlich von den Eltern arrangiert und vorehelichen Sex durfte es nicht geben. Die Verwandten passten auf, dass diese ungeschriebenen Gesetze auch peinlich genau eingehalten wurden. Anne gefiel der liebevolle Umgang innerhalb der indischen Familie und wünschte sich sehnlichst, dass ihre eigene Familie auch so wäre. Aber sie wusste natürlich, dass sie die Gastfreundschaft, die sie genoss, nicht über Gebühr strapazieren durfte.

 

Bei der Personalabteilung von Sainsbury's ließ sie durchblicken, dass sie mehr Arbeit suchte und auch eine Wohnung brauchte. Sie hatte Glück, denn bald darauf rief die Personalleiterin Anne in ihr Büro und fragte sie, ob sie Betten machen und Englisches Frühstück kochen könne. Natürlich konnte Anne das, denn das hatte sie ja schon in ihrer Bed&Breakfast-Unterkunft gelernt. "Sehr gut!" , sagte die Personalleiterin, "dann kannst du am kommenden Montag in unserem Personal-Wohnheim anfangen. Du bekommst ein Zimmer, das du dir mit einer Kollegin teilen musst und bist für die Sauberkeit und Ordnung im Wohnheim zuständig. Außerdem wird erwartet, dass du, im Wechsel mit deiner Zimmer-Kollegin, beim Frühstück und beim Abendessen hilfst. Kannst du das?" - Klar, konnte Anne das und schon am folgenden Wochenende zog Anne mit Sack und Pack erneut um; diesmal nach Fulham. 

London, Teil 3

 

An ihrem 21. Geburtstag schrieb Anne an ihre Eltern. Das hätte sie besser nicht getan, denn aus Deutschland kamen nur Vorwürfe, dass sie ihre Ehe beendet hatte und einfach sang- und klanglos verschwunden war. Ihr Mann hatte bei Gericht die Scheidung eingereicht und als Grund "Böswilliges Verlassen" angegeben. Anne war es Schnurzpiepegal, ob das Verlassen als "Böswillig" eingestuft wurde, oder nicht. Ihr war es auch egal, ob sie geschieden wurde, oder nicht. Die Ehe war für sie so oder so beendet.  Allerdings horchte sie auf, als ihr Vater ihr mitteilte, als "Schuldig Geschiedene" müsste sie ihrem Mann Unterhalt zahlen. Das wollte Anne nicht und so reiste sie für zwei Tage nach Deutschland zur Anhörung vor Gericht. Sechs Wochen später trudelte das Scheidungsurteil ein; ihr Mann war schuldig geschieden worden, wegen der Ohrfeige, die er ihr gegeben hatte. Unterhalt von ihrem Ex-Ehemann sah Anne nie und sie vermutete, dass ihr Vater das Geld einsackte, das für ihren Unterhalt bestimmt war.

 

Im Personal-Wohnheim von Sainsbury's hatte sich Anne gut eingelebt. Die Arbeit machte ihr Spaß und sie kam mit allen Leuten dort gut klar. Dreißig junge Männer lebten in dem Wohnheim; dazu noch vier Frauen, die einen abgetrennten Wohntrakt für sich hatten. Die vier Frauen waren für die gesamte Haushaltsführung im Wohnheim zuständig, während die Männer auf ihre Führungsaufgaben in den Sainsbury's -Läden vorbereitet wurden. Der große Fernsehraum war für Männer und Frauen gleichermaßen da; wurde aber überwiegend von den Männern genutzt. Die Frauen suchten ihr Vergnügen meist außerhalb des Wohnheims, was dazu führte, dass oft unerwünschte Verehrer vor der Tür standen und zu den Frauen wollten, aber nicht wussten, dass da oben 30 Männer waren, bereit, jede Belästigung im Keim zu ersticken.

 

An einem schönen Sommertag lief Anne gerade auf der Haupt-Geschäftsstraße im Londoner Stadtteil Fulham, als sie von hinten angesprochen wurde. "Was ist los mit dir? Warum kannst du nicht richtig laufen?" - Wütend drehte sich Anne um und hatte schon auf der Zunge: "Das geht dich überhaupt nichts an!" , als sie bemerkte, dass Derjenige, der sie angesprochen hatte, selbst nicht richtig laufen konnte. Er zog ein Bein nach und humpelte. Der Mann war nicht viel älter als Anne, rappeldürr und beileibe keine männliche Schönheit. Trotzdem strahlte er ein Selbstbewusstsein aus, das schon fast an Überheblichkeit grenzte. Anne und der Fremde kamen ins Gespräch. Er gab ihr wertvolle Tipps, wie sie ihr Selbstbewusstsein stärken könne. Nachdem sie sich eine gute Stunde miteinander unterhalten halten, fragte der Fremde Anne, ob sie Lust hätte, sich seinen neuen Song anzuhören. - Immer noch völlig ahnungslos ging sie mit dem Fremden mit. Seine Wohnung war ein einziges Chaos und auf seinem Bett musste er erst mal Platz schaffen, damit sie sich setzen konnte. Dann griff er zur Gitarre und sang  "Judy Teen".  Anne konnte es kaum glauben! - Der Typ war tatsächlich Steve Harley von "Cockney Rebel" und sie saß auf seinem Bett.

 

Im benachbarten Londoner Stadtteil Earl's Court lernte Anne in einer Disco einen Mann kennen, der ihr sehr gut gefiel. Sie traf ihn auch am nächsten Wochenende .... und am übernächsten.... und bevor sie sich's versah, hatte sie einen festen Freund, mit dem sie jedes Wochenende abhing. Zusammen gingen sie ins Kino und sahen sich indische oder englische Filme an, waren zu indischen Hochzeiten eingeladen, besuchten seine Freunde auf dem Land und reisten einmal sogar in Anne's Heimat, wo sie das Oktoberfest in München besuchten und ins Rheinland, wo Anne ihren Freund der ganzen Familie vorstellte. Bei dieser Gelegenheit wurde auch ein Termin im nächsten Frühjahr ausgemacht, wenn Anne's Vater Urlaub hatte und Anne in London besuchen wollte.

 

Es war 1974 und die Fußball-Weltmeisterschaft ging ihrem Ende entgegen. Anne interessierte sich nicht für Fußball und wusste nicht mal, wann das Endspiel war und wer gegen wen spielen sollte. Im Wohnheim stand sie eines Sonntagnachmittags im Flur am öffentlichen Fernsprecher und telefonierte mit ihrem Freund, als die Jungs aus dem Wohnheim einen Stuhl brachten. Sie fand das sehr aufmerksam, dankte ihnen und setzte sich. Doch kaum hatte sie sich niedergelassen, holte einer der Jungs einen Strick aus seiner Hosentasche und machte sich an Anne's Beinen zu schaffen. Ein anderer band ihr die Hände zusammen. Ihrem Freund, der noch am Telefon wartete, sagten sie, dass Anne jetzt unabkömmlich sei. Dann trugen sie die an den Stuhl fixierte Anne ins Wohnzimmer und setzten sie ganz hinten ab, wo auch schon ihre Zimmer-Kollegin festgebunden auf einem Stuhl saß.

 

"Was soll der Unsinn?" , fragte Anne ungehalten. Die Jungs schalteten den Fernseher an und sagten, dass jetzt das Endspiel Niederlande - Deutschland angepfiffen würde und dass Anne jetzt live verfolgen könne, wie Deutschland verlor. Anne's Zimmer-Kollegin, die von den Seychellen stammte, moserte, was sie denn eigentlich mit dem Sch***-Endspiel zu tun hätte... - Die Jungs drehten sich zu uns. - "Ihr wisst ganz genau, dass ihr beide kleine Teufel seid! Wir brauchen euch nur an die Wäschekörbe zu erinnern....!" - In den Augen von Anne's Zimmer-Kollegin blitzte der Schalk und auch Anne konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, wenn sie daran dachte, wie sie den Jungs nach ihrem Bad aufgelauert und große Wäschekörbe vor die Badezimmertür platziert hatten. Wenn dann der Frischgebadete herauskam, stießen sie ihn in den Wäschekorb, machten den Deckel zu und schoben ihn zum Ausgang, wo er vom Wäschedienst abgeholt werden sollte.

 

Als das Endspiel angepfiffen wurden, schauten alle wieder nach vorne. In der ersten Halbzeit sah es wirklich so aus, als ob Deutschland verlieren würde. Jedes Tor der Niederländer quittierte Anne mit einem lauten "BÄÄÄÄH!!!" - Die Jungs äfften sie nach und lachten sich dabei kaputt. "Da hinten sitzt ein Schaf auf dem Stuhl" , lachten sie.

 

In der zweiten Halbzeit wendete sich das Blatt. Die deutschen Spieler holten auf und Anne rutschte vor lauter Aufregung auf ihrem Stuhl Zentimeter um Zentimeter vorwärts, bis sie ihrem Vordermann auf der Pelle saß. Der beschwerte sich angewidert, als Anne ihm ihre durchgekaute Chipsmasse, getränkt in Bier, in den Hemdkragen spie, als sie laut "TOOOOOR!!!" rief.  - "KANNST DU NICHT MAL VERNÜNFTIG ESSEN??!!"

 

Jedenfalls gewann Deutschland das Endspiel. Die Jungs wurden immer stiller und verließen mit hängenden Köpfen das Fernsehzimmer. Der Letzte band die Mädels schließlich los. Und die Mädels feierten, als gäb's kein Morgen mehr, während sich die Jungs an diesem Abend nicht mehr blicken ließen.

 

Johan besuchte seine Tochter einige Male in London. Aber bei Johan's letztem Besuch ging es Anne schlecht. Sie hatte furchtbare Schmerzen in der Nierengegend, die einfach nicht abklingen wollten. Besorgt ging Anne zum Arzt. Nach eingehender Untersuchung hatte der Doktor zwei Neuigkeiten für sie. Anne hatte Nierensteine und Anne war schwanger. Die letzte Nachricht war wie ein Hammerschlag auf den Kopf. - "Das kann nicht sein! Wir haben doch immer verhütet!" - Der Arzt nahm Anne's Hand und legte sie auf ihren Bauch, dorthin, wo sie eine Beule fühlte. - "Das ist der Kopf des Kindes" , sagte der Doktor. Anne befand sich schon im vierten Schwangerschaftsmonat und hatte nichts bemerkt. 

 

Gemeinsam mit dem Personalmanager von Sainsbury's und Anne's Vater wurde beschlossen, dass es das Beste war, wenn Anne wieder nach Deutschland zurückkehren könne, da es in London keine Möglichkeit für sie gäbe, mit Kind zur Arbeit zu gehen. Während ihr Vater für sie im Hinterhaus eine winzige Wohnung herrichtete, blieb Anne noch bis zum 8. Schwangerschaftsmonat in England und siedelte erst kurz vor dem errechneten Geburtstermin nach Deutschland über. Man schrieb das Jahr 1976 und es war Hochsommer.

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.06.2019

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