Sobald ich laufen konnte; ich lernte es erst mit vier Jahren, wurde ich von meiner Mutter zum Einkaufen geschickt. Ohne Einkaufszettel, denn ich sollte lernen, mich verbal mit Menschen zu verständigen, ohne zu stottern. Natürlich funktionierte das nicht. Es dauerte ewig, bis ich dem Verkaufspersonal gesagt hatte, was ich wollte. Aber da man in den Läden der näheren Umgebung wusste, dass meine Mutter "nicht gut laufen konnte" und auf ihre Kinder zur Lebensmittelversorgung angewiesen war, hatte man Geduld mit mir. Nicht, dass meine Mutter den ganzen Tag im Bett gelegen hätte, - nein, sie musste den Haushalt versorgen, kochen, waschen, putzen, sich um Ehemann und fünf !!! Kinder kümmern, von denen drei ihre Bewegungsstörungen geerbt hatten. Die Tatsache, dass sie mit fünf Kindern heillos überfordert war, keine Hilfe von ihrem Ehemann erhielt, der aber penibel auf seinen "ehelichen Rechten" bestand, trug nicht eben zu einer herzlichen familiären Atmosphäre bei. Ich kannte meine Mutter als eine launische Person, der man am besten aus dem Weg ging. Damals hielt ich sie für bösartig; heute sehe ich die Zeichen der Hilflosigkeit, der Überforderung und des sexuellen Missbrauchs durch meinen Vater.
Nach außen hin waren wir eine "normale" Familie. Der Vater Eisenbahner im mittleren Beamtendienst, die Mutter Hausfrau, die man nie in der Stadt sah, aber über die jeder Bescheid wusste, dass sie behindert war. - Die arme Frau! - Hilfe erhielt "die arme Frau" aber nicht. So lange ich zuhause wohnte, habe ich nie irgendeinen sozialen oder kirchlichen Dienst bei uns gesehen! Man schaute einfach weg. Was innerhalb einer Familie geschah, hatte einen nicht zu interessieren.
Als die Kinder erwachsen wurden, zeigten sich die Ergebnisse jahrelanger Überforderung. Die beiden Ältesten zogen vorzeitig von Zuhause aus und lernten auf harte Tour ihre Lebenslektionen. Der Dritte starb früh, bei der Vierten sehe ich eindeutige Zeichen, dass sie Opfer von Isolation und sexuellen Missbrauchs sein könnte und zu dem Jüngsten gibt es seit 40 Jahren keinerlei Kontakt mehr.
Erfolgs-Geschichten? - KEINE!
Mein Vater besaß zwei große, alte Fachwerkhäuser mit einem Ladenlokal in der Innenstadt. - Eine Goldgrube hätte man daraus machen können, die allen seinen behinderten Kindern ein geregeltes Einkommen hätten bieten und ein selbstständiges Leben hätten ermöglichen können - Stattdessen wurde das Geld aus den Mieteinnahmen verplempert für hemmungslose Besäufnisse im Kollegenkreis und Urlaubsreisen , üblicherweise als Vater-Teenagertochter-Gespann, während Mama mit den anderen Kindern daheim blieb. Auf einer dieser Reisen nach Finnland mit meinem Vater kam es dann auch zur sexuellen Belästigung. Danach war ich zeitlebens auf der Hut vor meinem Vater und sonderte mich ab. Den wahren Grund ahnte niemand.
Später lernte ich dann selbst das perfide Verhalten kennen, das offensichtlich auch meiner Mutter widerfahren war. Es begann mit meiner Ehe. Um zu zeigen, dass er ab jetzt die Macht über mich hatte, vergewaltigte mich mein Ehemann zu Beginn unserer Ehe, indem er mich brutal packte, auf´s Bett warf, mir ein Messer an die Brust hielt und in mich eindrang. Dieses Erlebnis habe ich nie überwunden; auch 30 Jahre danach nicht. Bei der Polizei lachte man mich aus und sagte, dass es keinen Straftatbestand einer "Vergewaltigung in der Ehe" gäbe. Außerdem wäre ich ja unverletzt. Ja, körperlich war ich unverletzt; psychisch allerdings ein Wrack. In der Folgezeit wehrte ich mich gegen jede Annäherung meines Mannes und ließ die Sexualität nur dann zu, wenn es um mein eigenes Überleben ging; das heißt, die Versorgung mit Essen, Kleidung und einem Dach über dem Kopf. Man mag einwerfen, dass dies viele Frauen so handhaben; besonders dann, wenn auch noch Kinder mit im Spiel sind. Viele werden argumentieren, dass ich ja hätte Arbeiten gehen können und vergessen, dass es für behinderte Frauen kaum Arbeit gibt; schon gar nicht, wenn sie Kinder haben. Schon allein aus diesem Grund ist die Ausbildung und Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft enorm wichtig. Gesunde Frauen können sich trennen; Frauen mit Behinderungen auch; allerdings geraten sie auf Grund von Hilflosigkeit und Geldmangel oft wieder bei Demjenigen, der sie missbraucht hat. So war es auch bei mir. Und obwohl meine Ehe nach der ehelichen Vergewaltigung praktisch am Ende war, wurde die Scheidung erst nach 12 Jahren ausgesprochen. Die Missbrauchs-Versuche gingen aber nach der Scheidung noch weiter; auf Grund meiner Arbeitslosigkeit, Hilflosigkeit und Geldmangels. Morddrohungen waren an der Tagesordnung, um mich einzuschüchtern. Auf Grund von Morddrohungen wurde ich schließlich von der Polizei in Rinteln aus der Wohnung meines Ex-Mannes befreit, da ich die Treppenstufen vor dem Haus nicht mehr selbstständig bewältigen konnte.
Warum hatte ich überhaupt Kinder? - DIESE Frage stelle ich mir im Nachhinein auch. - Vermutlich war mein Wunsch nach einem normalen Familienleben ausschlaggebend. Normales Familienleben habe ich allenfalls während meiner langjährigen Aufenthalten in Großbritannien erlebt. In Deutschland nie.
Selbst für Ärzte und soziale Fachkräfte ist der Missbrauch an Behinderten mitunter nur schwer erkennbar. Üblicherweise greift hier immer noch die allgemeine Annahme, dass mit gehandicapten Menschen besonders liebevoll umgegangen wird. Das wissen auch die Täter, die sehr darauf bedacht sind, dieses Bild der "heilen Familien-Idylle" nicht zu zerstören. Sie geben sich fürsorglich beim Arzt, kooperieren mit Behörden und sind peinlich darauf bedacht, dass ihre "Schützlinge" ja keine Kontakte und Freundschaften nach Außen entwickeln. Denn nur in der Isolation funktioniert der Missbrauch unbehelligt.
Für die Opfer oft eine Jahrzehnte lange Tortur, der sie sich perfekt anpassen. So entsteht der Eindruck bei medizinischem und psychologischem Fach-Personal, dass das Opfer minderbemittelt, psychisch auffällig und instabil ist; zusätzlich zu der eigenen Hilflosigkeit und des Geldmangels. Opfer und Täter spielen ihre Rollen perfekt, weil sie beide wissen, dass sich eh´ nichts ändern wird.
Selbst wenn es dem Opfer doch mal gelingen sollte, die Isolation zu durchbrechen und Sozialarbeiter oder Polizei zu alarmieren, passiert erst einmal wenig. Sozialarbeiter oder Polizei erscheinen zwar, auch wunschgemäß dann, wenn der Täter sich außer Haus befindet, aber bei diesen Erst- Zweit- und Drittbesuchen wird erst einmal versucht, zu beschwichtigen; wohl wissend, dass sichere Unterbringungs-Möglichkeiten für Behinderte Mangelware sind. Frauenhäuser sind üblicherweise nicht barrierefrei. Nur ganz wenige sind für Frauen mit Behinderungen überhaupt gerüstet. Für männliche Gewaltopfer gibt es fast gar nichts.
Der Täter wird dann vielleicht zur Polizeistation beordert und verwarnt und von den Sozialbehörden kommt vielleicht noch eine E-Mail mit nichtssagendem Inhalt, wenn man Glück hat.
Der Missbrauch und die Gewalt verschlimmern sich in der Regel aber, nachdem die Polizei da war. Der Täter geht nun noch perfider vor. Körperliche Verletzungen werden vermieden. Dafür gibt es aber Drohungen, Demütigungen, Essensentzug, nächtliche Störungen, sodass man nicht zur Ruhe kommt, Verweigerung von notwendigen Hilfeleistungen und vieles mehr.
Das Opfer MUSS also mit dem Täter kooperieren, wenn es überleben will. Dazu gehört der sexuelle Missbrauch genauso wie die Forderung nach Zugang des Bankkontos, oder sonstiger Vorteile, die der Täter sonst nicht hätte.
Will sich das Opfer aus dieser Situation befreien, tritt die gegenseitige Abhängigkeit offen zu Tage, denn auch der Täter braucht das Opfer, da es sich bei diesen Menschen um erfolglose Zeitgenossen handelt, die ihre Minderwertigkeitskomplexe damit kompensieren müssen, indem sie vermeintlich noch Schwächere ausbeuten und drangsalieren. Das Opfer wird den Täter kaum jemals wieder los, sofern von der Polizei kein Kontaktverbot ausgesprochen und die Einhaltung desselben auch kontrolliert wird.
Natürlich hinterlässt eine jahrelange Missbrauchs- und Gewalterfahrung tiefe Spuren an Körper und Seele. In meinem Fall fiel die ärztliche Versorgung über viele Jahre komplett weg, da ich auf Grund meiner Behinderung die Wohnung nicht aus eigener Kraft verlassen konnte. Dem Täter war das nur Recht, denn so hatte er die komplette Kontrolle über mich und niemand, der ihm dazwischenfunkte.
Daraus muss folgen: Der Arztbesuch muss in regelmäßigen Abständen zur Pflicht werden, (wie die Pflicht-Untersuchungen bei Kindern auch). Arzt- und Zahnarztpraxen müssen barrierefrei sein. (Hier gibt es noch erheblichen Nachholbedarf.)
Die chronischen Krankheiten, die sich mit der Zeit einstellten und verfestigten, blieben bei mir unbehandelt. Auch nach meiner Befreiung aus der Wohnung meines Ex-Mannes fällt es mir auf Grund mangelnden Vertrauens immens schwer, einen Arzt aufzusuchen und eine Untersuchung überhaupt zuzulassen. Das Ablegen-Müssen von Kleidung verbinde ich mit sexuellem Missbrauch. Um dem sexuellen Missbrauch zu entgehen, fügte ich mir selbst Verletzungen im Intimbereich zu. Auch an meinen Beinen, die mir den Dienst versagten, fügte ich mir Verletzungen zu, was immer wieder zu schweren Infektionen führte. Auch die Infektionen blieben unbehandelt. Meine Unterschenkel und Füße sehen heute übel zugerichtet aus.
Das Vertrauen in Menschen habe ich komplett verloren und dies lässt sich auch nicht wieder rückgängig machen. Nach außen hin versuche ich, normal zu funktionieren, was bis zu einem bestimmten Punkt auch klappt.
Zu nahe kommen darf man mir nicht.
Bevor man mich anfasst, sollte man mich um Erlaubnis fragen, da man sonst eine Ohrfeige sitzen hat, bevor man sich´s versieht..
Über meinen Kopf hinweg Entscheidungen treffen geht gar nicht! Dann reagiere ich ausgesprochen ungemütlich und mit totaler Verweigerung.
Hilfeleistungen von Anderen kann ich nur schwer annehmen, ohne gleich zu denken, dass man mich ausnutzen und über´s Ohr hauen will. Meine jetzige Wohnung ist mein Kokon, die ich praktisch nur zum Einkaufen und zu Behördengängen verlasse. Meine Zeit vertreibe ich mir mit Facebook, dem Kämpfen für die Inklusion von Behinderten, (was mir sehr wichtig ist) , dem Schreiben von Kurzgeschichten und Gedichten und mit der Diamant-Malerei, die mir sehr viel Spaß macht.
Mit Pflanzen und Tieren kann ich gut umgehen und auch für Menschen kann ich Empathie empfinden, interagiere aber nur dann, wenn es Sinn macht und wenn es nützlich erscheint. Ansonsten lebe ich sehr zurückgezogen, aber nicht einsam. Die Aufarbeitung des Geschehens geschieht langsam und oft bin ich erschöpft, scheinbar ohne Grund.
Es gibt Studien zur Häufigkeit und Intensität der Gewalt und des Missbrauchs an Menschen mit Behinderungen. Nur die Grünen und die Linken haben dieses Thema in ihr Wahl-Programm aufgenommen. Bei den anderen Parteien sucht man vergeblich.
Was muss geschehen, um das Leben von Menschen mit Behinderungen sicherer und lebenswerter zu gestalten?
1) Arztpraxen, soziale und psychologische Dienste müssen barrierefrei erreichbar sein.
2) Sichere Unterbringungsmöglichkeiten muss es auch und vermehrt für Menschen mit Behinderungen geben, egal ob sie männlich oder weiblich sind. Denn proportional werden Menschen mit Behinderungen übermäßig oft Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch.
3) Eine angemessene Schul- und Berufsausbildung ist auch für Menschen mit Behinderungen enorm wichtig, damit sie gar nicht erst in fatale Abhängigkeiten geraten, sonderen einen angemessenen Lohn selbst erwirtschaften und selbstbestimmt leben können.
4) Sonderwelten wie die sogenannten "Werkstätten für Menschen mit Behinderungen" müssen abgeschafft werden.
Menschen mit Handicap sind so normal wie du und ich. Sie werden erst zu Behinderten, indem sie in ihren Fähigkeiten BEHINDERT WERDEN, weil man sie auf ihre körperlichen oder psychischen Unfähigkeiten reduziert.
Sollen sich Menschen, die sich nicht wehren können, mit Gewaltsituationen einfach abfinden, weil es die Regierung nicht gebacken kriegt, sichere Unterkünfte bereitzustellen und diesen Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen?
NEIN, NEIN UND NOCHMALS NEIN!!!
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2019
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