Kurz vor meinem 10. Geburtstag kam unser damaliger Stadtpfarrer Dechant Müller in unsere Klasse und eröffnete uns, dass wir die diesjährigen Kommunionkinder seien und ab jetzt Vorbeitungs-Unterricht hätten. Wir schrieben das Jahr 1963 und unsere Klasse sollte nach den Osterferien in die 3. Klasse versetzt werden.
Religionsunterricht hatten wir bisher noch nicht gehabt, aber mit Dechant Müller hatte ich schon mehrmals unangenehme Erfahrungen gemacht; nämlich immer dann, wenn er die Pausen-Aufsicht hatte und mich beim Spielen mit meiner Schulfreundin erwischte. Dann kam er zu mir, nahm mich beiseite und sagte in strengem Ton, dass ich nicht mit Christiane spielen sollte, da sie evangelisch sei. Dann folgte die Frage, ob meine Eltern davon wüssten, mit wem ich Umgang hatte. - "Nein" , antwortete ich, meine Eltern wussten nichts davon. Die kannten Christiane ja nicht mal und es hätte sie auch nicht gestört, wenn meine Schulfreundin muslimisch, hinduistisch oder den "Entengott von Erpel" angebetet hätte. Hauptsache, ich hatte Kontakt zu Kindern aus ORDENTLICHEN Familienverhältnissen.
Kurz ausgedrückt; ich hatte damals schon Bedenken, was die katholische Kirche betraf, konnte das aber noch nicht in Worte fassen. Einerseits hatte ich keine Lust auf Kommunion; andererseits gefiel mir aber die Vorstellung, ein weißes Kleid zu tragen und Geschenke zu erhalten. Bis zum Schluss war ich hin- und hergerissen. Die Tatsache, dass Kommunionkinder keinen Karneval feiern und sich nicht kostümieren sollten, empfand ich als besonders bitter. Als Ausgleich machte ich beim Katechismus-Unterricht dicht. Ich lernte weder die Gebete, noch die Lieder, die wir zur Kommunions-Messe singen mussten und mehr als einmal hoffte ich heimlich, nicht zur Kommunion zugelassen zu werden. Doch die ganze Klasse wurde zugelassen; auch die Frechen und die Faulen und damit auch ich.
Nun begann in meiner Familie der Stress mit den Vorbereitungen auf das Kommunionsfest. Meine Eltern hatten inzwischen vier Kinder, wovon das jüngste noch ein Baby war. Das Geld war knapp und die Ausgaben für´s Fest beträchtlich. Die ganze Verwandtschaft war eingeladen und ein Menü-Plan musste aufgestellt werden. Außerdem waren da ja noch die Ausgaben für das Kommunionkleid, Zubehör und die Schuhe.
Meine Patentante wurde gebeten, mir das Kleid zu kaufen, das ich mir mitsamt dem passenden Zubehör auch selbst aussuchen durfte. Es war ein schönes Kleid; in kurzer Länge und über und über mit Madeirastickerei bestickt. Dazu ein Krönchen aus weißen Stoffrosen, ein Beutelchen für´s Taschentuch, ein weißes Kerzentuch und weiße Strumpfhosen. Nun fehlten nur noch die Schuhe.
Die Schuhe musste mein Vater kaufen. Zusammen mit ihm und meiner älteren Schwester gingen wir zum Schuhgeschäft. Während ich Schuhe um Schuhe anprobierte, verschwand meine Schwester eine ganze Zeit lang im hinteren Teil des Ladens und kam mit einem Paar wunderhübschen Sandaletten zurück, die sie unbedingt haben wollte und meinem Vater damit in den Ohren lag. Nun entbrannte eine hitzige Diskussion zwischen meinem Vater und meiner Schwester, weil mein Vater die flimsigen Schühchen nicht bezahlen wollte. Stattdessen ging er zum Regal mit den Jungenschuhen und suchte für uns Schwestern jeweils ein Paar aus, die seinen Ansprüchen nach Haltbarkeit und Preisgünstigkeit standhielten. Meine Schwester protestierte lautstark gegen diese Schuhe, hatte aber keinen Erfolg. Mein Vater kümmerte sich nicht um ihr Protestgeschrei, lief schnurstracks zur Kasse und bezahlte die Schuhe. Der Tag war für uns gelaufen.
Zu Hause begutachteten wir das Malheur. Die Schuhe, die mein Vater für uns ausgesucht hatte, waren wirklich hässlich. Das Paar meiner Schwester war noch hässlicher als meine, weshalb sie mich fragte, ob ich meine Schuhe eintauschen wollte. - Nein, war meine Antwort. Außerdem hätten ihr meine Schuhe sowieso nicht gepasst. Jeden Abend, wenn sie zum Schlafen in unser gemeinsames Zimmer ging und ihr Blick auf die neuen Schuhe fiel, flossen bei meiner Schwester die Tränen. Irgendwie tat sie mir Leid.
Glockengeläut holte mich am Weißen Sonntag in aller Frühe aus meinen Träumen. Da unsere Messe erst um zehn Uhr begann, hatte ich viel Zeit, um mich fertig zu machen. Meine Schwester blieb noch liegen, während ich mich schon anzog; Strumpfhose, Kleid, Krönchen, Schuhe. - DIE SCHUHE! - Schwarz und hässlich schauten sie an meinen Füßen aus. So konnte ich mich doch UNMÖGLICH draußen blicken lassen! Ich überlegte, ob ich einfach plötzlich krank werden sollte. Ich verspürte auch schon eine gewisse Übelkeit im Magen vor lauter Hunger, aber Frühstück gab´s für mich nicht. Kommunionkinder mussten nüchtern zur hl. Messe erscheinen.
Was Kommunionkinder alles zu tun oder zu lassen hatten! - Meine Gedanken schweiften zum vergangenen Tag zurück, als ich zur Beichte musste. Schon Tage vorher hatte ich mir überlegt, was ich dort sagen würde. Alles konnte ich nicht beichten; das würde Ärger geben. Auch wenn es ein Beichtgeheimnis gab, so traute ich dem Pfarrer kein Stück. Die Tatsache, dass ich oft nicht zur Sonntagsmesse gegangen war, wenn meine Eltern mich geschickt hatten, sondern stattdessen in den Rheinanlagen gespielt hatte, konnte ich dem Pfarrer schlecht auf die Nase binden. Dafür erzählte ich lang und breit, wie ich meine große Schwester geärgert hatte, indem ich immer dann dringend auf´s Klo musste, wenn es an´s Geschirr abtrocknen ging. Auf der Toilette blieb ich in der Regel so lange sitzen und las Zeitung, bis meine Schwester oben in der Küche mit Spülen, Abtrocknen, Wegräumen und Putzen fertig war. Der Pfarrer, der wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch keine Hausarbeit verrichtet hatte, fand das alles nicht so schlimm. Mit drei Vaterunser waren meine Sünden verziehen. Meine Schwester verzieh mir aber keineswegs.
Dann ging alles ganz schnell. Meine Mutter rief, ich solle runter kommen; es wäre Zeit für die Messe. Als ich die Haustür aufmachte, dachte ich: "Oh, wie schööön!" - Links und Rechts vor dem Türeingang standen zwei große Buchsbäume; extra für mich. - Waahnsinn! - Was würde mich noch alles erwarten? Schnellen Schrittes lief ich zur Kirche, wo die Kinder sich in Zweierreihen aufstellten. Vorne die Mädchen; dahinter die Jungs. Weil ich mich in meinen schwarzen Jungenschuhen unwohl fühlte, schaute ich bei allen Mädchen nach, welche Schuhe sie anhatten und stellte schnell fest, dass meine Schuhe mit Abstand die hässlichsten waren.
Mit dem Einzug in die alte Pfarrkirche vergaß ich meinen Kummer mit den Jungenschuhen. Berauschender Duft von Hunderten weißen Rosen schwoll mir entgegen; dazwischen der frische Duft von gerade ausgeschlagenen Birkenzweigen. Die üppige, elegante Blumendekoration in Grün und Weiß in der Kirche werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Noch nie hatte ich schönere Blumen-Arrangements gesehen. Dazwischen brannten unsere Kommunionkerzen. Ich konnte mich nicht satt sehen an all der Pracht rund um den Altar. Und obwohl ich meine Gebete und Lieder für diese Messe nicht gelernt hatte, gelang es mir, mich einigermaßen durchzumogeln ohne aufzufallen. Die Eltern und Verwandten, die hinter den Kommunionkindern in der Kirche Platz genommen hatten, nahm ich überhaupt nicht wahr. Die Predigt des Pfarrers und die Austeilung der Hostien verliefen ohne Zwischenfall und schließlich wurden wir nach Hause entlassen mit dem Hinweis, um 17:00 Uhr erneut in der Kirche zu erscheinen, zur Danksagung.
Zu Hause hatte meine Mutter einen Tisch mit Geschenken und Gratulationskarten aufgestellt. Neben kleineren Geschenken wie Malkasten, Porzellan-Engelchen und dergleichen, erhielt ich auch eine Uhr von meiner Patentante und ein goldenes Kettchen mit einem Kreuzanhänger von meiner Oma. Uhr und Kettchen legte ich gleich an. Geldgeschenke musste ich am nächsten Tag auf´s Sparbuch einzahlen; aber es war nicht viel, das ich bekommen hatte. Während ich noch mit dem Lesen meiner Gratulationskarten beschätigt war, deckte meine Mutter schon den Mittagstisch und trug die Speisen auf, als die ganze Verwandtschaft Platz genommen hatte. Mein Platz am Tisch war als Ehrenplatz gekennzeichnet. Es gab eine leckere Rindfleischsuppe mit Einlage und danach eine köstliche Blätterteig-Pastete, gefüllt mit Hühnerfrikassee mit Gemüse und Kartoffeln. Von der leckeren Obsttorte zum Nachtisch genehmigte ich mir auch noch ein Stück. Dann ging ich auf´s Klo und ward den ganzen Nachmittag nicht mehr gesehen...
Ich wollte nicht warten, bis die Verwandtschaft meine hässlichen Schuhe als Gesprächsthema entdeckten und sich über mich lustig machen würden, deshalb schlich ich mich nach meinem Toilettengang unbemerkt nach draußen und steuerte geradewegs meine geliebten Rheinanlagen an, wo ich die Schiffe zählte, die rheinauf und rheinab fuhren. Meine große Schwester hatte ich seit dem frühen Morgen nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich trug sie auch ihre hässlichen Jungenschuhe und musste unserer Mutter auch noch beim Abwaschen helfen und nach getaner Arbeit auf unsere kleineren Geschwister aufpassen, die damals drei Jahre und 11 Monate alt waren. Meine ältere Schwester hatte WIRKLICH die Arschkarte gezogen!
Als ich nach meinem heimlichen Ausflug wieder zurückkam, war es bereits nach 18:00 Uhr. Die Verwandten waren schon längst gegangen und ich hatte den Fototermin und den Danksagungs-Termin in der Kirche verpasst. Meine Eltern waren stinksauer. Um wenigstens ein paar Erinnerungsfotos vom Kommunionkind zu haben, wurde meine ältere Schwester mit der Kamera losgeschickt, mit mir im Schlepptau. Auf dem Weg zum Kirchplatz, wo sie die Fotos machen wollte, stellte ich fest, dass auch die Laune meiner Schwester auf dem Nullpunkt angelangt war. Sie beschimpfte mich in einer Tour und hetzte mich hoch zum Kirchplatz, wo sie genau ZWEI Erinnerungsfotos von mir schoss. Die Bilder im Kasten, hetzte sie zurück nach Hause, legte die Kamera auf den Tisch, verzog sich ins Schlafzimmer und redete den ganzen Abend mit keinem Menschen mehr.
Mein Kommunionkleid kam nach diesem Tag noch zwei Mal zum Einsatz; nämlich zu den Prozessionen an Christi Himmelfahrt und Fronleichnam; die Jungenschuhe aber gammelten in ihrem Schuhkarton vor sich hin; ich zog sie nicht mehr an.
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2015
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