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Bonjour Strasbourg


Wie haben eigentlich die Kinder früherer Generationen überlebt, ohne in die Hände von Kinderschändern zu fallen? - Vielleicht lag´s auch daran, dass man über dieses Thema in der Öffentlichkeit nicht sprach.

Jedenfalls fuhr ich mit zehn Jahren allein nach Frankreich.

Nein, wartet! - Nicht ganz allein! - Ein Arbeitskollege meines Vater´s war dabei.

Aber alles schön der Reihe nach.

Wir schrieben das Jahr 1963 und mein Vater war Fahrdienstleiter bei der Bahn in dem kleinen Ort Bad Hönningen, der zwischen Köln und Koblenz gelegen, sich auf der rechten Rheinseite befand. Die Verkehrsdichte war damals noch überschaubar, so dass mein Vater alle Lokführer, sowie das Zugbegleit-Personal kannte, das auf dieser Strecke eingesetzt war. Ich kannte sie auch fast alle, denn ich war es, die meinem Vater immer das Essen im Henkelmann bringen musste. Dann fuhr ich die zwei Stationen zur Arbeitsstelle meines Vater´s mit dem Zug und kam mit dem nächsten Zug wieder zurück. Eine Fahrkarte brauchte ich dafür nicht.

In den Schulferien fuhr ich nicht immer gleich zurück nach Hause, sondern liebte es, die Rheinstrecke rauf und runter zu fahren. Dann durfte ich beim Schaffner im Abteil sitzen und wir quatschten, wenn er gerade einmal Zeit hatte.

Es war in den Sommerferien; ich hatte gerade den Henkelmann bei meinem Vater abgeliefert und beschloss, nach Koblenz zu fahren, um mich dort ein bisschen umzusehen. Mit dem nächsten Zug wollte ich wieder zurück nach Hause.

Gedacht, - gemacht!

Ich saß also, wie schon so oft, beim Schaffner im Abteil, Bonbons essend, die er mir geschenkt hatte und die vielen Fahrgäste beobachtend, die offensichtlich in die Ferien fahren wollten. Dass ich in Koblenz aussteigen wollte, hatte ich dabei längst vergessen und ich merkte erst, dass wir die Stadt schon hinter uns gelassen hatten, als es zu spät war.

Was nun?

Aufgeregt fragte ich den Schaffner, was zu tun sei. Der blieb ganz cool:

“Dann fährste eben mit nach Straßburg.” , meinte er trocken.

Ein Funkspruch zum Fahrdienstleiter-Häuschen in Bad Hönnigen abgesetzt, wo mein Vater gerade Dienst hatte und die Sache war geritzt.

Doch so gelassen wie der Schaffner war ich nicht!

Verdammte Angst hatte ich, mein Zuhause nie mehr wieder zu sehen, mit jedem Kilometer, den wir uns weiter entfernten. Ganz still wurde ich.. Die Bonbons vom Schaffner schmeckten mir auf einmal nicht mehr. Vom Zugfenster aus sah ich Landschaften vorbeifliegen, die ich nicht kannte. Eine halbe Ewigkeit dauerte es, bis wir in Kehl über die Rheinbrücke fuhren.

In Kehl hatte ich gesehen, wie Zollbeamte in den Zug eingestiegen waren und hörte schon aus den anderen Abteilen den Ruf: “Passkontrolle!”

Oh je, - auch das noch! Natürlich hatte ich keinen Pass dabei. Ja, ich besaß nicht mal einen!

Mir fiel das Herz in die Hose. Die Zollbeamten öffneten die Tür zum Schaffner-Abteil. Ein kurzer Gruß zwischen bekannten Beamten, dann der Hinweis vom Schaffner, dass ich seine Tochter sei. - “Alles paletti” , sagten die Zöllner und verabschiedeten sich.

Vor Staunen stand mir der Mund offen. Ich hatte fest damit gerechnet, aus dem Zug heraus gezerrt zu werden und ins Kittchen zu wandern.

Inzwischen waren wir im Bahnhof von Straßburg eingefahren. Mit meinem temporären Ersatzvater, der hier zwei Stunden Aufenthalt hatte, bevor er mit dem selben Zug die gleiche Strecke wieder zurück musste, erkundete ich die Umgebung rund um den Bahnhof. Den imposanten Bahnhofs-Kuppelbau aus Glas gab es damals noch nicht, wohl aber die mächtig wirkende Häuserfront, die ich bewunderte. Beim Versuch, die französischen Straßenschilder zu entziffern, hörte ich, wie sich zwei Schwarzafrikaner über meine Aussprache lustig machten. Böse schaute ich sie an. Sie rollten mit den Augen, grinsten und verzogen sich. Mein väterlicher Begleiter kaufte an einem Stand zwei Eis und während wir genüsslich daran schleckten, fragte ich ihn, wieso diese Stadt mit deutschem Namen französische Straßenschilder hatte. Er erzählte mir etwas vom Krieg und dem verlorenen Elsass-Gebiet, aber das verstand ich damals noch nicht.

Die zwei Stunden Aufenthalt vergingen wie im Flug und als wir wieder am Bahnhof ankamen und im Bahnhofsrestaurant eine Bockwurst verzehrten, war ich doch froh, dass es wieder heimwärts ging.

Der ganze Ausflug fühlte sich damals total unrealistisch an, aber die Lust am Reisen war nun geweckt. Da konnten auch die väterlichen Prügel nichts mehr dran ändern, die ich für meinen eigenmächtigen Ausflug bezog.

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Texte: Christine Singh
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2013

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