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Amira, - Überleben in Freiheit.


Seit unser Planet besteht, haben sich unzählig viele Lebensformen herausgebildet und sind untergegangen, wenn sie unfähig waren, sich an die stetig veränderten Umweltbedingungen anzupassen.

Im fernen Osten Russlands lebt die größte Tigerart der Erde; der Amur-Tiger. Anders als seine südasiatischen Verwandten, die in tropischen Gebieten leben, muss der Amur-Tiger im Winter Temperaturen bis Minus 45°C aushalten und ist dem rauhen Klima rund um die Gegend von Chabarowsk und Primorje perfekt angepasst. Damit er im Winter nicht friert, wächst ihm ein besonders dichtes und langes Fell. Außerdem schützt ihn eine fünf Zentimeter dicke Bauchfettschicht vor der Bodenkälte.

Gut versteckt im dichten Bodenbewuchs der Kieferwälder rund um die Gegend Primorje spielten Amira´s Junge im Sonnenschein. Obwohl es schon Anfang Juni war, lagen hier und da noch Schneereste auf dem dauer-gefrorenen Permafrostboden, dort wo die Sonne nicht durch die Wipfel der Bäume dringen konnte.

Amira´s Junge waren im April zur Welt gekommen. Fünf Stück waren es; drei männliche und zwei weibliche Tiere. Weitab von jeglicher menschlichen Behausung hatte Amira sie geboren und gesäugt. Nun waren sie zwei Monate alt und konnten neben der Muttermilch-Ernährung schon kleine Fleischstücke fressen, die ihre Mutter ihnen brachte. Gestern Abend erst hatte Amira ein Wildschwein gerissen und in ein kühles Versteck geschleppt. Das Fleisch der Wildsau würde für einige Tage reichen.

Nun lag die alte Tigerdame dösend in der Sonne, während ihr Nachwuchs Jagd auf Schmetterlinge machte, oder ihre hin- und her zuckende Schwanzspitze zu fangen versuchte.

Es war ein idyllisches Bild, das jäh von lauten Motorengeräuschen gestört wurde. Schnell rief Amira ihre Kinder zu sich und verschwand mit ihnen in ihr sicheres Versteck. Dort erzählte sie ihnen, was es mit den Motorengeräuschen auf sich hatte.

Vor gar nicht langer Zeit hatte sie noch weiter nördlich gelebt, wo es große Wälder gab mit reichlich Großwild, das man jagen konnte. Hirsche, Elche, Schwarzwild, Rehe und auch viele kleinere Beutetiere, an denen kleine Tigerkinder das Jagen üben konnten. Ihr Revier überlappte sich mit dem eines großen Tigerkaters, dem Vater der quirligen Rasselbande. Sie hatten glücklich und zufrieden gelebt, bis eines Tages Menschen in ihr Gebiet eingedrungen waren, die mit großen Motorsägen Baum um Baum gefällt hatten. Schon bald waren weite, offene Flächen entstanden, in denen das aufgescheuchte Wild schutzlos den Menschen ausgeliefert waren, die sie nur abzuknallen brauchten. Das Fleisch der Tiere war eine begehrte Leckerei, das sie von ihrem kargen Lebensunterhalt niemals hätten kaufen können.

Nachdem die Baumstämme abtransportiert waren, hatten die Menschen Feuer gelegt, um auch den Unterwuchs und die Baumwurzeln zu vernichten. Sie wollten auf dem gerodeten Land Feldfrüchte anbauen.

Amira hatte das alles gesehen und war den ganzen Tag verstört durch ihr Revier gestreift; immer auf der Suche nach einem guten Platz zum Verstecken. Aber es gab keine Verstecke mehr. Kurzerhand beschloss sie, ihr Revier aufzugeben und sich ein neues zu suchen.

Auf dem Weg nach Süden begegnete sie ihrem Gefährten, der sie vor Kurzem gedeckt hatte und von dem sie nun trächtig war. Jemand hatte ihn angeschossen und schwer verletzt. Ein paar Stunden harrte sie bei ihm aus, leckte seine Wunden sauber und stupste ihn immer wieder mit dem Maul an, um ihm zu verstehen zu geben, dass er aufstehen sollte. Aber er stand nicht mehr auf!

Als in der Dämmerung die Jäger zurück kamen, um ihn abzutransportieren und nach China zu verkaufen, die für “Tiger-Medizin” horrende Preise zahlen würden, musste Amira einsehen, dass ihr altes Leben unwiderruflich zerstört war.

Gespannt hatten Amira´s Kinder den Erzählungen ihrer Mutter gelauscht und ihr versprochen, sich von Menschen fern zu halten.

Inzwischen war auch das Motorengeräusch verstummt und die Jungen schauten neugierig aus ihrem Versteck. Der Wald stand noch da und nur ein paar ausgewählte Bäume waren gefällt worden, die schon bald abgeholt wurden. Dann war der Wald wieder so still wie vorher.

Der Sommer kam und ging und Amira´s Nachwuchs hatte sich prächtig entwickelt. Nun wurden die Tage wieder kürzer und Ende September fielen schon die ersten Schneeflocken vom Himmel. Den Jungen gefiel das Spiel der fallenden Flocken und versuchten, sie zu fangen.

Das sorglose Spielen hatte ein Ende, als Schüsse durch die Wälder drangen. In heller Aufregung verschwanden alle Tiere des Waldes in ihre Verstecke. Sie wussten, was die Knallerei zu bedeuten hatte. - WILDERER! - Die Menschen aus der Umgebung besorgten sich Fleischvorräte für den kommenden Winter.

An die Tigerfamilie dachten sie hierbei nicht. Auch nicht daran, dass Amur-Tiger vom Gesetzgeber geschützt waren und auch Fleisch zum Leben brauchten. Was kümmerte sie die Gesetzgebung aus dem fernen Moskau, wenn die Wälder voller Hirsche und Schwarzwild waren, und Konzessionen zum Abschuss den Lokal-Behörden zusätzlich Geld einbrachte? Die Menschen hatten alles Wild geschossen, das sie kriegen konnten und kaum etwas für die Tiger übrig gelassen.

Schon im Januar wurde die Jagd für Amira immer schwieriger. Sie konnte ihre Kinder kaum noch ernähren. Um kostbare Energie zu sparen, kuschelte sich die Tigerfamilie eng zusammen und verharrte tagsüber in ihrem Versteck. Abends ging es dann auf Beutefang. Heute hatten sie das Glück, einen Hasen zu erwischen. - Ein Hase für sechs hungrige Tigermäuler! Amira überließ ihren Jungen die Beute. Vier ihrer Kinder stritten sich um ihren Anteil an der Beute, während das Fünfte teilnahmslos da lag. Es war schon zu schwach und würde den Winter nicht überleben.

Im Februar war Amira gezwungen, außerhalb ihres Reviers nach Beute zu suchen. Nachdem sie einige Zeit lang herumgeirrt war, fand sie Hirsche, die in einem Gatter eingezäunt lebten. - FLEISCH! -

Amira lief das Wasser im Maul zusammen. Schon lange hatte sie keine Nahrung mehr zu sich genommen. Es war tiefe Nacht, als sie unbemerkt in das Gatter eindrang, sich einen Hirsch schnappte und mit einem kräftigen Kehlbiss tötete. Dann sprang sie, den Hirsch im Maul hinter sich her ziehend, wieder unbemerkt über´s Gatter, verzog sich damit in ein Versteck und begann zu fressen. Den Rest der Fleischmahlzeit trug sie zu ihren Jungen heim. Zu spät! - Inwischen waren auch zwei weitere ihrer Kinder dem Hunger erlegen.

Noch zwei weitere Male in diesem Winter drang sie in den Bereich der Menschen ein, um sich einen Hirsch aus dem Gatter zu holen. Beide Male ging sie äußerst vorsichtig vor und schlug zu, wenn sie sicher war, dass es in dem Haus neben dem Gatter völlig dunkel war.

Dank dieser Raubzüge überlebte sie den Winter mit zwei ihrer Jungen.

Im Frühjahr war sie allerdings so schwach, dass sie nicht bemerkte, wie sich eine Tierschutz-Abordnung aus Moskau ihrem Tagesversteck näherte, sie und die Jungen betäubte und alle drei mit einem Sender ausgestattet wurden, um ihre Gewohnheiten und Wanderungen zu dokumentieren. Aber ob es den Amur-Tigern gelingen würde ihre Population in Freiheit vor dem Aussterben zu bewahren, dass müsste die Zukunft zeigen....

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Tag der Veröffentlichung: 05.02.2013

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