Maria schaute aus dem Fenster. Es schneite. Schon seit Tagen war es bitter kalt. Der kleine Bach, der sonst immer hinter ihrem Haus gluckerte, lag nun still unter einer dicken Eisdecke.
Maria seufzte. Weihnachten war nun Gott sei Dank vorüber. Sie HASSTE Festtage! An Feiertagen fühlte sie sich noch einsamer und verlassener als sonst. Schon seit Jahren war sie von ihrem Mann geschieden. Ihre erwachsenen Kinder lebten ihr eigenes Leben. Nie bekam sie Besuch. Die Nachbarn hielten sie für eine wunderliche, alte Frau. Sie mied die Leute, weil sie wusste, dass sie stank. Auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen hatte sie ihre Dusche schon seit einiger Zeit nicht mehr benutzen können und wusch sich nur noch am Waschbecken im Bad. Noch scheute sie sich davor zurück, das Problem bei ihrem Hausarzt anzusprechen, damit sie in eine Pflegestufe kam. Sie war ja nicht mal 60 Jahre alt! Ihr Hausarzt mied das Thema ebenfalls, riss die Fenster seiner Praxis weit auf, nachdem sie gegangen war und hielt Maria für asozial.
Wenn sie nicht zum Arzt musste, verkroch sich Maria in ihrer kleinen Wohnung, die nur spärlich eingerichtet war. Außer einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem Bücherregal hatte sie nichts an Möbeln. Ihre Fertig-Mahlzeiten wärmte sie in einem Topf auf ihrer Induktions-Herdplatte auf und wusch ihr Geschirr in der alten Spüle ab, die ihr Vormieter in der Wohnung hinterlassen hatte. Einen Kühlschrank besaß sie nicht. Sie wollte auch keinen; der hohen Stromkosten wegen. Es machte keinen Sinn, wegen einem Joghurt und ein paar Scheiben Käse einen Kühlschrank zu betreiben. Lieber gab sie das Stromgeld für den Betrieb eines Computers aus. Der PC war ihr Ein und Alles und ihre einzige Abwechslung ihrer öden Tage. Alles, was sie zum Leben brauchte, bestellte sie online; sogar ihre Lebensmittel. Es war kein Leben, das Maria hatte, allenfalls ein Vegetieren.
Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr war für Maria die traurigste Zeit des Jahres. Mit stoischer Gelassenheit ertrug sie die Einsamkeit und hielt an ihrem gewohnten Tagesablauf fest. Aufstehen, waschen, so gut es mit ihrem steifen Arm eben ging und dann....ran an den Computer. Sie freute sich auf das Öffnen ihrer E-Mails, die bestimmt in ihrem Postfach lagen, auch wenn es nur Werbung war. Im wahren Leben hatte sie schon lange niemand mehr mit “Liebe Frau Schmidt” angeredet.
Nun war sie mit dem Frühstück fertig und schaltete den PC ein. Es war ein älteres Modell, das lange Zeit zum Hochfahren brauchte. Aber heute tat sich nichts! - Nanu, dachte Maria, während ihr Blick über den Monitor, die Tastatur und den Router fiel. Keine der Kontroll-Lämpchen blinkten. Was war los? - Ein Stromausfall? - Maria probierte den Lichtschalter. Das Licht ging nicht an. Ein kurzer Blick in den Stromsicherungskasten sagte ihr, dass mit den Sicherungen alles in Ordnung war. Im Hausflur hörte sie ihre Wohnungsnachbarn rumoren und ärgerlich schimpfen, dass der Strom weg war. Maria nahm an, dass irgend jemand im Haus eine fehlerhafte Lichterkette in Dauer-Betrieb genommen und das Stromnetz überlastet hatte. Das Haus, in dem sie alle lebten, war schon alt. Nur die allernötigsten Reparaturarbeiten wurden vom Vermieter ausgeführt.
Mit unendlicher Geduld wartete Maria darauf, dass der Strom wiederkam. Sie las ein Buch und schlief darüber ein.
Es war schon dunkel, als sie wieder aufwachte. Maria stand auf und tappte zum Lichtschalter. Das Licht ging an. Auch ihr PC funktionierte wieder. Neugierig loggte sie sich in ihren E-Mail-Account ein.
“Einen guten Rutsch, liebe Frau Schmidt!” - Ihr Online-Lebensmittel-Lieferant hatte ihr geschrieben. Auch all die anderen Firmen, die sie das ganze Jahr über mit allen Dingen des täglichen Bedarfs belieferten, hatten an sie gedacht.
Von ihren erwachsenen Kindern war auch dieses Jahr keine Mail dabei. Maria war´s fast egal. Sie hätte wahrscheinlich nicht einmal gewusst, was sie ihren Kindern hätte antworten sollen. Zu lange schon war der Kontakt zu ihnen abgerissen.
Nachdem sie alle ihre Mails gelesen hatte, schaute sie sich auf “YouTube” Märchenfilme an. “Das tapfere Schneiderlein” , “Die Gänsemagd” , “Hänsel und Gretel” , “Rumpelstilzchen” . Sie liebte diese Märchenfilme und scherte sich nicht darum, dass sie eigentlich für Kinder gedacht waren.
Mitten in dem Märchenfilm “Die zertanzten Schuhe” holten die ersten Silvesterkracher Maria in die Realität zurück. Draußen hörte sie ihre Nachbarn johlen, während immer wieder neue Leuchtfeuer-Raketen gezündet wurden, um das neue Jahr zu begrüßen. Von ihrem Fenster aus sah sie eine Zeit lang dem bunten Feuerwerk zu, schickte einen Herzenswunsch hinauf zum sternenklaren Nachthimmel und glaubte felsenfest daran, dass er im neuen Jahr in Erfüllung ging.
Texte: Christine Singh
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2013
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