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Hitler´s Erben. - Teil 1


Erinnern wir uns zurück, als neben den Juden und Zigeunern auch Behinderte in den Gaskammern verschwanden. Diese Zeit liegt lange zurück; ich war damals noch nicht geboren.

Erst acht Jahre nach Kriegsende kam ich zur Welt; mit einer immer noch nicht diagnostizierten Behinderung, die sich in Bewegungsstörungen äußert.

Meine Eltern schämten sich für mich. Schon als Kind habe ich oft den Satz gehört, (vorzugsweise dann, wenn ich mich nicht so verhalten hatte, wie das meine Eltern von mir erwarten hatten): "Zu Hitler´s Zeiten wärst du kurzerhand in der Gaskammer verschwunden!"

Aber nicht nur von meinen Eltern hörte ich diesen Ausspruch; nein, diese Meinung war allgemein weit verbreitet. Das führte dazu, dass

- Ärzte mich nicht ernst nahmen, (im günstigsten Fall) oder mich beleidigten und absichtlich quälten (im schlimmsten Fall).

- die Gesellschaft mich rigoros ausgrenzte. Keine Arbeit, Ausgrenzung bei Familienfeiern, sehr eingeschränkte soziale Kontakte.

Da viele Eltern in den 50er Jahren mit ihren behinderten Kindern völlig überfordert waren und es keine staatliche Hilfe gab, wurde damals die Lebenshilfe gegründet.

Hitler´s Erben. - Teil 2


Die 50er Jahre.

Meine ersten Erinnerungen stammen etwa aus dem Jahr 1957, als ich vier Jahre alt war. Den Kinderwagen, in dem ich bislang immer gefahren worden war und an dem ich meine ersten Gehversuche machte, indem ich mich an der Schiebestange festhielt, brauchte ich nun nicht mehr. Ganz stolz tappste ich die paar Schritte zu meiner Mutter hin und ließ mich in ihre aufgehaltenen Arme fallen. Das wiederholte sich nun ein paar Mal und bei jedem Mal wurde ich sicherer. Ich konnte frei laufen!

Beim nächsten Arztbesuch allerdings wurde mir jeder Stolz über die erreichte Leistung genommen.

"Spring mal!" , sagte der Arzt. Ich versuchte es verzweifelt und konnte es nicht. Hüpfen auf einem Bein klappte noch weniger und auch den Ball, den ich eigentlich hätte fangen sollen, ging daneben.

Die anschließende Diskussion zwischen meinem Vater und dem Arzt bekam ich nur wegen der Lautstärke mit, mit der sie geführt wurde. Jedenfalls sah ich diesen Arzt zum letzten Mal; der nächste ließ mich Links liegen. Mir war´s recht.

In den Jahren 1958 und 1959 starben meine Großeltern väterlicherseits in schneller Reihenfolge, die mit uns zusammengelebt hatten. Ich wurde in dieser Zeit zur Großmutter mütterlicherseits abgeschoben. Mir war´s recht, denn meine Oma lebte in ländlicher Umgebung mit großem Garten und vielen Tieren. Es war das Paradies für Kinder schlechthin.

Im Jahr 1959 bekamen meine Eltern nach zwei Töchtern endlich den heiß ersehnten Sohn. Was sie damals noch nicht wussten; auch dieses Kind war behindert. Mit der Zeit zeigten sich bei ihm die gleichen Entwicklungsrückstände wie bei mir. Das war aber schon Anfang der 60er Jahre.

Therapeuten gab´s zwar damals auch schon, aber keine in unmittelbarer Nähe. Mein Vater therapierte seine Kinder selbst. Nachdem feststand, dass ich geistig normal war, wurden mir die körperlichen Defizite kurzerhand abgesprochen. So übte er mit mir das freihändige Treppenlaufen. Treppe rauf und runter, OHNE festhalten am Geländer. Wenn ich hinfiel, gab´s einen Anschnauzer und einen Tritt in den Allerwertesten. Nach dem Tritt konnte ich fehlerfrei die Treppe runterlaufen und der "Herr" war´s zufrieden. Die gleiche Schocktherapie gab´s beim Schwimmenlernen. Nachdem er sich eine ganze Zeit mit meiner Wasserscheu herumgeschlagen hatte, schmiss er mich kurzerhand ins Becken. Nach diesem Schock lernte ich in Rekordzeit Schwimmen.

Diese Sachen habe ich ihm später verziehen, weil es eine gute Vorbereitung war auf weitere Härten, die später kommen sollten und die ich sonst wohl nicht gepackt hätte.

Hitler´s Erben. - Teil 3


The Swinging Sixties.

Zu den schon vorhandenen drei Kindern gesellten sich Anfang der 60er Jahre noch zwei weitere Geschwister; ein Mädchen mit vermutlichem Down-Syndrom, (vermutlich deshalb, weil ärztliche Untersuchungen umgangen wurden. Meine jüngere Schwester hatte allerdings bis ins junge Erwachsenenalter die typischen Lidfalten. Als ich sie nach 20-jähriger Abwesenheitspause wiedersah, hatte sie die Lidfalten nicht mehr.) Auch sie hatte ihr Leben lang Probleme mit der Motorik und besuchte nach einem normalen Kindergarten die Schule für Lernbehinderte in Neuwied-Engers, die sie mit einem Hauptschulabschluss verließ. Nach der Schule besorgte mein Vater ihr eine Stelle bei Birkenstock in der Schuhproduktion, wo sie auch noch heute arbeitet; zu normalen Bedingungen und normalem Lohn.

Im Jahr 1964 wurde mein jüngster Bruder geboren. Meine Mutter, die ebenfalls ihr Leben lang unter motorischen Problemen gelitten hatte und kaum noch laufen konnte, war damals schon fast 42 Jahre alt. Der Junge war gesund und munter. Erst nach seiner Einschulung und im Zusammenhang mit ungenügenden Leistungen entdeckte mein Vater durch Zufall, dass der Junge sehr schlecht sehen konnte und ging mit ihm zum Augenarzt. Der verpasste Schulstoff ließ sich allerdings nicht mehr aufholen und so musste er ebenfalls nach Neuwied-Engers in die Schule für Lernbehinderte überwechseln. Nach seinem regulären Schulabschluss lief es für ihn normal weiter; mit einer Lehre als Klempner und einer Anstellung bei der Basalt AG.

Ich selbst war 1964 zur Realschule übergewechselt; ein Umstand, den ich sehr guten Leistungen in der Grundschule, sowie meiner Klassenlehrerin verdankte, die sich für mich einsetzte.

Die guten Leistungen setzten sich in der 5. und 6. Klasse fort. Ab der 7. Klasse gab es drei Faktoren, die mir das Leben schwer machten:

1) Ich kam in die Pubertät.
2) Im Mathe-Unterricht nahmen wir Geometrie durch.
3) Von Jungen der Parallelklasse wurde ich zunehmend gemobbt.

In Sport hätte ich ein "Mangelhaft" verdient, aber meine Sportlehrerin gab mir stillschweigend ein "Ausreichend" , damit ich nicht wegen meiner mangelhaften Matheleistungen von der Schule flog.

Weiter im Text.....

Während ich mit Problemen an meiner Schule kämpfte, bekamen meine Eltern massiven Druck von Ärzten, Gesundheitsamt und Schulen ihrer Kinder zu spüren. Nur eins (das älteste) von insgesamt fünf Kindern war beschwerdefrei. Dauernd war mein Vater mit irgendeinem Kind in einer Arztpraxis oder einer Gesundheitsbehörde anzutreffen, auch wenn er sich gegen diese Art der Bevormundung mit Händen und Füßen wehrte. Der Einfachheit halber wurden Kind Nummer 2 und Kind Nummer 3 je als eine Einheit zusammengefasst und ärztlichen Untersuchungen zugeführt und Kinder Nummer 4 und 5 ebenfalls.

Eine typische Untersuchung beim Arzt lief in den 60er Jahren folgendermaßen ab:

Der Arzt rief mich ins Untersuchungszimmer. Mein Vater und mein Bruder warteten draußen.

Der Arzt: "Na, dann wollen wir mal schauen, was dir fehlt."

Es folgten eine Ganzkörperuntersuchung, sowie verschiedenen Tests zu Beweglichkeit, Reizweiterleitung, etc.

Dann folgte eine abfällige Bemerkung des Arztes in etwa so: " Was bist du für ein schlaffes Gemüse!" , worauf ich in der Regel in Tränen ausbrach. Daraufhin folgte ein Anschnauzer des Arztes; ich solle mich zusammenreißen, gefolgt mit irgendeinem Rezept mit irgendeiner Medizin, die ich nehmen sollte. Da ich nach der abfälligen Bemerkung und dem Zusammenschiss dem Arzt nicht mehr traute, nahm ich das Rezept, ging damit auf´s Klo und spülte es die Kanalisation runter.

Do good; have good!

Mein Bruder nahm sich die abfälligen Bemerkungen der Ärzte noch mehr zu Herzen als ich. Er begann, sich bei anstehenden Untersuchungen regelrecht in eine Hysterie zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christine Singh
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2012
ISBN: 978-3-7309-0475-6

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