SEITE 10 im TASCHENBUCH bis SEITE 28
„Was ist hier draußen los?“, schrie er in die eisige Kälte hinaus. Joey gefror das Blut in den Adern, als er sah, dass der Mann tatsächlich ein Gewehr in seinen Händen hielt, dessen Lauf genau auf ihn zeigte.
John war durch den Krach der spielenden Eichhörnchen aufmerksam geworden und wollte nach dem Rechten gucken. Nun staunte er nicht schlecht, als er einen vor Schreck in den Schnee gefallenen, dunkelhäutigen Jungen vor der Veranda liegen sah.
Seit wann gibt es hier Kinder? Er mochte keine Kinder! Er mochte niemanden! Joey robbte rückwärts durch den Schnee. Nur weg hier! Doch bevor er aufstehen konnte, packte ihn hart eine Hand am Kragen seiner Jacke. Der Schnee unter Joey verfärbte sich gelb, die Angst lähmte ihn fast, als der alte Mann ihn nun schimpfend aus dem Schnee zog und ihn wütend anschrie: „Was willst du Hosenpisser hier?“ Auch noch schwarzes Pack in der Nachbarschaft!
„Na, dir werde ich es zeigen, Bürschchen! ....“ Joey sagte kein Wort vor lauter Angst und sah diesen unfreundlichen Menschen nur voller Entsetzen an. Plötzlich jedoch zerriss der Knall eines Schusses diese Stille. Macht es gut Weihnachtsgeschenke, ich bin jetzt tot, war das Letzte, das Joey dachte, bevor er sein Bewusstsein verlor….
„Heyyyy, aufwachen!“ Irgendetwas schüttelte Joey und zaghaft öffnete er seine Augen. Komisch, dachte er, der liebe Gott sieht ja aus wie der alte Griesgram. Und warum ist es im Himmel so kalt? „Steh auf Junge und verschwinde von meinem Grundstück!“ Joey erschrak, als er die gut bekannte Stimme hörte. Das war nicht der liebe Gott! Ich bin gar nicht tot! Joey kam langsam zu sich und sogleich kroch die Angst wieder in seinen ausgekühlten Körper. Über ihm stand John Darcy mit wütendem Gesicht und schoss abermals in die Luft.
„Wird es bald? Manchmal ziele ich auch daneben, also verschwinde!“ Noch bevor Joey reagieren konnte, sah er, wie John hart umgerissen wurde.
„Was soll das? Haben Sie alle Geister verloren, ein kleines Kind mit einer Waffe zu bedrohen?“ Joey, mein Liebling, was hat er dir angetan?“ Sandy, Joeys Mutter, beugte sich über ihren zitternden Jungen. Sie hatte den Schuss gehört und war gleich nach draußen gerannt. Wütend schaute sie zu John, während sie Joey half aufzustehen.
„Schämen Sie sich, einem Kind solche Angst zu machen!“ John schaute die aufgebrachte Frau Mitte dreißig grimmig an. Hübsch sah sie aus mit ihren lockigen, langen, dunklen Haaren, den großen schwarzen Augen und dem wohl geschwungenen Mund. Trotz der Wut in ihr sah sie irgendwie gütig aus, dachte John, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Ihm egal, wie sie aussah.
„Er hat nichts auf meinem Grundstück zu suchen“, fauchte er die erboste Frau nun an. „Und Sie auch nicht!“
„Auf so eine Gesellschaft kann ich auch liebend gerne verzichten!“, schrie Sandy zurück und spuckte dabei verächtlich vor Johns Füße. Dann nahm sie Joey an die Hand und verließ schnellen Schrittes den Ort des Geschehens. Nur weg von hier, dachte sie, solche Nachbarn wünscht man niemanden.
„Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nur vor dem Haus spielen?“, fragte Sandy, während sie mit einem Handtuch Joeys nassen Haarschopf trocken rubbelte. Ein Bad war heute dringend notwendig gewesen.
„Was wolltest du eigentlich bei dem alten Mann?“, fragte sie Joey nun. Wohlig räkelte sich dieser in dem angewärmten Handtuch, das seine Mutter ihm nach dem Baden umgeschlungen hatte. Er schaute nach oben zu seiner Mutter und meinte mit leiser Stimme: „Ich wollte die Eichhörnchen füttern.“ Stockend erzählte er Sandy die ganze Geschichte. „Ich hatte echt nichts Böses im Sinn, Mom, er ist einfach ausgerastet.“ Sandy reichte Joey seinen Schlafanzug. „Versuche ihm einfach aus dem Weg zu gehen. Alte Menschen sind manchmal sonderbar. Ich möchte nicht, dass dir was passiert. Ich wüsste nicht, was wäre, würde ich dich auch noch verlieren. Nun aber rasch etwas Warmes essen und dann ab ins Bett. Morgen früh müssen wir in die Stadt, Vorräte besorgen.“
Nachdem Joey im Bett war, zog Sandy einen Roman von Stephen King aus dem gut bestückten Bücherregal und kuschelte sich auf den alten Schaukelstuhl vor dem Kamin. Doch irgendwie konnte sie sich heute nicht konzentrieren, und als sie merkte, dass sie dieselbe Zeile nun schon das vierte Mal las, legte sie seufzend das Buch zur Seite. Der heutige Tag und seine Ereignisse gingen ihr nicht aus dem Kopf.
Nach Brians Tod vor zwei Jahren war der Junge alles, was sie noch hatte. Es hätte sonst was passieren können mit dem Gewehr! Sie wollte es sich gar nicht ausmalen. Was hatte dieser Alte sich nur dabei gedacht?! Abermals kroch die Wut in ihr hoch. Ja sicher, sie wusste, hier in den Wäldern von North Carolina gibt es wilde Tiere und Gewehre zu Hause sind nichts Ungewöhnliches. Ihr jedoch kommt so etwas erst gar nicht ins Haus! Auch wenn ihr Vermieter Mr Soew ihr dringend dazu geraten hatte. Und ein Kind damit zu erschrecken ist das Letzte! Sie schaute gähnend auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand und entschloss sich, nun doch auch zu Bett zu gehen. Das Lesen war ihr irgendwie vergangen.
Zur selben Zeit löffelte John hungrig seine Gemüsesuppe. Verdammt, dachte er, er bekam sie einfach nicht so hin, wie Jacky sie früher kochte. Er schüttelte sich, da es ihn plötzlich fröstelte und mit der Kälte erneut auch wieder die Einsamkeit in ihn einzog.
„Da habe ich doch wohl vergessen, neue Holzscheite aufzulegen“, meinte John nun zu sich selber, legte den Löffel beiseite, ging zum Kamin und griff nach einem der Holzscheite, die er fein säuberlich daneben gestapelt hatte. In letzter Zeit sprach John immer öfter mit sich selber, doch das merkte er gar nicht mehr.
Er dachte an seine neuen Nachbarn. Was wollten diese Leute hier in dieser Einöde? Schwarze! Sicher aus South Carolina. Na, der Vater des Jungen sollte bloß nicht versuchen sich mit ihm befreunden zu wollen! Er will seine Ruhe! Und von Farbigen sowieso. Bringen nur Ärger. Dass Johns Gedanken voller Vorurteile waren, wurde ihm mit seinem eingefrorenen Herzen erst gar nicht bewusst.
Als Sandy und Joey am nächsten Tag im Auto auf den Weg in die Stadt saßen, fing er wieder an, über den gestrigen Tag nachzudenken.
„Er kann nicht wirklich böse sein, Mom“, sagte er und wandte sich nun Sandy zu, die sich auf die verschneite Straße konzentrierte.
„Wen meinst du, Joey?“, fragte sie, mit den Gedanken bei ihrem bevorstehenden Einkauf.
„Na der Alte, Mom.“ Joey schaltete das Radio leise, aus dem, was sonst um diese Zeit, Last Christmas herausschallte. Sandy schaute Joey kurz verwundert an, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte.
„Wie kommst du darauf? Was ist ein Mann, der kleine Kinder bedroht, denn sonst?“ Joey schaute gedankenverloren vor sich hin.
„Die Eichhörnchen, Mom, du hättest sehen sollen, wie liebevoll er sie gefüttert hat. Und dann hat er irgendwie total traurig in den Himmel geschaut. So, als suche er dort etwas.“
„Hm.“ Sandy nahm sich vor, sich in dem Krämerladen der winzigen Stadt nach dem alten Mann zu erkundigen. Hier kannte sicher jeder jeden und zu einem kleinen abwechslungsreichen Schwätzchen ist die Krämerin sicher auch gerne bereit.
Nach einer Viertelstunde hatten sie Swake Valley erreicht. In der idyllischen kleinen Stadt mitten im tiefsten Norden North Carolinas herrschte emsiges Treiben. Bald war Weihnachten und es gab einiges zu tun. James Eyrin, der schlaksige, schon ins Alter gekommene Bäcker der Stadt, balancierte eine gefährlich wackelnde Leiter und schmückte den übergroßen Donut über seiner Tür mit einer bunten Lichterkette. Fröhlich winkte er Sandy und Joey zu, als diese nun aus ihrem alten Range Rover stiegen, den sie gegenüber vor dem Krämerladen parkten. Sandy winkte zurück. „Passen Sie auf Mister, dass Sie nicht von der Leiter fallen, die wackelt nämlich verdächtig.“
„Wird schon schiefgehen“, lachte James zurück und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Sandy schaute sich um. Was sie sah, gefiel ihr. Sie hasste den Trubel der Großstadt und bereute keine Minute, sich dazu entschieden zu haben, in Brians Heimat umzuziehen. Bäcker, Friseur, eine Wäscherei, ein Metzger, der Krämerladen, ein Café, ein Gasthaus, eine Tankstelle und eine Apotheke waren zu sehen und alles war schon wunderschön geschmückt.
Auch eine Kirche gab es. Sandy sah deren Kirchenspitze hinter dem Café hervorlugen. Der Geist der Weihnacht lebte in diesem Städtchen und war ansteckend.
Als sie nun die Tür zum Krämerladen aufschob, spielte eine über der Tür angebrachte Glocke in leisen Tönen Jingle Bells. Martha Evans, die Krämers-Frau, schaute von ihrer Zeitschrift hoch, die sie gerade las, legte ihre Hände auf den Tresen und beugte sich lächelnd zu ihrer Kundin vor. Ihr voller Mund lächelte breit wie der Mississippi und auf der frechen Stupsnase, saßen viele kleine Sommersprossen. Die großen rehbraunen Augen strahlten Güte aus, als sie nun Sandy ihre mit Altersflecken übersäte Hand reichte.
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte sie mit scheppernder, tiefer Stimme. „Sie müssen die neuen Bewohner von dem Haus unten am Fluss sein. Na, ob das dem alten Darcy passen wird? Lassen Sie sich von dem Griesgram bloß nicht einschüchtern.“ Sie ging nun um den Tresen rum, strich Joey über den Kopf und reichte ihm eine rotweiße Zuckerstange.
„Na, nun nimm schon Junge, lass es dir schmecken.“ Joey bedankte sich artig und schaute sich neugierig im Laden um. Da standen Kabel neben Dosenbohnen und Corned Beef neben Toilettenpapier. Hier gab es so ziemlich alles. Und vor allem jede Menge Weihnachts-Dekoration. Sandy drückte Marthas Hand.
„Ja das sind wir. Clark mein Name. Sandy Clark. Sie können mich aber gerne Sandy nennen. Darcy heißt er also. Ja, mit dem haben wir schon Bekanntschaft gemacht. Ein komischer Kerl.“ Sandy war froh, dass diese Frau von alleine das Thema auf den Alten gebracht hatte. Die Krämerin winkte ab.
„Ach, er war nicht immer so. So griesgrämig wurde er erst, nachdem seine Frau gestorben war. Er hatte sie bis zu ihrem Tod gepflegt. Danach wurde er zum Eigenbrötler, kam nicht mehr zur Kirche und nahm auch an keiner weihnachtlichen Veranstaltung mehr teil.“ Sie schüttelte nochmal Sandys Hand.
„Nennen Sie mich ruhig Old Martha“, meinte sie. „So nennt mich hier jeder. Irgendwann haben wir es aufgegeben, John einzuladen, zwingen kann man niemanden“, meinte sie und zuckte ihre breiten Schultern. Dann ging sie wieder hinter den Verkaufstresen und Sandy gab ihre Bestellung auf. Martha packte alles in eine Kiste und legte noch ein paar Zuckerstangen sowie einen Honigkuchen obendrauf. „Kleines Willkommensgeschenk“, lächelte sie gutmütig. „Danke, das ist lieb“, antwortete Sandy und öffnete ihre Geldbörse, um zu bezahlen. Nur gut, dass hier nicht alle Menschen so ablehnend waren wie Darcy, dachte sie, als sie bezahlt hatte und zur Kiste griff.
„Kommst du, Joey?“ Joey löste sich von den Spielsachen, die zur Deko unter einem Weihnachtsbaum lagen und lief schnell zur Mutter. Doch bevor sie die Tür öffnen konnten, wurde diese mit einem Ruck aufgerissen und Sandy schaute entsetzt in das wütende Gesicht von Darcy, gegen den sie nun stolpernd fiel, während ihr Einkauf hart auf Darcys Füße knallte. Joey schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Das konnte ja heiter werden!
„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, schnauzte sie nun grimmig die nur zu gut bekannte Stimme an. Keinen Moment dachte John daran, dass ja eigentlich er die Tür viel zu stürmisch aufgerissen hatte. Sandy entschuldigte sich murmelnd, bückte sich und legte den Einkauf zurück in die Kiste. Martha kam um den Tresen herum und half ihr dabei. Was für ein unfreundlicher Mensch, dachte Sandy wütend. Dass dieser Mann einmal nett gewesen sein sollte, war wirklich schwer vorstellbar.
„Steh mir nicht im Weg rum, Junge!“, ging er nun auch Joey an und schaute verächtlich zu ihm herunter, grade so, als hätte er die Pest. Joey, verlegen an seiner Zuckerstange lutschend, trat schnell einen Schritt zurück. Die auf dem Boden in der Hocke sitzende Martha legte die letzte Dose in den Karton und schaute zu John hinauf.
„Sind wir aber wieder nett heute. Schämst du dich nicht, du alter Griesgram?“ Martha, die eng mit Jacky befreundet war, als diese noch lebte, konnte John nicht einschüchtern, dazu kannte sie ihn viel zu gut. Der konnte keiner Fliege was zu leide tun.
„Begrüßt man so neue Einwohner der Stadt?“ Der Angesprochene brummelte darauf nur etwas Unverständliches vor sich hin.
„Lassen Sie nur“, meinte Sandy nun. „Wir werden es überleben.“ Sie wollte einfach nur raus hier, weg hier aus dieser Atmosphäre, die nun nichts Weihnachtliches mehr an sich hatte. Martha legte Sandy die Hand auf die Schulter. „Nehmen Sie ihn nicht zu ernst, Sandy, er hat einfach eine Mauer um sich gebaut und lässt seine ganze Bitterkeit an anderen ab.“
Sandy schnappte sich den Karton und lächelte Martha an. „Schon gut, Martha, zum Glück gibt es hier ja auch Menschen wie Sie. So, nun müssen wir aber. Kommst du, Joey?“
Sandy schob die Tür mit den Schultern auf, noch bevor Joey sie öffnen konnte, und trat rasch hinaus. Tief zog sie die frische Luft ein. Und stieß sie mit einem tiefen Seufzer wieder aus. Willkommen in Swake Valley, dachte sie sarkastisch, als sie nun den Karton im Kofferraum verstaute.
Sie schloss gerade das Auto auf, als sie plötzlich Martha auf sie zurennen sah, winkend einen Zettel in der Hand schwingen „Warten Sie, Sandy“, rief sie. „Lesen Sie das bitte noch durch. Unser jährlicher Backwettbewerb zu Weihnachten.“ Sie reichte Sandy lächelnd den bunten Zettel.
„Sie machen doch mit?“, fragte sie. „Wir feiern das Aufstellen des Weihnachtsbaumes nach Thanksgiving in der Gemeinde immer mit diesem Wettbewerb und das ist eine gute Gelegenheit, Sie der Gemeinde vorzustellen.“
Sandy nahm den Zettel und lächelte zurück. „Ich werde es mir überlegen Martha, wir sehen uns vorher sicher noch mal. Nächsten Freitag komme ich wieder vorbei.“
„Schön Sandy, dann bis bald.“ Martha schlug die Autotür zu, nachdem Sandy eingestiegen war und winkte dem Range Rover lächelnd hinterher. Sie hatte sich vorgenommen, sich Sandys und ihres Jungen ein wenig anzunehmen. Konnte nicht verkehrt sein, bei einem Nachbarn wie dem alten Darcy.
Langsam fuhren sie auf den schneebedeckten Straßen zurück nach Hause. Nach Hause, dachte Sandy nun und stellte den Scheibenwischer an, da es anfing zu schneien. Werden wir uns hier jemals zu Hause fühlen können?
Sie hatten gerade den halben Weg zurückgelegt, als das Auto plötzlich zu stottern anfing und der Motor ausging. Sandy schaffte es gerade noch, den Range Rover an die Seite zu lenken. Wütend schlug sie die Hand auf das Lenkrad, als sie sah, dass nun die Benzinanzeige blinkte. Mist! Vor lauter Darcy hatte sie vergessen zu tanken! Nun standen sie hier in der Einöde mit leeren Tank. Auch der Ersatzkanister war leer.
„Ich könnte ihn erwürgen!“, fluchte sie nun ratlos vor sich hin. Was sollte sie nun tun? Hier fuhren am Tag vielleicht drei Autos vorbei. Bis dahin wären sie erfroren.
„Was ist los, Mom? Warum bleiben wir stehen?“, fragte nun auch Joey.
Sandy schaute ihn ratlos an. „Wir haben kein Benzin mehr, Joey.“
Joey schaute erschrocken zu ihr hin. „Und nun, Mom?“
„Lass mich kurz überlegen, Junge“, antwortete Sandy, nur um überhaupt etwas zu sagen. Sie wollte Joey keine Angst machen. Sie hatte zwar ihr Handy einstecken, wusste aber, dass es hier draußen keinen Empfang gab. Draußen stürmte und schneite es immer mehr. Joey, der den Zettel von Martha in den Händen hielt, schaute auf einmal freudig auf.
„Mom, schau doch nur, hier steht die Telefonnummer von dem Krämerladen drauf, da können wir um Hilfe rufen.“ Sandy strich Joey liebevoll über den Lockenkopf.
„Wir haben hier draußen keinen Empfang, Kind“, musste sie ihn enttäuschen. Sechs Kilometer zurück in die Stadt zu laufen, wäre bei diesem Wetter auch viel zu gefährlich. Sie schaute Joey an. „Bleibt uns nichts anderes übrig als zu hoffen, dass bald jemand vorbeikommt“, meinte sie seufzend.
„Na, was glaubst du wohl, wer der Nächste sein wird, der hier vorbeifahren wird, Mom?“, erwiderte Joey und rollte dabei die Augen. Sandy schaute ihn verständnislos an, dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Darcy! Natürlich, er war ja in der Stadt und hatte den gleichen Rückweg wie sie.
„Bitte, lass es nicht Darcy sein…“, schickte Sandy ein laut ausgesprochenes Stoßgebet gen Himmel. Und wusste im selben Moment, dass die Möglichkeit, dass es nicht er sein wird, gleich null war. Außer es geschah ein Wunder und ihr Gebet wurde erhört. Sie saßen nun schon eine halbe Stunde im Auto und konnten nichts anderes tun, als zu warten. Schneeflocken bedeckten langsam die Sicht durch die Windschutzscheibe und Sandy stellte die Scheibenwischer an. „Mom, kann ich den Honigkuchen aufmachen?“, fragte Joey nun und legte seinen Game Boy beiseite, den er Gott sei Dank mitgenommen hatte. „Ich bin hungrig.“
„Klar, Joey, nimm nur, Limonade ist ja auch da, falls du Durst hast“, lächelte sie dem Jungen zu. „Der Kofferraum ist offen.“
„Ok, Mom.“ Joey stieg aus, stapfte durch den Schnee um das Auto herum und öffnete zitternd den Kofferraum. Brrrr, war das kalt! Er merkte nun auch, dass die Blase drückte und wollte lieber schnell erst mal hinter einem Baum verschwinden. Er klopfte an Sandys Fenster, welches sie darauf herunterließ.
„Ja, Joey?“ Joey tänzelte auf zwei Beinen, es war jetzt höchste Eisenbahn.
„Ich verschwinde mal schnell Pipi machen, Mom“, rief er ihr zu und rannte auch schon im selben Moment los. Sandy war gar nicht wohl dabei, Joey im Wald verschwinden zu sehen. Die Appalachen waren nicht ungefährlich.
„Pass auf, Joey, und komm gleich wieder zurück, hörst du?“, rief sie ihm laut hinterher. Joey drehte sich nicht um, hob aber den Arm und winkte, um zu verstehen zu geben, dass er gehört hatte. Sandy war unsicher. Sollte sie ihm nachgehen? Hier ist keine Menschenseele, er hätte ja auch an den Straßenrand machen können.
Ein plötzliches Ruckeln unterbrach ihre Gedanken. Das Auto schaukelte! Was war das? Das Blut gefror ihr in den Adern und ließ sie fast ohnmächtig werden, als sie sich erschrocken umdrehte und sah, was da ihr Auto zum Wackeln brachte. Das, was dort laut brummend den Kofferraum durchwühlte, war das Schlimmste, was einem Menschen in dieser Gegend unbewaffnet passieren konnte. Das, was sich gierig durch ihre Lebensmittel wühlte, war ein ausgewachsener Bär! Zwar nicht sehr riesig, aber ein Bär! Und diese konnten sehr gefährlich werden! Joey! Wie sollte sie ihn warnen, ohne sich selber in Gefahr zu bringen? Sie wusste zwar, dass es hier Bären gibt, aber sie hätte nie gedacht, einen so nah der Straße vorzufinden. Und überhaupt, hielten Bären nicht Winterschlaf? All das ging ihr innerhalb von Sekunden durch den Kopf. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie den Spiegel so drehte, dass sie den Bären im Blick hatte.
Joey müsste längst wieder zu sehen sein! Wo bleibt der denn? Sandy traten nun die Tränen in die Augen. Wo ist mein Kind? Ich muss was tun. Sie schaute nach dem Bären. Alles, was sie sah, war braunes, stumpfes Fell, er musste mit dem ganzen Kopf im Kofferraum sein. Vielleicht, dachte sie, wenn ich mich ganz langsam hinausschleiche, hört er mich nicht. Dann hätten sie zumindest noch die Möglichkeit zu versuchen auf einen Baum zu klettern, bis das Tier außer Reichweite war. Sandy verfluchte nun, den Rat ihres Vermieters nicht angenommen und sich ein Gewehr beschafft zu haben. Die Angst vor dem Tier und gleichzeitig die Sorge um ihr Kind schossen ihr Insulin auf Höchstmaß.
Sie musste es tun, dachte sie, als immer noch keine Spur von Joey zu sehen war. Sie musste allen Mut zusammennehmen und dort hinaus, so lange das Tier noch den Kopf im Kofferraum hatte. Mit klopfendem Herzen und ganz langsam öffnete Sandy die Fahrertür. Langsam setzte sie einen Fuß in den Schnee, zog den anderen nach und erschrak kurz, als das Tier einen brummigen Laut von sich gab. Dann hörte sie nur noch ein lautes Schmatzen. Sie lehnte leise die Tür an, stark darauf bedacht, dass sie nicht einschnappte und den Bären auf sie aufmerksam machte, immer den Blick Richtung Kofferraum. Das Tier war immer noch halb im Kofferraum und sie bewegte sich langsam zur anderen Straßenseite, dort, wo Joey hinter den Bäumen verschwunden war.
Trotz aller Vorsicht konnte Sandy jedoch nichts gegen das Geräusch tun, das der Schnee unter ihren Schritten machte. Dennoch ging sie zaghaft Schritt für Schritt weiter. Trotz der Kälte und des eisigen Windes lief Sandy der Angstschweiß aus sämtlichen Poren. Sie musste immer wieder die Augen zukneifen, hart trieb ihr der Wind die eisigen Schneeflocken ins Gesicht. Immer noch keine Spur von Joey. Das gibt es doch gar nicht! Die Angst um ihr Kind ließ sie alle Vorsicht vergessen.
„Jooooey“, rief sie nun laut in den Wald hinein, die Angst lähmte sie fast, die Kälte dazu ließ ihr fast die Sinne schwinden. Sie war verzweifelt, wie eine Mutter nur verzweifelt sein konnte, wenn ihr Kind in Gefahr war.
Plötzlich hörte sie eine männliche Stimme, die sie kurz zusammenfahren ließ! „M’am, bewegen Sie sich jetzt bloß nicht, bleiben Sie ganz still stehen.“
Buch unter der ISBN 9783740749880 weltweit erhältlich
Texte: Christine Bouzrou
Cover: Christine Bouzrou ( ChrissyDesign )
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2017
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