Unter dem weiten Pferdehimmel
Gebändigte Wildnis und zügellose Freiheit. Ein Garten Eden mit Schattenseiten. Im Süden Spaniens, unweit von Sevilla, speisen die mächtigen Fluten des Guadalquivir, ein riesiges Feuchtgebiet den Coto de Doñana Nationalpark.
Es ist Anfang Februar, der alte Leithengst streift in der Kühle des Morgens durch die überfluteten Marschen. Ihm steht ein harter Sommer bevor. Noch ahnt er nicht, dass ein Rivale ihm seinen Platz in der Herde streitig machen wird.
Es ist Frühling im andalusischen Nationalpark. Eine Landschaft geschaffen aus den Fluten des Himmels und der Erde. Der alte Leithengst streift schon seit fast zwanzig Jahren durch die Weiten der Doñana. Er ist müde und verurteilt zu einem trostlosen Dasein. Wie lange noch wird er die Herde anführen? Sein Rivale mit der hellbraunen Blesse dagegen ist jung. Noch ist seine Chance nicht gekommen.
Es ist Pfingsten und der kleine Weiler El Rocio erwacht zum Leben. Während die größte Fiesta in El Rocio gefeiert wird, liegt bei den halb wilden Pferden etwas in der Luft.
Für den Hellbraunen mit der Blesse ist die Zeit gekommen die Herde zu übernehmen. Der Leithengst zupfte an seinen Grasbüscheln, ohne die Gestalt aus dem Blick zu lassen. Jetzt war er auf eine Pferdelänge herangekommen. Der Alte beobachtet aus den Augenwinkeln, wie der Junge sich nähert. Nicht, das er sich fürchtete, aber es war besser, den Tollkühnen im Auge zu behalten.
Schon mehrfach hat er sich mit dem Leithengst angelegt. Der junge Wilde zauderte, scharrte, warf einen prüfenden Blick zu den Stuten, dann konzentrierte er sich wieder auf den Rivalen. Der Leithengst schnaubte, scheute halbherzig mit kaum erhobenen Vorderläufen, aber seine Augen waren beständig auf ihn gerichtet, der nicht einen Millimeter Boden preisgab. Dann stand er still, am ganzen Leibe zitternd vor Spannung und doch fühlte er nicht den Wunsch zu kämpfen, sondern vielmehr eine gewisse Vertrautheit. Seine großen dunklen Augen ruhten fragend und verwundert auf diesem unbegreiflichen Geschöpf. Sie waren vom gleichen Stamm.
Doch dieses Mal weicht der Braune nicht zurück. Mutig und selbstsicher gibt er dem Alten zu verstehen, das er ab jetzt die Führung übernehmen wird.
Der Leithengst wurde sich einer gewaltigen Präsenz in einer unmittelbaren Nähe bewusst, und gleich darauf, noch bevor er sich umwenden konnte, spürte er eine blitzartige Bewegung, als der junge Rivale mit dem Kopf nach seinem schlug. Der Junge steilte voller Zorn und Übermütigkeit, sein Leib eine gewaltige Masse unmittelbar über den Alten, der dessen hitzige Wärme fühlte und gegen den strahlenden Himmel den Wirbel der Vorderbeine hoch über sich sah. Was für eine entwürdigende Prozedur! Und alles nur aus Angst vor einem freien, starken Geschöpf. Dem Nachfolger. Wie entwürdigend für einen stolzen Charakter wie den alten Leithengst! Die Tage des Patriarchen sind gezählt.
Als der Leithengst nachgab, schnaubte der Junge verwirrt und stand still. Er wartete ab, zu verblüfft für den Moment. So etwas war ihm noch nie geschehen.
Der Alte fühlte die Strömungen zwischen dem jungen Hengst und sich. Sie waren zwei vom gleichen Stamm. Er wusste, was in dem Jungen in diesen Augenblicken vorging; wusste um das stumme Aufbegehren, das sich nur in dem leisen Flattern seiner starken Flanken zeigte.
Nichts scheint den Frieden im Garten Eden stören zu können. Doch der Schein trügt.
Ende Juni kommen für einen einzigen Tag Reiter in den Nationalpark. Eine Hundertschaft von Pferdehirten, die sich aufmacht ihre Ernte einzubringen. Die Männer versammeln sich und übernachten bei der Herde. Ein einzigartiges Spektakel steht bevor. Es beginnt, sobald die Morgensonne erscheint.
Mit langen Holzstangen bewaffnet, treiben die Vaqueros über tausend Pferde zusammen. Fast alle Herden mussten den Nationalpark verlassen. Der alte Leithengst blieb verschont. Reiter und Pferde stürmen in Richtung El Rocio. Vor dem großen Platz vor der Kirche legt der Track eine Pause ein. Es ist ein Gedränge aus dampfenden Pferdeleibern. So manches Fohlen verliert in dem Gedränge ihre Mutter. Dann geht es weiter in die achtzehn Kilometer entfernte Stadt Almonte. Dort findet der jährliche Pferdemarkt statt. Die Tiere, die bisher ein freies Leben führten, finden sich nun zusammengedrängt in engen Gattern wieder. Wer nicht verkauft wird kommt zurück in den Nationalpark. Doch für die meisten Fohlen ist das Leben im Sumpf endgültig vorbei. Auf sie warten Box und Reithalle in einem andalusischen Gestüt. Den alten Hengst haben die Pferdehirten erst gar nicht aus dem Park getrieben. Krank und abgezerrt durchwandert er sein ehemaliges Reich. Hitze und Trockenheit haben auch die Wasserpfützen von El Rocio verschwinden lassen.
Überall fordert die Hitze ihren Tribut. Für den alten Hengst hat die letzte Stunde geschlagen. Im Frühjahr wurde er aus seiner Herde verstoßen. Nun kämpft er schon seit Tagen mit dem Tod. Niemand aus der Herde schenkt ihm weiterhin Beachtung. Er bricht zusammen; sein Körper ausgemergelt. Der alte Hengst kann nicht mehr. Eins der Pferde scheint ihm aufhelfen zu wollen. Die Stute kommt immer näher. Sie versucht ihm mit dem Maul am Ohr hochziehen zu wollen. Noch einmal nimmt er all seine Kräfte zusammen. Ein letztes Mal trottet er durch die trockene Sumpfwiese, vorbei an einer Stute mit ihrem Fohlen, das vielleicht sein Eigenes ist. Seine Müdigkeit schien in das das Pferd einzusinken. Er senkt immer häufiger den Kopf, schläfrig nickend. Seine Beine beugen sich schließlich. Er bricht zusammen und er lässt sich langsam zu Boden sinken. Als er sich auf die Seite legt, schließt er halb die Augen. Dann hat sein Leiden ein Ende.
Über den Marschen liegt ein Dunstschleier, vibrierend, als ob die Luft zittert. In der flirrenden Hitze sieht die Landschaft unwirklich aus, fast wie ein Gemälde.
Die Coto de Doñana ein Paradies auf Zeit. Das Wechselspiel von Werden und Vergehen, von Sieg und Niederlage wiederholt sich erneut.
Texte: Christine Lawens
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2012
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