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Christine Lawens


Der gebrochene Zweig


Roman


Kapitel 1


»Verzeihen Sie«, sagte eine raue Männerstimme.
Sheila spürte, wie jemand ihren Arm berührte.
Sie wandte sich um.
»Sind Sie nicht die Ehefrau von Elias Belfort, dem Fußballspie-ler?«
Nach all den Jahren konnte sie sich noch immer nicht daran ge-wöhnen in der Öffentlichkeit angesprochen zu werden. Nun auch noch vor ihrem Haus in der Cork Street. Sie schaute in den Vorgar-ten, der in voller Farbenpracht stand.
»Hier also wohnt er. England Nationalspieler Nummer eins.«
Eine endlose Sekunde verstrich, und endlich regte sich ihre pro-fessionelle Rechtsanwältin in ihr. Ohne sich den Groll, der in ihrem Inneren tobte, anmerken zu lassen, lächelte sie den wildfremden Mann an.
»Nein, da müssen sie sich irren. Weder bin ich seine Ehefrau, noch wohnt er hier. Soviel mir bekannt ist, wohnt er in Notting Hill.« Ihr kühler Blick verunsicherte ihn. Sichtlich verlegen antwor-tete er: »Nun ja, London ist manchmal wie ein Dorf, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Sie schon irgendwo einmal gesehen habe.«
»Sie erwähnten es bereits. London ist manchmal ein Dorf. Ich werde sehr oft verwechselt.« Bevor er antworten konnte, verab-schiedete sie ihn mit einem knappen Lächeln. Es war ein herrlicher Augustnachmittag. Das schöne Wetter hatte den Regen beinahe über Nacht zu einer fernen Erinnerung werden lassen. Sheila war in guter Stimmung, und dieser kleine Zwischenfall war schnell verges-sen.
Sie schloss die Eingangstür hinter sich, die Klimaanlage ver-strömte eine angenehme Kühle. Sie ließ ihre Aktentasche auf einen Stuhl in der Diele fallen, und freute sich bereits auf einen gemütlichen Abend zu zweit. Elias war beim Training und würde erst später nach Hause kommen. Sie war allein in ihrem schönen geräumigen Heim, dass sie in ein echtes Kleinod verwandelt hatte. Sie hüpfte unter die Dusche und genoss, das warme Wasser, das den Seifenschaum von ihrem Körper spülte. Danach wickelte sie sich in ein großes Handtuch ein, bürstete kräftig ihr kastanienbraunes Haar, und hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Elias?, dachte sie.
Heute so früh. Sie lächelte vor sich hin. Nur mit einem weißen Spitzenhöschen und einem winzigen BH bekleidet kam sie ihm im Flur entgegen, um ihn zu begrüßen.
»Was ist los?« Sie sah ihn verwundert an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
Mit einem ernsten Ausdruck erwiderte er ihren Blick. Sie wun-derte sich. Kein Kuss, kein nettes Kompliment. Noch am Morgen hatten sie sich geliebt, und jetzt schien er für sie unerreichbar zu sein. Er drängte sich an Sheila vorbei, und ließ sich mit versteinerter Miene in einem der Sessel im Wohnzimmer nieder, in denen sie es sich gelegentlich mit einem Buch bequem machten. Wortlos deutete er auf den Platz gegenüber. »Setz dich bitte.«
»Fehlt dir etwas. Etwa wieder dein Knie?«, fragte Sheila ängst-lich. Sie sank auf die Sesselkante und wollte nach Elias Händen greifen, aber er zog sie über die Armlehnen zurück, schloss seine Lider, und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, lag ein solch tiefer Schmerz in seinem Blick, dass Sheila erschrak. So hatte er sie noch nie zuvor angesehen.
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll … und ob ich die richti-gen Worte finde …« Er kniff kurz die Augen zusammen.
»Ich kann dich nicht länger belügen, Sheila. Ich muss es dir sa-gen. Ich muss ausziehen.«
Elias konnte ihr nicht in die Augen schauen. Sheila saß wie ver-steinert da. In ihrem Kopf begannen Alarmglocken zu schrillen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Währenddessen wartete sie dar-auf, dass Elias fortfuhr. Das war kein Spiel. Hier ging es um alles.
»Es geschah während der drei Wochen, die ich im Trainingslager in der Türkei verbringen musste. Du erinnerst dich ...?«
Sheila konnte nur stumm nicken. Wie durch eine Nebelwand re-gistrierte sie den gequälten Ausdruck in Elias Gesicht.
Sie merkte, wie er nach ihrer Hand greifen wollte, sich diese Geste aber dann doch verkniff. »Ich will nicht lange darüber reden, wie, warum und wann. Tatsache ist: Ich habe mich verliebt. Ich wollte das nicht, und habe immer geglaubt, mir könnte so etwas nie passieren. Ich frage mich selbst, wie es dazu kommen konnte. In mir war so eine seltsame Leere … und sie hat eine rührende Ein-fachheit, ist unkompliziert, und einfühlsam. Wenn ich mit ihr zu-sammen war, hatte ich endlich wieder das Gefühl, lebendig zu sein. , und als ich hierher zurückkehrte, habe ich gemerkt, dass ich die Sache nicht beenden wollte. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, habe hin und her überlegt, und auch ein paar Mal probiert, mit ihr Schluss zu machen. Aber ich konnte es nicht … ich wollte es nicht! Ich möchte mit ihr zusammen sein. Ich empfinde noch etwas für dich, aber ich kann so nicht mehr leben, nicht zwischen zwei Frau-en. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, und ich kann nur ahnen, wie du dich jetzt fühlst.«
Sheila schlug die Hände vor den Mund. Sie hatte das Gefühl, er hätte ihr soeben das Herz aus der Brust gerissen, und vor die Füße geschleudert. Sie stürzte sich auf ihn, hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. Doch es fiel ihm nicht schwer, sich zu wehren, und er dreh-te ihr die Arme auf den Rücken und zwang sie zu Boden.
»Sheila, es tut mir so leid.«
»Leid?« Es war ein plötzlicher Aufschrei zwischen Tränen und Gelächter, als sie sich freikämpfte. »Du kommst hier rein, und er-zählst mir, dass du mich wegen einer anderen verlässt, und es tut dir leid? Verflucht sollst du sein, Elias Belfort … verflucht …«
Sie holte tief Luft und stieß ihn zurück. »Lass mich los, ver-dammt.« Sie sah ihn an, unsagbaren Schmerz in den Augen. Als er erkannte, dass sie ruhiger geworden war, ließ er ihre Arme los. Sie war immer noch atemlos von seinem Angriff, ging aber jetzt lang-sam zu dem Chippendalesessel, und setzte sich. Die dichten hell-braunen Haare hingen herab, während sie ihr Gesicht in den Händen vergrub.
Endlose Minuten lang saß Sheila still da. Unfähig zu glauben, was sie gerade gehört hatte, hob sie langsam den Kopf und starrte Elias an. An seinen Augen konnte sie ablesen, dass er es ernst mein-te. »Ich verstehe das nicht«, stieß sie schließlich hervor. Tränen liefen ihr über die Wangen. Das konnte doch nicht wahr sein! So etwas passiert nur anderen Leuten - deren Ehen gingen in die Brü-che, sie stritten sich die ganze Zeit und hatten einander nie so ge-liebt wie Elias und sie. Aber so sehr sie sich auch sträubte – die Wahrheit ließ sich nicht verleugnen. »Was ist denn bloß los mit dir? … Hast du Drogen genommen? … Warum tust du mir das an? … Warum willst du sie nicht aufgeben?« In diesem Moment dachte Sheila gar nicht daran, ihn zu fragen, wer sie war. Das tat auch nichts zur Sache. Nur ein Satz hallte in ihren Ohren wider: »Ich habe mich verliebt.«
»Sheila, das habe ich versucht«, sagte er und blickte sie eindring-lich an.
»Ich kann nicht mehr ohne sie leben. Ich kann es einfach nicht! Ich weiß, das ist rücksichtslos von mir. Aber ich werde die Bezie-hung zu ihr auf keinen Fall beenden. Du bist eine tolle Ehefrau und bist ein wunderbarer Mensch. Aber ich brauche noch etwas anderes … Mit ihr ist alles so aufregend, und ich freue mich wieder auf die Zukunft. Seit längerer Zeit hatte ich das Gefühl, das unsere Ehe in einer Sackgasse steckt.«
Seine Worte verletzten sie tief. »Eine Sackgasse?«
Sheilas Stimme klang plötzlich schrill, als bekäme sie gleich ei-nen hysterischen Anfall.
»Du sprichst nur von deinen Gefühlen. Und was ist mit meinen? Du hast mich betrogen, willst mich verlassen. Das kann alles nicht dein Ernst sein. Hast du den Verstand verloren? Wer ist diese Frau überhaupt?« Nun wollte Sheila doch wissen, wer ihre Gegnerin war. Wer die Frau war, die die Schlacht schon gewonnen hatte, während Sheila noch nicht einmal geahnt hatte, dass eine Schlacht im Gange war.
Elias fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Es ist Nathalie For-bes.«
»Deine Physiotherapeutin?« Sheila starrte an ihm vorbei ins Lee-re, und verstand noch weniger. »Ausgerechnet Nathalie. Sie ist un-scheinbar, langweilig … und du … du hast immer gesagt, dass du sie nicht magst … und du hast es gehasst, mit ihr zu arbeiten und …« Sie konnte nicht fortfahren.
»Es ist nun mal, wie es ist.«
»Liebst du sie wirklich?« Es war ihr unmöglich, das zu glauben.
Er nickte, sagte aber nichts.
»Bist du bereit, die Affäre zu beenden?« Sie konnte immer noch nicht verstehen, was passiert war, und warum. Weshalb war ihr Mann an diesem schwülen heißen Tag vom Fußballtraining heimgekommen, wo er sonst bis abends blieb, und hatte ihr gesagt, dass er sie wegen einer anderen verlassen wollte?
Sheila fühlte eine neue Welle der Panik heranrollen.
In diesem Moment wurde Sheila endgültig bewusst, dass dies al-les kein böser Traum war, aus dem sie morgen früh aufwachen würde. Dies war die Realität.
»Du kannst die Sache mit ihr immer noch beenden. Willst du nicht wenigstens noch einmal darüber nachdenken?« Sheila liebte ihren Mann so sehr, dass es ihr nichts ausmachte zu betteln.
Elias schwieg zunächst, dann antwortete er: »Nein. Dafür ist es schon lange zu spät. Ich werde sie niemals aufgeben.«
»Ist sie etwa schwanger?«, fragte Sheila entsetzt. Der Gedanke war ihr eben erst gekommen. Aber selbst das würde sie in Kauf nehmen, wenn Elias sie nur nicht verließe. Sie wäre nicht die erste Frau, die damit leben müsste, und längst nicht alle Ehen scheiterten daran. Aber so wie es aussah, dachte er nicht daran, um ihre Bezie-hung zu kämpfen. So viel hatte Sheila inzwischen begriffen.
»Ja. Wir bekommen ein Kind.«
Die Antwort erfüllte Sheila mit Verzweiflung. Nie zuvor hatte sie solchen Schmerz gespürt. Das Leben, das sie kannte, war mit einem Schlag zu Ende. Vor ihr lag eine Zukunft voller Unwägbar-keiten, voller Einsamkeit.
»Warum hast du mir nie etwas gesagt? Warum hast du mir nicht wenigstens eine Chance gegeben? Ich wusste doch von nichts …« Sheila fühlte sich verraten.
»Ich muss gehen, Sheila.«
»Nein, musst du nicht!« Sie wurde rasend, während er ins An-kleidezimmer ging, um seine Sachen zu packen.«
»Doch ich muss, das ist alles.«
»Bitte bleib …« Panik bemächtigte sich ihrer Stimme wie ein ge-fährliches Tier. »Es ist okay, wir werden das schon schaffen … ehr-lich … bitte … Elias …«
Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Er wurde plötzlich hart und abweisend, packte wie besessen, als müsste er eilends fort, ehe er auch noch zusammenbrach.
Dann wandte er sich ihr plötzlich zu. »Hör auf damit, verdammt! Hör auf … Sheila, bitte …«
»Mit was? Ich soll nicht weinen, weil mein Mann mich nach acht Jahren verlässt, zwölf, wenn du die Zeit vor unserer Hochzeit mit-zählst! Oh, bitte, hab kein schlechtes Gewissen, weil du mich we-gen einer gottverdammten Schlampe verlässt! Ist es das, was du willst, Elias? Dass ich dir Glück wünsche, und dir packen helfe? Himmel, du spazierst hier herein, machst mein ganzes Leben ka-putt, und was erwartest du von mir? Verständnis? Nun, das kann ich dir nicht bieten. Ich kann überhaupt nichts anderes tun als weinen, und wenn es sein muss, werde ich sogar betteln … ich werde bet-teln, hörst du …«
Mit diesen Worten fiel sie aufs Chaiselongue und begann erneut zu schluchzen. Mit fester Hand schloss er den Koffer, in den er ein Dutzend T-Shirts, Hemden, ein Paar Halbschuhe, zwei Paar Turn-schuhe und einen Leinenanzug geworfen hatte. Die Hälfte hing aus dem Koffer heraus. In einer Hand trug er ein paar Krawatten.
»Ich komme Montag wieder, wenn du in der Kanzlei bist.«
»Ich gehe nicht zur Arbeit.«
»Warum nicht?« Er sah verwirrt und gequält aus. Sheila sah zu ihm auf, und lachte leise unter Tränen.
»Weil mein Mann mich gerade verlässt, Belfort, und ich glaube nicht, dass ich am Montag fähig sein werde zur Arbeit zu gehen. Hast du etwas dagegen?«
Er lächelte nicht, wurde nicht sanfter. Elias sah sie nur seltsam an, und verschwand schnell durch die Tür. Er verlor zwei Krawat-ten. Nachdem er fort war, hob Sheila sie auf. Sie hielt sie lange Zeit fest, während sie auf dem Bett lag, und weinte.


Kapitel 2

Seit diesem Augusttag hatte sie oft geweint, aber Elias war nicht wiedergekommen. Eine Woche später, nachdem er ihr seine Affäre offenbart hatte, zogen er und Nathalie zusammen. Als Sheila es erfuhr, hatte die Neuigkeit sie wie ein Schlag getroffen. Doch all-mählich kam sie dahinter, dass es so einiges gab, was in der Ver-gangenheit nicht gestimmt hatte. In ihrer Ehe hatte es vieles gegeben, was sie nicht gesehen hatte, nicht hatte sehen wollen, denn sie hatte Elias so sehr geliebt. Da war sein Gefühl der Konkurrenz, sein Gefühl von Unsicherheit wegen ihrer beruflichen Erfolge. Ob-wohl Elias einer der besten Profispieler des Landes war, obwohl die Menschen sich wegen eines Autogramms um ihn drängten, wohin sie auch gingen, schien er immer das Gefühl zu haben, dass sein Erfolg vergänglich war, dass es eines Tages damit vorbei sein könn-te, dass man ihn ersetzen würde, dass der Verlust der allgemeinen Gunst sein ganzes Leben ändern würde. Nathalie war sein perfektes Auffangnetz. Schon ihre Bereitwilligkeit, im Hintergrund zu blei-ben. Vor der Kamera, während eines Fußballspiels und der Presse-konferenz, war Elias unleugbar der Star, und Nathalie trug dazu bei. Er musste sich keine Sorgen machen, wenn er mit seiner neuen Frau zusammen war, musste nicht konkurrieren. Er war automatisch der Star. Mit Sheila war das anders. Als erfolgreiche Anwältin für Wirt-schaftsrecht bei einer großen Kanzlei hatte sie zu viele Prozesse gewonnen, um sich für verletzlich zu halten.
Sheila wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort, wälzte sich im Bett hin und her, versuchte die aufkommenden Gedanken zu verscheuchen. Ohne Erfolg.
Um halb vier stand sie schließlich auf, unfähig, einen klaren Ge-danken zu fassen. Sie ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und trat in die Dusche, gegen den Sog der Erinnerung ankämpfend. Kleinigkeiten, Bruchteile von Unterhaltungen, Dinge, die Elias ge-sagt hatte. »Himmel, Sheila, du bist mit dreißig an der Spitze.«
Jetzt wusste sie, dass ihn das immer belastet hatte. Nur, was hätte sie denn tun sollen? Kündigen? Warum? Warum sollte sie nicht arbeiten? Sie wurde nicht schwanger, und Elias hatte nie ein Kind adoptieren wollen. »Es ist nicht dasselbe, wenn es nicht dein Eige-nes ist«, waren seine Worte gewesen. Jetzt brauchte er sich darüber keine Sorgen mehr zu machen. In drei Monaten würde er Vater werden. Der Gedanke daran traf Sheila jedes Mal wie ein körperli-cher Schmerz.
Sie trödelte durch die Zimmer, die anfingen, muffig zu riechen. Die Fenster waren ständig geschlossen, weil sie sich von der Au-ßenwelt abschotten wollte. Ihre Pflanzen machten einen jämmerli-chen Eindruck, sie hatte sie weder gepflegt noch entsorgt. Das gan-ze Haus schien ungeliebt, unbenutzt, als würde sich jemand nur dort umziehen, nichts weiter. Und das stimmte. Seit August hatte Sheila dort nichts weiter gekocht als Kaffee. Sie ließ das Frühstück ausfal-len, aß mittags gewöhnlich mit Klienten oder Kollegen, und das Abendessen vergaß sie in der Regel. Falls sie großen Hunger be-kam, besorgte sie sich auf dem Heimweg irgendwo ein Sandwich, und aß es aus dem Papier, während sie die Nachrichten im Fernse-hen verfolgte. Seit dem Sommer hatte sie ihr Essgeschirr nicht mehr gesehen, und es war ihr egal.
Seit dem Tag hatte sie nicht mehr richtig gelebt, und manchmal fragte sie sich, ob das jemals wieder anders werden würde. Sie konnte an nicht anderes mehr denken als an das, was passiert war, wie er es ihr gesagt hatte, warum er sie verlassen hatte, und daran, dass er ihr nicht mehr gehörte. Der Schmerz war einer heftigen Wut gewichen, die sich in Sorgen, und schließlich in tiefe Verzweiflung verwandelt hatte, ehe sie wieder zur Wut wurde.
Im Oktober hätte sie fast den Deal ihrer Karriere zum Platzen gebracht, hatte das Gefühl gehabt überzuschnappen, wollte einfach die Arme um jemanden – irgendjemanden – schlingen, und in Trä-nen ausbrechen. Es war, als gäbe es jetzt niemanden mehr, nieman-den, zu dem sie gehörte, niemanden, der sich um sie kümmerte. Ihr Vater war gestorben, als sie im Studium war, ihre Mutter lebte in Vancouver mit einem Mann, den Sheila nicht mochte. Er war Im-mobilienmakler, verdammt wichtigtuerisch und selbstzufrieden. Aber wenigstens ihre Mutter war glücklich. Sheila hatte sowieso kein enges Verhältnis zu ihr und hätte sich nie an sie wenden kön-nen. Tatsächlich hatte sie ihr überhaupt nichts von der Trennung erzählt, bis im November ihre Mutter eines Abends angerufen hatte, und Sheila in Tränen aufgelöst war. Sie war verständnisvoll gewe-sen, aber das Gespräch hatte nur wenig dazu beigetragen, das Band zwischen Mutter und Tochter zu verstärken. Für sie beide war es zu spät. Außerdem sehnte Sheila sich nicht nach ihrer Mutter, sondern nach ihrem Ehemann, nach dem Mann, neben dem sie geschlafen, den sie geliebt, und mit dem sie gelacht hatte in den letzten zwölf Jahren, nach dem Mann, den sie besser kannte als alles sonst, der ihr am Morgen Glück und am Abend Sicherheit schenkte. Er war endgültig fort.
An einem Novemberabend, kam sie frierend und erschöpft nach Hause. Zum ersten Mal, hörten die bedrängenden Gefühle auf. Sie zog den Wollmantel aus, hängte ihn an den Garderobenständer, zerrte die Stiefel von den Füßen, und fuhr sich mit einer Bürste durch das hellbraune Haar. Ohne ihr Gesicht richtig wahrzuneh-men, schaute sie in den Spiegel. Wenn sie sich selbst betrachtete, sah sie nur einen hellen Fleck Haut, zwei düstere Augen, eine Mas-se von Haar. Nacheinander schlüpfte sie aus den einzelnen Klei-dungsstücken, ließ den schwarzen Rock zu Boden fallen, ebenso die weiße Seidenbluse, die sie zur Arbeit getragen hatte. Kleine Dia-mantstecker funkelten an ihren Ohrläppchen und das Haar hatte sie im Nacken zu einem festen, strengen Knoten gesteckt. Selbst in ihrem jetzigen Zustand war sie eine schöne Frau, oder, wie ihr Chef es ausdrückte, »ein außergewöhnlich hübsches Weibsstück«.
Sie drehte den Wasserhahn auf, und ein Strahl heißen Wassers lief in die Marmorwanne. Früher war das Bad mit Dattelpalmen, Zwergpalmen und Schirmpalmen überfüllt gewesen. Man war sich vorgekommen wie in einem botanischen Garten. Aber auch hier waren die Pflanzen eingegangen. Die Putzfrau kam, um alles sauber zu halten, aber es war unmöglich, jemanden einzustellen, der dafür zu sorgte, dass Atmosphäre im Haus entstand. Den Wohnräumen fehlte, ebenso wie Sheila selbst, der Glanz, der nur durch eine war-me herzliche Berührung, und eine freundliche Hand entsteht.
Als die Wanne mit heißem Wasser gefüllt war, glitt Sheila lang-sam hinein, lag einfach da, schloss die Augen. Einen Augenblick lang hatte sie das Empfinden zu treiben, als hätte sie keine Vergan-genheit, keine Zukunft, keine Ängste, keine Sorgen, doch dann, ganz allmählich, drängte sich ihr die Gegenwart wieder auf.
Ihre Arbeit erledigte sie automatisch. Wie ein Roboter ohne Emotion, und Begeisterung. Sie wusste es und fragte sich, wie lange das noch so weitergehen würde. Wie lange würde sie sich beein-trächtigt fühlen, angegriffen, als würde der Motor laufen, aber der Wagen könnte nur im ersten Gang fahren? Es war ein Gefühl des Mitgezogenwerdens, als wäre sie programmiert.
Nachdem Sheila aus der Wanne gestiegen war, das Haar in ei-nem lockeren Knoten auf dem Kopf befestigt, hüllte sie sich sorg-fältig in ein riesiges, hellblaues Handtuch, und tappte dann barfuß in ihr Zimmer. Ein riesiges Bett im maurischen Stil stand darin, erinnerte an ihre Zeit in Andalusien, die Tagesdecke schmückten orientalische Stickereien. Alles in diesem Zimmer war gelb, orange strahlend und warm. Es war ein Zimmer, das sie geliebt hatte, als sie das Haus eingerichtet hatte, und ein Ort, den sie jetzt hasste, wenn sie Nacht für Nacht allein hier schlief.
Nicht, dass sie keine Angebote bekommen hätte. Die gab es, aber es gab keinen Mann, den sie begehrte, keinen, aus dem sie sich et-was machte. Es war, als hätte jemand die Verbindung zu ihrer Seele zerschnitten. Sie saß auf der Bettkante, gähnte und dachte daran, dass sie heute nur eine Tomatensuppe zu Mittag gegessen hatte, sowohl Frühstück als auch Abendessen hatte ausfallen lassen.
Die Klingel ertönte und sie sprang auf. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, nicht zu antworten, doch dann ließ sie das Handtuch fallen, griff hastig nach ihrem Frotteemorgenmantel und lief zur Sprechanlage.
»Ja?«
»Hannibal Lecter. Kann ich reinkommen?«
Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte sie die Stimme nicht. Dann lachte sie plötzlich, blickte kurz in den Barockspiegel, und musste feststellen, dass sie wieder wie sie selbst aussah. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen schimmerten, immer noch gesund und ro-sig von dem heißen Bad. Sie sah jünger aus als seit Wochen.
»Was treibst du hier, Tom?«, rief sie in die Sprechanlage an der Wand.
»Ich frier mir den Arsch ab aus Langeweile. Lässt du mich nicht rein?«
Wieder lachte sie und drückte schnell auf den Summer. Einen Augenblick später hörte sie, wie ihr Arbeitskollege die Haustür ins Schloss fallen ließ. Als er in der Tür auftauchte, glich Tom Stanton mehr einem Holzfäller als einem Rechtsverdreher, wirkte eher wie dreiundzwanzig als wie vierzig. Er hatte graublaue, neugierige Au-gen, trug eine horngerahmte Brille, blondes, struppiges Haar und einen Kinnbart, in dem jetzt kleine Eiskristalle hingen.
»Hast du ein Handtuch?«, fragte er, nach Luft schnappend, was wohl eher an der Kälte als an den Stufen lag.
Hastig holte sie ein dickes, blaufarbenes Handtuch aus dem Bad und reichte es ihm, damit er sich Gesicht und Bart abtrocknen konn-te. Er trug einen großen Barbourhut, aus dem jetzt ein kleines Rinn-sal eiskalten Wassers auf den Orientteppich rann.
»Pinkelst du schon wieder auf meinen Teppich, Tom?«
»Wo du es erwähnst … hast du vielleicht einen Tee?«
»Klar doch.«
Sheila musterte ihn und fragte sich, ob etwas nicht in Ordnung war. Er war schon zwei-, dreimal bei ihr in der Wohnung gewesen, aber gewöhnlich nur, wenn er etwas sehr Wichtiges im Sinn hatte.
»Irgendwas mit dem neuen Fall, was ich wissen sollte?«
Sie warf ihm von der Küche aus einen besorgten Blick zu. Er grinste und schüttelte den Kopf.
»Nee. Es wird auch alles gut gehen. Du warst die ganze Woche damit auf dem richtigen Weg. Wir werden gewinnen, Sheila.«
Sie lächelte zaghaft und begann, den Tee zu machen.
»Das glaube ich auch.«
Sie wechselten einen liebevollen Blick. Seit fast vier Jahren waren sie jetzt miteinander befreundet, hatten zahllose Gerichtsver-handlungen zusammen durchgestanden, neckend und scherzend bis vier Uhr früh gearbeitet, um eine Strategie zusammenzustellen, um einen Mandanten durchzuboxen. Beide waren sie Zöglinge von Henning Wilson, dem Inhaber der Kanzlei. Henning hielt sich seit Jahren im Hintergrund. Er hatte Tom als Referendar in seinem Haus entdeckt, und Sheila einer anderen abgeworben. Er erkannte sofort gute Leute, wenn er sie sah. Er hatte ihnen ihren Willen gelassen und frohlockend die Hände in den Schoß gelegt, als er sah, welchen Erfolg sie hatten. Noch ein Jahr, dann würde er sich zurückziehen und alle, einschließlich Sheila, hätten gewettet, dass sie seinen Pos-ten bekommen würde. Mit zweiunddreißig Jahren bereits Partner, das war nicht schlecht.
»Also, was gibt es Neues, Junge? Ich habe dich seit heute Mor-gen nicht mehr gesehen. Wie geht es mit der Warner Sache?«
»Nun …« Tom hob die Hände, als ergäbe er sich in sein Schick-sal. »Was kann man schon für eines der größten Bankhäuser in London tun, wenn die Leute viel Geld, aber kein Händchen dafür haben?«
»Was ist mit der anderen Sache, über die wir letzte Woche ge-sprochen haben?«
»Die stellen sich quer. Die wollen ständig irgendwelche Ände-rungen.«
Sie verdrehte die Augen und hockte sich auf die Tischkante, während Tom seinen schlaksigen Körper auf einen Stuhl ihr gegen-über fallen ließ. Es war seltsam, aber Sheila hatte sich in all den Jahren, die sie zusammenarbeiteten, reisten, miteinander diskutier-ten, nie zu Tom Stanton hingezogen gefühlt.
Er war ihr Bruder, ihr Seelenfreund. Er hatte eine Frau, die sie fast ebenso sehr liebte wie er. Diana war einfach ideal für ihn. Zur Familie gehörten zwei Töchter, die beide aussahen wie ihre Mutter, drei Meerschweinchen, zwei Katzen und ein alter klappriger Land-rover, von dem Tom sich nicht trennen konnte.
Diana war Lehrerin, liebte ihren Beruf, schaffte spielend den Spagat zwischen Mutter sein und Berufstätigkeit. In vielen Dingen war sie ganz anders als Sheila, doch beide Frauen hatten eine Sanft-heit, eine Freundlichkeit gemein, die Tom hochschätzte. Auf seine Weise liebte er Sheila und war durch das, was Elias getan hatte, bis ins Mark getroffen. Er hatte ihn sowieso nie gemocht, hatte ihn im-mer für einen egozentrischen Typen gehalten. Als Elias Sheila so überstürzt verlassen, und zuvor diese Nathalie geschwängert hatte, war das für Tom nur ein Beweis dafür gewesen, dass er in diesem Punkt recht gehabt hatte. Diana hatte versucht, beide Seiten zu ver-stehen, aber Tom hatte davon nichts hören wollen. Er machte sich zu große Sorgen um sie, das wusste Sheila. Sie war in den letzten Monaten in einer schlimmen Verfassung gewesen. Ihre Arbeit hatte darunter gelitten.
»Na, was ist, schöne Frau? Ich hoffe, du bist nicht sauer, dass ich so spät noch vorbei gekommen bin?«
»Nein.« Sheila lächelte, während sie ihm Tee einschenkte. »Ich frage mich nur, was du willst. Mich kontrollieren?«
»Vielleicht.« Seine Augen blickten sanft.
»Stört dich das, Sheila?«
Traurig schaute sie zu ihm auf und sie spürte, er hätte sie am liebsten in die Arme genommen. »Wie könnte es? Es ist schön zu wissen, dass sich jemand dafür interessiert, wie es mir geht.«
»Du weißt, dass ich das tue. Und Diana auch.«
»Geht es ihr gut?« Er nickte. Im Büro hatten sie nie die Zeit, über solche Sachen zu sprechen.
»Prima.«
»Also? Was ist los?« Sheila musterte ihn plötzlich belustigt. Er setzte eine Unschuldsmine auf, und sie zupfte ihn am Bart. »Du führst doch was im Schilde, Tom. Was?«
»Wie kommst du darauf?«
»Es gießt in Strömen da draußen, es ist eiskalt, es ist Freitag-abend, und du könntest mit deiner reizenden Frau und deinen zwei niedlichen Kindern zu Hause sitzen. Es ist schwer, sich vorzustel-len, dass du den ganzen Weg hierher gekommen bist, nur um eine Tasse Tee mit mir zu trinken.«
»Warum nicht? Du bist viel niedlicher als meine Kinder. Aber …«, er zögerte kurz, »du hast recht. Ich bin nicht zufällig vorbeige-kommen. Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden.«
Warum sah er sie so merkwürdig an. Würde ihr bester Freund sie auch noch verlassen? Ihre Hände zitterten.
»Und? Heraus damit.« Ihre Augen funkelten spitzbübisch, wie er es schon lange nicht mehr gesehen hatte.
»Also, Sheila …« Er holte tief Luft und sah sie scharf an. »Hen-ning und ich haben miteinander gesprochen …«
»Über mich?« Sie spürte sofort eine Anspannung. Er nickte nur und fuhr fort. Sie hasste es, wenn man über sie sprach.
»Ja, über dich.«
»Warum? Wegen der Helifaxsache? Ich bin nicht sicher, dass er meine Vorgehensweise versteht, aber …«
»Nein, nicht über die Helifaxsache, Sheila. Über dich.«
»Warum über mich?«
Sie hatte gedacht, das Thema wäre gegessen. Die Scheidung war eingereicht, und es war nur eine Frage der Zeit, bis Elias frei war, um eine andere zu heirateten. Sie hatte es überlebt. Also?
»Mir geht es gut.«
»So? Das finde ich erstaunlich.« Aus seinen Augen sprach Mit-gefühl für sie und eine Spur von der Wut, die er die ganze Zeit ge-genüber Elias empfunden hatte. »Ich glaube, mir an deiner Stelle ginge es nicht so gut, Sheila.«
»Ich habe keine andere Wahl. Außerdem bin ich härter als du.«
»Wahrscheinlich.« Er lächelte liebevoll. »Vielleicht nicht ganz so hart, wie du glaubst. Warum gestattest du dir keine Pause, Shei-la?«
»Was soll das heißen? Soll ich auf die Malediven fliegen, schnorcheln und am Strand liegen?«
»Warum nicht?« Er lächelte gezwungen, während sie ihn entsetzt anstarrte.
»Was willst du damit sagen?« Panik zeigte sich auf ihrem Ge-sicht. »Will Henning mich feuern? Ist es das? Hat er dich deswegen hergeschickt? Ihr wollt mich loswerden, weil ich nicht mehr so bril-lant bin wie früher?« Noch während sie diese Frage stellte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Himmel, was erwartet ihr denn? Ich hatte eine harte Zeit … es war …« Sie würgte an ihren Tränen und stand schnell auf. »Ich bin in Ordnung, verdammt noch mal. Es geht mir gut. Warum, zum Teufel …«
Tom packte ihren Arm und drückte sie wieder auf ihren Platz. »Nimm es locker, Honey. Es ist ja alles in Ordnung.«
»Schmeißt er mich raus, Tom?« Eine einzelne Träne lief über ih-re Wange. Tom Stanton schüttelte den Kopf.
»Unsinn, Sheila, natürlich nicht.«
»Aber?« Sie wusste es.
»Henning möchte, dass du eine Weile verreist. Du hast uns ge-nug gute Mandanten gebracht, die ich übernehmen kann. Es würde den alten Herrn auch nicht umbringen, zur Abwechslung mal selbst einen Fall zu bearbeiten. Wir kommen ohne dich aus, wenn wir müssen.«
»Aber ihr müsst ja nicht. Das ist doch Kinderkram, Tom.«
»Findest du?« Er musterte sie lange. »Ist es wirklich Kinder-kram, Sheila? Hältst du diesem Druck wirklich stand, ohne dich zu zerbrechen? Musst zusehen, wie dein Mann eure Ehe in den Abfluss gießt, wegen einer anderen. Siehst ihn abends im Fernsehen in Talkshows, wo er mit seiner neuen Frau schwatzt, und verfolgst mit den Augen, wie ihr Bauch immer dicker wird? Und die Presse dich als Schuldige darstellt? Kannst du das wirklich einfach so hinneh-men? Kannst du, ohne einen einzigen Tag bei der Arbeit zu ver-säumen, immer darauf bestehen, noch mehr und noch mehr zu übernehmen? Früher oder später rechne ich damit, dass du zusam-menbrichst. Kannst du dich wirklich so diesen Angriffen aussetzen? Ich könnte es nicht. Und ich kann es nicht zulassen, Sheila, als dein Kumpel. Was dieser Hurensohn dir angetan hat, hat dich fast in die Knie gezwungen, verdammte Scheiße. Gib auf, Sheila, fahre ir-gendwohin, weine dich aus, lass alles aus dir heraus, und dann komm wieder. Wir brauchen dich. Wir brauchen dich sehr. Henning weiß das, ich weiß es, die anderen wissen es, und du weißt es selbst am besten. Wir brauchen dich nicht leidend oder depressiv oder ausgebrannt, und genau so wirst du enden, in dieser Reihenfolge, wenn du der Belastung jetzt nicht ein Ende machst.«
»Ihr glaubt also, ich bin einem Nervenzusammenbruch nahe, oder sogar suizidgefährdet?«
Tom schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber zum Teufel, noch zwei Jahre, dann könntest du auf solche Gedanken kommen. Jetzt musst du dich darum kümmern, Sheila, nicht später, wenn der Schmerz so tief wie ein Stachel in deinem Herzen sitzt, dass du ihn nicht mehr herausziehen kannst.«
»Ich habe schon so lange damit gelebt – drei Monate!«
»Und es macht dich kaputt.« Es war eine ganz klare Aussage, sie widersprach ihm nicht.
»Was hat Henning also gesagt?« Sie sah traurig aus, als ihre Bli-cke sich trafen. Sie fühlte sich als Versager.
»Er möchte, dass du dich ausklinkst. Dass du dir ein Sabateljahr nimmst. Sozusagen eine Auszeit.«
»So lange?« Mit dem Handrücken wischte sie sich eine Träne von der Wange.
»Es muss ja nicht ein Jahr sein. Es können auch nur einige Mo-nate sein.«
Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie die beiden bei einem Es-sen über sie gesprochen hatten, mit dem Ergebnis, dass sie von der Bildfläche für einige Zeit verschwinden sollte. Der Gedanke ließ sie frösteln. Er löste Schockwellen in ihrem Innern aus. Sie starrte ihn ungläubig an.
»Drei, sechs, zwölf Monate? Seid ihr verrückt? Was, zum Teu-fel, soll mit meinen Mandanten passieren? Was, um alles in der Welt, ist mit meinem Job? Mein Gott, du hast dich wirklich gut darum gekümmert, was? Warum? Willst du auf einmal meine Klienten übernehmen, oder was läuft da?«
Wieder sprang sie vom Tisch und eilte davon. Er folgte ihr, und stellte sich vor sie, sah sie beinahe zärtlich an.
»Dein Job ist eine ganz sichere Sache, Sheila. Mit all dem schriftlichen Pipapo, der dazugehört. Aber du musst es tun. Du kannst so nicht weitermachen. Glaub mir. Du musst hier heraus. Aus diesem Haus, aus deinem Büro, am besten noch aus dieser Stadt. Willst du wissen, was ich denke? Ich denke, du solltest nach Andalusien fliegen. Und komm zurück, wenn du es losgeworden bist, wenn du wieder unter den Lebenden bist.«
»Wieso ausgerechnet Andalusien?« Sheila sah ihn ausdruckslos an.
»Na diese Frau, von der du mir einmal erzählt hast, dass sie eine Stier- und Pferdezucht besitzt. Dort, wo deine beste Freundin und du euere Ferien oft verbrachten.«
Ihre beste Freundin. Das war sie auch gewesen. Patrizia, ihre ehemalige Schulfreundin, sie war neben Elias ihre engste Vertraute gewesen. Patrizia war zwei Wochen nach Sheilas Hochzeit bei ei-nem Autounfall ums Leben gekommen. Sheila lächelte zaghaft. »Patricias Tante … Carmen Ondeo. Sie ist eine wundervolle Frau. Aber was, um alles in der Welt, sollte ich dort?«
»Ich würde sagen reiten, oder?« Tom sprach mit ihr, wie mit ei-nem Kind.
Sie nickte.
»Zwar nicht so weit weg wie die Malediven, aber immerhin. Vielleicht solltest du einfach mal deine vornehme Geschäftsgarde-robe für eine Zeit in den Schrank hängen, deinen sexy Körper in eine Jeans stecken und Cowboys jagen.«
»Sehr witzig. Genau das brauche ich jetzt.«
Aber die Vorstellung hatte etwas in ihr berührt. Sheila hatte Carmen seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie und Elias waren einmal zu Besuch dort gewesen. Das hatte drei Tage Autofahrt bedeutet von London aus, denn sämtliche Flüge dorthin waren wegen eines Streiks auf unbekannte Zeit annulliert gewesen. Elias hatte es ge-hasst. Er mochte Pferde nicht, er hielt das Leben auf der Hazienda für unbequem. Carmen, und ihr Verwalter hatten ihn wegen seiner zimperlichen Großstadtmanieren schief angeguckt. Er war kein Rei-ter. Sheila hingegen war eine hervorragende Reiterin, schon seit ihrer Kindheit. Auf der Hazienda hatte es damals ein wildes Pferd aus der Camargue gegeben, und zu Carmens Verzweiflung hatte Sheila diesen Hengst geritten. Aber obwohl das Tier sie beim Zurei-ten mehr als ein halbes Dutzend Mal abgeworfen hatte, war sie un-verletzt geblieben, was Elias beeindruckt hatte. Es war eine glückli-che Zeit in Sheilas Leben gewesen, und sie schien schon sehr lange zurückzuliegen.
»Ich bin nicht einmal sicher, ob sie möchte, dass ich komme. Ich weiß nicht, Tom. Es ist eine verrückte Idee. Warum lasst ihr Kerle mich nicht einfach in Ruhe meine Arbeit machen?«
»Weil wir dich mögen, und weil du dich auf diese Weise ka-puttmachst.«
»Nein, das tue ich nicht!« Sie lächelte ihm tapfer zu, aber er schüttelte den Kopf.
»Es ist egal, was du mir jetzt sagst, Sheila. Es war Hennings Ent-scheidung.«
»Was?«
»Deine Auszeit.«
»Dann ist es beschlossene Sache?« Wieder fing sie an zu zittern, und wieder nickte er.
»Ab heute. Sonderurlaub. Mindestens drei Monate, und du kannst ihn auf sechs ausdehnen, wenn du willst.«
»Und ich behalte meinen Job?«
»Ja.«
Langsam zog er einen Brief aus der Tasche und reichte ihn Shei-la zum Lesen. Er war von Henning und garantierte ihr ihre Stelle, selbst wenn sie sechs Monate fortbleiben würde. Normalerweise würde er in seiner Kanzlei so etwas nicht dulden, aber wie Henning sich ausdrückte, war Sheila Belfort eine Frau und Anwältin, die es wert war, eine Ausnahme zu machen.
Traurig blickte sie Tom an. »Heißt das, dass ich von heute an in Urlaub bin?« Ihre Unterlippe zitterte.
»Genau das, Honey. Du bist von diesem Augenblick an frei. Glückskind, ich wünschte, ich wäre das.«
»Oh, mein Gott.« Sie sank in einen Sessel und bedeckte das Ge-sicht mit der Hand. »Was soll ich denn jetzt tun, Tom?«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Tu, was ich dir gesagt habe, Honey. Ruf diese Carmen in Spanien an.«
Es war ein verrückter Vorschlag. Nachdem er fort war, es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr, begann sie, fieberhaft nachzuden-ken. Sie befand sich noch immer in einer Art Schockzustand, als sie zu Bett ging. In den nächsten Monaten war sie also arbeitslos. Sie hatte keinen Ort, an den sie gehen konnte, nichts zu tun, nichts, es gab nichts, was sie zu sehen wünschte, und niemanden, mit dem sie es teilen könnte. Zum ersten Mal, seit sie erwachsen war, hatte sie überhaupt keine Pläne. Alles, was sie zu tun hatte, war, Henning am nächsten Morgen zu treffen um die angefangene Arbeit auf ihrem Schreibtisch ihm zu übergeben, und dann die Kanzlei zu verlassen.
Als sie im Dunkeln lag, ängstlich und allein, fing sie plötzlich an zu kichern. Es war wirklich verrückt. Was, zum Teufel, sollte sie mit sich selbst bis zum ersten Mai anfangen? China? Australien? Ein Besuch bei ihrer Mutter in Kanada? Einen Augenblick lang fühlte sie sich so frei wie nie zuvor. Als sie Oxford verlassen hatte, hatte sie sich um Elias kümmern müssen, jetzt dagegen gab es überhaupt niemanden, auf den sie Rücksicht nehmen musste. Dann, ganz impulsiv, griff sie nach ihrem Timer und beschloss, Toms Rat zu befolgen. Sie machte Licht und fand die Nummer ohne Schwie-rigkeiten unter C. Sie hoffte, dass es noch nicht zu spät war, um anzurufen.
Beim dritten Klingeln wurde der Hörer abgenommen, und sie hörte die vertraute Stimme von Carmen Ondeo.
»Hier ist Sheila. Ich wollte … ich wollte wissen, wie es dir geht Carmen.« Sie spürte, wie sie ein nervöser Schauer durchlief.
»Sheila. Wie schön deine Stimme zu hören. Mir geht es gut. Das freut mich aber sehr. Wie geht es der erfolgreichen Rechtsanwäl-tin?«
Dann folgte eine langatmige Erklärung von Sheila, geduldiges Schweigen auf Carmens Seite, und schließlich ein seltsames, ge-quältes Schluchzen, als Sheila sich endlich gehen ließ. Dann war es, als käme sie heim zu einer alten Freundin. Die ältere Frau hörte zu, hörte wirklich zu. Sie bot Sheila eine Art Trost, wie sie ihn seit Jah-ren nicht mehr gekannt hatte. Als Sheila eine halbe Stunde später den Hörer auflegte, starrte sie zu der Decke, und fragte sich, ob sie vielleicht wirklich verrückt geworden war. Denn sie hatte soeben zugesagt, nach Andalusien zu fliegen.


Kapitel 3

Es war ein hektischer Morgen für Sheila. Sie buchte einen Platz im Flugzeug, packte zwei große Trolleys, und eine Reisetasche, ließ eine Nachricht für die Zugehfrau zurück, und schloss die Haustür hinter sich. Dann fuhr sie im Taxi mit ihrem Gepäck ins Büro, wo sie Tom den Schlüssel zu ihrem Haus gab, und ihn bat, ihre Pflan-zen zu gießen. Schließlich traf sie sich für zwei Stunden mit Henning, um ihm alles zu erläutern, was er zu wissen wünschte.
»Weißt du, Henning, dass ich mit deiner Entscheidung mich in den Zwangsurlaub zu schicken nicht konform bin. Ich will es nicht.« Flehend sah sie ihn an.
Er musterte sie schweigend hinter seinem Schreibtisch aus Chrom und Glas. »Du wolltest es nicht, Sheila, aber du brauchst es, ob du es nun weißt oder nicht. Verlässt du London für einige Zeit?«
Er war ein großer, schlanker Mann mit dunkelgrauem Haar, das er so kurz geschnitten trug wie ein Marineoffizier. Er bevorzugte weiße Hemden von van Laak, gestreifte Anzüge und akkurat ge-bundene Krawatten. Sprach und bewegte sich wie jemand, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen, strahlte Autorität aus, und rauchte Zigarre. Hinter den stählernen grauen Augen verbargen sich ein brillantes Hirn, ein bestechender Geist und eine gute Seele, wie man sie nur selten findet. Er war in gewisser Weise wie ein Vater für Sheila gewesen, und jetzt, als sie darüber nachdachte, überraschte es sie eigentlich nicht mehr, dass er sie fortschickte.
Den ganzen Morgen über hatten sie nicht über ihr Privatleben gesprochen. Alles hatte sich nur um die aktuellen Fälle gedreht.
»Ja, ich verlasse die Stadt.«
Sie lächelte ihm zu, als sie ihm gegenübersaß. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie viel Angst sie zu Anfang vor ihm ge-habt hatte, und wie sehr sie ihn im Laufe der Jahre zu respektieren gelernt hatte. Der Respekt beruhte jetzt auf Gegenseitigkeit, und das wusste sie.
Sie warf einen Blick auf ihre goldene Uhr: »Mein Flugzeug geht in drei Stunden.«
»Dann verschwinde, zum Teufel noch mal, aus meinem Büro.«
Er legte seine Zigarre in den Aschenbecher und grinste, aber Sheila zögerte noch einen Moment.
»Bist du sicher, dass ich meinen Job behalte, Henning?«
»Ich schwöre es. Du hast den Brief?« Sie nickte. »Gut. Dann kannst du mich gerichtlich verklagen, wenn du deinen Job nicht wiederbekommst.«
»Das ist nicht das, was ich will. Ich will meinen Job.«
»Du wirst ihn bekommen, und am Ende wahrscheinlich meinen dazu.«
»Ich könnte in ein paar Wochen wiederkommen.« Sie sagte es zögernd, aber er schüttelte den Kopf, und das Lächeln wich aus seinen Augen.
»Nein, Sheila, das kannst du nicht, das wirst du nicht, und dabei bleibt es.«
»Aus einem besonderen Grund?«
»Nein, keinen besonderen Grund. Du kannst mich anrufen, wann immer du willst. Ansonsten herrscht Funkstille.«
»Wie Sie wünschen, Chef.«
»Gut.« Dann kam er um seinen Schreibtisch herum und zog sie ohne ein weiteres Wort an sich. Er hielt sie eine Weile fest, und küsste sie dann auf die Stirn. »Lass es dir gut gehen, Sheila. Du wirst uns fehlen.«
Seine Stimme war rau und seine Augen wurden feucht, während sie ihn noch einmal umarmte, ehe sie schnell zur Tür ging. Einen ganz kurzen Augenblick hatte sie das Gefühl, verbannt zu werden, und sie spürte, wie Panik in ihr aufkam, dachte sogar schon daran, ihn zu bitten, sie nicht fortzuschicken.
Doch als sie sein Büro verließ, wartete Tom schon im Gang auf sie. Er lächelte ihr zu, legte den Arm um ihre Schultern, und drückte sie an sich.
»Bereit, Señora?«
»Du meinst zum Abschuss?«
»Wer schießt denn hier?« Tom grinste.
»Nein, nicht bereit.« Sie lächelte unter Tränen, schnüffelte dann, und schmiegte sich eng an ihn.
»Das kommt schon noch.«
»Wieso bist du dir da so sicher?« Sie gingen jetzt langsam zu ih-rem Büro zurück, und sie wünschte sich mehr denn je, bleiben zu können. »Es ist verrückt. Das weißt du auch, nicht wahr, Tom? Ich meine, ich habe Arbeit, die erledigt werden muss, Mandanten, ich habe nicht das Recht, zu …«
»Du kannst gerne weiter jammern, Sheila, wenn du willst, aber das ändert überhaupt nichts.« Er sah auf seine Uhr. »In circa drei Stunden setze ich dich ins Flugzeug.«
Sheila blieb plötzlich stehen, drehte sich zu ihm um, und sah ihm fest in die Augen.
»Was, wenn ich es verpasse? Wegen Nebel oder … Oder was, wenn ich einfach nicht gehe?«
»Dann betäube ich dich und bringe dich persönlich nach Andalu-sien. Und schau mir bei dieser Gelegenheit mal die Señoras der Cowboys an.«
»Die Cowboys heißen dort Vaqueros.«
»Dann eben so, Frau neunmalklug.«
»Das würde deiner Frau nicht gefallen.«
»Im Gegenteil. Sie bittet mich schon die ganze Woche, ihr aus den Augen zu gehen, und sie in Ruhe zu lassen.« Er blieb stehen und musterte Sheila heiter.
Zögernd lächelte sie zurück. »Ich kann es dir wohl nicht ausre-den, was?«
»Nein. Sieh doch Sheila, es ist wirklich egal, wohin du fährst, aber du musst einfach hier raus. Möchtest du nicht all den Fragen entgehen, den Erinnerungen, der Möglichkeit, … ihnen zu begeg-nen?«
Die Worte klangen niederschmetternd, aber sie zuckte die Schul-tern.
»Was macht das schon für einen Unterschied? Wenn ich in An-dalusien die Sportnachrichten anschaue, Onlinezeitungen lese, dann sind sie immer noch da. Alle beide.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen bei dem Gedanken an Elias Gesicht, das sie jeden Abend im Fernsehen sah. Sie starrte ihn im-mer an, und dann hasste sie sich dafür, wollte auf ein anderes Pro-gramm umschalten, und war unfähig, die Hand zu rühren.
»… ich weiß nicht … verdammt, sie sehen einfach aus, als ge-hörten sie zusammen, nicht wahr?« Plötzlich erstarrte ihr Gesicht in einer traurigen Maske, salzige Rinnsale liefen über ihre Wangen. »Wir haben nie so ausgesehen, oder? Ich meine …«
Aber Tom sagte nichts, zog sie nur an sich. »Ist ja schon gut, Sheila, ist ja schon gut.« Als sie leise vor sich hinweinte, an seine Schulter gelehnt, ohne die Blicke der Mitarbeiter zu bemerken, die an ihnen vorbeihuschten, strich er ihr eine Strähne des langen, braunen Haars aus der Stirn, und lächelte zu ihr hinab. »Deshalb brauchst du eine Auszeit. Ich glaube, man nennt es emotionale Er-schöpfung.«
Sie brummte missbilligend und kicherte dann leise.
»Heißt es so? Ja …« Sie löste sich aus seinen Armen, seufzte, wischte die Tränen vom Gesicht. »Vielleicht brauche ich wirklich Urlaub.« Dann versuchte sie, mit ihren Augen den Freund anzufun-keln, wobei sie ihre Mähne aus dem Gesicht schüttelte. »Aber nicht aus den Gründen, die ihr glaubt. Ihr habt mich einfach fertigge-macht.«
»Da hast du verdammt recht. Wir haben die Absicht, genauso weiterzumachen, wenn du zurückkommst. Also genieße die Zeit da draußen, und reite dir den Hintern wund.«
Eine Hand auf ihren Schultern ließ sie plötzlich beide herumfah-ren.
»Bist du noch nicht weg, Sheila?« Es war Henning, die Zigarre zwischen den Zähnen, ein helles Leuchten in den Augen. »Ich dach-te, du müsstest den Flieger bekommen.«
»Muss sie auch.« Tom grinste sie an.
»Dann bring sie hin, um Himmels willen. Sieh zu, dass sie hier rauskommt. Wir haben schließlich zu tun.« Er lächelte grimmig, winkte mit seiner Zigarre, und verschwand in einem anderen Flur. Tom sah ihr verzagtes Lächeln.
»Du musst mich wirklich nicht zum Flugzeug bringen, weißt du.«
»Wirklich nicht?« Sie schüttelte zur Antwort den Kopf, aber sie kümmerte sich nicht um ihren Kollegen, sondern betrachtete ihr Büro, als sähe sie es zum letzten Mal. Tom bemerkte ihren Aus-druck und packte ihren Mantel und ihr Gepäck.
»Komm schon, ehe ich ganz rührselig werde. Sehn wir zu, dass wir die Maschine bekommen.«
»Ja, du Sklaventreiber.«
Er trat über die Schwelle und wartete. Sie folgte ihm mit zwei zögernden Schritten. Dann holte sie tief Luft, warf noch einen letz-ten Blick hinter sich, und schloss sachte die Tür.

Impressum

Texte: Christine Lawens
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

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