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Soziale “Nächstenliebe” einer Wohngemeinschaft für Behinderte

Ich bin selber behindert, leide seit meinem 10. Lebensjahr an einer juvenilen chronischen Polyarthritis und sollte jetzt nach 35 Jahren Krankheit eigentlich im Rollstuhl sitzen. Da in Österreich jede Hilfeleisstung durch eine Organisation kostenpflichtig ist und mir bei einer Invaliditäts-Pension mit Ausgleichszulage in Höhe von ca. 750 Euro nicht genug Geld übrig bleibt um jeden Handgriff zu bezahlen, bin ich gezwungen unter Höchstdosen von Schmerzmitteln mit einem Rollator durch die Welt zu humpeln. Die im folgenden geschilderte Begebenheit habe ich selber im März 2011 erlebt und erzähle sie deshalb in der Ich-Form.

Jedes mal wenn ich zur U-Bahn gehe, sehe ich vor dem Stationsgebäude einen Rollstuhlfahrer sitzen und betteln. Er ist keiner von den aggressiven Bettlern - nein er sitzt einfach nur da und hält einen lehren Kaffeebecher aus einem Automaten in der Hand, den er den vorübergehen Passanten entgegenstreckt und um eine kleine Spende bittet.
Vor einigen Tagen hat er auch mich angesprochen und wir kamen ins Gespräch. Er hat mir vom Leben und den Problemen in einer WG (Wohngemeinschaft für behinderte Personen, die nicht alleine in einer normalen Wohnung leben können) erzählt, während ich ihm von meiner persönlichen Situation erzählt habe: Mein Vater mit 78 Jahren nach einem schweren Sturz über die Stiege im Spital mit einer Oberschenkelhalsfraktur und einigen Kleinigkeiten, die im OP-Saal nicht hätten passieren dürfen, ich selber muss von einer Invaliditätspension mit Ausgleichszulage leben und kann jeden Monat rechnen, wie ich nach Abzug der Miete von den restlichen 430,- Euro leben und durchkommen soll und die Tatsache, dass ich vom Arzt aus ebenfalls im Rollstuhl sitzen sollte, aber nicht kann, weil es keine finanzielle Hilfe gibt, um die Kosten für die jeweiligen Hilfsorganisationen zu bezahlen - ich mich also mit einem Rollator und unter Schmerzen, die manchen Tag die Grenze des erträglichen übersteigen, durch die Welt schleppen muss. Und da nennt sich die zuständige Organisation Fonds Soziales Wien!
Wir haben daraufhin festgestellt, dass wir beide eigentlich im selben Boot sitzen und er hat den Euro, den ich ihm angeboten habe, nicht angenommen.

Als ich heute morgen auf dem Weg zur U-Bahn war, da ich meinen Vater im Spital besuchen wollte, traf ich meinen anonymen “Freund” und Leidensgenossen weinend und vor Kälte zitternd vor dem Bahnhofsgebäude an. Obwohl es drei Grad unter null hatte, Eisregen fiel und ein scharfer Wind ging, musste er vor dem Gebäude sitzen, denn innerhalb des Bahnhofs ist das Betteln verboten.
Ich sprach ihn an und versuchte herauszubekommen, was geschehen war und weshalb er Tränen in den Augen hatte.
Nur sehr zögerlich kam dann seine Antwort und so als ob er sich dafür schämen würde:
Man hatte ihn heute morgen aus der WG hinausgeschmissen, weil seine Pension nicht ausreicht, um die laufenden Beiträge zu bezahlen und eine zusätzliche Förderung kommentarlos gestrichen worden war.
Jetzt saß er auf der Straße, fror und wusste nicht, wo er die kommende Nacht verbringen sollte. Hunger hatte er zusätzlich, da man ihm in der WG nicht mal mehr ein Frühstück gegeben hatte.

Bei einer derartigen Gefühlskälte seitens einer “Hilfsorganisation” war ich erst einmal komplett sprachlos, aber nicht lange, dann siegte mein Gerechtigkeitssinn. Schließlich bin ich nicht umsonst als Indigo-Kind geboren worden. Als erstes schnappte ich mir seinen Rollstuhl, sagte ihm, er solle seinen Becher einmal kurz einstecken und schob ihn in die gut beheizte U-Bahnstation hinein.
Dann forderte ich ihn auf, dass er mir “Rückendeckung” gab, während ich am Bankomaten Geld abgehoben habe. Er war so sprachlos, dass er kommentarlos machte, was ich ihm sagte. Als ich einen etwas größeren Geldbetrag vom Konto abgehoben hatte und wieder zahlungsfähig war, schob ich ihn einfach weiter in seinem Rollstuhl, während er meinen Rollator vor sich her geschoben hat, in Richtung Mann-Filiale.
Eine kurze Frage, ob ein Kaffee genehm sei, und ich hatte auch schon ein komplettes Frühstück für ihn zusammengestellt, das auch die restlichen Mahlzeiten für diesen Tag abdeckte.
Dann noch eine kurze Diskussion mit der Verkäuferin um die Frage, wenn ich einen Geldbetrag hinterlegen würde, ob er sich dann im Laufe des Tages weitere warme Getränke holen könnte. - Das konnte die Verkäuferin nicht entscheiden, da musste sie die Chefin holen.
Als ich der Filialleiterin kurz schilderte, um was es ging, war sie erst einmal entsetzt, dass es eine derartige eiskalte Entscheidung seitens des FSW geben könne, doch gleichzeitig war sie begeistert von meiner Handlungsweise.
Sie nahm ihrer Angestellten die restliche Bedienung für mich ab, um am Ende den Rechnungsbetrag, den ich zu zahlen hatte (an die 25Euro) kommentarlos zu verdoppeln mit den Worten: “Dann ist er morgen auch noch mit Nahrung und warmen Getränken versorgt.”
Außerdem wurde mein “Freund” aufgefordert, sich öfters im hinteren Bereich der Filiale, wo es durch die Backöfen herrlich warm ist, bei einem Becher Tee oder Kaffee aufwärmen zu kommen.

Froh, dass es nicht nur die Leute gibt, die im März, bei Wind und Wetter ihren Kragen hochziehen um nur ja nichts von der Kälte dieser Welt - auch der sozialen Kälte- mitzubekommen, sondern dass es auch noch eine kleine Handvoll Menschen gibt, die auch den in Not geratenen Nachbarn sehen, habe ich meinen Weg dann fortgesetzt und bin zu meinem Vater ins Spital gefahren.

Am nächsten Tag habe ich dann erfahren, dass die Filialleiterin der Mann-Filiale eine Idee hatte, die diesem jungen Mann nicht nur eine Unterkunft sondern gleichzeitig auch die Möglichkeit einer leichten Beschäftigung eingebracht hat, sodass er nicht mehr auf der Strasse sitzen und betteln musste, sondern dass er jetzt sozusagen komplett versorgt ist.

Es wäre schön, wenn es für alle sozialen Notfälle und für jeden unverschuldet in Not geratenen Menschen eine ähnliche Lösung geben würde - dann wäre unser soziales Umfeld ein kleines bisschen weniger frostig.

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Tag der Veröffentlichung: 27.12.2011

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