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Jack the Rippers Erbe

Kennen Sie das auch?

Sie denken an nichts Böses und ganz plötzlich überfällt Sie eine Erinnerung. Gedanken an frühere Zeiten seien sie nun gut oder schlecht, aber meistens sind sie einfach nur unwillkommen. So ergeht es mir gerade.

Ich stehe in meinem kleinen Kuriositäten Geschäft, mit dem bezeichnenden Namen Alice' Wunderland und will gerade die neuste Lieferung verstauen. Ganz plötzlich halte ich ein Buch in den Händen.

Die Lektüre bezieht sich auf die Morde des sogenannten Jack the Ripper. Der Schlitzer von London, der vom Frühling 1888 bis in den November hinein, einige Prostituierte in den weniger feinen Stadtteilen von London brutal ermordet hat.

Bis heute sind seine Identität und die genaue Anzahl seiner Opfer völlig unklar, ebenso, wann die Mordserie endete. Denn nach 1888 fand man immer mal wieder übel zugerichtete Leichen junger Frauen. War das die Handschrift des Rippers?

Oder nur einige Nachahmer, die ihre Taten im Schatten des bösen Jacks verdunkeln wollten?

Beim schnellen Durchblättern des schmalen Buches in meinen Händen bemerke ich, dass auch der Autor keine Lösung und keine klaren Linien ziehen kann.

Wie auch, niemand kennt die genauen Umstände.

Aber ich könnte ihnen die Wahrheit erzählen, ich weiß genau, wie es sich damals abgespielt hat … ich war dabei.

Ich stand dicht neben Jack the Ripper und sah, warum am 9. November 1888 die Mordserie abrupt abriss.

Der Schlitzer von London tötete nach dem bewussten Tag keine Huren mehr, weil er selbst nicht mehr lebte. Er ließ sein Leben in einem äußerst schäbigen Zimmer im ärmlichen Londoner Stadtteil Spitalfield.

 

*

 

Ich wohnte in dieser Wohnung, zusammen mit Jacks letztem Opfer – Mary Jane.

Wir waren Freundinnen und gingen beide einem weniger feinen Gewerbe nach.

An dem bewussten Tag im November – übrigens ein Freitag – hatte ich einen guten Kunden, der mich länger als sonst üblich beschäftigte. Erst gegen vier Uhr morgens schritt ich durch die Türe in unsere bescheidene Behausung.

Ihr Zimmer lag rechts, meines auf der linken Seite. Dazwischen befand sich das gemeinsame Wohnzimmer, ein winziges Zimmerchen, das diesen Namen weder verdiente, noch ihm gerecht wurde. Unter ihrer Türe drang Licht hervor und es erklangen seltsame Geräusche, ein Keuchen, männlich – eindeutig.

Einen kurzen Augenblick dachte ich daran, dass sie vielleicht nur einen Kunden in ihrem Bett hatte, verwarf aber den Gedanken rasch wieder. Die Geräusche hinter der Türe stammten zwar von einem Mann, aber der befand sich bestimmt nicht in einer eindeutigen Situation. Es klang eher so, als stemme er ein Gewicht.

Wir waren alle verunsichert und ängstlich, wegen der Ripper Morde, die seit dem Frühjahr für mächtig viel Gesprächsstoff unter den Leuten sorgte. Aber ich verschwendete keinen Gedanken daran. Eher dachte ich an einen Einbruch, obwohl es bei uns nichts zu holen gab. Oder an ihren Ex-Freund, diese Beziehung hatte sie vor gut einer Woche beendet. Seitdem hat er sie zwar schon ein paar Mal besucht, aber er war uns als Gast nicht sehr willkommen. Hatte er doch so eine Art an sich, die einem die Nackenhaare zu Berge stehen ließen. Er war rau und ungehobelt, brutal und rassistisch. Ein richtiger Dreckskerl eben, niemand, wovon ein Mädchen in unserem Alter träumen konnte. Ich war froh, als Mary Jane ihm den Laufpass gab.

All dies schoss mir durch den Kopf, als ich langsam auf ihr Zimmer zuging – wie gesagt, keine Sekunde dachte ich an den Ripper und dass er sich vielleicht meine Freundin geschnappt haben könnte.

Zögernd drückte ich die Klinke hinunter. Bitte, lass sie nur einen Kunden haben, schickte ich ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, wenn auch einen, der merkwürdige Geräusche produziert.

 

Leise quietschend schwang die Tür auf.

 

Im flackernden Schein von zwei Öllampen sah ich Mary Jane auf ihrem Bett liegen.

Blut glitzerte hell im Schein der Lampen. Ihre Kehle war aufgeschlitzt, unablässig quoll Blut daraus hervor, floss auf das abgenutzte Leinentuch und versickerte darin. Überall waren rote Spritzer und dicke Tropfen zu sehen, selbst auf der Zimmerdecke über ihrem Bett. Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden, diese ganze Szenerie in mich aufzunehmen und sich für immer in mein Gedächtnis einzubrennen.

Dann sah ich ihn. Er kniete halb auf dem Bett, das Messer noch in der linken Hand, die andere abgestützt dicht neben dem toten Körper von Mary Jane.

Sein Kopf mir zugewandt, der Blick – eine Mischung aus Erschrecken und Gier – traf mich.

Ich schrie nicht, ich hatte nicht vor, diesen Schweinehund auszuliefern. Die Situation erschreckte mich zwar, aber nicht so sehr, wie man vermuten könnte. Ich war ein mutiges Mädchen, hatte ich doch meine Jugend auf Londons Straßen zugebracht und musste schon sehr früh lernen, mich durchzusetzen.

Natürlich hatte ich einem Perversen, der mit einem Messer bewaffnet war, nichts viel entgegenzusetzen. Ich war sehr klein und schmächtig, aber ich kannte Leute, die das richtige Format hatten. Gute Freunde, die ihn mit Freuden kaltgestellt hätten. Ganz zufällig wohnte einer von ihnen zwei Stockwerke über uns. Ich musste es nur schaffen, lebendig zu ihm zu gelangen. Dann war der Schlitzer nur noch Geschichte. Diese Gedanken schossen in atemberaubender Geschwindigkeit durch meinen Kopf, alles ging so schnell vor sich, das Jack nur einen Atemzug tat – einen seiner letzten zehn.

„Du … du Schwein ...“, stieß ich atemlos hervor.

Jack lächelte leicht und erhob sich. Er war ein gut aussehender Kerl, noch jung, allerhöchstens dreißig Jahre. Gut gekleidet. Nicht das Monster, wie ihn alle Welt sah.

„Du bist viel zu früh, Püppchen“, hauchte er mit einer unglaublich weichen Stimme.

„Ich dachte, du kommst erst in einer Stunde nach Hause.“

Er ging einen lockeren Schritt auf mich zu, ich wich keinen Millimeter zurück, ich konnte nicht, war wie erstarrt.

„I-Ich bin schneller fertig g-geworden“, stotterte ich als Antwort und konnte im selben Augenblick nicht fassen, dass ich hier stand und mich mit dem Mörder meiner Freundin unterhielt.

Er kam noch einen Schritt näher, hauchte seinen drittletzten Atemzug und flüsterte:

„Das ist nicht schlimm ...“, sein Grinsen wurde hämisch, „… jedenfalls für mich.“

Er stand nur noch drei, vier Schritte von mir entfernt, das Messer leicht erhoben. Mit dem Rücken zum Fenster, vor dem sich die schmutzigen, gelben Vorhänge leicht bewegten.

Mary Jane hatte ihr Fenster wie immer offen gelassen. War er auf diesem Wege in ihr Zimmer gekommen? Es war unerheblich, selbst wenn meine Zimmergenossin Jack mitgenommen hatte, den Weg durch das Fenster nahm ein anderer.

Ich weiß nicht, ob er vom Geruch des Blutes oder vom Duft des Wahnsinns angezogen wurde, aber er hatte es eindeutig nur auf Jack den Schlitzer abgesehen.

Die schmuddeligen Gardinen teilten sich, ein knirschender Laut erklang, als er durch das zur Hälfte hochgeschobene Fenster sprang.

Jack the Ripper tat seinen letzten Atemzug und wirbelte herum. Weder er noch ich ließen einen Laut hören, wir waren wie zu Stein erstarrt.

Was da so einfach aus der Nacht zu uns hereingesprungen kam, das gab es nicht,  das durfte es einfach nicht geben. Es war gegen jedes Gesetz – ob Natürliches oder Gedankliches – es konnte einfach nicht sein und doch stand es vor uns.

Ein Wolfsmensch oder Menschwolf … wie auch immer.

Er stand aufrecht, die Ohren gespitzt, das Maul leicht geöffnet und die Pranke mit den scharfen Krallen angehoben. Ein leises Knurren, bedrohlich, wild und dunkel erklang aus seinem hässlichen Körper, dann ließ er die krallenbewehrte Pranke durch die Luft sausen.

Jacks Leben war augenblicklich vorbei. Der Wolf schlitzte ihn vom Hals abwärts bis zum Bauch auf. Das Blut des ehemaligen Rippers von London spritzte nur so im Zimmer umher, traf den Wolf, den Boden, das Bett, auch Mary Jane wurde besudelt. Mit einem lauten Klatschen fielen seine Eingeweide heraus. Ich konnte die Gedärme sehen, wie sie sich auf dem Boden wandten, wie glänzende, feuchte Schlangen.

Nur noch kurz hielt sich Jack aufrecht, dann sackte er mit einem dumpfen Geräusch in sich zusammen und gab den Blick auf mich frei.

Wenn ich es auch gewagt hätte, einem Mörder aus Fleisch und Blut die Stirn zu bieten, bei diesem Ding, verließ mich schlagartig jeglicher Mut.

Dabei beachtete der Wolfsmensch mich gar nicht, er drehte sich um und sprang mit seinen merkwürdigen Beinen auf das Bett. Die Krallen fuhren ein paar Mal durch die Luft, Mary Janes toter Körper bewegte sich leicht hin und her. Es schien so, als suchte der Wolf etwas in ihr. Tatsächlich fasste er in sie hinein und im nächsten Augenblick sah ich seine Pranke, mit Blut beschmiert und Mary Janes Herz haltend.

Um es zu verschlingen, brauchte er nur zwei Bissen.

Ich aber hatte endgültig genug gesehen. Laut nach Atem ringend, drehte ich mich um und rannte aus der Wohnung. Schoss, einer Kanonenkugel gleich, auf die leere, dunkle Straße hinaus.

Ich gab alles, rannte wie eine Verrückte, den genauen Weg wusste ich nicht, ich hatte kein klares Ziel, ich wollte nur eines: möglichst schnell weg – weit weg – von diesem Irrsinn.

Ich lief durch schmutzige Gassen, enge Straßen und über kleine Plätze. Ich lief immer weiter. Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich zum Fluss wollte, ich hatte das unbestimmte Gefühl, das ich am Wasser sicher war.

Die gute alte Themse sollte ich aber nicht so schnell erreichen.

Das Ding erwischte mich, als ich gerade an einer der vielen Gassen vorbei lief. Es packte meine Schulter und zog mich erbarmungslos in die Dunkelheit.

Jetzt endlich war meine Stimme wieder da, ich schrie aus Leibeskräften. Selbst als der Wolf seine Zähne in meine Schulter vergrub, brüllte ich meine Panik, mein Entsetzen hinaus.

Es dauerte nur einen Atemzug, und das Tier ließ von mir ab. Er schleuderte mich gegen die Hauswand und flüchtete in die dunkle Nacht.

Schwer atmend presste ich meine Hand auf die Schulter, er hatte keinen Knochen verletzt, eher vergleichsweise zart zugebissen.

Erst Jahre später fragte ich mich, ob es in seiner Absicht lag, ob er die Geschehnisse genauso gewollt hatte, oder war es nur der pure Zufall, war er vielleicht schon satt, oder fühlte er sich durch irgendetwas gestört?

Ich habe bis heute keine Antwort darauf erhalten.

Als der Tag anbrach, wusch ich mir mein Blut mit dem Wasser der Themse weg. Ich zitterte am ganzen Körper, nicht nur wegen der Kälte, auch vor lauter Angst.

Meine Freundin war tot, in ihrem Zimmer lag ihr zerrissener Mörder, überall war Blut und wahrscheinlich hatte irgendjemand mich weglaufen gesehen.

Niemand würde mir glauben. Ich glaubte mir ja selbst nicht. Die Polizei und das Gericht würde mich verurteilen. Der Druck der Öffentlichkeit wurde in diesen Tagen immer größer, immer lauter hörte man die Stimmen aus dem englischen Volk.

Sie schrien nach dem Mörder, sie wollten Jack the Ripper am Strick baumeln sehen.

Den behördlichen Organen war es bestimmt egal, wen sie zum Sündenbock stempeln konnten. Ich würde einen guten Täter abgeben, ich war am Tatort und hatte nur eine völlig unglaubwürdige Geschichte parat.

Sie würden mich mit Freuden und mit einem kalten Lächeln auf den Lippen, aufknüpfen. Völlig vergessend, dass aus einem Jack plötzlich eine Jane the Ripper geworden ist.

Ich musste hier weg, raus aus London, am besten auch weg von der Insel, rauf aufs Festland.

Mein letzter Kunde war von der großzügigen Sorte und so konnte ich einen Zug besteigen und mit der Fähre nach Frankreich übersetzen.

Zwei Wochen später, als ich völlig erschöpft und halb verhungert in Paris ankam, erfuhr ich die genauen Umstände über die Auffindung von Mary Janes traurigen Überresten.

Ich war sehr erstaunt, dass in dem kleinen Zimmer nur sie gefunden wurde, keine weitere Leiche, kein Jack the Ripper, keine Tierhaare, nichts. Man war sich nicht sicher, ob der Mord wirklich dem Schlitzer zuzuschreiben war, da ihre Verstümmlungen sehr schwerwiegend waren. Das erste Mal.

Nur ich kannte die Wahrheit. Jack hatte sie ermordet, dafür wurde er von einem Werwolf getötet. Vielleicht fraß der ihn an Ort und Stelle, bevor er mir hinterher lief.

Ich richtete mich in Paris ein, es war und ist eine sehr schöne Stadt.

Drei Wochen nach dem Blutbad in Spitalfield fühlte ich die ersten Veränderungen an mir, oder vielmehr … in mir. Ganz plötzlich verspürte ich kein Hungergefühl mehr, mich überfiel nicht mehr die Gier, wenn ich ein frisches Brot roch oder sah, keine Lust mehr auf leckeres Obst, Hirsebrei oder gar Durst auf simples Wasser. Dafür drückte ich meine Nase an der Schaufensterscheibe eines Metzgers platt. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, beim Anblick des rohen Fleisches. Ich sah dem Metzger zu, wie er mit seinem Beil ein halbes Schwein zerhackte, und wünschte mir insgeheim, dass er sich nur einmal in den Finger schneiden sollte. Nur ein bisschen, ich wollte unbedingt sein Blut fließen sehen.

Am achtundzwanzigsten Tag nach Mary Janes Ermordung stahl ich mich des Nachts in ein Schlachthaus. Ich dachte nicht weiter darüber nach, ich tat es einfach. Ich wachte erst wieder auf, als ich weit über den gefüllten Blutbottich gebeugt, gierig das Tierblut mit einer Kelle in mich hinein schüttete. Mit einem leisen Schrei ließ ich die Kelle fallen, es platschte laut, als sie zurück in den Bottich fiel. Nur kurz schwamm sie noch an der Oberfläche, dann versank sie und hinterließ eine Luftblase, die fast lautlos an der Oberfläche zerplatzte. Ich sah mich um, suchte etwas ganz Bestimmtes.

Dann hatte ich es gefunden. Des Metzgers bestes Fleisch.

Es waren nur noch zwei Wochen bis Weihnachten, darum hingen hier so viele Filetstücke. Unschuldig, auf silberne, S-förmige Haken gespießt, warteten sie nur darauf, dass sie jemand pflückte. Ich tat ihnen nur zu gerne den Gefallen.

Mit gefülltem Magen und zufrieden wankte ich nach Hause. Ich bewohnte ein schäbiges Zimmer nahe der Seine.

Am neunundzwanzigsten Tag lag ich weinend und wimmernd in meinem Bett, ich konnte nicht zur Arbeit gehen. Mit mehr Glück als Verstand hatte ich eine Hilfsarbeit in einer Gerberei bekommen, es  bedeutete Geld.

Geld, das ich dringend brauchte, ich wollte in Paris nicht meinen Lebensabend beschließen, ich wollte irgendwann zurück nach England – dort lagen meine Wurzeln.

Ich wälzte mich in meinem Bett hin und her, vor lauter Schmerzen vergaß ich fast das Atmen. Es war unbeschreiblich, ein ziehender, reißender Schmerz, der sich von meiner Mitte über den gesamten Körper ausbreitete. Ich hatte das Gefühl, als würde es mich von innen her zerreißen. In Schweiß gebadet zerwühlte ich mein Bett, versuchte den Schmerz aus mir heraus zu schreien, aber es wurde immer schlimmer. Je mehr ich mich dagegen wehrte, umso grausamer fühlte es sich an.

Immer wieder fiel ich in eine Art Ohnmacht, eine tröstliche, beruhigende Dunkelheit umschloss mich dabei. Jedes Mal, wenn ich aus ihr mit einem Schrei wieder erwachte, wünschte ich sie mir sehnlichst zurück. Am liebsten wollte ich sterben – jetzt und hier.

Verrecken in meinem Bett, in diesem schäbigen Zimmer, in einer Stadt, in einem Land, das nicht das Meine war. Aber niemand hatte ein Einsehen mit mir, ich musste mein Leid ertragen. Erst gegen Abend ließ der Schmerz langsam nach. In meinem Schweiß gebadet lag ich schwer atmend zwischen den Laken und starrte zur Decke empor. Was geschieht hier nur mit mir, fragte ich mich, war ich krank? Hatte ich eine seltsame Krankheit? Das wenige, das ich aß, war darunter etwas gewesen, das nicht mehr gut war? Ich konnte mich an nichts Derartiges erinnern.

Vor Erschöpfung fielen mir langsam die Augen zu, stöhnend drehte ich mich auf die Seite, eine Hand unter mein Gesicht, die andere locker auf dem Laken liegend.

Ganz plötzlich spürte ich es wieder, ein Ziehen und Zerren. Diesmal nur in meinen Händen, erschrocken hielt ich sie mir vor das Gesicht. Ich sah, wie sie länger wurden, als wären sie aus Gummi und jemand würde daran ziehen.

Den Schmerz, den diese Veränderung hervor rief, spürte ich nur ganz am Rande,  mein Entsetzen war einfach zu groß. Meine Handflächen schienen zu wachsen, die Finger wurden dagegen immer kleiner, aus meinen Fingernägeln wuchsen lange Krallen, auch sah ich, wie meine Haut eine bräunliche Farbe annahm und Haare sprossen aus den Poren. Lange, schwarze Haare.

„Nein ...“, hauchte ich, „... alles, nur das nicht.“ Die Erkenntnis, die Erinnerung traf mich wie ein Blitz. Plötzlich ahnte ich, was hier mit mir geschah.

Ich sah mich wieder in London stehen, in diesem Zimmer, vor mir Jack the Ripper und hinter ihm sprang dieses Ding aus der Nacht zu uns herein.

Dieser Wolfsmensch, dieses Tier, … der Werwolf.

Er hatte auch mich gebissen, wurde man so angesteckt … wie mit einer Krankheit … infiziert? Ich hatte keine Ahnung von Werwölfen und solchen Sachen, so etwas gab es einfach nicht in meiner Welt.

Ich riss meinen Mund zu einem Schrei auf, aber es kam nur ein unheimliches Heulen heraus. Gleichzeitig spürte ich, wie sich mein Kiefer verformte, wie er länger wurde. Alle Knochen in meinem Körper schienen sich zu verändern, meine Rippen brachen mit lautem Knacken und meine Schultern wanderten, sie veränderten ihre Position. Der Rücken, die Hüfte, meine Beine … einfach alles wuchs. Der Schmerz war im Vergleich, zu den Qualen, die ich schon ertragen musste, ein leicht auszuhaltendes Kribbeln. Fast gleichzeitig mit dieser äußerlichen Veränderung spürte ich etwas Neues in mir. Wut, Gier und einen an Irrsinn grenzenden Blutdurst. Drohendes, grollendes Knurren drang aus meinem Körper. Ich stand auf alle viere gestützt auf meinem Bett, riss meinen mächtigen Kopf in den Nacken und begann ein schauriges Heulen.

Mit diesem Geräusch schob sich auch eine schwarze Wand über meine Augen.

So als blendete ich den Menschen aus und ließ nur noch den Wolf zu.

 

*

 

Laut schlage ich das Buch zu und stelle es energisch zurück in das Regal. Verdammte Erinnerungen denke ich bei mir. Sie sind mir nicht willkommen, nur ungern denke ich an die damalige Zeit zurück.

Seit dem sind schon unzählige Vollmonde am Himmel auf und wieder untergegangen. Es hat lange gedauert, bis mir klar wurde, was ich des Nachts treibe, wo ich hingehe und vor allem … zu, was ich werde.

Inzwischen habe ich zwei Jahrhundertwechsel miterlebt und lebe immer noch, dabei bin ich mittlerweile über hundertvierzig Jahre alt. Das Ding von damals hat mich nicht danach gefragt, ob ich zu dem werden will, was ich heute bin und ich habe niemals darum gebeten.

Trotzdem bin ich dem Werwolf dankbar. Hätte ich ohne seinen Biss so viele geschichtliche Ereignisse miterleben können? Wohl kaum. Ich hätte, mit sehr viel Glück, noch zwanzig Jahre gelebt, nur um an einer ekeligen Krankheit, völlig verarmt, in irgendeinem Drecksloch zu verrecken.

Aber stattdessen geht es mir heute gut, ich führe ein gut gehendes Geschäft im Stadtteil Bermondsey nahe der Themse. Ich bin eine geachtete Persönlichkeit, viele Leute kennen mich. Ab und zu besuche ich sogar Mary Janes Grab auf dem Saint Patrick Friedhof.

Jack the Ripper zu töten, war eine dumme Idee und ein Versehen, wie ich einige Jahre nach seiner Ermordung erfuhr.

Rätselhafte Morde geschehen in London noch immer, die meisten bei Vollmond.

Die Prostituierten dieser Stadt auszurotten, scheint eine schier unlösbare Aufgabe zu sein.

Aber irgendwann muss schließlich jeder etwas essen … oder?

 

ENDE

 

 

Impressum

Texte: Chrissi Schröder
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für das beste Geschenk auf Erden - meine Kinder. und für alle "REALEN" dieser Welt.

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