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Einbruch von Zeit und Raum in das Abendländische Be-wußtsein


Einleitung

Ziel dieser kleinen Schrift ist es, uns ein wenig Klarheit auf die Frage zu verschaffen, wann und wie im Laufe der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte das Phänomen von Raum und Zeit Eingang in unser Bewußtsein und unser Denken gefunden hat. Unser Leben, unser Dasein ist ein kontinuierlicher Prozeß zwischen dem Anfang und dem Ende unseres Lebens, zwischen unserer Zeugung und unse-rem Tod. Jeder Prozeß aber ereignet sich in Raum und Zeit. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Alles was im Universum existiert, hat (s)einen Ort, hat (s)eine Dauer, ist also ein Geschehen in Raum und Zeit. Nichts was existiert ist überhaupt denkbar ohne die Vorstellung von Raum, so wenig es auch denkbar ist ohne die Vorstellung von Zeit. Also: jedes in die Wirklichkeit getretene Sein bedingt als Voraussetzung seiner Existenz das Vorhandensein von Raum und Zeit. In der modernen Physik und Philosophie spricht man daher auch von dem so genannten Raum-Zeit-Kontinuum.

Wenn wir uns nun unserer Kulturgeschichte zuwenden und bis in den Zeitraum unse-rer Vorgeschichte zurückgehen, werden wir, soweit sich das anhand überlieferter Kultgegenstände überhaupt feststellen können, nur wenig konkrete Hinweise finden, die uns Aufschluß darüber geben, in wie weit ein bewußtes Verhältnis von Raum und Zeit vorhanden und welcher Art dieses Bewußtsein war. Hier drängt sich zudem die Frage zwangsläufig mit auf, welcher Gestalt ein Bewußtsein der eigenen Existenz überhaupt vorhanden war, denn das eine bedingt das andere. Auch hier müssen wir den Versuch einer Klärung unternehmen.

Schließlich wollen wir den Schwerpunkt auf die Frage verlegen, in welchen Ausprägungen sich diese Bewußtseinsentwicklung in den Bildenden Künsten, insbesondere in der Malerei manifestiert.

Zunächst wollen wir uns einem Denker zuwenden, der sich in besonderem Maße mit dieser Problematik auseinandergesetzt hat, nämlich Jean Gebser und seiner großen Kulturmorphologie "Ursprung und Gegenwart".

Jean Gebser, 1905 - 1973, ein schweizer Kulturphilosoph polnischer Herkunft, der in seinem bereits 1949 - 53 vorgelegten und 1964/65 in einer erweiterten Neuauflage herausgebrachtem Werk, „Ursprung und Gegenwart", eine groß angelegte kultur-morphologische Analyse und Kritik der modernen Welt unternimmt, arbeitet unter anderem eine Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins heraus. Er sieht in der geistig- kulturellen Evolution des Menschen u. a. eine Entwicklung vom unperspektivischen Bewußtsein über das perspektivische Denken hin zu dem sich im langsam ausgehenden 20. Jahrhundert abzeichnenden Übergang zu einer aperspektivischen Sicht der Wirklichkeit. Diese drei Begriffe sind Wortschöpfungen Gebsers, anhand derer er bewußtseinsgeschichtliche Prozesse klarzumachen versucht, die ich im Folgenden kurz erläutern möchte. Es sind zentrale Begriffe seines Denkens und eng verbunden mit der Entwicklungsgeschichte des Zeit- und Raumbewußtsein des Menschen in ihren unterschiedlichen Bewußtseinsstadien und somit hilfreich für eine Klärung unserer hier zu erörternden Fragestellung.

Mit unperspektivisch bezeichnet er das eindimensionale magisch-mythische Weltbild. Eine Objektivierung des Raumes und der Zeit hat noch nicht stattgefunden. Bis in das Hochmittelalter hinein zeigt beispielsweise die Tafelmalerei noch keine bewuß-te Auseinandersetzung mit dem Raum, mit der Perspektive. Figuren haften gleich-sam auf der Fläche. Ihre Größe richtet sich nach ihrer Bedeutung im Werk und nicht nach perspektivisch-räumlicher Schichtung. Nach Gebser lebt der Mensch der un-perspektivischen Welt noch weitgehend in der Zeitlosigkeit, eingebunden lediglich in die kosmische, in die mythische Zeit. Die Zeit als erfahrbares und messbares Konti-nuum existiert noch nicht in ihrem Bewußtsein. Und analog hierzu ist das Verhältnis zum Raum noch ein weitgehend Unbewusstes. Aber, und das muß hier hervorgeho-ben werden, diese unperspetivische Welterfahrung schließt den Menschen noch in die Geborgenheit des Kollektivs ein, was jedoch überhaupt nicht mit dem heutigen Phänomen der Vermassung zu vergleichen ist. Der Mensch, der noch im verhaftet ist, lebt noch überwiegend im „Wir“, die „Subjekt-Objekttrennung“ ist noch nicht voll-zogen. Er steht noch nicht als reflektierendes Individuum der Zeit und dem Raum gegenüber, sondern ist noch unbewußt eingebettet in den kosmischen Raum und in die Kosmische Zeit. Raum und Zeit werden noch als Lebenszeit und Lebensraum, nicht aber als messbare und als Zeit gnadenlos verrinnende Größen erfahren, man möchte fast sagen, erlitten.

Unter perspektivisch versteht Gebser die bewußte, rational-analythische und mentale Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen unserer Welt, in der sich das Ich und die Welt als Subjekt-Objektbeziehung gleichsam gegenüberstehen. Zentrale Begriffe und Fragestellungen werden die Objektivierung von Raum und Zeit, dem der Mensch als Individuum gegenübersteht, ja ausgeliefert ist. Das perspektivische Weltbild gipfelt somit in dem cartesianisch-newtonschen Weltbild der Aufklärung. Es handelt sich hierbei um ein streng mechanistisches Weltbild, das auf einem kla-ren Ursache-Wirkungs-prinzip aufbaut und weitgehend linear ist, das somit zugleich auch ”linear-kausalistisch” genannt werden könnte. Dieses perspektivische Welt-bild der Aufklärung ist nun durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften im Begriffe, in das aperspektivische überzugehen. In der bildenden Kunst manifestiert sich dieser Bewußtseinswandel vom unperspektivischen Bewußtsein hin zum perspektivischen Denken in der Entdeckung des Raumes und im weiteren Verlauf dann auch der Perspektive. Seinen Anfang nimmt diese Entwicklung in der Malerei des Giotto di Bondone (1266 – 1337), einem der Eckpfeiler der abendländi-schen Bildenden Künste, aber auch in der der Brüder Lorenzetti, bei denen als ers-ten zwischen 1327 und 1336 die Auseinandersetzung mit dem Raum und der Land-schaft im Bild sichtbar wird. Waren bis dahin die ganz der Anbetung dienenden bibli-schen Darstellungen der sienesischen Tafelmalerei noch in dem Goldgrund ohne Landschaft und Raum eingebettet und noch weitgehend der byzantinischen Form- und Bildsprache verpflichtet, so treten sie jetzt aus dem Goldgrund heraus. Es wer-den erste Ansätze von landschaftlicher Gestaltung sichtbar. Die Figuren werden durch Überschneidungen, räumliche Gruppierung und plastische Gestaltung bewußt als im Raum befindlich dargestellt. Es finden sich die ersten Ansätze von Perspektive in diesen Werken, die schon bald danach in den Werken eines Masaccio und in de-nen der Niederländischen Malerei des beginnenden 15. Jahrhunderts zu ihrer ersten Blüte führen. Hier sei nur an die Brüder Jan und Hubert van Eyk, den Meis-ter von Flèmalle, an Robert Campin, an Roger van der Weyden oder an Hugo van der Goes erinnert, um nur die wichtigsten zu nennen.

In der Geistesgeschichte kommt der Entdeckung der Landschaft durch den jungen Petrarca anläßlich der Besteigung des Mt. Ventoux im Jahre 1336, fast zeitgleich mit den vorgenannten Malern, eine außerordentliche Bedeutung zu! Sie ist uns in einem eindrucksvollen Brief an seinen Freund und Lehrer, Dionogi Roberto da Borgo San Sepolcro, erhalten geblieben und so sollen hier, zitiert nach Gebser, einige die-sen Aspekt erhellende Passagen kurz wiedergegeben werden: ”Den höchsten Berg unserer Gegend habe ich gestern bestiegen, nur von dem Verlangen geleitet, die namhafte Höhe dieses Ortes kennenzulernen. Durch viele Jahre war dies in meiner Seele. ... In den Schluchten trafen wir (er und sein Bruder) einen alten Hirten, der mit vielen Worten versuchte, uns von der Besteigung zurückzuhalten.” Sie stiegen den-noch weiter ”... und noch im Aufstieg trieb ich mich selber mit diesen Worten weiter an: ’Was also heute, beim Besteigen dieses Berges du erfahren hast, das kommt gewißlich dir und vielen zugute, die zu einem glückseligen Leben hingelangen wollen ...’” Dann auf dem Gipfel angelangt, überwältigt ihn ein Wechsel von Erschütterung und Begeisterung, ein Wechsel des sich Verlierens im Raum und des Zurückkom-mens in die Zeit :”Erschüt-tert von dem ungewohnten Winde und dem weiten, freien Schauspiel war ich zu allererst wie vor Schreck erstarrt. Ich schaue: Die Wolken la-gen unter meinen Füßen. ... Ich wende meinen Blick italienwärts, wohin sich noch mehr als dieser meine Seele wandte, und ein unsagbares Verlangen ergriff mich, meine Heimat wiederzusehen ... Und dann ergriff mich ein neuer Gedanke, der mich aus dem Raum in die Zeit trug ..” Es folgen Erinnerungen an die Heimat. Und dann folgt eine genaue Landschaftsbeschreibung: ”Dann wende ich mich nach Westen; vergeblich suche ich den Rücken der Pyrenäen, diese Grenze zwischen Frankreich und Spanien ... Ich sehe die Berge der Lyoneser Provinz zur Rechten, und zur Lin-ken die Fluten des Mittelmeeres, die auf der einen Seite Marseilles bespülen und sich an Aigues Mortes brechen; und obwohl die Entfernung weit war, sahen wir sehr deutlich: die Rhone selbst lag unter unserem Blick ....” Das Ungeheure und Neue seines Unternehmens scheint ihm durchaus bewußt zu sein, und er hat, vielleicht gleichsam als ”Anker” in der Tradition, aus der entstammt, die ”Bekennt-nisse” des Augustinus dabei, in die er sich plötzlich auf den Gipfel vertieft. Die Stelle ”’Und die Menschen gehen die hohen Berge bewundern und die gewaltigen Wogen des Mee-res und die langen Läufe der Flüsse und die Unermeßlichkeit des Ozeans und die Bahnen der Sterne, und sie geben sich selber damit auf’” und Petrarca fährt fort: ” Bestürzung erfaßte mich, und ich gestehe es, ... ich schloß das Buch, erzürnt dar-über, daß ich mich auch jetzt noch irdischen Dingen zugewandt hatte, da doch ... außer der Seele nichts bewunderungswürdig, und daß im Vergleich mit ihrer Größe nichts groß ist.” Hier kommt der Zwiespalt eines Menschen an der Grenze der Zeital-ter, des Überganges zum Ausdruck, insbesondere, wenn er dann doch wieder fort-fährt mit: ”Als ich alsdann im Betrachten dieses Berges meine Augen sattsam befrie-digt hatte, wandte ich meine inneren Augen in mich selber hinein, und von jener Stunde an war es, daß man uns nicht reden hörte.” Erst am Schluß des Briefes er-wähnt er in einem Nebensatz die körperliche Anstrengung, die diese Besteigung ja auch bedeutete: ”Soviel Schweiß und Mühen, damit der Körper dem Himmel um ein kleines näher komme ..., etwas Ähnliches muß die Seele erschrecken, die sich Gott annähert.” So weit ein kurzer Einblick in Werk und Denken von Jean Gebser und die Entdeckung der Landschaft als Raum.

Hier sei darauf hingewiesen, daß es auch schon in der älteren Tafelmalerei des Mit-telalters Andeutungen von Landschaft gegeben hat. Aber der entscheidende Unter-schied zu dem, was sich jetzt in der Zeit des Überganges von der Gotik zur Renais-sance, vom Mittelalter zur Neuzeit vollzieht, kann gar nicht genug hervorgehoben werden: In der alten Tafelmalerei werden lediglich verschiedene Attribute von Land-schaft in der Bildfläche gewissermaßen verteilt, und sie bleiben damit flächig – ohne Raum! Die Größe der Objekte und insbesondere die der menschlichen Figuren wer-den ihrer Bedeutung nach dargestellt und nicht entsprechend ihres Standortes im Raum. Der Raum als Ort, als Bühne des dargestellten Geschehens existiert eigent-lich noch nicht! Von nun an aber beginnt der virtuelle Raum Einzug in die - zweidimensionale – Malerei zu halten. Mit Giotto di Bondone (1266 – 1337) setzt dieser Prozeß erst richtig ein. Die Attribute der Landschaft, wie Bäume, Berge, Wege, Bauten, Himmel und Erde, Tiere und Menschen werden zusehends in räumliche Bezüge gebracht. Menschen werden oft um einen zentralen Bezugspunkt herum gruppiert. Es entstehen zahlreiche Überschneidungen und Rückansichten, und der Kreis der Personen wird im Oval dargestellt. Die Architektur, die häufig die Bühne des Geschehens bildet, wird bereits mit Untersichten und Verkürzungen, mit angedeuteten Fluchtlinien als räumliches Gefüge dargestellt.

Ansätze eines perspektivischen, also auch mental-rationalen Weltbildes sind aber auch schon ohne Zweifel in der griechischen Philosophie zu finden. Sowohl Zeit, wie auch Raum sind bereits bei Platon, er spricht schon von den Zeitmodi Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft, und Aristoteles, er setzt sie in Bezug zur Bewegung, Kategorien philosophischen Denkens. Der Raum ist bei ihm schon der Ort körperli-cher Dinge/Gegenstände und zugleich definiert er auch deren Begrenzungsfläche als Begrenzungsfläche eines konkreten Raumes. Die bewußte Auseinandersetzung mit diesen elementaren Kategorien des Seins lassen sich selbstredend durch die ge-samte nachfolgende Philosophiegeschichte weiterverfolgen, was aber hier in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden kann. Es soll jedoch noch ein Hinweis auf die bildende Kunst herangezogen und die Schwierigkeit, aber auch die manchmal sich ergebende Fragwürdigkeit strenger Abgrenzung kulturgeschichtlicher Epochen auf-gezeigt werden. Denn nach meinem Verständnis ist ein vorhandenes räumliches Se-hen in einem bereits schon in vieler Hinsicht perspektivischen Bildaufbau, wenn auch nicht im Sinne der von Leonardo da Vinci vollendeten Zentralperspektive in der spät-antiken Wandmalerei unverkennbar, was besonders deutlich in den Fresken von Pompeji und Herculaneum zu Tage tritt. Und wenn man dabei berücksichtigt, dass einige Darstellungen als Wiedergaben griechisch-hellenistischer Wandmalereien gel-ten, die häufig als Bühnenbilder den das Spiel umgebenden Raum darstellten, so haben wir hier die Spuren bewußten räumlichen Sehens und räumlicher Darstellung auf der zweidimensionalen Fläche bereits bis in die Zeit des Hellenismus zurückver-folgt. Man sollte also tunlichst streng unterscheiden zwischen räumlicher Darstellung und objektiver, oder im engeren Sinne konstruierter Zentralperspektive. Die freilich ist tatsächlich eine originäre Entdeckung und Erfindung der Renaissance.

Da wir uns aber in der zu untersuchenden Fragestellung bewußt nicht auf die natur-wissenschaftlich korrekte Darstellung des Raumes in der zweidimensionalen Fläche beschränkt haben, seien hier einige grundsätzliche Überlegungen zu dem Problem der räumlichen Darstellung in der Fläche eingefügt, aus denen sich meines Erach-tens eindeutig Ansätze eines räumlichen Sehens ablesen lassen.

Erst mit dem Einzug der Perspektive in die Malerei, gipfelnd in der streng konstruier-ten Zentralperspektive von Leonardo da Vinci, die die Renaissance für das Abend-land hervorgebracht hat, wird die Umsetzung räumlicher Wahrnehmung auf der zweidimensionalen Fläche zur Vollendung entwickelt. Denn zweifelsohne ist bereits auch in der griechisch-römischen Wandmalerei, wie weiter oben schon betont wurde, ein bewußtes räumliches Sehen und eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Darstellung der Figur im Raum vorhanden. Auch dass es bereits in der pompeijani-schen Malerei Stillleben gab, zeigt doch auch schon eine bewußte Subjekt-Objekttrennung. Zudem werden die im Bild gestalteten Objekte räumlich und bewußt im Raum befindlich dargestellt. Im gleichen Sinne ist die spätrömische Portrait-Plastik mit ihrer konsequenten Darstellung des einzelnen und einmaligen Individuums zu verstehen, die von diesem Gesichtspunkt betrachtet der Portraitmalerei der Renais-sance kaum nachsteht. Diese schon perspektivische und subjektiv-rationale Aneig-nung von Wirklichkeit und Welt ging in der frühchristlichen Kunst und in dem Frühmit-telalter verloren und trat zugunsten der Betonung des geistig-spirituellen und religiö-sen Bildinhalts und des weitgehenden Aufgehens des Individuums in die Führung und in den „Schoß“ der Kirche völlig in den Hintergrund, bis sie mit der Renaissance im wahrsten Sinne des Wortes wiedergeboren wurde.

Aber hier muss wieder betont werden, dass auch die Erschließung des Raumes in der Fläche und die Perspektive nicht plötzlich aus dem Nichts geboren, auch nicht wiedergeboren wurde, sondern sich aus einem längeren, mehr als ein Jahrhundert dauernden Prozeß heraus entwickelt hatte. Dieser Prozeß nimmt seinen Anfang bei Giotto und den Brüdern Ucello im Italien des Überganges von der Gotik zur Früh-renaissance, also etwa um 1300. Von hier aus breitet sich diese Entwicklung allmäh-lich über ganz Europa, also im gesamten Abendland aus und erreicht einen ihrer Hö-hepunkte in der Malerei der so genannten Alten Niederländer seit Beginn des 15. Jahrhunderts.

Ihre bedeutendsten Vertreter sind die Brüder Jan und Hubert van Eyk (oder Eijk ), der Meister von Flémalle, Rogier van der Weijden, Hans Memling, Hugo van der Goes und viele andere. Wenn auch hier die Zentralperspektive nicht bis ins letzte Detail durchkonstruiert ist, so ist doch hier bereits eindeutig der Blick vom Betrachter aus wiedergegeben und darüber hinaus sogar schon eine fast vollendete Luftper-spektive dargestellt, die meines Erachtens der gleichzeitigen Malerei in Italien in die-sem Punkte überlegen ist. Zudem ist auch hier die Portraitmalerei auf einem Niveau der Vollendung angelangt, die den Vergleich mit Italien nicht zu scheuen braucht. Es ist im Übrigen auch interessant und bemerkenswert, daß zu dieser Zeit auch die Mu-sik ihre genialste Ausprägung im Bereich Flandern und dem angrenzenden Frank-reich hatte, die man demgemäß auch als die „franko-flämische Polyphonie“ bezeich-net. Sie befruchtete die Musikentwicklung im ganzen Europa ihrer Zeit.

Es soll hier noch ein Gedanke über den Unterschied ganz allgemein räumlicher Dar-stellungsweise und der Zentralperspektive angefügt werden. Während Erstere zwar bereits eindeutig ein bewußtes räumliches Sehen und dessen Umsetzung in die zweidimensionale Fläche darstellt, bezieht die Zentralperspektive den Betrachter in den dargestellten Bildraum mit ein, denn sie ist die bewußte Wiedergabe der Ansicht des Raumes ausschließlich und eindeutig von einem Standort aus, nämlich von dem des Malers und damit auch von dem des Betrachters. Und das wiederum ist nur zu verstehen aus dem Geiste der Renaissance, die wieder den Menschen und damit auch das Individuum ins Zentrum des Denkens und Bewußtseins stellt, das die Dinge nun von sich aus betrachtet und immer mehr auch auf sich selbst bezieht.

Ein anderes gravierendes Symptom dieser neuen Sicht der Welt ist für Gebser der "Einbruch der Zeit"- gemeint ist hier die gemessene Zeit mit einer eindeutigen und unumkehrbaren Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft im Gegensatz zur Weltzeit und zur gelebten Zeit - gleichsam symbolisch vergegenwärtigt in der Auf-stellung der ersten öffentlichen Uhr im Palasthof von Westminster im Jahre 1283. Raum und Zeit werden immer bewußter wahrgenommen und mehr und mehr objektiviert. Das Ich des Subjekts steht der Welt als Objekt gegenüber. Die Subjekt-Objekttrennung wird vollzogen. Die Einheit des Menschen mit der Welt, mit der Schöpfung geht verloren. Die Welt als Objekt wird manipulierbar. Der Mensch rückt zwar immer mehr in den Mittelpunkt allen Denkens, doch die Vereinsamung und Vereinzelung des Individuums einerseits und die Hybris des Menschen als Herr der Welt andererseits nehmen ihren verhängnisvollen Lauf. Die Bewußtwerdung der Zeit, der gemessenen Zeit, macht die Unausweichlichkeit der Vergänglichkeit im Allge-meinen und der eigenen Vergänglichkeit im Besonderen in aller Schärfe deutlich, ja in dramatischer weise überdeutlich. Der Mensch versucht nun verzweifelt durch die Tat, durch seine Gestaltungskraft, durch sein faustisches Element dieser Vergäng-lichkeit eine Pseudodauer abzutrotzen!

Es soll aber bei dieser hier mit eingearbeiteten Erörterung des gebserschen Denkens dennoch zu bedenken gegeben werden, daß sich unseres Erachtens schon mit dem ersten Aufschreiben geschichtlicher Ereignisse als Chronologie und mehr noch mit der Erfindung, mit dem Erstellen von Kalendern, eine bewußte Auseinandersetzung mit der Zeit manifestiert, auch wenn es sich hierbei in erster Linie um die Wahrneh-mung der kosmischen Zeit geht, denn diese Kalender basieren ja auf der Beobach-tung der Himmelserscheinungen. Auch dies kann im Einzelnen hier nicht weiter her-ausgearbeitet werden. Wenn dazu die griechische Mythologie auch noch einen ihrer Götter „Chronos“, also die Zeit nennt, so wird man ein allgemeines, wenn auch myt-hisch überhöhtes Zeitbewusstsein nicht übersehen können.

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Es soll hier noch der Versuch unternommen werden, der Frage nachzugehen, ob und wie weit in der Geschichte der abendländischen Musik parallele Entwicklungen zu entdecken sind. Das heißt, können wir in der Musik gleichfalls von der Entdeckung des Raumes sprechen? Hierbei stellt sich zuerst die Frage: kann man innerhalb von Musik auch von den drei oder gar vier Dimensionen sprechen? Und wenn ja, wie wä-ren die zu definieren? Wenn Kunst immer auch ein Ausdruck des geistigen Bewußt-seinstandes einer Zeit ist, so ist es nahe liegend, in den anderen Kunstdisziplinen nach den gleichen geistigen Entsprechungen zu suchen. In der Literatur haben wir das ja bereits ausführlich und geradezu exemplarisch am Beispiel von Petrarca dar-stellen können.

Wenn wir uns darauf einigen können, den reinen, singulären Ton, die einzelne Note als den Punkt, also als die „nullte Dimension“, eine einfache melodische Linie als die erste, eine homophone Harmonie als die zweite Dimension verstehen, denn hier er-reichen wir bereits das, was wir als Klangfläche bezeichnen können. Gehen wir die-sen Gedankengang konsequent weiter, so kommen wir nicht umhin, in der Polypho-nie, insbesondere in der polyphonen Mehrstimmigkeit, gipfelnd in den großen kont-rapunktischen Fugenwerken die Erschließung der dritten Dimension, also des Rau-mes zu sehen.

Etwa zu der selben Zeit, in der, wie wir weiter oben bereits ausführlich dargestellt haben, Petrarca den Landschaftsraum entdeckt hat und Giotto und seine Zeitgenos-sen begannen, die räumliche Darstellung in die Malerei, also auf der zweidimensio-nalen Fläche einzuführen, beginnt sich mit der frühen Ars Nova mit Philip de Vitry, Guillaume de Machault und Francesco Landini die musikalische Struktur langsam aus dem „flächigen Goldgrund“ der Gregorianik zu lösen. Neben einer akzentuierte-ren rhythmischen Dynamik gewinnen ganz neue Elemente, nämlich polyphone Struk-turen, prägende Wirkung auf die weitere Entwicklung der Musik. Mit der sich seitdem immer dynamischer entwickelnden polyphonen Mehrstimmigkeit, mit Kontrapunkt, Kanon und Fuge erlangt die Musik eine komplexe Struktur, die aus meiner Sicht ein-deutig auch dreidimensionalen, also räumlichen Charakter besitzt. Machen wir uns hierbei klar, daß parallel zu der Entwicklung von der Ars nova über Guillaume Dufay, Johannes Ockhem bis Josquin Despres in der Malerei der Weg von Giotto über Man-tegna, Massaccio, die Brüder van Eyk, Roger van der Weyden, Hans Memling zu Leonardo, Dürer, Grünewald, und Michelangelo geht und betrachten wir dabei nochmals bewußt die Entwicklung der räumlichen Darstellung, so liegen, wie mir scheint, die Entsprechungen ziemlich offensichtlich zutage.

In den großen vielstimmigen und polyphonen Chorwerken von Giovanni Gabrieli er-langte die bewußte Räumlichkeit einen ihrer Höhepunkte, denn der Meister hat viele dieser Werke bewußt für San Marco in Venedig komponiert und einzelne Chöre und Orchestergruppen weiträumig in dem gewaltigen Kirchenraum verteilt. Hier wird also die räumliche Struktur der Musik in doppeltem Sinne evident – sowohl in der musika-lisch räumlichen Struktur des polyphonen Satzes, wie auch in den akustisch-musikalischen Erleben. Wir erleben diese Musik auch als Klangraum.

Eine Steigerung erfährt diese Entwicklung eigentlich nur noch in der Musik Bachs. Einige seiner gewaltigen Orgelwerke, aber auch einige Passagen aus seinen großen Chorwerken, insbesondere aus der h-Moll-Messe, sprengen aus meiner Sicht einfach alle Dimensionen und befinden sich schon fast jenseits von Raum und Zeit. Bach erscheint mir ohnehin kaum noch mit menschlichen Maßstäben zu fassen zu sein und ist für mich eines der größten Ereignisse der Menschheitsgeschichte.

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Tag der Veröffentlichung: 24.02.2011

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