L.N.Tolstois Geschichtsphilosophie und die Chaostheorie
Versuch einer Annäherung von
Christopher Kerkovius
Vorabzug – im November 2007
Dieser Text ist noch in Arbeit und nicht endgültig abgeschlossen
*(c) Copyright - 2009
CHRISTOPHER KERKOVIUS
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L. N .Tolstois Geschichtsphilosophie und die Chaostheorie
Versuch einer Annäherung von Christopher Kerkovius *(c) 2004
Es mag beim ersten Hinsehen verwunderlich erscheinen, Lew Nikolaijewitsch Tolstoi, 1828 – 1910, den russischen Großmeister grandioser Epen der Weltliteratur, mit der Chaostheorie, einer Theorie aus den letzten Jahrzehnten, in Verbindung zu bringen. Aber eine nähere Betrachtung seiner Geschichtsphilosophie, die immer wieder in langen Passagen in seinem Hauptwerk „Krieg und Frieden“ eingewoben ist, macht diese Nähe überdeutlich.
Auch wenn die Chaostheorie eine wissenschaftliche Theorie der letzten Jahrzehnte darstellt und man dementsprechend im Werk Tolstois keine adäquate Terminologie erwarten darf, so entsprechen doch viele Aspekte seiner Ge-schichtsbetrachtungen denen der Chaostheorie. Und dies wird besonders deutlich bei seinen ausführlichen Beschreibungen der von ihm geschilderten Kriegsgeschehen als die leider die Menschheitsgeschichte quasi von Anbeginn begleiten-den, anscheinend unvermeidlichen Entgleisungen geschichtlicher Prozesse. Tolstoi weist in diesem Zusammenhang immer wieder auf die eklatante Diskrepanz zwischen den von den angeblich so „großen Feldherren und Kriegsstrategen“ geplanten Schlachten und ihrem tatsächlichen Verlauf hin, ein Phänomen, das wir bis zum heutigen Tage beobachten können. Er leugnet strikt überhaupt die Möglichkeit, den Kriegsverlauf im Voraus tatsächlich exakt planen und vorhersagen zu können. Er hält somit den ernsthaften Anspruch einer sogenannten Kriegswis-senschaft geradezu für absurd. Und hier, das sei vorweggenommen, erweist sich eine schon ins Groteske gesteigerte Analogie zur schrecklichen gegenwärtigen politischen Wirklichkeit, nämlich zu der des von den USA auf Teufel-komm-heraus ausgelösten Dritten Irak-Krieges im Frühjahr 2003 - hierauf wird später noch detaillierter einzugehen sein.
Diese hier postulierten Berührungspunkte der tolstoischen Geschichtsphilosophie mit der Chaostheorie soll nun anhand des Verlaufes von Kriegen als leider auch exemplarische geschichtliche Ereignisse und Prozesse näher erläutert werden. Wie bereits oben erwähnt, läßt sich seiner Meinung nach das Kriegsgeschehen überhaupt nicht wirklich planen oder vorherbestimmen. Nicht die scheinbar so wichtigen Entscheidungen und Pläne großer Feldherren und Kriegstrategen entscheiden über das Ergebnis des Krieges, sondern für Tolstoi sind oft lokale und auf einzelne Situationen bezogene Ereignisse, Stimmungen, Zufälle mit unerwarteten Ereignissen und deren Wechselwirkungen auf die große Masse der beteiligten Soldaten, die oft zu völlig unerwarteten und unvorhersehbaren Entwicklungen führen, die dann sogar kriegsentscheidend sein können. So kön-nen beispielsweise die unvorhersehbaren Wettereinflüsse vorgeplante Strategien über den Haufen werfen. Oder aber der plötzlich aufflammende Mut, die Ent-schlossenheit und der Siegeswille eines kleinen Kompanieführers kann unter Umständen eine große Übermacht an „Feinden“ in Verwirrung stürzen und unter Umständen gar in panische Flucht treiben und diese Stimmung sich auf andere Einheiten, sowohl auf die der angreifenden, wie auch auf die der plötzlich flie-henden Soldaten übertragen und damit das Kriegsgeschehen maßgeblich beein-flussen. Hier sei vorweg eine kurze, Tolstois Ansichten hierüber verdeutlichende Passage aus dem 11. Kap. des 9. Teils, besonders S. 878 eingefügt: „.... Jener Gedanke; der ihm während seiner Kriegstätigkeit schon früher öfters gekommen war, daß es eine Kriegswissenschaft gar nicht gibt und auch gar nicht geben kann, und daß deshalb ein sogenanntes Kriegsgenie etwas ganz Unmögliches ist, erschien ihm jetzt als volle und augenscheinliche Wahrheit. Wie kann es eine Theorie und Wissenschaft in einer Sache geben, deren Bedingungen und äußere Umstände unbekannt und gar nicht zu bestimmen sind, in einer Sache, bei der die Kräfte der Operierenden noch viel weniger festgestellt werden können. ....“ Diese Worte legt Tolstoi einem der Hauptfiguren seines Romans in den Mund, der als höherer Offizier in der Schlacht von Borodino involviert ist – so wie übrigens Tolstoi selbst als höherer Offizier am Krimkrieg teilgenommen hatte, denn hier muß auf den Umstand hingewiesen werden, daß Tolstoi als der aristokratischen Oberschicht zugehörig, nicht von Dingen redet, von denen er keine Ahnung hat. Selbstverständlich hat auch er einige Jahre eine Militärlaufbahn eingeschlagen, wie es für seinen Stand fast unumgänglich war. So diente er freiwillig von 1851 – 54 in der Kaukasusarmee und nahm 1855 als Offizier am „Krimkrieg“ teil. Hier hat er für sich entscheidende Erlebnisse bei den Kämpfen um Sewastopol verin-nerlicht, die seine Einstellung zum Krieg offensichtlich maßgeblich mitgeprägt haben. Einen weiteren wesentlichen Aspekt für seine entscheidende Kriegsgegnerschaft und seine sich zusehends verschärfende Einstellung zum Militär hängt natürlich auch mit seinem aus tiefer Überzeugung gelebten Christentum zusammen. So ist denn auch sein Hauptwerk „Krieg und Frieden“ zu einem der ersten eindeutigen Antikriegsbücher in der Literaturgeschichte geworden. Hierzu siehe u.a. 10. Teil, Kap. 39, - es ließen sich hierfür noch unzählige Textstellen anführen!
Über diesen einen Aspekt der Geschichte, den des Kriegsgeschehen hinaus, weist Tolstoi auch ganz allgemein auf die unvorhersehbare Dynamik geschichtlicher Prozesse hin. Hiermit verlassen wir natürlich die besondere Zuordnung seiner Geschichtsphilosophie auf die Chaostheorie und werden dann auch noch einen kleinen Blick wagen in die Theorie der offenen Systeme, schon weil eine Einengung nur auf die Chaostheorie zu kurz greifen würde.
Für Tolstoi „machen“ und planen letztendlich nicht – zumindest nicht aus-schließlich, so versteht es der Verfasser - die einzelnen „großen Gestalten“ der Weltgeschichte den Verlauf der Geschichte, sondern die Masse der Individuen mit ihren Stimmungen, Wünschen, Vorstellungen zusammen mit den großen Bewe-gungen und geistigen Strömungen ihrer Zeit mit ihren vielfältigen Wechselwirkungen sind die eigentlichen treibenden Faktoren der dynamischen geschichtlichen Prozesse. Die „großen Persönlichkeiten“ werden gewissermaßen durch diese mannigfaltigen Aspekte und Einflüsse in ihre Rolle hineingedrängt, können ihr quasi gar nicht entrinnen, so jedenfalls sieht es Tolstoi. Sie selber glauben dann jedoch, selbst Ihren Platz erobert zu haben und ihr souveränes Handeln würde das Geschick des ihnen „anvertrauten“ Staates oder der ihnen „anvertrauten“ Menschen bestimmen und gestalten. Aber so einfach ist das wohl nicht, denn mit Goethe könnte man auch sagen: „Man glaubt zu schieben, und wird geschoben“.
Interessant und verblüffend zugleich ist , daß in der Literatur Tolstois Geschichtsphilosophie gar nicht ausdrücklich thematisiert zu sein scheint. In der rororo Bildmonographie über Tolstoi von Janko Lavrin, der auch den Band über Dostojewski verfaßt hat, werden seine Geschichtsbetrachtungen quasi mit einem Federstrich abgetan und als überflüssig bezeichnet. Er schreibt auf S. 83, 84:“.... Dagegen kann man auf Tolstois historiosophische Einschiebsel und Erörterungen ohne großen Schaden verzichten. Das gilt vor allem für sein Dogma, das die nationalen Kollektive, die Völker allein, und nicht große Persönlichkeiten die eigentlichen Beweger der Geschichte seien. ...“ Sicher sehe auch ich das nicht so einseitig, wie es Tolstoi überwiegend ausführt. Dennoch ist es genauso haltlos, die großen Gestalten allein als die Ur-heber und Gestalter der geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen hinzustellen. Wir kommen darauf noch zurück. Mir hingegen scheint, was diesen Aspekt betrifft, die Bewertung der Geschichtsphilosophie Tolstois durch Lavrin erheblich zu eng. Meines Erachtens geht eine solch eingeschränkte Herangehensweise an „Krieg und Frieden“ schlicht und einfach an einem wesentlichen Hauptanliegen Tolstois vorbei, das nämlich gerade offensichtlich auch das Problem Mensch und Geschichte, oder wir können es auch als die Wechselwirkungen der kollektiven Geschichte auf die Lebensgeschichte des Einzelnen bezeichnen. Die allgemeine Geschichte bildet den festen Rahmen, ja wir müssen sagen, die lebensbestimmenden Rah-menbedingungen des Schicksals der handelnden Personen, denen sie nicht entrinnen können. Und diese historischen Rahmenbedingungen werden vom Schriftsteller in immer wieder neu-en Anläufen in längeren Essays dargestellt, analysiert und variiert. Die Ansicht Lavrins, auf Tolstois historiosophische Einschiebsel und Erörterungen könne man ohne großen Schaden verzichten, scheint mir geradezu grotesk, denn dann braucht man „Krieg und Frieden“ gar nicht zu lesen. Natürlich ist schon die Darstellung der faszinierenden Charaktere der handeln-den Personen und ihr oft um die fundamentalen Grundfragen menschlicher Existenz ringende Auseinandersetzung mit ihrem Dasein große und zeitlose Kunst, aber dennoch, auch diese Auseinandersetzung findet statt im Rahmen der ihre Zeit prägenden Geschichte – und ohne diesen Aspekt würde das Werk Tolstois willkürlich wesentlicher „Glieder“ amputiert!
Selbst wenn man zu dem Schluß kommt, daß die Ansichten Tolstois hier in eine dog-matische Einseitigkeit führen, so hat sie uns doch offensichtlich selbst zu einer neuen oder bewußteren Klarheit in dieser Frage verholfen, indem sie uns nämlich zu einer intensiven Hinterfragung und Stellungnahme zu dieser These herausgefordert hat! Zudem ist in der mehrseitigen Bibliographie bei Lavrin kein Titel verzeichnet, der auf eine eingehendere kritische Behandlung von Tolstois Geschichtsphilosophie schließen läßt. Es wäre übrigens sicher ein interessantes Experiment, alle geschichtsphilosophischen Essays und diesbezüglich rele-vanten Passagen aus seinem „Krieg und Frieden“ herauszuextrahieren und dann zu sehen, was dabei herauskommt! Es entstünde quasi ein geschichtsphilosophisches Lesebuch von Tolstoi. (Diesem Experiment habe ich mich in der Zwischenzeit gewidmet, und es ist dabei tatsächlich ein solches Lesebuch von annähernd 90 Seiten entstanden mit überwiegend allgemeinen Ge-schichtsbetrachtungen, die oft gar keinen direkten Bezug zum epischen Geschehen des Wer-kes haben. - Anm. des Verfassers vom Nov. 2007.)
Wenden wir uns nun, bevor wir anhand einiger ausgewählter Passagen aus Krieg und Frieden noch näher auf unsere These, bzw. auf diese Sicht Tolstois eingehen, der Chaosthe-orie zu, um die zuvor bereits angedeuteten Parallelen hierzu zu der Geschichtstheorie Tolstois sichtbar und nachvollziehbar zu machen.
Von der aus der Quantenphysik bekannten Erkenntnis von der Offenheit der Systeme führt ein direkter und plausibler Weg in die noch recht junge Chaosforschung oder Chaos-theorie. Sie lehrt uns zusammen mit den Erkenntnissen über die Theorie der sich selbstor-ganisierenden und selbstregulierenden Systeme in einem noch stärkerem Maße, die Ge-setzmäßigkeiten und zugleich die Unberechenbarkeit komplexer dynamischer Prozesse neu zu betrachten. Hier erweisen sich nämlich minimalste Einflußfaktoren innerhalb dieser dynamischen Prozesse potentiell als die das ganze System zerstörende oder aber verändernde – in jedem Falle aber sie fundamental beeinflussende - Kräfte. Der französische Mathematiker Henry Poincare fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus, daß es sogenannte dynamische Systeme gibt, in denen sich winzige Störungen im Laufe der Zeit in ihren Wirkungen zu ge-waltigen Dimensionen steigern können. Von seinen Zeitgenossen wurde diese Erkenntnis erst einmal nicht weiter beachtet. Erst die intensiven Bemühungen, genauere Wettervorhersagen zur frühzeitigeren Unwetterwarnung erwiesen sich schließlich als eine Bestätigung der Erkenntnis Poincarés insofern, als E. Lorenz in den USA versuchte, am Computer möglichst genaue Wetterdaten bereits aufgezeichneter Abläufe aus der Vergangenheit einzugeben, um damit quasi Wettermodelle zu simulieren. Sein Bestreben war, den immer wieder von schwe-ren Hurrikans heimgesuchten Süden der Vereinigten Staaten erheblich früher vorwarnen zu können. Es erwies sich aber, daß diese Modelle nach einer größeren Anzahl von Datenfolgen immer mehr und schließlich völlig vom tatsächlichen Geschehen abwichen, was offensichtlich an den ungenauen Zahlenwerten – die Abweichungen ergaben sich zwar erst lediglich nach der dritten Stellen hinter dem Komma (!!!) - lag. Die Konsequenz hieraus war also, daß bereits derart kleine Abweichungen – in der dritten Nachkommastelle wohl bemerkt ! -, nen-nen wir es auch Störungen, das ganze System derart veränderten, daß eine Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen und tatsächlichen Ereignis nicht mehr vorhanden war. Hieraus erklärt sich auch der aus der Chaosforschung stammende Satz, der Flügelschlag eines Schmetter-lings könne unter extremen Konstellationen bereits einen Tornado auslösen. Oder man denke auch nur an den sprichwörtlichen Schneeball, der eine Lawine auslösen kann, was ja auch tatsächlich gelegentlich vorkommt. Eine gewisse Ähnlichkeit zur ”Heisenberschen Un-schärferelation” liegt aus meiner Sicht, zumindest was die nichtlineare, nicht determinierba-re Betrachtung der Entwicklung von Wirklichkeit betrifft, nahe.
Hier sei noch eine kurze Textstelle aus dem 9.Teil, 11. Kap, S. 879 unten und 880 aus „Krieg und Frieden“ eingefügt, die „dem Flügelschlag eines Schmetterlings“ nicht unähn-lich ist: „ ... . Die Niederlage oder der Erfolg (einer Schlacht - Anm. d. Verf.) hängt nicht von ihnen (den sog. genialen Feldherren, Anm. d. Verf.) ab, sondern von jenen Menschen, die auf der vordersten Reihe :>Wir sind verloren!< oder:>Hurra!< schreit. Und deshalb kann man auch nur in diesen Reihen mit der Überzeugung dienen, nützlich zu sein. So dachte der Fürst Andreij, ...“
Parallel hierzu untersuchte B. Mandelbrot in einem Forschungslabor der IBM die Ursachen von Fehlern bei der Datenübertragung im Telefonnetz von New York. Es stellten sich immer wieder massive Häufungen von Störungen, unterbrochen von längeren störungsfreien Zeiten, ein. Selbst in den Störphasen gab es noch kurze störungsfreie Intervalle. Hinter diesen ”Selbstähnlichkeiten” der Störungsdiagramme/-kurven vermutete er grundsätzlichere Strukturen und Gesetzmäßigkeiten. Er kam schließlich zu dem Ergebnis, daß bereits die kleinsten Teile eines dynamischen Systems die Tendenz haben, selbst aus ”chaotischen Zuständen” heraus sich immer wieder zu geordneten Strukturen zu organisieren, wobei diese Strukturen aber nicht automatisch mit der Ausgangsstruktur übereinstimmen müssen. Das heißt, daß schon kleinste Störungen, wie aus den Untersuchungen von Wetterprognosen durch Lorenz deutlich wurde, zu unter Umständen völlig neuen oder aber stark veränderten Formen und Strukturen führen können. Es zeigt sich nämlich, daß die verschiedensten und zufälligsten Wirkungen - ich vermeide hier bewußt das Wort Wirkungsmechanismen - und Wechselwir-kungen auf und innerhalb dynamischer Systeme nicht linear, sondern gerade nichtlinear ver-laufen, also nicht nach eindeutig berechenbaren, deterministischen Abläufen und Mustern, wie wir es von der klassischen Physik her gewohnt sind. Linear verlaufen sie schon allein deshalb nicht, weil ja diese („Teil-„)Wirkungen, man möchte fast von „Wirkungsquanten“ sprechen, mit allen anderen „Wirkungsquanten“ des ganzen Systems vernetzt sind. Wir wol-len dem anhand einiger alltäglichen Beispiele versuchen, nachzugehen und uns diese Phäno-mene damit zu verdeutlichen:
Schauen wir an einer bestimmten Stelle in ein stark fließendes Gewässer mit einem statischen Bodenrelief, so werden wir unschwer erkennen, daß sich die dort bildenden Strömungsmuster in fließender Veränderung immer wieder neue Formen annehmen, neue Struktu-ren aufzeigen. Dennoch treten aber auch immer wieder in unregelmäßigen Abständen sichtba-re Ähnlichkeiten bereits zuvor wahrgenommener Strömungsmuster auf, entsprechend der wei-ter oben genannten ”Selbstähnlichkeit”. Vergleichbares können wir, wenn wir offen und be-wußt unsere Welt wahrnehmen, an den mannigfaltigsten Beispielen wiederfinden. Es sei hier nur an die Wellen am Strand von Gewässern, an die Formationen der Gletscher, an große und kleine Dünenstrukturen in Sand und Schnee, an die sich fortwährend verändernden Wolken-formationen, besonders bei starkem Wind und an dergleichen mehr erinnert.
Wenn wir uns nun zudem klar machen, daß ein großer Teil dessen, also von den Er-scheinungen, die wir als einen Teil der Wirklichkeit erfahren und wahrnehmen, letztendlich gleichsam offene und dynamische Systeme darstellen, die uns, genau genommen, nur den momentanen Zustand eines im offenen und dynamischen Prozeß befindlichen Geschehens zeigen, wird uns die konkrete Bedeutung dieser neuen Sicht der Wirklichkeit leichter deutlich. Ganz offensichtlich sind nämlich auch gesellschaftliche Strukturen der verschiedensten Art und Größe solche dynamische Systeme: Revolutionen, Massenaufläufe, kriegerische Ereig-nisse, ökonomisches und soziales Geschehen, ja die gesamte menschheitliche Geschichte lau-fen nicht einfach nach deterministischen, kalkulierbaren, linearen und kausalen Gesetzmäßig-keiten ab. Schon ein oberflächlicher Blick in die Geschichte zeigt, daß trotz vieler Ähnlichkei-ten immer wieder unerwartete, nicht vorhergesehene Entwicklungen eintreten, oft aufgrund erstaunlich unbedeutend erscheinender Einflußfaktoren. Gerade auch in diesem Sinne hat Tolstoi in seinem gewaltigen Epos „Krieg und Frieden“, das über weite Strecken eigentlich eine poetisch angelegte Geschichtsphilosophie ist, diese unvorhersehbare Dynamik geschicht-licher Prozesse geschildert. Für ihn „machen“ und planen letztendlich nicht – wie bereits wei-ter oben dargestellt - die einzelnen „großen Gestalten“ die Geschichte, sondern auch für ihn sind oft lokale und auf einzelne Situationen bezogene Stimmungen, Zufälle mit unerwarteten Ereignissen und deren Wechselwirkungen auf die große Masse und auf das Gesamtgeschehen die eigentlich treibenden Faktoren dieser dynamischen geschichtlichen Prozesse. Es sei hier als ein krasses Beispiel nur an eine Panik bei einer großen Massenveranstaltung erinnert, gleichsam ein auf engsten Raum und Zeit begrenzter geschichtlicher Prozeß: In einem großen menschengefüllten Saal oder einem Stadion oder ähnlichem ereignet sich unerwartet irgend-wo an einer Stelle ein Brand, eine Explosion oder sonst irgend ein bedrohliches Unglück. Ob-gleich Fluchtwege nach quantitativen – also kausal-linearen - Kriterien ausreichend vorhan-den sind, entsteht bei einigen der zum Ausgang strebenden Menschen Panik, einige stürzen unter Umständen in ihrer panischen Hast, werden von den Nachfolgenden überrannt, von de-nen dann wiederum eine nicht vorhersehbare Anzahl stürzt. Die dadurch anwachsenden Hin-dernisse liegender Menschen steigern die Panik, die auf immer mehr Menschen übergreift und das Chaos wächst dynamisch und völlig unberechenbar. Es ist jetzt völlig unmöglich, vorher-zusagen, wie viele Menschen von der Panik mitgerissen, wie viele dadurch stürzen, stolpern, totgetrampelt oder schließlich verbrennen werden, weil der rettende Ausgang, nach rationalen Gesichtspunkten ohne weiteres erreichbar, in diesem Chaos aber nicht mehr erreicht wur-de. Dieses Beispiel wäre gewissermaßen ein auf einen engen Ort und Zeitraum begrenzter geschichtlicher Prozeß, der sich leicht auch auf große Ereignisse übertragen läßt. Das schon zuvor gebrachte Beispiel aus der Chaosforschung, nach dem ein Flügelschlag eines Schmet-terlings potentiell in der Lage wäre, einen Hurrikan auszulösen, liegt hier doch tatsächlich sehr nahe!
Letztlich jedoch ist auch die Chaostheorie nicht von der Theorie der offenen und sich selbstorganisierenden und selbstregulierenden Systeme streng zu trennen. Denn das durch die zuvor beschriebenen unvorhersehbaren Ereignisse entstandene Chaos selbst beginnt sich häu-fig wieder selbst zu strukturieren, zu organisieren oder zu regulieren. Nur nimmt es dann in der Regel eine bis dahin nicht erwartete, neue Form oder Struktur an – kurz: es entsteht etwas Neues.
Lassen wir nun Tolstoi wieder selber zu Wort kommen, wo er besonders am Anfang des Neunten Teils seine Sicht in Bezug auf die mannigfaltigen Faktoren, die geschichtliche Prozesse und geschichtliches Geschehen ausmachen, ausführlich darlegt. Besonders im ersten Kapitel des neunten Teiles widmet er sich ausführlich seinem Geschichtsbild. Ich zitiere nach der Winkler Ausgabe, München 1956, S. 824ff: „... Die Geschichte, das heißt das unbewußte, allgemeine Massenleben der Menschheit, nutzt jeden Augenblick im Leben eines Herrschers für sich aus als Werkzeug zur Erfüllung ihrer Ziele. ...“ und weiter heißt es im letzten Absatz des Kapitels, S 829: „... Jede ihrer Handlungen, die ihnen aus eigenem Wunsch und nur um ihrer selbst Willen ausgeführt zu sein scheint, ist im historischen Sinne nicht freiwillig, son-dern mit dem ganzen Gang der Geschichte verknüpft und von Ewigkeit vorbestimmt..“
Hier wäre natürlich aus der neuen Sicht der Wirklichkeit im Lichte der neueren Physik eine klare Einschränkung zu machen, denn gerade diese apodiktisch vorgebrachte Prädeter-mination widerspricht natürlich ganz und gar dem Postulat der offenen Systeme. Aber wir können natürlich auch nicht erwarten, daß Tolstoi das Denken der Neueren Physik schon völ-lig vorweggenommen hat, wohl aber kündigt sich im Bereich der großen Kunst immer schon kommender Wandel des menschheitlichen Bewußtsein an. (Hierzu siehe auch mein Buch „Fluch und Segen des Fortschritts“, besonders das Kapitel „Die Künstler und ganzheitli-che Wahrnehmung„). So wie er am Beispiel des Kriegsgeschehen die Unberechenbarkeit und Unplanbarkeit des Ausganges desselben eindeutig offen läßt, müßte er auch den Prozeß der Geschichte, die ja auch seiner Ansicht nach von der Unberechenbarkeit der Masse, des Kollektivs bestimmt wird, als einen nach „vorne“ offenen, also ergebnisoffenen Prozeß aner-kennen. An einigen Stellen in Krieg und Frieden spricht er noch ganz verhaftet im mechanis-tischen Weltbild der Aufklärung von der Maschinerie, dem Räderwerk der Geschichte, in dem alles klar festgelegt ist. Man könnte, aus heutiger Sicht sagen, er schwankt hier gewisserma-ßen zwischen zwei Welten, wobei ja immer wieder betont werden muß, daß er der Zugehö-rigkeit seiner Zeit nach noch eindeutig eben diesem mechanistischen Weltbild der Aufklärung angehört. Dies aber kann somit nicht einfach negativ bewertet werden, sondern die Tatsache, daß er mit einigen seiner Ansichten über diese mechanistische, noch der Aufklärung ver-pflichtete Denkweise bereits hinausgeht, verdient vielmehr besonders hervorgehoben zu werden. Wenden wir uns wieder Tolstoi selbst zu:
Im 13. Teil, Kap. 1, S. 1340 ff heißt es: „...Bei geschichtlichen Ereignissen, ... ist das, ... was ihm (dem Menschen, Anm. d. Verf.) am nächsten ist, der Wille Gottes und dann die Willensäußerung aller der Personen, die auf dem sichtbarsten Platz ... stehen, der Helden der Weltgeschichte. Aber man braucht nur in das Wesen jedes geschichtlichen Ereignisses einzu-dringen, das heißt in die Tätigkeit der gesamten Masse der Menschen, die am betreffenden Ereignis teilgenommen haben, um überzeugt zu sein, daß der Wille eines Helden der Weltge-schichte nicht etwa die Handlungen der Masse lenkt, sondern ständig selber von ihnen gelei-tet wird. ...“ . Besonders verweise ich hier ferner auf den 9. Teil, Kap. 1; Kap. 11, S 878-880; 10.Teil, Kap. 1; Kap.25;
Zu Beginn haben wir bereits den Dritten Irak-Krieg aus dem Jahre 2003 und seine unabsehbaren Folgen als ein aktuelles Beispiel dafür beansprucht, daß Tolstois Geschichts-verständnis sich auch heute durchaus als zutreffend erweisen kann. Selbstredend darf sich unsere Betrachtung nicht alleine auf diese dritte Etappe des eigentlichen Irakkrieges be-schränken, denn das hier Gesagte gilt natürlich für den gesamten 1990 begonnen Krieg. Nur macht uns die derzeit letzte Etappe dieses Konfliktes durch seine Aktualität eine Betrachtung und Bewertung aus dieser Sicht besonders leicht nachvollziehbar. Wenn auch in diesem Falle die Amerikaner und ihre Verbündeten den eigentlichen Kriegsverlauf mit ihrer gigantischen miltärisch-technischen Übermacht halbwegs nach Plan haben abwickeln und die irakischen Machthaber relativ schnell zur Aufgabe haben zwingen können, so ist alles, was danach ge-kommen ist, völlig anders verlaufen, als es sich die „Siegermächte“ vorgestellt und geplant haben. Weder sind sie vom irakischen Volk als die ersehnten Befreier begrüßt und gefeiert worden, noch ließ sich bisher die geplante Sicherheit und Ordnung im Lande wieder herstel-len. Ganz im Gegenteil: Schiiten und Sunniten bekämpfen sich ebenso, wie die unterschied-lichsten Stammesverbände. Saddamtreue Anhänger der gestürzten Regierung bekämpfen als Terroristen sowohl die Siegermächte, wie auch die sich mithilfe dieser langsam konstituieren-den neuen irakischen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Offensichtlich, wenn auch nicht in jedem Falle genau nachweisbar, wirkt auch hier das Terrornetzwerk des Osama Bin Laden mit. Von diesem wird natürlich dieser ohnehin sehr fragwürdige Krieg, bei dem es ja angeblich um die – bisher überhaupt nicht gefundenen und somit auch nicht nachgewiesenen – Massenvernichtungswaffen des Saddam-Regimes ging, als ein fundamentaler Angriff des „teuflischen Westens“ auf den Islam uminterpretiert und in den gleichen Zusammenhang mit dem Palestinenserproblem gestellt. Kurz: alles was sich nach dem eigentlichen militärischen Kriegsgeschehen entwickelt und ergeben hat, ist völlig außer (der US-amerikanischen) Kon-trolle und in ein unübersehbares und unbeherrschbares Chaos geraten, mit globalen Folgen, wie wir bei fast jeder Nachrichtensendung feststellen müssen.
Die Welt ist jetzt nach diesem Krieg ganz erheblich unsicherer und chaotischer ge-worden, als sie es davor schon ohnehin gewesen ist. Dieser Krieg war und ist nicht wirklich zu gewinnen, was ich selbst zu dessen Beginn an die Amerikanische Botschaft und an die deutsche Niederlassung der New York Times in mehreren scharfen (Leser-)Briefen geschrie-ben habe. Innerhalb solch komplexer und chaotischer Beziehungen und Konstellationen, wie sie sich zwischen der abendländisch-westlichen Welt mit ihrer oberflächlich-rationalen Denkweise und der des zu emotional gefärbten Irrationalismus und zu Fanatismus neigenden Islams seit Beginn des Nahostkonfliktes immer dramatischer herausgebildet und zugespitzt haben, lassen sich, und das liegt auf der Hand, keine nach linear-kausalen Gesetzmäßigkeiten geplanten und naiverweise so gedachten Aktionen, wie derartige militärische Eskapaden un-gestraft ausführen, ohne dieses teilweise geradezu hochexplosive System von Beziehungen in ein mehr oder weniger gefährliches Chaos zu stürzen. Insbesondere der islamische Funda-mentalismus wird darauf in völlig unkontrollierbarer Weise reagieren, indem er diesen ohne-hin fragwürdigen Krieg zu einem Angriff auf den gesamten Islam instrumentalisiert. Daß sich daraus sogar ein globaler Flächenbrand entwickeln kann, ist leider nicht ganz auszuschließen.
Jetzt, bereits etwa vier Jahre nach der offiziellen „Beendigung“ dieses Krieges und der angeblichen Befreiung des Iraks eskaliert die Situation im Lande immer weiter. Die Amerika-ner unter der unseligerweise wiedergewählten Regierung George W. Bush, des wohl geistlo-sesten Präsidenten der US-amerikanischen Geschichte, sind derzeit dabei, das Land endgültig in ein die ganze Welt bedrohendes Chaos zu stürzen. Sie haben mit diesem unrechtmäßigen Krieg, der mit Lügen und Vortäuschung falscher Tatsachen begründet wurde, aber letztlich doch in erster Linie der eigenen Kontrolle über das irakisch Öl galt, Haß und Empörung nicht nur im Irak gesät, sondern in der gesamten islamischen Welt. Und dieser Haß wird sich immer radikaler in globalem Terror entladen. Es scheint mir leider nicht ausgeschlossen, daß das zu einem kriegsähnlichen Konflikt zwischen dem Islam und der abendländisch-westlichen Welt ausarten wird – mit unabsehbaren Folgen! Auch diese Beurteilung der von den Amerikanern wohl nicht so geplanten Entwicklung und der daraus abgeleiteten Befürchtung läßt sich als eine der unvorhersehbaren Möglichkeiten auf der Basis tolstoischer Geschichtsphilosophie annehmen.
Wie wir bereits auch anhand der tolstoischen Texte gezeigt haben, sind geschichtliche Prozesse aufgrund ihrer unendlichen Komplexität weder exakt planbar noch vorhersehbar. Es lassen sich also bei weitem nicht alle potentiellen Einflußfaktoren erkennen, überschauen und entsprechend berücksichtigen und einbeziehen, geschweige denn gar vorhersagen. Und genau das ist ja auch eine der Kernaussagen von Tolstois Geschichtsphilosophie. Um wieviel weni-ger lassen sich dann erst solch gefährliche, emotional und ideologisch überlastete Konflikte, wie sie im Nahen Osten, im Irak und in Afghanistan entstanden sind und deren Eskalation schon eine dramatische Eigendynamik entwickelt hat, nach unseren rationalen Vorstellungen mit militärischen Mitteln lösen. Das hat sich bereits im Vietnamkrieg als eine reine Illusion herausgestellt und die globalen Folgen sind gar nicht absehbar!
Interessant in Anlehnung an die tolstoische Sicht ist ja auch, wie weit sich die schließ-lich doch weitgehend unverhofft vollzogene Öffnung der deutsch-deutschen Mauer und die daraus resultierende Wiedervereinigung aus dieser Sicht interpretieren läßt. Zweifellos hat schon besonders die geistige und ideologische Weltoffenheit von Michael Gorbatschow Jahr-zehnte lang verhärtete Strukturen der Nachkriegsgeschichte in Bewegung gebracht. Natürlich hat diese Offenheit ihre Wechselwirkungen mit den Menschen in Ost und West gehabt und haben müssen. Gewiß war die DDR besonders wirtschaftlich, aber auch ideologisch an einem Tiefpunkt angekommen, der früher oder später irgend welche Veränderungen zeitigen mußte. Welche aber, war natürlich nicht abzusehen, und wer das behauptet, ist nicht recht glaub-haft. Die Reaktionen der Botschaften in Ungarn, Polen und in der Tschechoslowakei auf die einströmenden Menschenmassen aus der DDR waren ebenso wenig vorauszusehen, wie alles weitere, was sich dann in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 ereignet hat. Besonders nach-denklich muß uns, wenn wir auch diese Ereignisse im Lichte der tolstoischen Geschichtsphi-losophie betrachten, der Umstand machen, daß die ganz konkrete Maueröffnung in Berlin am 9. November 1989 an der Bornholmer Straße letztendlich das Resultat der Interpretation eines Versprechers von Günter Schabowski, dem Berliner SED-Chef, im Fernsehen gewesen sein soll, in dem er in einer Pressekonferenz sagte, geplante Reiseerleichterungen würden quasi mit sofortiger Wirkung in Kraft treten. Das aber entsprach nicht ganz den Vorstellungen der DDR-Regierung, die sich zwar in Bedrängnis, aber noch nicht entmachtet fühlte. Diese Fern-sehäußerung hat wiederum einzelne Grenzbeamte zu konkreten eigenen Entscheidungen ge-zwungen, und so kam es zu einer nicht mehr rückgängig zu machenden Öffnung von immer mehr Grenzübergängen, die dann erst zum Fall der gesamten deutsch-deutschen Mauer und dann auch zwangsläufig zu Deutschen Wiedervereinigung führte! Das ganze vollzog sich dann offensichtlich wie ein exemplarischer chaotischer Prozeß! Selbst in der Rückschau ist es fast ein Wunder, daß diese ungeheure Spannung, die sich in den letzten Tagen vor dem 9. November aufgestaut hatte, nicht zu einer Eskalation mit Waffengewalt geführt hatte. Das war fürwahr nicht selbstverständlich und für die Deutschen, besonders für die aus dem Osten, wirklich ein Grund, stolz zu sein!
Was nun alles ist Zufall an diesem Geschehen, das auch die Welt veränderte, was lag sozusagen in der Luft? Oder anders ausgedrückt: Was hat sich durch die Gesamtentwicklung der vorangegangenen Jahrzehnte als notwendig vorbereitet und mußte geradezu zwangsläufig zur lebendigen Realität werden? Welchen Anteil hatten die Wechselwirkungen zwischen den handelnden Gestalten der damaligen Zeit und dem teils bewußten, aber teils auch unbewußten Druck der Masse der Menschen? Wer prägte wen, oder wer drängte wen in die zur Wirklich-keit gewordenen Ereignisse? Im Grunde ist die Frage nicht allzu schwer zu beantworten, denn ganz offensichtlich spielten alle die hier als Fragen vorgestellten Aspekte eine Rolle und, das ist hier besonders wichtig, sie alle wirkten in einer unentwirrbaren Vernetzung aufeinander ein! Kein einziger dieser Aspekte alleine hätte auch nur die geringste Aussicht gehabt, das in Bewegung zu setzen, was sich schließlich tatsächlich ereignet hat. Und damit sind wir der Sicht Tolstois, so meine ich, doch ziemlich nahe gekommen, ohne, wie ich meine, ihn damit zu vergewaltigen. Selbstverständlich soll hier keineswegs die tolstoische Geschichtsphiloso-phie als der „Geschichtsweisheit“ letzter Schluß hingestellt werden. Aber sie birgt doch eine verblüffende Menge ernstzunehmender und bedenkenswerter Ideen und Anregungen.
Als aus meiner Sicht nicht völlig nachvollziehbar erachte ich jedoch beispielsweise seine geradezu völlige Negierung des Einflusses der sogenannten „Großen Gestalten der Geschichte“ auf den Verlauf der Geschichte. Ohne Zweifel sind auch diese großen Gestalten mitgeprägt vom Geist ihrer Zeit in all seiner Komplexität., genau so, wie diese den „Geist der Zeit“ oft maßgeblich mitgeprägt haben Es handelt sich hierbei offensichtlich um ein untrenn-bares Wechselspiel. Und deshalb soll nicht unterschlagen werden, daß nicht nur die Großen Gestalten der Geschichte, sondern auch die Großen Gestalten der Geistes- und Kulturge-schichte ihre Zeit und damit auch das Bewußtsein der sie tragenden Gesellschaft mitprägen. Das heißt wiederum, daß hier die wechselseitige, nicht lineare, sondern systemische Vernet-zung aller Einflußfaktoren sichtbar wird. Und das ist ja eine wesentliche – auch philosophi-sche - Erkenntnis, die uns die neue Physik in Bezug auf eine andere Sicht der Wirklichkeit gelehrt hat.
Ebenso wenig haltbar scheint mir, wie schon weiter oben erwähnt, seine These von dem seit Ewigkeit vorbestimmten Gang des Geschichte. Das würde ja die von ihm so hervor-gehobene Unwägbarkeit und Abhängigkeit geschichtlicher Prozesse von kleinsten Zufällig-keiten, insbesondere der Kriegsgeschehen, weitgehend widerlegen. Diese von Tolstoi postu-lierte quasi ausweglose Vorbestimmung der Geschichte wäre einerseits aus seiner tiefen christlichen Überzeugung von einem allmächtigen Schöpfergott zu erklären. Auf der anderen Seite betont die Bibel, insbesondere das für das Christentum verbindliche Neue Testament gerade die gottgegebene Freiheit der menschlichen Entscheidung. Das heißt, auch in diesem Sinne muß die menschheitliche Geschichte ergebnisoffen sein, da sie ja letztendlich ein auch von menschlichem Handeln mitbestimmter Prozeß ist. Interessanterweise würde diese christ-liche Interpretation auch nicht dem ganzheitlichen Denken in offenen Systemen widerspre-chen, wie es sich aus den Erkenntnissen der neueren Physik ergibt.
Weitere Zitate :
S. 1532: „ ... Sobald man annimmt, der Mensch könne durch Vernunft geleitet und gelenkt werden, macht man das Leben als solches unmöglich. ...“
Fortsetzung und weitere Bearbeitung und Vertiefung folgt.
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2011
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