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Seit 1989 dürfen wir am Vänern in Värmland/Schweden, dem drittgrößten See Europas, ein kleines typisches schwedisches Sommerhäuschen unser Eigen nennen. Die große Liebe zur Natur und die Sehnsucht nach Stille und einer Umgebung, die noch nicht ganz so von Menschen und Zivilisation verseucht und verdorben ist, hat uns dort hin geführt. Doch nach und nach empfand ich selbst diese schöne Gegend noch zu zivilisiert, da sich in der Zwischenzeit mein Bedürfnis nach Einsamkeit und der Stille in der Natur immer häufiger Geltung verschafft. Von unserem Stütz-punkt „Vassmyra“ aus, so heißt unser kleines Anwesen, haben wir immer wieder Erkundungsfahrten in die nähere und weitere Umgebung gemacht, aber wirkliche Einsamkeit und Wildnis nicht gefunden. So habe ich mir schließlich die Schwedenkarte vorgenommen und nachgeschaut, wo wohl die geringste Besiedlung in erreichbarer Nähe sein könnte, d.h. wo ich in der Karte die wenigsten eingetragenen Straßen und Orte verzeichnet sah. Dabei sind wir in ein Gebiet gekommen, dass uns, aber ganz besonders mich, derart in seinen Bann geschlagen hat, dass ich fast jedes Jahr einmal dahin muss. Aber selbst diese Landschaft ist in der Zwischenzeit auch wieder ein „gutes“ Stück zivilisierter geworden. Unser erstes Erlebnis in dieser Landschaft dort möchte ich jedoch kurz schildern, weil es zu den tiefsten meines Lebens gehört. Es ist fast ein Initiationserlebnis.
Als wir diese auf der Landkarte nach den oben genannten Kriterien auserkorene Landschaft aufsuchten, nämlich das Grenzgebiet von Nordvärmland, Dalarna und Norwegen, das etwa 300 km nördlich von Vassmyra gelegen ist, fuhren wir zunächst das Klarälvental hinauf bis zu einem Städtchen Sysslebäck. Der Klarälven ist ein etwa 400 km langer Fluß, der von Norwegen kommend bei Karlstad in den Vänern mündet. Bis Sysslebäck war es noch eine vergleichsweise zivilisierte und kultivierte Landschaft, also bei weitem nicht das, was wir suchten. Aber kurz hinter Sysslebäck mussten wir dann schließlich nach Nordosten abbiegen in ein kleines Mittelgebirge. Und ganz abrupt, etwa 1 km nach der Abbiegung, begann die Landschaft plötzlich wild und vor allem ganz still zu werden. Selbst durch den Autolärm unseres alten VW-Bullis „hindurch“ vermittelte sich uns diese sich plötzlich ausbreitende Stille. Wir fuhren eine kleine Passstraße, eine bessere Piste hoch. Je höher wir kamen, umso stiller wurde alles und auf der Passhöhe weitete sich der Blick zusehends. Wir sahen glitzernde Seen unter uns zwischen den Bergen und den tiefen Wäldern liegen. Die Seen hatten bizarre Formen mit zahlreichen kleinen Buchten und Inseln. Auf der anderen Seite des Passes kamen wir diesen wunderbaren Seen immer näher, bis wir schließlich die ersten erreichten und manchmal dicht an ihren Ufern entlang fuhren. Sie waren oft von größeren, ganz ebenen Sumpf- und Moorflächen umgeben. Es ging kein Lüftchen, Himmel und Landschaft spiegelten sich in den stillen Wasserflächen. Wir kamen aus dem Staunen und der Begeisterung gar nicht heraus - nur das Fahrgeräusch unseres Wagens störte diese Stille. Schließlich kamen wir auf die glorreiche Idee, endlich einmal anzuhalten, den Motor abzustellen und wirklich zu schauen und diese Welt auf uns wirken zu lassen.
Als wir den dröhnenden und lärmenden Motor abgestellt hatten und aus dem Wagen stiegen, empfing uns eine Stille, die einfach unbeschreiblich war. Es war eine Stille, die wir schon während des Fahrens g e s e h e n und gespürt hatten, die sich uns aber erst jetzt in ihrer ganzen Erhabenheit, in ihrer alle Sinne erfül-lenden Intensität und Schönheit offenbarte. Es war eine Stille, die man mit allen Sinnen erfahren musste, die man s a h , die man h ö r t e und f ü h l t e - - - . Mehrere Minuten lang konnte keiner von uns beiden sprechen. Als wir schließlich das Bedürfnis verspürten, einander etwas von der ungeheuren Ergriffenheit mitzuteilen, die uns erfüllt, ja geradezu überwältigt hatte, begannen wir tatsächlich unwillkürlich, als wäre es verabredet worden, im Flüsterton zu sprechen, um die-se erhabene Stille nicht zu stören. Mir kam dabei als Assoziation ein Bibelvers aus dem alten Testament in den Sinn: “Ziehe deine Schuhe aus, denn der Ort, auf dem du stehst ist heilig!“ - - - . Die Inseln und Ufer mit ihren Steinen und Bäumen spiegelten sich im Wasser. In den stillen Sumpfflächen standen vereinzelt kleine verkrüppelte Bäumchen, meist waren es Birken oder auch Kiefern. Das Wasser selbst war, dort wo man hinein sehen konnte, braun getönt bis dunkelbraun von den zahlreichen Zuflüssen aus den umliegenden Sümpfen und Mooren. Dann und wann wurde diese Stille, die uns umgab, nur von einem Vogelruf durchbrochen, um danach wieder umso stärker zu wirken. Begrenzt wurde die Szenerie von den stillen und dicht bewaldeten Bergen und dem darüber gewölbten Himmel mit den für die nordische Landschaft so typischen horizontalen Schichtungen der Wolken, die die Tiefe und Weite der Landschaft noch steigerte.
Wir verbrachten mehrere Tage in dieser wunderbaren Gegend an verschiedenen Seen mit ihren einsamen kleinen Buchten. Besonders die Abende, an denen es ja um diese Jahreszeit kaum dämmrig, aber von der Atmosphäre noch stiller wurde, sind kaum zu beschreiben. So wurden immer wieder verschiedene Rufe der Wasservögel über die stillen, nächtlichen Wasserflächen getragen. Es ist ohnehin etwas Eigenartiges, dass nachts die Stimmen und Klänge in der freien Natur, besonders aber im Wald und am Wasser, viel lauter und klarer und klangvoller zu vernehmen sind, als tags-über. Man glaubt fast, in einem unermesslich großen Kirchenschiff zu sein, in dem die Geräusche und Töne in majestätischem Nachklang langsam verebben. Und dennoch: selbst diese Stimmen und Klänge sind Teil der Stille, denn Stille muss nicht nur Lautlosigkeit sein, sondern sie ist zugleich die völlige Abwesenheit von Lärm, von Hektik und Unruhe – kurz von Zivilisation. Und so können diese Laute der Natur damit bereits Stille sein, denn sie ist zugleich etwas Atmosphärisches.
Dies sind Erlebnisse, die einzigartig und einmalig sind. Sie lassen sich nicht wie-derholen. Auch jede Beschreibung und die vielen wunderbaren Fotos, die ich dort gemacht habe, die mir diese Landschaft geradezu aufgenötigt hat, sind nur ein armseliger Ersatz für lebendige Wirklichkeit, für das Erleben des einmaligen und unwiederholbaren Augenblicks. Und dennoch: trotz dieser „klugen“ Einsichten ertappe ich mich immer wieder dabei, in Nordvärmland diese Erlebnisse irgendwie wieder zu suchen, wieder herbeizuzwingen! Aber ich, und auch man, sollte sich vorsehen, dabei nicht in eine Falle zu geraten, die übertragen dann etwa dem gleicht, was Kleist in seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ oder Oscar Wilde in seinem „Das Bildnis des Dorian Gray“ beschrieben hat. Das Erlebnis kann dann nämlich sehr leicht zu einer verzerrten Farce dieses ihm zugrunde liegenden einmaligen und un-wiederbringlichen Augenblicks entarten!
Unser Kajak ermöglichte ein Übriges, uns diese Landschaft und ihre Stille wirklich zu erschließen. Wir paddelten auf den verschie-denen Seen und Verbindungswasserläufen, entdeckten so stille Inseln und Buchten, einsame Flussläufe, sahen die verschiedensten Wasservögel und hin und wieder auch einmal eine Biberburg. Manchmal sahen wir tagelang keine Menschen, nur versteckt an den Ufern ab und zu eines der typischen, roten schwedischen Sommerhäuschen dicht am Ufer zwischen den Bäumen und ein Boot davor liegen.
Aber selbst diese Landschaft hat sich in den letzten Jahren zusehends verändert. Nirgends bleibt der Menschen einmal bescheiden und ehrfürchtig am Rande stehen und schaut und bewundert. Allem muss er sein Bild, seine Vor-stellung aufzwingen. Alles muss er nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen nutzen, verwerten und gestalten. Jetzt sind auch hier die Wege weitgehend asphaltiert. Und verbesserte Infrastruktur zieht bekanntlich unweigerlich Menschen und damit Verkehr und Lärm nach sich. So sind in der Zwischenzeit eine Anzahl Siedlungen mit Sommerhäusern entstanden. Einiges von dieser überwältigenden Stille und Erhabenheit ist verloren gegangen.
Hier soll nochmals kurz an eine Bemerkung vom Anfang angeknüpft werden, in der davon die Rede war, dass so manch ein zivilisierter Mitteleuropäer gerade diese Stille mittlerweile als Bedrohung oder als beklemmend empfindet. Schon unser kleines Sommerhäuschen wurde gelegentlich als zu einsam und zu ruhig gelegen, die eben beschriebene Landschaft gar als lebensfeindlich und abstoßend empfunden. So weit sind mittlerweile wohl die meisten Menschen von der Natur entfernt und ent-fremdet und aus dem ursprünglichen Einklang mit der Natur herausgerissen, dass sie diese Stille gar nicht mehr als ein tief beglückendes Erlebnis erfahren können. Ein-klang aber heißt hier ja nicht Konfliktfreiheit, sondern letztendlich untrennbare Ver-bindung mit und ein Angewiesensein auf die Natur. Und diese Einsamkeit, von der hier die Rede war, ist eigentlich nur eine Abgeschiedenheit vom Alltäglichen, von der Überreizung durch die Zivilisation, die Möglichkeit zum Einswerden mit der Natur. Wirklich einsam ist man vielmehr unter Millionen Menschen einer Großstadt.

An dieser Stelle soll mit einem Gedicht von R. M. Rilke noch einmal das Wesen dessen verdeutlicht werden, worum es mir im tieferen Sinne geht, was ich immer wieder suche, was aber immer auch von uns Menschen bedroht ist. Und dennoch habe ich es in dieser wunderbaren Landschaft für einen Augenblick - zugleich aber auch für mein ganzes Leben - gefunden, denn Bild und Erlebnis haben sich tief ein-geprägt:

Aus dem Stundenbuch - 1899 - 1901 (zitiert nach „Rainer Maria Rilke – Gesammelte Gedichte, Insel-Verlag, Frankfurt/M 1962, S. 52)

„Du dunkler Grund, geduldig erträgst du die Mauern.
Und vielleicht erlaubst du noch eine Stunde den Städten zu dauern
und gewährst noch zwei Stunden den Kirchen und einsamen Klöstern
und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern
und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern - :

Eh' du wieder Wald wirst und Wasser und wachsende Wildnis
in der Stunde der unerfasslichen Angst,
da du dein unvollendetes Bildnis
von allen Dingen zurückverlangst.“

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Tag der Veröffentlichung: 23.02.2011

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