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Brooklyn
New York
1898



Franco Savini und seine schwangere Ehefrau Sibilla, wanderten vor einigen Wochen, von Süditalien in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Sie waren arm und bescheiden. Alles, was sie über den großen Teich mitbrachten, waren ihre Kleider und drei italienische Stangenbrote. Sie wohnten bei seinem Bruder Toni in Downtown Brooklyn, wo sie sich ein kleines Zimmer mit Tonis Kindern teilen mussten. Franco zog jeden Tag vergebens durch die Straßen, um einen Job zu finden. Einmal durfte er das Gepäck, eines reichen alten Mannes zum Bahnhof tragen und bekam dafür zwei Äpfel. Vor Kurzem traf er auf dem Shore Boulevard, einen Freund aus der alten Heimat wieder; seitdem zogen sie gemeinsam durch die Gassen.
„Bald kommt das Baby. Ich brauche Geld!“, sagte Savini frustriert.
„Wir müssen handeln Franco. Meine Kinder hungern schon seit Tagen!“
„Ich habe gehört, dass die Palmiro Brüder kleine Läden überfallen.“
„Wir sind anständige und ehrliche Menschen, aber der Hunger treibt einen wortwörtlich in den Wahnsinn!“, sagte Martino Alito und biss ein Stück von seiner Brotscheibe ab.
„Leider! Hunger ist schlimmer als Heimweh!“
„Mein Onkel kann mir eine Pistole besorgen. Wollen wir es wagen?“
„Ja!“, antwortete Franco entschlossen, verabschiedete sich von Martino und ging heim.

Eine Woche später



Sibilla schrie laut auf vor immensen Schmerzen.
„Das Baby kann jeden Moment kommen!“, sagte ihre Schwägerin die als Hebamme assistierte.
„Wo ist Franco?“
„Er wollte nur einen kurzen Spaziergang machen!“
Die Hebamme lief im Zimmer auf und ab, guckte gelegentlich aus dem verdreckten Fenster, schüttelte den Kopf und murmelte auf Italienisch etwas vor sich hin. Die Wehen traten in immer kürzeren Abständen auf. Sie ging zurück ans Bett, hob Sibillas Kleid hoch und sah, dass der Muttermund sich immer weiter öffnete.
„Sibilla? Du solltest Dich bewegen, um die Wehentätigkeit weiter anzuregen!“
Die Schwangere nickte und stand auf. Schreie kamen über ihre Lippen. Sie ging ein paar Schritte. Dann fasste sie sich mit der rechten Hand an ihren Kugelbauch und mit der Anderen an die Stirn; ihr wurde schwindelig und sie fiel ohnmächtig, mit geplatzter Fruchtblase, zu Boden. Die stämmige Schwägerin hob sie auf, legte sie aufs Bett und zog ihr das Kleid aus.
„Das Bambino kommt!“, sagte sie leise zu sich selbst.
Ein großer Kopf mit flusigen, schwarzen Haaren drückte sich durch die Vaginaöffnung. Die Hebamme zog den Jüngling raus und schrie: „ES IST EIN JUNGE!“
Zum gleichen Zeitpunkt starb Franco Savini durch einen Kopfschuss.


Brooklyn
New York
1912



“Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Franco!”, sagte Sibilla Savini stolz.
„Danke Mutter!“, entgegnete er und blas die Kerze auf dem Käsekuchenstück aus.
„Mutter? Ich bin jetzt 14 Jahre alt. Ab jetzt werde ich für uns sorgen.“
„Spinn nicht herum! Sonst endest Du wie Dein Vater!“
„Onkel Toni lobt Papa in den höchsten Tönen!“
Sibilla stand vom Tisch auf, ging zum Fenster und weinte leise. Franco folgte ihr und nahm sie in den Arm. Mit einem Finger wischte er einige ihrer Tränen weg.
„Mama, eines Tages werden wir reich sein. Das verspreche ich Dir!“
Sie nickte nur.
„Ich treffe mich jetzt mit Antonio.“
„Okay! Aber sei pünktlich gegen 19 Uhr zurück. Ich koche Dein Lieblingsessen, Calamari ripieni.”
“Werde ich!”, erwiderte er, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ die Wohnung.

Franco und Antonio lungerten täglich auf den Straßen herum; am liebsten vor Vitos Restaurant, in dem sich Kleinkriminelle trafen. Einmal drückte ein dicker Mann ihm ein Paket in die Hand und er sollte es drei Straßen weiter an Al übergeben. Dafür bekam er zwei Zigaretten. Das gefiel ihm.
„Ciao Antonio!“
„Ciao! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“
„Grazie! Willst Du eine Zigarette?“
„Klar!“, antwortete Tonio, steckte sich den Glimmstängel in den Mund und zündete ihn mit einem Streichholz an.
Beide pafften, als ein Mann, baumlang, Plauze, Halbglatze, Narbe auf der Stirn, ernstes Gesicht, Zigarre im Mund, Anzug, auf sie zukam. Er blieb vor ihnen stehen und musterte sie von oben bis unten.
„Bist Du Franco, Franco Savini?“, fragte die Plauze.
„Ja, der bin ich!“
„Ich kannte Deinen Vater. Du siehst ihm sehr ähnlich!“
„Woher kannten Sie meinen Vater?“, fragte Franco neugierig.
„Wir sind im gleichen Dorf aufgewachsen. Mein Name ist, Martino Alito. Hast Du Interesse an einem Job?“
“Si capisce, Mister Alito!”
„Benissimo! Vito wird Dir gleich die Details mitteilen. Schönen Tag noch Padroncino“, sagte die Halbglatze und ging ins Restaurant.

Drei Stunden später



Die beiden Jungs befanden sich in einer hoffnungslosen Lage. Sie sollten einen Brief am Brooklyn Boulevard, Nummer 5831, abgeben. Auf dem Weg dahin wurden sie überfallen und des Briefes beraubt. Sie wussten genau, wenn sie dort mit dem Schrieb nicht auftauchen würden, würden sie umgebracht werden. Beide standen in einem Hinterhof und warfen Steine gegen die Wände.
„Was machen wir nun?“, fragte Tonio.
„Ich weiß es nicht!“
„Uns muss schnellstens was einfallen!“
„Die Stadt können wir nicht verlassen. Dann würden sie unsere Familien umbringen!“, sagte Franco.
„Ob wir wollen oder nicht, wir müssen dort aufkreuzen!“, erwiderte Antonio.
Mit gesenktem Kopf gingen die Zwei ihrem ungewissen Schicksal entgegen.

Savini klopfte dreimal vor die Tür. KLOPF. KLOPF. KLOPF.
Das Schiebefenster in der Tür öffnete sich. Eine ältere Frau, mit brauner Perücke auf dem Kopf schaute durch die Öffnung.
„Wie kann ich Euch helfen?“, fragte sie gelangweilt.
„Mister Alito schickt uns!“, antwortete Franco.
Sie schloss das Schiebefenster und die knarrende Tür öffnete sich.
„Folgt mir!“
Mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchgegend trotteten sie der Perücke nach. Antonio schaute ihr den ganzen Weg lang auf den Hintern.
„Enrico? Hier sind zwei junge Kerle. Alito schickt sie!“
„Sollen reinkommen!“
Sie betraten das Zimmer. Enrico – auch bekannt als Rico die Maschine – saß an einem Tisch. Auf der runden Platte befanden sich eine Flasche Rotwein, eine Pistole, ein Messer und unzählige Dollarscheine.
„Also Jungs, Alito schickt Euch?“
„Ja, Mister Enrico!“
„Nennt mich Rico!“, sagte er und band sich seinen weißen Bademantel zu, „Bravo! Dann zeigt mal her!“
„Es gibt da ein kleines Problem!“, stotterte Franco.
„Wie bitte?“
„Wir wurden überfallen!“, sagte Tonio.
„Wollt Ihr mich verscheißern?“, sagte die Maschine, stand auf und nahm das Messer vom Tisch; dabei öffnete sich der Bademantel.
Er ging auf Antonio zu, knockte ihn mit einem linken Haken zu Boden, drehte sich und hielt Franco die Klinge an die Kehle.
„Ihr kleinen Wichser. Ich kann riechen, wenn jemand lügt. Und hier stinkt es gewaltig nach Kuhscheiße!“
Savini zitterte. Die Klinge bohrte sich tiefer in seine Haut herein.

Tonio erlangte nach einigen Sekunden das Bewusstsein wieder. Verschwommen sah er, dass sein Freund ein Messer am Hals hatte. Er robbte leise zum Tisch und schnappte sich die Pistole. Vorsichtig stand er auf, ging auf Rico zu, hielt ihm die Knarre an die Schläfe und drückte ab. PENG. Blut verteilte sich auf der gegenüberliegenden Wand. Die Maschine plumpste auf den harten Holzboden. Franco blieb, mit blutverschmiertem Gesicht, kerzengerade stehen. Antonio ging auf ihn zu, schüttelte ihn kräftig durch und sah eine lange, blutende Schnittwunde unter Savinis Kehlkopf.
„WIR MÜSSEN HIER VERSCHWINDEN!“, schrie Antonio und zerrte Franco hinter sich her.
Die Perücke kam kreischend, mit einem Eispickel bewaffnet, angerannt. Tonio richtete die Kanone auf sie, zielte aufs Herz und drückte ab. PENG. Sie sackte zusammen und knallte mit dem Schädel auf den knüppelharten Untergrund. Er bückte sich, hob das Haarteil auf, hielt es in die Luft, schaute nach oben und schrie: „GOTT IST EIN VOYEUR!“


Brooklyn
New York
1918



Franco Savini stand am Grab seiner Mutter. Er legte Blumen nieder und zündete sich eine Zigarette an.
„Tut mir leid!“, sagte er leise, „Ich werde Dich rächen!“
Eine Träne lief seine Wange herunter.

Eine Woche später



Franco und Antonio waren nun die Anführer der dritt stärksten Bande in New York City. Franco war der Boss und Tonio seine rechte Hand. Alkoholschmuggel, Überfälle, Schutzgelderpressung, Auftragsmorde, Prostitution, sie hatten überall ihre Finger drin. Sie wurden reicher und erlangten immer mehr Ansehen und Respekt. Savini schickte einen seiner Männer los, um rauszufinden, wo sich Martino Alito aufhielt. Es stellte sich heraus, dass er sich in einem Haus in Long Beach verschanzt hatte. Er wollte nicht Tonio schicken, sondern den Job selbst erledigen; er hatte es seiner toten Mutter geschworen. Mit einem Maschinengewehr bewaffnet lies er sich nach Long Beach fahren.
„Benito? Du brauchst nicht auf mich zuwarten!“
„Okay, Boss!“, entgegnete der Fahrer und fuhr davon.
Die Sonne gab an diesem Tag ihre letzten Strahlen ab, als Savini die Einfahrt hochging. Er klopfte an die hölzerne Tür. KLOPF. KLOPF. KLOPF. KLOPF. KLOPF. KLOPF.
Mit gezogener Knarre öffnete ein Bodyguard Alitos, die Tür. Beide starrten sich einen Moment lang an. Franco richtete das Maschinengewehr auf ihn und pumpte eine Salve Blei in dessen Bauch. RAT-A-TAT-TAT.
Mit starrer Miene stieg er über den Körper und betrat das Wohnzimmer. Dort befand sich Arlitos Ehefrau mit ihren zwei erwachsenen Kindern. Kaltblütig erschoss er sie. RAT-A-TAT-TAT-TAT.
Dann ging er die Treppen hoch und rief: „Alito, Du Hurensohn! Wo bist Du? Zeig Dein verdammtes Arschgesicht!“

Es herrschte eine gespenstische Stille.
„Du dumme Sau! Ich werde Dich …“, sagte Alito, kam aus einem Zimmer gestürmt und rannte frontal auf Savini zu.
Beide stürzten zu Boden, standen nacheinander auf und blickten sich in die Augen.
„Na los, mach schon! Heb die Maschinenpistole auf und töte mich, so wie ich Deinen Vater damals getötet habe.“
„Du hast meinen Vater ermordet?“, fragte Savini überrascht.
„Si! Er war viel zu gutmütig. Damals bei dem Überfall wäre ich fast drauf gegangen. Ich musste ihm eine Kugel in die Birne pusten!“
„Maledetto stronzo! Figlio di puttana!“, fluchte Franco, „Du hast meine Mutter und meinen Vater auf dem Gewissen. Ich, ich werde ...“, sagte er, als Alito die Maschinenpistole greifen wollte.
Franco neigte seinen Oberkörper nach hinten, holte mit dem rechten Arm aus und landete einen Fausttreffer auf Martinos Nase, welcher sofort rücklings zu Boden krachte. Dann setzte er sich auf dessen Oberkörper und umfasste den Hals mit seinen Händen. Franco drückte kräftig zu. Martinos Gesicht lief blau an. Krächzende Geräusche kamen über die Lippen des Gewürgten. Ungefähr acht Minuten lang drückte er weiter sinnlos zu, bis er endlich losließ und sich erschöpft neben der Leiche legte.

Brooklyn
New York
1932



Franco war zum größten und mächtigsten Mafia Boss der Ostküste aufgestiegen. Antonio übernahm die Geschäfte außerhalb New Yorks. Savini heiratete eine blondhaarige, deutsch-abstämmige, Amerikanerin namens Lili. Sie gebar ihm drei Kinder. Franco Junior, Cleto und Eros. Sie wohnten im teuersten Hotel Brooklyns, dem LeBleu.
„Franco? Ich brauche mehr Geld!“, sagte Lili, während sie sich eine Nase voll Koks reinzog.
„Wofür denn diesesmal Liebling?“
„Ich brauche einen neuen Pelz!“
„Du hast doch schon mehrere!“
„Frau kann nie genug haben!“
„Na gut“, sagte Savini und legte 100 Dollar auf den Tisch.
„Komm ins Bett mein italienischer Hengst, ich will Dich spüren!“
Franco zog sich aus und gesellte sich zu ihr. Er küsste sie auf den Mund, steckte ab und zu die Zunge rein und streichelte zeitgleich, mit seiner linken Hand, ihre rechte Brust. Lili fing laut an zustöhnen. Seine Hand glitt vom Busen, bis hin zum Bauchnabel, weiter zum buschigen Venushügel, als plötzlich die Zimmertür aus dem Rahmen sprang. Drei Männer bis an die Zähne bewaffnet stürmten die Suite. Einer drückte Savini den kalten Lauf seiner Pistole gegen die Stirn; während ein anderer, Lili aus dem Bett zog und auf den Boden schmiss. Er ohrfeigte sie mehrmals hintereinander. Blut quoll aus ihren Lippen. Der Dritte rief von Weitem: „Die Gambini Familie lässt grüßen!“
Dann zog er eine Pistole, richtete sie auf Lili und schoss sechs Mal hintereinander. PENG. PENG. PENG. PENG. PENG. PENG.
„Lass Dir das eine Lehre sein!“, predigte er, ging auf Savini zu und schoss ihm ins rechte Bein.


Brooklyn
New York
1945



„Antonio? Nachdem was wir alles durchgemacht haben, ist nun der Zeitpunkt gekommen, mich zur Ruhe zusetzten. Die Gambini Familie ist ein harter Brocken!“, sagte Franco und strich sich durch die Haare.
„Ich verstehe Dich! Und respektiere Deine Entscheidung. Was wird dann aus der Familie?“
„Sie werden Dir folgen!“
„Okay!“
„Ich werde ins Heimatland gehen. Habe es nie kennengelernt. Die Kinder wollen nicht mitkommen.“
„Vielleicht komme ich Dich mal besuchen!“
Antonio zündete sich eine Zigarette und setzte sich neben Franco auf die Couch. Er legte einen Arm auf seine Schulter.
„Ich vermisse Dich jetzt schon!“, sagte Tonio, während er Savini ein Messer in den Bauch rammte und ihn dann im Arm nahm.
„Tut mir leid!“
„Ist schon gut, ich vergebe Dir ...“, sagte Franco noch, bevor er für immer seine Augen schloss.

Brooklyn
New York
1958



Franco Junior, Cleto und Eros Savini standen mit gefalteten Händen, vor dem Grab ihres Vaters auf dem New Lots Privat Friedhof. Cleto legte Blumen nieder. Die Sonne schien prall vom Himmel. Im Hintergrund sangen Vögel. Eros sprach ein paar Wörter, danach drehten sie sich um und verließen den Friedhof mit vertränten Augen.

Franco Savini
* 1898 † 1945

Nun aber bleibt Glaube,
Hoffnung, Liebe – diese Drei;
aber die Liebe ist die
Größte unter ihnen.

- 1. Korinther 13,13

Impressum

Texte: (c) 2010
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Schreibarena 18. Runde

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