5. Mai
1925
Wie jeden Freitag besuchten ich und mein Vater Oma Kunigunde. Sie war eine herzensgute Frau. Etwas senil aber mit 99 Jahren immer noch mobil und aktiv. Immer wenn sie mich sah sagte sie: „Aus Dir wird mal was ganz großes mein Junge!“
Vater setzte sich an den Küchentisch und steckte sich eine Zigarre an. Ich setzte mich auf den Boden und fing an zu malen. Häuser, Burgen, Bäume, Vögel und Autos. Oma gesellte sich zu Vater an den Tisch, schenkte sich einen Scotch ein, nahm ihr Gebiss aus dem Mund und leerte das Glas in einem Zug. Beide unterhielten sich über belanglose Sachen.
„Auch einen Atomfried?“, fragte sie meinen Vater.
„Nein, Danke!“, antwortete er.
Ich hörte auf zu malen und ging nach draußen in den Garten. Es war ein schöner Frühlingstag. Die Sonne schien in ihrer vollen Pracht. Adele die Nachbarstochter spielte im Garten nebenan. Sie war 9 Jahre alt, hatte braune lange Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, blaue Augen und ein farbenfrohes Kleid zierte ihren schlanken Körper.
„Hallo Adele!“, rief ich.
„Hallo Chris!“
„Hast du Lust mit mir zu spielen?“
„Ja!“
„Wollen wir im Wald verstecken spielen?“, fragte ich.
„OK!“, antwortete sie.
Wir gingen in den Wald der am Ende der Siedlung sich aufbäumte. 2 Eichhörnchen kreuzten unseren Weg, eines blieb stehen, es schaute uns verdutzt an und verschwand schnell wieder im dichten Gestrüpp.
„Du zählst bis 30 und suchst mich dann.“
„Gut“, erwiderte Adele und schloss die Augen.
Ich ging zum nächsten Baum, kletterte hoch und versteckte mich in der Krone. Hier wird sie dich bestimmt nicht finden – dachte ich mir.
„27, 28, 29, 30 – Ich komme.“
Adele drehte sich herum, öffnete die Augen, schaute nach rechts, nach links und ging geradeaus auf den Baum zu auf dem ich hockte. Sie stand unter mir. Wenn ich wollte hätte ich ihr auf den Kopf spucken können. Sie blieb stehen, schaute erneut in alle Richtungen, aber nicht nach oben und ging weiter. Ich kletterte langsam und leise vom Baum herunter. Ich versuchte meine Beine genauso zu bewegen wie die Ihren, damit man mich nicht hören würde. Leider funktionierte es nicht. Adele blieb stehen, drehte sich um und sagte:
„Hab’ dich!“
„Mist!“
„Wollen wir was anderes spielen?“
„Was denn?“
„Willst du mal meinen Schlüpfer sehen?“, fragte sie und grinste.
„OK!“, antwortete ich.
Adele hob ihr Kleid hoch und zeigte mir ihren rosafarbenen Schlüpfer. Mit großen Augen guckte ich mir dieses Neuland an. Dieser Moment kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich war erst 8 Jahre alt und hatte noch keine Ahnung von den Bienen und Blumen. Sie zog ihr Kleid wieder runter.
„Magst du mich küssen?“, fragte sie.
„Äh, äh, äh...“, stotterte ich.
Sie kam auf mich zu, gab mir einen Kuss auf den Mund, nahm meine Hand und wir gingen wieder zurück. Adeles Eltern riefen sie von weitem zu sich. Ich ging in die Wohnung und Oma Kunigunde sagte wieder: „Aus Dir wird mal was ganz großes mein Junge!“
Ich setzte mich auf den Boden und malte weiter. 2 Stunden später verabschiedeten wir uns und gingen Heim. Oma winkte uns hinterher. Wir winkten zurück. Adele öffnete ein Fenster im Nachbarhaus und winkte mir auch zu. Ich grinste und winkte zurück.
Ich habe Adele nie wieder gesehen. Ein paar Tage später zogen sie und ihre Familie aus dem Nachbargrundstück aus. Schade, ich mochte sie.
Texte: (c) 2010
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2010
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Widmung:
Für die Schlüpfer