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Die Frage nach dem "Warum?"



Als unsere Kinder geboren wurden, versuchten wir, wie die meisten Eltern, diesen Neuankömmlingen das Leben so schön als möglich zu gestalten.

Unsere ältere Tochter, um die es hier geht, wurde bis zum 10. Monat gestillt, weil in allen Zeitschriften und Büchern zu lesen stand, dass Stillen Babys nicht nur Nahrung für den Körper sondern auch für die Seele gibt. Unserem Kind fehlte es in all den Jahren weder an physischer noch an psychischer Nahrung. Es wurde geliebt und respektiert. Auch wurde es nie gezwungen den Teller leer zu essen, geschweige denn etwas zu essen, das ihm nicht schmeckte.

Nie im Traum wären wir deshalb darauf gekommen, unser Mädel könnte eine massive Essstörung entwickeln.

Es begann damit, dass sie immer öfter Magenschmerzen bekam. Vornämlich vor Prüfungen, bei Schulproblemen, oder wenn ihre Schulkollegen sie hänselten, weil sie – trotz gesunder Ernährung – etwas pummelig war. Zuerst versuchte ich es mit Magen- und Beruhigungstee. Wir ließen Zucker und Weißmehl gänzlich weg, weil sich dadurch, leider nur kurzfristig, die Schmerzen verbesserten. Als nichts mehr half, suchten wir einen Arzt auf. Er untersuchte sie auf alles Mögliche, war jedoch mit seinem Latein bald am Ende und ordnete deshalb eine Magenspiegelung an, bei der auch wirklich eine Gastritis diagnostiziert wurde. Endlich konnte mit einer richtigen Behandlung begonnen werden. Es änderte nur nichts. Die Schmerzen kamen schon bald wieder, es war ihr ständig schlecht und wenn sie kleinste Mengen Zucker oder Fett zu sich nahm, war sie sterbenskrank. Aus Verzweiflung suchten wir immer neue Ärzte und Heilpraktiker auf. Und mit ihrem Gewicht ging es unaufhaltsam bergab.

Eines Tages ging ich an unserer Schlafzimmertür vorbei, Sie stand, fast nackt und klapperdürr vor unserem Spiegelschrank, presste die Bauchhaut zwischen ihren Fingern zusammen und jammerte wie fett sie doch sei. Da wusste ich es! Unsere vierzehnjährige Tochter ist magersüchtig.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag! Mich! Die Ernährerin, die Fürsorgliche. Diejenige, welche auf gesunde Ernährung achtete, die Brot aus selbst gemahlenem Getreide, Joghurt, Topfen, Fruchtsäfte, Marmelade, Eingelegtes selbst herstellte. Diejenige, die Kräutertees selber sammelte und mischte, gegen die verschiedensten Wehwehchen. Und die, welche extra einen Gemüsegarten angelegt hatte und im Sommer fast zur Gänze selbstgezogenes Gemüse, natürlich giftfrei, ohne Dünger, erntete und verkochte. Am schlimmsten war es für mich mit anzusehen, wie ich die köstlichsten Gerichte und Verführungen kochte und sie, diese nicht anrührte. Sie verschmähte mein Essen und bereitete sich immer öfter selber etwas zu. Anfangs noch einigermaßen gesund. Karotten, Gurken, Paradeiser in Unmengen. Kalorienarm und fettlos. Später wurde auch das reduziert. Einwände führten nur zu Streitereien, bei denen sie ganz ohne Essen in ihr Zimmer rannte. Es gab Wochen, in denen sie nur von einer Kartoffel und vier Liter Wasser pro Tag lebte. Ihr Gewicht betrug nun 47kg bei einer Größe von 1.70cm. Und sie aß immer weniger. Klare Suppe, ohne Gemüse oder Einlage, war wochenlang mein Sargnagel. Es drehte sich alles um Ernährung, um Nahrung, um Essen und vor allem um Nichtessen.

Dann kam auch noch ein irrer Bewegungsdrang dazu. Jede freie Minute nützte sie dazu, zu laufen, mit dem Rad zu fahren oder für sonstige Kraft- und Kalorienraubende Aktivitäten.

Mal machte ich mir selbst Vorwürfe, mal kamen sie von meinem Mann, doch diese Selbstzerfleischung war am wenigsten nützlich und zerstörte auch noch die Zeiten, wo es endlich nicht ums Essen ging. Also ließen wir es wieder.

Ich empfand erst Enttäuschung und war, warum auch immer, gekränkt. Hatte ich mich nicht stets bemüht das Beste zu geben? Und jetzt das! Aber es ging hier nicht um mich! Es ging um Leben oder Tod eines meiner Kinder und darum wie wir helfen könnten. Also konzentrierte ich mich darauf Behandlungsmöglichkeiten ausfindig zu machen.

Als mein Mann und ich verzweifelt nach Therapeuten oder einem Krankenhaus für sie suchten um Hilfe zu bekommen, entdeckten wir, dass das nicht so einfach ist. Es gibt kaum Psychotherapeuten oder Krankenhäuser, die vierzehnjährige Magersüchtige annehmen, da diese zu schwer therapierbar sind. Manchmal fühlten wir uns so hilflos, so machtlos und manchmal waren wir einfach unglaublich wütend. Wütend darüber, dass überall in den Medien über Essstörungen, die immer häufiger auftreten, berichtet wird, dass man aber erst am eigenen Leib, in der eigenen Ohnmacht erfahren muss, dass Hilfe nicht überall wartet. Als ich endlich eine Ärztin gefunden hatte, kam der nächste Schock. Jede Therapiestunde sollte hundert Euro kosten. Zwei bis drei Mal pro Woche, mindestens ein Jahr. Vielleicht auch länger, viel länger. Das lässt sich im Voraus kaum sagen. Diese Möglichkeit konnten wir uns beim besten Willen nicht leisten!

Wir fanden schließlich doch noch eine leistbare Therapeutin über die Hilfswerk- Organisation, die sich bereit erklärte, jede Woche zwei Mal eine Gesprächstherapie mit unserer Tochter durch zu führen. Und in der Ambulanz der Kinderklinik des Wilhelminenspitals, in die mein Mann bis zu drei Mal pro Woche zur Behandlung mit ihr fuhr, fanden wir kompetente Hilfe. Trotzdem verbesserte sich lange Zeit nicht das Geringste. Sie sah auch nicht ein, dass sie krank ist. Süchtige sehen selten ein, dass sie Hilfe benötigen. Sie weigerte sich zwar nie zur Therapie zu gehen, oder in die Klinik zu fahren, eine Mitarbeit ihrerseits, war jedoch kaum zu sehen.

In dieser Klinik erfuhren wir auch erstmalig davon, dass Magersüchtige mit ihrem Gewicht schummeln, in dem sie fünf bis sechs Liter Wasser trinken, bevor sie auf die Waage müssen. Sie wurde deshalb vor jeder Untersuchung nicht nur gewogen und vermessen, sondern auch die Verwässerung des Urins gemessen. Wir glaubten nicht, dass auch unsere Tochter dieses Hilfsmittel nützte, um schwerer zu erscheinen. Und wir täuschten uns gewaltig.

Auch ich suchte mir eine Therapeutin, um mit der Situation besser umgehen zu können. Es gab nie auch nur angedeutete Schuldzuweisungen von den Ärzten. Die Schuldfrage stellte nur ich mir.
Als wir erfuhren, dass viele Faktoren zusammen treffen müssen, um diese Erkrankung auszulösen, war das sehr wichtig für mich. Am wichtigsten war aber unsere gegenseitige Unterstützung. War ich am Boden zerstört und aller Kraft beraubt, übernahm einfach mein Mann. Und umgekehrt.

Ich redete mit meiner Tochter. Jeden Tag! Manchmal stundenlang! Sie erklärte mir, dass sie nicht anders kann, dass sie zwar versteht was ich ihr sage und dass sie weiß, dass ihr Verhalten tödlich ausgehen kann, trotzdem kann sie nicht anders! In ihrem Kopf sei sie noch dick und schon der Gedanke an Essen verursache Übelkeit. Ihr Spiegelbild verzerre ihre Figur zur Unförmigkeit und es sei ihr nicht möglich, etwas Kalorien- oder Fetthaltiges zu essen.

Mit jedem Gespräch jedoch wurde meine Angst kleiner, denn ich lernte zu verstehen. Und über dieses Verständnis konnte ich ihr Vertrauen gewinnen. Langsam versuchten wir gemeinsam jeden Tag die Kalorienzahl zu steigern. In ihrem Tempo. Und ich akzeptierte ohne weiteres, wenn sie wieder einen Tag pausieren wollte. Wir kämpften um jedes Gramm. Als schließlich eine Veränderung eintrat, war sie bereits auf 38 kg abgemagert und sie war kurz davor in die Klinik aufgenommen zu werden. Jede Art von Bewegung war ihr verboten und hätte ein Organversagen verursachen können.

Ganz allmählich wurde das Essen wieder gehaltvoller, wenngleich sie Fett und Zucker weiterhin kaum zu sich nahm. Als sie dann einen jungen Mann kennen und lieben lernte, wollte sie endlich wieder gesund werden und es ging endlich bergauf. Drei Jahre Kampf waren ausgestanden und überstanden.

Heute achtet sie noch immer auf ihre Ernährung und treibt viel Sport, ist jedoch ein gesundes und fröhliches Mädel.

Dennoch frage ich mich noch heute manchmal „Warum?“

Impressum

Texte: Christiana Zöchling
Bildmaterialien: Christiana Zöchling
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Tochter, die ich sehr liebe!

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